Leseprobe zum Titel: Stuttgarter Zeitung (27.02.2016)

Die unabhängige Zeitung für Baden-Württemberg
2,10 €
Samstag, 27. Februar 2016
Nr. 48 | 8. Woche | 72. Jahrgang | E 4029
Die Mafia
lässt grüßen
Fußball Der neue Präsident
und das Reformpaket werden
die Fifa nicht verändern.
Von Peter Stolterfoht
So tickt
das Land
Z
Illustration: Evers
Mehr als nur Zahlen: Die StZ erkundet die Statistik-Landschaft
des Südwestens. Unser Onlineprojekt macht Fakten und
Trends sichtbar. SEITE 2 und auf www.bwatlas.de
Die Dritte Seite
Reportage
Die Brücke zur Welt
Olympischer Spaß: erst planscht das
Volk, dann paddeln die Kanuten SEITE 3
Muslimische Bundeswehrsoldaten
erzählen, was sie bewegt SEITE 30
In Venedig war das jüdische Ghetto
ein Ort der Integration SEITE V1
Gianni Infantino ist
neuer Fifa-Präsident
Gianni Infantino ist der neue Präsident des
Fußball-Weltverbands Fifa. Der 45-Jährige
aus der Schweiz setzte sich am Freitag beim
außerordentlichen Fifa-Kongress im zweiten Wahlgang gegen den zuvor als Favoriten gehandelten Scheich Salman bin Ibrahim al Chalifa durch. Infantino erhielt 115
der 207 Stimmen und damit die erforderliche Mehrheit, für Scheich Salman votierten 88 Delegierte. Prinz Ali aus Jordanien
mit vier Stimmen und der Franzose Jérôme
Champagne mit null Stimmen waren chancenlos. Infantino tritt die Nachfolge des für
sechs Jahre gesperrten Joseph Blatter an,
der die Fifa seit 1998 geführt hatte. Der bisherige Generalsekretär des europäischen
Dachverbands Uefa hatte unter anderem
die Unterstützung des Deutschen FußballBundes. Infantino ist der neunte Präsident
des Weltverbandes.
dpa
– Themenschwerpunkt SEITE 40
EnBW-Chef hält Kurs
EnBW-Chef Frank Mastiaux hält an der
Strategie EnBW 2020 fest. „Wir werden
den Ergebniseinbruch in der Erzeugung
durch Wachstum bei erneuerbaren Energien, Netzen und Vertrieb ausgleichen“,
sagte er im StZ-Interview. SEITE 12
Ernten sind gefährdet
Weltweit geht die Zahl der bestäubenden
Tiere zurück. Wissenschaftler schlagen
deshalb schon lange Alarm – denn das
könnte langfristig die Ernten gefährden.
Bei einer UN-Konferenz in Kuala Lumpur
wird beraten, was zu tun ist. SEITE 20
SWR-Programm 2016
Der Intendant des SWR, Peter Boudgoust,
sieht seinen Sender auf „Erfolgskurs“. Die
Programme aus seinem Haus seien „moderner und relevanter“ geworden, sagte er
bei der Vorstellung des SWR-Jahresprogramms im Stuttgarter Funkhaus. SEITE 33
Sonntag
6°/2°
Montag
5°/1°
Börse SEITEN 16, 17
Dax 9513,30 Punkte (+ 1,95 %)
Dow Jones 16 639,97 Punkte (– 0,34 %)
Euro 1,1006 Dollar (Vortag: 1,1027)
Ausführliches Inhaltsverzeichnis SEITE 2
66008
4 190402 902104
Der Bundespräsident nennt die Lage „verstörend“ und
fordert Kompromisse – auch von Deutschland. Von Thomas Maron
Flüchtlinge
undespräsident Joachim Gauck
sieht die Europäische Union in Gefahr. „Stärker noch als frühere
Spannungen droht die Flüchtlingskrise das
Grundgefüge Europas zu destabilisieren,
das ist wahrlich eine verstörende Entwicklung“, sagte Gauck am Freitag bei einer Veranstaltung zu diesem Thema im Schloss
Bellevue in Berlin. „Es kann, nein es darf
doch nicht sein, dass die Europäische
Union sich selbst demontiert und an der
Flüchtlingsfrage zerbricht“, so Gauck, der
sich den Diskutanten als „beunruhigter
Gastgeber“ vorstellte. Er vermisse „Ideen
für gemeinsame Positionen und denkbare
Kompromisse“.
