Fall 5 Lösungshinweise

Tamara Tolj
Akademische Mitarbeiterin
Lehrstuhl Prof. Dr. Saliger
Fallbesprechung Strafrecht II
Sommersemester 2015
Fall 5 Lösungshinweise
Lösungsskizze:
A. Strafbarkeit des L
VII.
A.)
Gefährliche Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 1, 2,
5 StGB durch Wurf mit der Flasche
B.)
Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 durch
den Tritt mit dem beschuhten Fuß
I. Tatbestand
1.
I. Tatbestand
Objektiver Tatbestand
a.
Ergebnis
1.
Grundtatbestand
aa. Körperliche Misshandlung
Objektiver Tatbestand
a.
Grundtatbestand
b.
Qualifikation
bb. Gesundheitsschädigung
b.
aa.
Gefährliches Werkzeug gem. § 224 I Nr. 2
Var. 2
Qualifikationen
bb.
Eine das Leben gefährdende Behandlung, §
224 I Nr. 5
(1) Gift oder anderer gesundheitsgefährdender Stoff
gem. § 224 I Nr. 1
2.
(2) Gefährliches Werkzeug gem. § 224 I Nr. 2
(3) Eine das Leben gefährdende Behandlung gem. §
224 I Nr. 5
2.
II.
Vorsatz bezüglich der Qualifikationen
(b) Der Inhalt der Flasche
III.
Schuld
Subjektiver Tatbestand
IV.
a.
Grundtatbestand
V.
b.
Qualifikationen
aa.
§ 224 I Nr. 1
bb.
§ 224 I Nr. 2 und 5
2.
Nothilfe gem. § 32
a.
Nothilfelage
b.
Notwehrhandlung
Ergebnis
Verwirklichung der Erfolgsqualifikation,
1.
Eintritt der schweren Folge nach § 226 I Nr. 2
2.
Spezifischer Gefahrzusammenhang zwischen
Grundtatbestand und schwerer Folge
3.
Wenigstens Fahrlässigkeit hinsichtlich der schweren
Folge (§ 18)
VI.
Ergebnis
B. Strafbarkeit des X
A.) Fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 229, 13
I. Tatbestand
aa. Geeignetheit und Erforderlichkeit
1.
Handlung
bb. Einschränkungen des Notwehrrechts
2.
Erfolg
3.
Kausalität
4.
Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
c.
Zwischenergebnis
Schuld
Ergebnis
5. Garantenstellung, § 13
Verwirklichung der Erfolgsqualifikation
1.
b.
Rechtswidrigkeit
Festnahmerecht gem. § 127 I StPO
V.
Vorsatz bezüglich des Grundtatbestandes
II.
1.
IV.
a.
(a) Der Wurf mit der Flasche
Rechtswidrigkeit
III.
Subjektiver Tatbestand
6. Objektive Zurechnung
Verlust des Sehvermögens gem. § 226 I Nr. 1
II. Rechtswidrigkeit
2.
In erheblicher Weise dauernde Entstellung gem. §
226 I Nr. 3
III. Schuld
B.) Ergebnis
1
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A. Strafbarkeit des L
A.) Gefährliche Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 1, 2, 5 StGB1 durch Wurf mit
der Flasche
L könnte sich dadurch, dass er A die Flasche gezielt an den Kopf geworfen hat, wegen Körperverletzung
gem. § 223 Abs. 1 strafbar gemacht haben.
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a. Grundtatbestand
aa. Körperliche Misshandlung
Dies setzt zunächst voraus, dass L die A körperlich misshandelt hat. Dazu müsste er entweder das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit der A nicht nur unerheblich beeinträchtigt haben.2 Dadurch, dass die Flasche A’s Kopf traf, ist mit der Gehirnblutung eine erhebliche Kopfverletzung
entstanden. Dies stellt, selbst wenn es nicht zu erheblichen Schmerzen führt, eine üble unangemessene
Behandlung dar, die das körperliche Wohlbefinden in nicht unerheblicher Weise beeinträchtigt. Folglich
hat L die A körperlich misshandelt. Auch der Kontakt mit Säure der zu Hautverätzungen führt, ist mit
Schmerzen verbunden, sodass diesbezüglich ebenfalls eine körperliche Misshandlung darstellt.
