A. Einführung B. Vorschlag für den Prüfungsaufbau Fall 4

Tamara Tolj
Akademische Mitarbeiterin
Lehrstuhl Prof. Dr. Saliger
Fallbesprechung Strafrecht II
Sommersemester 2015
Fall 4 Kurzübersicht zum Diebstahl
A. Einführung
Der Diebstahl ist Eigentumsdelikt, denn zu schützendes Rechtsgut ist das Eigentum. Daraus folgen verschiedene Konsequenzen. Taugliches Tatobjekt sind nur fremde Sachen unabhängig von
ihrem tatsächlichen Wert. Deshalb sind Eigentum und Vermögen (=jeder wirtschaftliche Wert)
strikt voneinander zu trennen. Entscheidend ist, dass dem Eigentümer sein Recht, mit der Sache
nach Belieben zu verfahren, entzogen wird.
Daraus folgt für die Prüfung des § 242:
Das Tatbestandsmerkmal „fremde Sache“ im objektiven Tatbestand stellt allein auf die Eigentumslage ab. Seine Entsprechung findet sich im subjektiven Tatbestand mit der „Zueignungsabsicht“, die den „ Angriff“ des Täters auf das Eigentum des Opfers erfasst. Dieser Begriff grenzt
den Diebstahl von der straflosen Gebrauchsanmaßung1 und der einfachen Sachbeschädigung ab.
Dagegen richtet sich die Tathandlung „Wegnahme“ NICHT gegen den Eigentümer, sondern gegen den Inhaber des Gewahrsams. Zwar fallen Gewahrsamsinhaber und Eigentümer manchmal
in einer Person zusammen, genauso oft ist das aber auch nicht der Fall. 2 Da sich die Wegnahme
und insbesondere der Gewahrsam rein strafrechtlich bestimmen, darf bei der Prüfung der Wegnahme weder mit dem Eigentum noch mit sonstigen zivilrechtlichen Begriffen wie z.B. dem Besitz argumentiert werden. Denn die Wegnahme richtet sich gegen den Gewahrsam als rein tatsächliches Herrschaftsverhältnis, während das Eigentum als dingliches Recht ein rechtliches
Verhältnis zu einer Sache beschreibt.
B. Vorschlag für den Prüfungsaufbau
1. Tatbestand
a. objektiver Tatbestand
aa. Tatobjekt: fremde bewegliche Sache
Der strafrechtliche Sachenbegriff lehnt sich an § 90 BGB an, ist jedoch eigenständig, da er auch Tiere umfasst. Entscheidend ist, dass die Sache gegenständlich und damit „wegnehmbar“ ist.
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Eine strafbare Gebrauchsanmaßung ist bspw. in § 248b geregelt.
Mietwagen entliehen vom Kunden (=Gewahrsamsinhaber), das Mietwagenunternehmen ist aber Eigentümer bzw. Büro-PC
der Angestellten (=Gewahrsamsinhaber), die Firma ist aber Eigentümerin.
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Keine Sachen sind Rechte wie z.B. Forderungen oder auch Strom (vgl. § 248c
StGB). Strittig ist die Sacheigenschaft für Körperteile, Implantate und Leichen.
Eine Sache ist fremd, wenn sie dem Täter nicht ausschließlich gehört und nicht
herrenlos ist.
Die Fremdheit einer Sache bestimmt sich ausschließlich nach dem Zivilrecht also den §§ 929 ff. BGB.3
bb. Tathandlung: Wegnahme4
Unter Wegnahme ist der Bruch fremden und die Begründung neuen, nicht
notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams zu verstehen.
Bestand fremder Gewahrsam?5
Begründet der Täter neuen Gewahrsam?
Geschieht diese Gewahrsamsverschiebung gegen den Willen des Gewahrsamsinhabers (=Bruch)?
Ein besonderes Problem stellt die Abgrenzung der Wegnahme als Bestandteil
des Diebstahls (=Fremdschädigungsdelikt) gegen eine (freiwillige) Vermögensverfügung als Erfordernis des Betrugs (=Selbstschädigungsdelikt) dar.6
Ist der Gewahrsamsinhaber mit der Gewahrsamsverschiebung einverstanden
(z.B. der Ladeninhaber in einem Selbstbedienungsgeschäft), liegt ein tatbestandsausschließendes Einverständnis und damit keine Wegnahme vor.
Gewahrsam ist die tatsächliche Sachherrschaft (objektive Komponente) über einen Gegenstand, die von einem Gewahrsamswillen getragen ist (subjektive
Komponente) und sich nach der Verkehrsanschauung bestimmt.