Gauck äußerte Verständnis für jene, die
für eine Verringerung der Zahl der Flüchtlinge eintreten: „Wir wissen längst, dass es
in dem Bemühen, möglichst vielen zu helfen, auch geboten sein kann, nicht allen zu
helfen.“ Man müsse auch berücksichtigen,
dass Ostdeutschland und die osteuropäischen Länder „im Umgang mit dem Fremden“ noch unerfahren seien. Das rechtfertige jedoch nicht, dass Regierungen „Ängsten und Stimmungsmachern einfach nur
folgen dürften“, so der Bundespräsident,
zumal sich Europa auf Prinzipien wie die
Genfer Flüchtlingskonvention zum Schutz
von Flüchtlingen verpflichtet habe.
Unter Verweis auf die jüngsten rechtsextremistischen Übergriffen in Sachsen
wandte sich Gauck „mit Nachdruck“ an seine Landsleute: „Richtet eure Unzufriedenheit und eure Wut nicht gegen jene, die viel
B
schwächer und verletzlicher sind, als ihr es
seid.“ Wer protestiere, der habe auf Regeln
zu achten. „Werdet meinetwegen laut
gegenüber euren Bürgermeistern, Abgeordneten, Ministern, aber hört dann auch
denen zu, was sie euch zu sagen haben“, so
Gauck: „Isoliert die Hetzer, Gewalttäter
und Brandstifter.“
Um Europa zu retten, sei der Wille zum
Kompromiss wichtiger denn je. Gauck ließ
keinen Zweifel daran, dass er diese Bereitschaft auch von der Bundesregierung erwarte. In Anspielung auf die Entwicklung
in Österreich und auf dem Westbalkan sagte Gauck, man sei zwar „in Deutschland beunruhigt“ angesichts dieser Strategie der
regionalen Abschottung, und natürlich
könne man dies „kritisieren, auch ablehnen, aber es ist auch nicht undenkbar, dass
sich europäische und regionale Lösungen
ergänzen können.“ Auch wenn der Wille
zur Einigung am Ende zu Entscheidungen
führen werde, „die uns und manch anderen
Europäern unbefriedigend erscheinen“, so
würde man „doch wenigstens beieinander
bleiben“, so Gauck.
Derweil verschärften sich die Spannungen zwischen den EU-Partnern Griechenland und Österreich. Einen Tag nachdem
Athen seine Botschafterin aus Wien zurückgerufen hatte, hat die Regierung ein
Besuchsangebot der österreichischen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner in
Griechenland abgelehnt.
– Schwerpunkt zur Flüchtlingskrise SEITE 4
– Freie Plätze in Aufnahmezentren SEITE 5
Allianz zieht
nach Vaihingen
Die Hauptverwaltung der Allianz Deutschland AG und die Allianz Lebensversicherungs AG schließen ihre beiden Standorte
in der Stuttgarter City und ziehen mit 4000
Mitarbeitern in eine noch zu bauende Bürostadt nach Vaihingen. Entsprechende
StZ-Informationen bestätigten am Freitag
das Unternehmen und die Rathausspitze.