bb. Gesundheitsschädigung
Darüber hinaus könnte L die Gesundheit der A geschädigt haben. Eine Gesundheitsschädigung ist die
Herbeiführung oder Steigerung eines krankhaften Zustandes.3 L hatte durch sein Verhalten eine Gehirnblutung bei A verursacht. Gleiches gilt für die Verletzung durch die Säure. Beide mussten ärztlich behandelt werden. L hat also einen krankhaften Zustand hervorgerufen und somit die Gesundheit der A geschädigt.
b. Qualifikationen
(1) Gift oder anderer gesundheitsgefährdender Stoff gem. § 224 I Nr. 1
Möglicherweise hat L der A mit der in der Flasche gefüllten Säure ein Gift beigebracht.
1
Paragrafenangaben im Folgenden bezeichnen Vorschriften des StGB.
2
Küper, BT, S. 219 f. m.w.Nachw.
3
Fischer, § 223 Rn. 6 m.w.Nachw.
2
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Gift ist jeder organische oder anorganische Stoff, der durch chemische oder chemisch-physikalische Wirkung die Gesundheit erheblich schädigen kann. Die Säure wirkt chemisch durch Auftreten auf die Haut,
mithin handelt es sich um Gift.4
Weiterhin muss L der A das Gift beigebracht haben. Beibringen setzt voraus, dass der Stoff mit dem Körper so in Verbindung gebracht wird, dass er seine gesundheitsschädliche Wirkung entfalten kann. Strittig
ist, ob ein Beibringen eine Wirkung im Körperinneren voraussetzt, oder ob es ausreicht, wenn das Gift
(auch nur) von außen wirkt.
Einerseits könnte man anführen, dass so eine klare Trennung zwischen Nr. 1 und Nr. 2 des § 224 I möglich
ist. Denn bei jedem Gift oder anderen gesundheitsgefährdenden Stoff handelt es sich zugleich um eine
Waffe bzw. ein gefährliches Werkzeug. Beschränkt man die Nr. 1 also nur auf innere Einwirkungen, wird
so ein eigener Anwendungsbereich für diese festgesteckt.
Allerdings kann die Anwendbarkeit des Tatbestandes nicht von solchen unbestimmten Kriterien abhängig
sein. Das gilt nicht zuletzt deswegen, weil der Innen- und Außenbereich oft nicht genau voneinander unterschieden werden können.
Zudem oft ist es bloßer Zufall, ob der Stoff etwa über Nase, Ohr oder Tränenkanal ins Körperinnere gelangt und erst dann oder unmittelbar äußerlich wirkend die Gesundheit angreift.
Mithin liegt bei dem Kontakt der Säure mit dem Körper der A ein Beibringen eines Giftes vor.
(2) Gefährliches Werkzeug gem. § 224 I Nr. 2
Die Weinflasche könnte ein gefährliches Werkzeug i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 2 darstellen. Dann müsste es
sich bei der Weinflasche um einen Gegenstand handeln, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und
nach der Art seiner konkreten Verwendung als Angriffs- oder Verteidigungsmittel geeignet ist, erhebliche
Verletzungen zu bewirken.5 Glasflaschen sind aufgrund der Dicke des Glases immer dann geeignet, erhebliche Verletzungen herbeizuführen, wenn sie als Schlag- oder Wurfinstrument verwandt werden, so dass
es nicht darauf ankommt, ob die Flasche beim Aufprall zerspringt oder wie hier erst nach dem Aufprall
auf dem Körper auf dem Boden zerspringt. Damit hat L ein gefährliches Werkzeug verwendet.
4
Andere gefährliche Stoffe sind solche, deren Schädlichkeit auf einer mechanischen oder thermischen Wirkung des Stoffes
selbst beruht (z.B. zerhacktes Glas, heiße Flüssigkeiten).
5
Fischer, § 224 Rn. 9.