Die Bestimmung des Gewahrsamsbegriffs stellt eine der Hauptschwierigkeiten
des Diebstahlstatbestands dar. Geeignet zur Bestimmung des Gewahrsamsbegriffs sind zwei Ansätze:
Tatsächliche Betrachtungsweise:
Nach der tatsächlichen Betrachtung ist Gewahrsam ein ausschließlich faktisch
bestimmter Zustand. Entscheidend ist allein, ob der Gewahrsamsinhaber die
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Ausschlaggebend ist der Zeitpunkt der Tathandlung, Rückwirkungsfiktionen wie § 184 I BGB oder § 142 I BGB gelten im
Strafrecht nicht.
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Der Begriff der Wegnahme nach § 242 StGB unterscheidet sich von dem gemäß § 289 StGB. Gleiches gilt für den Gewahrsamsbegriff des § 168 I StGB, der Unterschiede zum Verständnis des Gewahrsams bei § 242 StGB beinhaltet.
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Fehlt es an einem fremden Gewahrsam, ist (gedanklich) stets § 246 StGB zu prüfen.
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Wird in Fall 7 noch vertieft behandelt.
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tatsächliche Sachherrschaft über den Gegenstand ausübt, also die jederzeitige
Möglichkeit hat, physisch-real auf diesen einzuwirken.
Sozial-normative Betrachtung
Nach diesem Ansatz bestimmt sich der Gewahrsamsbegriff nicht nach den tatsächlichen Zugriffsmöglichkeiten, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtung. Ausschlaggebend ist, ob nach der allgemeinen Lebensanschauung eine
Sache der Herrschaftssphäre einer Person zugeordnet wird (Bsp.: Auto im
Parkhaus; Pflug des Bauern auf dem Acker). Ein Gewahrsamsbruch liegt danach
vor, wenn ein Dritter auf die Zuordnung der Sachen nur mit einer sozial rechtfertigungsbedürftigen Störung zugreifen kann.
Zwischen beiden Ansätzen bedarf es keiner Streitentscheidung, sie sollten je nach Fallgestaltung herangezogen werden, um die Gewahrsamssituation zu prüfen. Wichtig ist:
-
Ob Gewahrsam besteht, ist ausschließlich von einer tatsächlichen Betrachtungsweise abhängig. Entscheidend ist, ob der Gewahrsamsinhaber kraft seines
faktischen Könnens eine physisch-reale Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache
hat. Diese tatsächliche Sichtweise wird zwar durch das Korrektiv der Verkehrsanschauung begrenzt, ist jedoch frei von rechtlichen Bewertungen.7 Das gilt
auch für den sozial-normativen Gewahrsamsbegriff.
-
Besitz und Gewahrsam sind nicht deckungsgleich.8 Der Gewahrsamsbegriff richtet sich ausschließlich nach strafrechtlichen Regeln. Um jedes Missverständnis
auszuschließen, sollte daher bei der Bestimmung des Gewahrsams auf zivilrechtliche „Vokabeln“ verzichtet werden.
a. subjektiver Tatbestand
aa. Vorsatz (bzgl. des Tatobjekts und der Wegnahme als Tathandlung)
bb. Rechtswidrige Zueignungsabsicht
Zueignungsabsicht liegt vor, wenn der Täter beabsichtigt, sich den Sachwert oder
die Sachsubstanz vorübergehend anzueignen und dabei die dauernde Enteignung
des Eigentümers billigend in Kauf nimmt.
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Hierbei ist irrelevant, ob der Täter Gewahrsam haben durfte, ihn rechtswidrig oder rechtmäßig erlangt hat. Gewahrsam
besteht auch an „rechtswidrigen“ Gegenständen wie Rauschgift oder illegalen Waffen (anders aber teilweise bei den Vermögensdelikten). So erlangt auch der Dieb mit der Tat Gewahrsam und kann seinerseits bestohlen werden.
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Das liegt daran, dass im Zivilrecht der Besitz nicht zwangsläufig an die unmittelbare Sachherrschaft gebunden ist, Bsp.: §§
855, 857, 868 BGB.
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Entscheidend ist die Abgrenzung zu einer straflosen Gebrauchsanmaßung (Bsp.:
Der Täter „leiht“ sich ein fremdes Buch, liest es und gibt es zurück  keine Aneignung) und Fälle der Sachbeschädigung (T lässt den Kanarienvogel des O im Winter
aus dessen Käfig ins Freie fliegen  keine Aneignung).
Bei Fragen der Aneignung und der Enteignung kommt es nicht auf zivilrechtliche
Wertungen an, da ein Eigentumserwerb des Täters ohnehin meist ausgeschlossen
ist. Ausschlaggebend ist, ob der Täter den Eigentümer aus dessen Position verdrängt und sich an dessen Stelle setzt.
Die Zueignungsabsicht ist objektiv rechtswidrig, wenn dem Täter kein fälliger und
einredefreier Anspruch auf die Sache zusteht.
Ob das der Fall ist, bestimmt sich nach den allgemeinen Regeln der Rechtsordnung,
regelmäßig nach dem Zivilrecht.