Die „Allianz-City“ umfasst mehrere Gebäude mit 100 000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche und soll auf dem 4,5 Hektar
großen Sportgelände des TSV Georgii Allianz entstehen, das dem Unternehmen gehört. Die Stadt wird Ende März im Gemeinderat die Planänderungen beantragen. Der
Umzug könnte 2020 erfolgen.
jon
– Neue Büro-City geplant SEITE 21
Luff
Baywatch am Flüchtlingsmeer
Das Hochamt des Facebook-Gründers
enn es zum Ende komme, buchstäb- Berlin Mark Zuckerberg kehrt aber auch bekanntermaßen nicht viel gelich, steht in einem dieser frei wie ein feiert mit 1400 Nutzern schenkt wird. Ergeben nahmen sie deshalb zur
Kenntnis, dass der reichste Mann der Welt ihrer
Vogelschwarm fliegenden Wörtereine Messe.
Stadt gleich vier Großrechner spendierte.
wundergedichte der Wiener Lyrikerin FriederiVon Mirko Weber
Zuckerberg rundete seine Visite ab mit einer
ke Mayröcker („Letzter Wille“), werde sie wohl
Art von Gottesdienst in der örtlichen Arena: geflehen: „eine Stunde/eine einzige Stunde/ die ich
vergeudet habe in meinem Leben/gib mir zurück/werde ich sa- wandhalber schmucklos (graues T-shirt, Jeans, Turnschuhe),
gen/ gib mir eine einzige Stunde . . .“. Hat man dies untergründig messagemäßig bedeutungsvoll. Nahezu jede respektvoll bis deim Sinn – unvergessliche Zeilen! – und sitzt vor seinem Face- vot vorgebrachte Frage erhob er während der Inszenierung dibook-Account, steigt die Bedeutung der Verse schon mal hoch, rekt in den allerhöchsten Rang : Sehr wichtig, Leute, danke! Leiderweil man damit beschäftigt ist, Mitteilungen anderer Men- se Kritik zum Thema Datenschutz beantwortete Zuckerberg im
schen womöglich sogar zu teilen, wie es der Brauch ist, die, in- Umkehrschluss. Würden die Leute auf Facebook etwas posten,
haltlich gesehen, mitunter doch einen Hang zum Banalen, um wenn sie „uns nicht vertrauen könnten?“ Minimale Schwierignicht zu sagen Trivialen, aufweisen. Ausnahmen bestätigen, wie keiten beim Umgang mit Hassmails gestand er ein. Seine Firma
arbeite daran, dass es dafür keinen Platz mehr gebe. Darüber histets im Leben, die Regel.
Gleichwohl umweht den Begründer von Facebook mindes- naus hielt sich Zuckerberg mit laienschauspielerischen Grundtens etwas Messianisches, wie jetzt bei seinem Besuch in Berlin tricks und dem Charme des jungen Vaters, der seine drei Monaüberall zu merken: bereits beim Joggen verursachte Mark Zu- te alte Tochter trotz jesusmäßiger Aufgaben gerne badet, eine
ckerberg gleich einen mehr als mittelgroßen Auflauf der prinzi- Stunde gut im Kerngeschäft. Dann Schluss – und schon vergespiell nicht leicht zu beeindruckenden Berliner, denen umge- sen. Merke aber: Mayröcker posten!
W
Wetter SEITE 8
Samstag
7°/–1 °
Gauck warnt vor
dem Zerfall Europas
www.stuttgarter-zeitung.de
// Stadtkind
Partytipps fürs Wochenende
// kopfhoerer.fm
u den vielen Besonderheiten der
Glücksspielmetropole Las Vegas gehört neuerdings auch ein MafiaMuseum. Als Ausstellungsstücke sind da
zum Beispiel eine Maschinenpistole aus
dem Hause Al Capone zu bewundern, die
Sonnenbrille von Bugsy Siegel oder der Friseurstuhl, auf dem Albert Anastasia, ein
weiterer hochrangiger Vertreter der Cosa
Nostra, während einer Rasur sein Leben
ließ. In direkter Nachbarschaft der „Ehrenwerten Gesellschaft“ ist eine Wand, auf der
steht: „Das schöne Spiel wird hässlich“.