3
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Außerdem könnte es sich auch bei der Säure um ein gefährliches Werkzeug handeln. Hält man an dem
weiten Anwendungsbereich der Nr. 2 auch nach Einführung der Nr. 1 durch das 6. StrRG 1998 fest,
kommt es zu Überschneidungen der Anwendungsbereiche, so wie es hier der Fall ist. Insofern ist Nr. 1 die
speziellere Variante, so dass es bezüglich der Säure nicht auf Nr. 2 ankommt.
(3) Eine das Leben gefährdende Behandlung gem. § 224 I Nr. 5
(a) Der Wurf mit der Flasche
Der Wurf mit der Flasche gegen den Kopf der A könnte weiterhin eine das Leben gefährdende Behandlung i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 5 sein. Teilweise wird hierfür eine Handlung gefordert, die das Leben des Opfers konkret gefährdet.6 Andere lassen es bereits ausreichen, wenn die Handlung zwar nicht zu einer konkreten Lebensgefahr führt, aber grundsätzlich geeignet ist, eine Lebensgefährdung herbeizuführen.7
Der wuchtige Aufprall der Flasche hat bei A zu einer – wenn auch nur vorübergehenden – Gehirnblutung
geführt. Eine Blutung im Gehirn ist in aller Regel lebensbedrohlich, da durch die mit der Blutung verbundene Schwellung im Gehirn ein Absterben dieses Organs droht. Auch der nur vorübergehende Charakter
der Blutung ändert daran nichts, da es vom Zufall abhängt, ob sich eine Gehirnblutung spontan zurückbildet. Folglich lag eine konkrete Lebensgefahr vor, so dass schon nach der engeren Ansicht eine das Leben gefährdende Behandlung i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 5 gegeben ist.
(b) Der Inhalt der Flasche
Bei dem Inhalt der Flasche gestaltet sich dies indes nicht so einfach, weil die A keine konkreten lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen hat. Hier muss also entschieden werden, während der Einsatz
von Säure abstrakt lebensgefährlich sein kann. Hier ist also eine Entscheidung für die eine oder andere
Richtung notwendig,
Die hM verlangt keine konkrete Lebensgefahr, sondern lässt ausreichen, dass die Handlung „nach den
Umständen des Einzelfalls zur Lebensgefährdung generell geeignet“ ist 8. Für diese extensivere Auslegung
spricht zum einen der systematische Blick in die Nrn. 1 – 4. Würde man eine konkrete Lebensgefährdung
verlangen, entfernte sich der Unrechtsgehalt von § 224 I Nr. 5 zu weit von den restlichen Tatbegehungsmöglichkeiten. Denn diese legen den Fokus auf die abstrakte Gefährlichkeit der Verwendung bestimmter
6
LK-Hirsch (10.Aufl), § 223a Rn. 21 (anders jetzt: LK-Lilie (11.Aufl.) § 224 Rn. 36); S/S-Stree, § 224 Rn. 12.
7
Wessels/ Hettinger, BT 1, Rn. 282; BGHSt 2, 160, 163; 36, 1, 9
8
St Rspr. vgl. nur BGHSt 2, 160 (163).
4
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Mittel (Nr. 1, 2) oder Vorgehensweisen (Nr. 3, 4) und setzt gerade keinen konkreten (erheblichen) Verletzungserfolg durch diese Mittel. Zudem gebieten weder der Wortlaut noch das von den übrigen Tatmodalitäten abweichende Schutzgut (Leben) eine weitere Tatbestandseinschränkung. Schließlich würde § 224 I
Nr. 5 beim Erfordernis einer konkreten Lebensgefahr zu an die §§ 212, 22 herangerückt.
Somit muss eine abstrakte Gefährdung ausreichen, sodass im Hinblick auf den Inhalt der Flasche objektiv
ebenfalls eine das Leben gefährdende Behandlung vorliegt.