Die Rechtswidrigkeit der Zueignungsabsicht ist objektives Tatbestandsmerkmal
und muss daher vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Fehlvorstellungen des Täters
führen daher zu einem Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB.
Im Prüfungsaufbau hat es sich jedoch eingebürgert, dieses Merkmal zusammen mit der Zueignungsabsicht zu prüfen und weder in den objektiven Tatbestand vorzuziehen noch unter dieser
Überschrift zu prüfen.
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Im Überblick ergibt sich also folgender Aufbau:
Strafbarkeit wegen Diebstahls, § 242 I
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a. Tatobjekt: Fremde bewegliche Sache
b. Wegnahme
2. Subjektiver Tatbestand
a. Vorsatz bzgl. der objektiven Tatbestandsmerkmale
b. Rechtswidrigkeit der Zueignungsabsicht
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
C. Der Besonders schwere Fall des Diebstahls (§ 243) und der Diebstahl mit Waffen;
Bandendiebstahl; Wohnungseinbruchdiebstahl (§ 244)
Im Gegensatz zu § 244 oder etwa den §§ 224, 226 enthält § 243 nicht (abschließende) Tatbestände oder Qualifikationen (im untechnischen Sinne), sondern sog. Regelbeispiele in der Form
benannter Strafzumessungsregeln (ganz h. M.).9
Sie sind nicht im Tatbestand zu prüfen, sondern nach der Bejahung von Rechtswidrigkeit und
Schuld, da es sich gerade nicht um Tatbestandsmerkmale handelt.
Deshalb bedeutet das Vorliegen eines der in § 243 sog. Regelbeispiele auch nicht zwangsläufig
die Anwendung des dort angegebenen Strafrahmens. Genauso bedeutet die Verneinung der
Regelbeispiele nicht, dass der erhöhte Strafrahmen keine Anwendung findet.
Vielmehr folgen die Regelbeispiele eigenen Kategorien:
-
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Indizwirkung: Liegt eines der genannten Regelbeispiele vor, dann liegt in der
Regel (vgl. Wortlaut des § 243 I 2!!) auch ein sog. Besonders schwerer Fall vor.
Es spricht dann Vieles dafür, den erhöhten Strafrahmen anzuwenden. Allerdings muss – wie stets in der Strafzumessung, § 46 StGB – eine Gesamtschau
Rengier BT I § 3 Rn. 1.
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erfolgen aus der geschlossen werden muss, ob die Anwendung des erhöhten
Strafrahmens angebracht ist.
Umgekehrt kann auch ohne Vorliegen eines Regelbeispiels von einem besonders schweren Fall ausgegangen werden, wenn alle Umstände der Tat die Anwendung des erhöhten Strafrahmens angebracht erscheinen lassen. Dann kann
einerseits ein sog. „unbenannter“ (da kein explizites Beispiel de lege lata vorhanden ist) besonders schwerer Fall vorliegen (Wortlaut des § 243 I 1: „In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.“
Andererseits kann man zur Anwendung des § 243 I 2 auch dann kommen,
wenn der zu begutachtende Fall zwar nicht ganz auf das normierten Regelbeispiel passt, diesem aber so ähnelt, mithin das verwirklichte Unrecht vergleichbar ist, dass man den Gedanken des Regelbeispiels auf den konkreten Sachverhalt anwenden kann. Diese Wirkung der Regelbeispiele wird „Analogiewirkung“ genannt und wird wegen des Analogieverbots im Strafrecht kritisiert.10
Dem wird entgegengehalten, dass es sich bei den Regelbeispielen gerade nicht
um Tatbestandsmerkmale handele, so dass das Analogieverbot nicht entgegenstünde.
Bei § 244 handelt es sich also um eine Qualifikation wie z.B. § 224, bei denen die Anwendung
des erhöhten Strafrahmens nur in Betracht kommt, wenn die Merkmale objektiv und subjektiv
auch tatsächlich erfüllt sind.
Rengier11 empfiehlt Folgendes:
„In der Fallbearbeitung sollte § 244 I (mit seinen einzelnen Varianten) isoliert nach § 242 (ggf.
i. V. m. § 243) geprüft werden (…). Auch wenn keine Regelbeispiele, sondern „nur“ die §§ 242,
244 in Betracht kommen, empfiehlt sich bei diesen komplexen Tatbeständen die gemeinsame
Prüfung von Grunddelikt und Qualifikation in der Regel nicht (…). Ferner ist bei der Prüfung und
Zitierweise insbesondere zwischen § 244 I Nr. 1a 1. Var. und dessen 2. Var. sowie § 244 I Nr. 1b
genau zu unterscheiden.“
10
Herr Prof. Eisele geht nicht zuletzt deswegen davon aus, dass es sich bei Regelbeispielen um Tatbestandsmerkmale handelt, die einer analogen Anwendung nicht zugänglich sind.
11
Rengier BT I § 4 Rn. 2.
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