Womit wir beim Fußball-Weltverband Fifa
angekommen sind. Im Mafia-Museum
hängen tatsächlich Fotos von Sepp Blatter,
auch von dem korruptesten seiner vielen
Stellvertreter, Jack Warner, und von deren
Gegenspielerin, der sehr entschlossenen
US-Justizministerin Loretta Lynch.
Mit der Hilfe der Museumsmacher in
Las Vegas weiß die Fifa, wo sie hingehört.
Sie ist unter Sepp Blatter als verbrecherische Organisation enttarnt worden, in der
Korruption und Geldwäsche zur Tagesordnung gehört haben. Und so blieb dem suspendierten Schweizer auf dem außerordentlichen Fifa-Kongress der große Abgang erfreulicherweise verwehrt. Viel mehr
Positives allerdings gibt es vom Treffen der
Fußball-Weltregierung in Zürich nicht zu
berichten. Zum neuen Präsidenten wurde
der Schweizer Verbands-Apparatschik Gianni Infantino gewählt, ein Zögling
Blatters und ein Vertrauter des Uefa-Chefs
Michel Platini (ebenfalls suspendiert). Infantino steht für das alte Fifa-System und
nicht für Veränderung. Zum Weltverband
hätte es allerdings auch gepasst, wenn der
als Favorit ins Rennen gegangene Scheich
Salman gewonnen hätte. Der Mann aus
Bahrain wird mit der brutalen Niederschlagung der Demokratiebewegung in seinem
Heimatland in Verbindung gebracht.
Nach diesem Fifa-Kongress sollte sich
der Deutsche Fußball-Bund ernsthaft
überlegen, ob er weiterhin zu diesem Verein gehören will. Die Antwort kann aber
nicht mehr eindeutig Nein lauten. Der DFB
hat im Zuge der Enthüllungen um die WMVergabe 2006 seinen Anspruch verspielt,
eine moralische Fußball-Instanz zu sein.
Ebenso wenig glaubhaft hätte ein von
Deutschland initiierter Selbstreinigungsprozess gewirkt. Nach dem Rücktritt des
Präsidenten Wolfgang Niersbach präsentiert sich der DFB als Interimsverband in
der Selbstfindungsphase, der so gar nichts
Vorbildliches mehr hat.
Als vorbildlich will die Fifa stattdessen
ihr Reformpaket verkaufen, das jetzt in Zürich verabschiedet wurde. Danach wird die
Macht des Präsidenten künftig beschränkt,
seine Amtszeit begrenzt und die bisherige
Fifa-Exekutive durch ein kontrollierendes
Council mit Frauenquote ersetzt. Alles
schön und gut. Aber man muss das Reformpaket auch so sehen: als letzte Chance, das
Bestehen der Fifa zu retten. Die Ermittlungsbehörden in den USA und in der
Schweiz sollen dadurch milder gestimmt
werden. Wäre das Reformpaket abgelehnt
worden, hätte das für die Fifa noch extremere Folgen gehabt als die bisherigen.
Doch ein System schafft sich ja nicht einfach selbst ab.
Ihren Kongress proklamiert die Fifa
jetzt als die große Trendwende, als einen
Neustart. Doch das ist diese Veranstaltung
ganz sicher nicht gewesen. Wenn man hört,
wie vor der Präsidentenwahl um Stimmen
und Posten geschachert, Bündnisse schnell
geschmiedet und wieder gelöst wurden,
deutet eigentlich nichts auf bessere FifaZeiten hin. Ein neuer Präsident von außen,
ohne belastende Fifa-Vergangenheit, das
wäre das richtige Zeichen gewesen. Aber
nein. Immerhin hat es rund um den Kongress keine weiteren Verhaftungen gegeben, was intern als ein weiterer Erfolg gewertet werden dürfte. Ein viel größerer Erfolg wäre es allerdings, wenn die Fifa nicht
mehr Ausstellungsgegenstand im MafiaMuseum wäre.
Sum41 rocken immer noch