2. Subjektiver Tatbestand
a. Grundtatbestand
Schließlich müsste L vorsätzlich gehandelt haben. Er konnte zwar nicht sicher wissen, ob er A treffen würde, wies also keinen dolus directus 2. Grades auf. Jedoch könnte er absichtlich im technischen Sinne gehandelt haben. Absichtlich handelt, wer den Eintritt des fraglichen Umstands als Endziel seines Handelns
oder als notwendiges Zwischenziel erstrebt. Da ein „Treffer“ und damit eine Verletzung zur Ergreifung der
A (Endziel) aus der Sicht des L notwendiges Zwischenziel war, handelte er mit Vorsatz in Form des dolus
directus 1. Grades.
b. Qualifikationen
aa. § 224 I Nr. 1
Dem L war der Inhalt der Flasche nicht bewusst, so dass er bezüglich des Beibringens des Giftes ohne
Vorsatz handelte.
bb. § 224 I Nr. 2 und 5
L kannte – über die bereits bejahte Kenntnis der objektiven Voraussetzungen des Grunddelikts hinaus –
die Umstände, die die Weinflasche zu einem gefährlichen Werkzeug und seine Tat zu einer das Leben
gefährdenden Behandlung machen. Er handelte damit auch hinsichtlich der Qualifikation vorsätzlich.
Hinweis: Lebensgefährdungsvorsatz ist nicht dasselbe wie Tötungsvorsatz. Der Satz zum Schluss des Sachverhalts steht der Bejahung von Gefährdungsvorsatz also nicht entgegen.
II. Rechtswidrigkeit
Fraglich ist, ob L rechtswidrig gehandelt hat.
1. Festnahmerecht gem. § 127 I StPO
5
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Eine Rechtfertigung nach § 127 I StPO scheidet aus. Unabhängig von der Frage, ob § 127 StPO neben der
Freiheitsentziehung überhaupt Körperverletzungen deckt, erlaubt diese Vorschrift jedenfalls das Vorgehen des L nicht, da sie unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht; wo Notwehr wegen krassen
Missverhältnisses ausscheidet, muss jeder andere Rechtfertigungsgrund ebenfalls ausscheiden.
Da überdies keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass L sich irrtümlich eine Lage vorgestellt haben könnte, in der kein krasses Missverhältnis vorliegt, kommt auch ein sonstiger Unrechtsausschluss durch eine
Putativerlaubnis nicht in Betracht. L handelte somit rechtswidrig.
2. Nothilfe gem. § 32
L könnte durch Notwehr gem. § 32 gerechtfertigt sein.
a. Nothilfelage
Die Rechtfertigung aus Notwehr zum einen das Vorliegen einer Notwehrlage, d.h. einen gegenwärtigen
und rechtswidrigen Angriff.
Angriff ist jede durch einen Menschen drohende Verletzung eines Individualrechtsgutes.9 A hat einen
Gewahrsamswechsel an dem Päckchen Rasendünger herbeigeführt, der von keiner Zustimmung gedeckt
war. Insoweit liegt ein Angriff auf das Rechtsgut „Eigentum“ des Ladeninhabers vor. Da der Inhaber des
angegriffenen Rechtsguts und der Notwehrausübende nicht identisch sind, handelt es sich um einen Fall
der Nothilfe. Diese ist hier unproblematisch, da L mit der Zustimmung des Ladeninhabers handelt und
also kein Fall der aufgedrängten (vom Rechtsgutinhaber nicht gewünschten und daher unter bestimmten
Voraussetzungen nicht rechtfertigend wirkenden) Nothilfe vorliegt.
Gegenwärtig ist ein Angriff, wenn die Rechtsgutverletzung unmittelbar bevorsteht, gerade begonnen hat
oder noch andauert.10 Vorliegend hat A den Gewahrsam des Ladeninhabers gebrochen, indem sie das
Päckchen Rasendünger an sich nahm und einsteckte. Da allgemein davon ausgegangen wird, dass jedenfalls das Einstecken kleiner Gegenstände zu einem sog. Gewahrsamswechsel führt, liegt eine bereits vollendete Wegnahme vor (Gewahrsamsenklave).
Dies wirft die Frage nach dem „Ende“ der Gegenwärtigkeit auf. Regelmäßig endet die Gegenwärtigkeit
mit Vollendung des Rechtsgutangriffs. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos. Bei sog. Dauerdelikten wie z.B.
9
NK-Herzog, § 32 Rn. 3; SK-Günther, § 32 Rn. 21.
10
Jescheck/ Weigend, AT, § 32 II 1 d, S. 341; BGHSt 27, 336, 339.
6
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Hausfriedensbruch oder Freiheitsberaubung dauert der Angriff auch nach Vollendung an. Ähnliches soll
nach ganz h.M. gelten für den hier vorliegenden Diebstahl gelten, bei dem der Angriff so lange andauert,
wie der Angreifer den bereits erlangten Gewahrsam noch nicht gesichert hat. In dieser sog. Beendigungsphase des Diebstahls soll sich der Rechtsgutschaden noch vertiefen können,11 so dass ausnahmsweise ein
Angriff auch in einer Flucht bestehen kann. Die h.M. nimmt an, dass eine Sicherung erst eintritt, wenn der
Angreifer die weggenommene Sache geborgen hat, was keinesfalls vorliegt, wenn er flieht und dabei vom
Verfolger noch sinnlich wahrgenommen wird. So liegt es hier. Damit war der Angriff der A auf das Eigentum nach ganz h.M. noch gegenwärtig.
Der Angriff ist rechtswidrig, wenn der Angreifer mindestens fahrlässig handelt und dabei weder gerechtfertigt ist noch (unvermeidbar) die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes irrtümlich für gegeben
hält. Dass Erfolgsunrecht vorliegt. A hat hier u.a. gegen die Vorschriften aus § 242 StGB und § 823 I BGB
verstoßen. Dies tat sie vorsätzlich. Weder hat sie einen Rechtfertigungsgrund in Anspruch genommen
noch sich dessen Voraussetzungen irrtümlich vorgestellt. Daher liegt ein rechtswidriger Angriff vor.
Eine Notwehrlage ist daher gegeben.
Hinweis: Hier ist die Rechtswidrigkeit des Angriffs unproblematisch gegeben. Diese Stelle eignet sich jedoch perfekt, noch ein Klausurproblem anzureichern und die Schwierigkeit dadurch zu erhöhen, den Bearbeiter dazu zu „nötigen“, eine Inzidentprüfung der Strafbarkeit des Angreifers durchzuführen, wenn nach
dessen Strafbarkeit nicht gefragt ist.
b.
Notwehrhandlung
Liegen die Voraussetzungen der Notwehrlage vor, darf der Verteidiger in Rechtsgüter des Angreifers in
dem für die Gefahrabwendung erforderlichen Maß eingreifen.
aa. Geeignetheit und Erforderlichkeit
L hat mit der Gesundheit der A ein Rechtsgutobjekt des Angreifers beschädigt. Fraglich ist, ob er sich dabei an die durch das Minimierungsprinzip gezogenen und „Erforderlichkeit“ genannten Grenzen gehalten
hat. Dafür hätte der Wurf mit der Flasche und das darin liegende Verletzungsrisiko (nicht: die Gesundheitsschädigung/Misshandlung als Erfolg!) unter den gleichermaßen zur Beendigung des Angriffs
(hier: der Flucht) als geeignet erscheinenden Maßnahmen die Variante sein müssen, die die Rechtsgüter
11
Vgl. S/S-Lenckner/Perron, § 32 Rn. 15.
7
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der A am stärksten zu schonen versprach, wobei es allerdings einige Ausnahmen gibt; nicht jedes zur Verfügung stehende Mittel muss der Verteidiger auch berücksichtigen (Stichwörter: Flucht, fremde Hilfe).
Hier gilt eine sog. ex-ante-Betrachtung, was nichts anderes heißt, als dass das Merkmal der Erforderlichkeit schon dann vorliegt, wenn L zu einer diesbezüglichen Annahme ohne Sorgfaltsverstoß gekommen
wäre, möchte er sich dabei auch geirrt haben.
Der Wurf mit der Flasche war, wie der Ausgang zeigt, sogar aus der strengeren ex-post-Sicht geeignet, die
Flucht zu beenden. Erforderlich wäre das gewählte Mittel danach nur dann nicht gewesen, wenn L eine
schonendere Möglichkeit zur Verfügung gestanden hätte, die die Flucht ebenso schnell und sicher zu beenden versprochen hätte. Da A auf die Aufforderung, stehen zu bleiben, nicht reagiert hatte und L sie
nicht verfolgen konnte, war der Wurf mit der Flasche in Richtung auf den Kopf der A das einzige geeignete Mittel. Das einzige dem Verteidiger zur Verfügung stehende Abwehrmittel ist stets auch das erforderliche. L hat daher die Grenzen der erforderlichen Verteidigung beachtet.
bb. Einschränkungen des Notwehrrechts
Auch wenn die Notwehr den Verteidiger grundsätzlich weder auf eine güterproportionale Abwehr beschränkt noch verlangt, dass er sich mit einer angemessenen Gegenwehr begnügt, so dass die Verteidigung in der Regel schon dann von § 32 gedeckt ist, wenn der Verteidiger ein erforderliche Maßnahme
wählt, gibt es doch Ausnahmen.
Es könnte ein sog. krasses Missverhältnis vorliegen.
Hinweis: Dabei handelt es sich um eine verkümmerte Verhältnismäßigkeitsprüfung, mit der extreme Fälle
von Güterdisproportionalität aus dem Anwendungsbereich des § 32 ausgenommen werden sollen. Besteht
zwischen Art und Umfang der aus dem Angriff drohenden Verletzung und der mit der Verteidigung verbundenen Beeinträchtigung oder Gefährdung des Angreifers ein grobes („unerträgliches“) Missverhältnis,
so ist Notwehr, mag sie auch das einzige Mittel sein, unzulässig. Da es sich aber um eine Ausnahme handelt, darf auch das Eigentum mit scharfen Mitteln verteidigt werden, und selbst lebensgefährliche Abwehrhandlungen können zum Schutz von Sachgütern zulässig sein. Die Grenze ist hier bei der Verteidigung
von Sachen erst zu ziehen, wenn jene mit der Gefahr für das Leben oder mit schweren Gesundheitsgefahren einhergeht und auf der anderen Seite damit entweder Sachen von ganz unbedeutendem Wert vertei-
8
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digt oder ähnlich geringfügige Einbußen (insbesondere Angriffe auf das Hausrecht, die allgemeine Handlungsfreiheit und die Ehre) abgewehrt werden sollen.
Betroffene Rechtsgüter sind auf der Angreiferseite Leib und Leben, auf der Verteidigerseite das Eigentum.
Die Verteidigung des Rechtsguts Eigentum durch L war lebensgefährlich für Leib und Leben der A, zumindest aber beinhaltete sie die Gefahr sehr schwerer Körperschäden (s.o.). Dem gegenüber steht die Verhinderung eines Verlustes von 4 €.
Mit der Angst des L um seine Anstellung lässt sich das Gewicht der auf Verteidigerseite vorliegenden Interessen nicht erhöhen. Zwar kann der Arbeitsplatz und die damit verknüpften Vermögensaspekte ein notwehrfähiges Rechtsgut sein. Dieses wird von A jedoch nicht angegriffen; die mögliche Kündigung durch
den Ladeninhaber wäre lediglich ein Reflex des Diebstahls. Darüber hinaus wehrt L die Gefahr der Kündigung durch eine derart krasse, eigennützige und (negativ) publikumswirksame Maßnahme nicht ab. Damit bleibt es dabei, dass ein krasses Missverhältnis vorliegt.
c. Zwischenergebnis
Danach fehlt es an einer Rechtfertigung aus Notwehr.
III. Schuld
Zweifel ergeben sich aber daran, ob L schuldhaft gehandelt hat.
In Betracht kommt überhaupt nur ein Schuldausschluss durch Notwehrexzess gem. § 33. Dieser erfordert,
dass der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken (sog. asthenische Affekte) überschreitet. In Betracht käme vorliegend (höchstens) eine Verwirrung des L. Verlangt wird dafür ein
Störungsgrad, bei dem die Fähigkeit, das Geschehen richtig wahrzunehmen und zu verarbeiten, erheblich
reduziert ist.12 Ob ein solcher Verwirrungsgrad hier vorliegt, mag dahinstehen. Denn es ist für eine Entschuldigung der Überschreitung der Grenzen der Notwehr zu verlangen, dass sich der asthenische Affekt
aus der Notwehrsituation selbst ergibt, was hier nicht der Fall ist; die mögliche Verwirrung ist ein Resultat
des von seinem Arbeitgeber aufgebauten Leistungsdrucks. Entschuldigte man auch in solchen Fällen,
müssten systemisch angstvolle oder verwirrte Menschen stets nach § 33 entschuldigt sein. Für systemisch
bedingte psychische Abweichungen vom Normalen gilt jedoch die abschließend gemeinte Regelung des §
12
S/S-Lenckner/Perron, § 33 Rn. 3.
9
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20, der für eine Entschuldigung wegen dieser Defekte höhere Anforderungen stellt als § 33. Eine Entschuldigung aus § 33 scheidet danach aus.
Hinweise auf einen Irrtum des L über das Verbotensein seiner Handlung sind dem Sachverhalt nicht zu
entnehmen, so dass L schuldhaft handelte.
IV. Ergebnis
Folglich hat sich L wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht.
V. Verwirklichung der Erfolgsqualifikation
1. Verlust des Sehvermögens gem. § 226 I Nr. 1
Die schwere Folge könnte hier in der Gesichtsfeldeinschränkung bei A liegen. Nach § 226 Abs.1 Nr.1 kann
ein Verlust des Sehvermögens auf einem Auge auch dann vorliegen, wenn das Auge noch teilweise funktionstüchtig ist. Damit sich jedoch von einem Verlust des Sehvermögens sprechen lässt, ist eine erhebliche Funktionseinschränkung und damit Gesichtsfeldbeschränkung zu fordern. Hier ist zu beachten, dass
hinsichtlich des Sehvermögens auf einem Auge ein Funktionsverlust von 20% vorliegt, da sich die Angabe
der 10% im Sachverhalt auf das gesamte Gesichtsfeld beider Augen bezieht. Da nun aber nach § 226
Abs.1 Nr.1 bereits der Verlust bei einem Auge genügt, ist das normale Gesichtsfeld nur eines Auges als
Maßstab heranzuziehen. Gleichwohl führt auch ein Verlust von 20% der Funktion dieses Organs nicht zur
Annahme des Eintritts einer schweren Folge, da man von einer erheblichen Funktionseinbuße überhaupt
erst sprechen kann, wenn mehr als 50% eingebüßt wurden. Die Rechtsprechung geht hier sogar noch
weiter, indem sie Einbußen von mehr als 80% fordert13. Daher fehlt es an der schweren Folge.
2. In erheblicher Weise dauernde Entstellung gem. § 226 I Nr. 3
Möglicherweise liegt aber wegen des ausbleibenden Haarwuchses am Hinterkopf eine erhebliche und
dauernde Entstellung vor. Entstellt ist eine Person, wenn ihre äußere Gesamterscheinung in unästhetischer Weise verunstaltet wird. Fehlender Haarwuchs am Hinterkopf ist eine solche Beeinträchtigung des
Erscheinungsbildes der A in unästhetische Weise.
13
Vgl. etwa OLG Oldenburg, NStE, Nr.5 zu § 224 StGB (a.F.).
10
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Erheblich ist die Verunstaltung, wenn sie in ihrer Bedeutung für den Menschen mit der Beeinträchtigung
durch die anderen Folgen des § 226 I vergleichbar ist.14 Gerade für eine Frau sind kahle Stellen an so exponierten Stellen eine derart starke Beeinträchtigung, die mit den anderen Folgen des § 226 I vergleichbar sind. Man könnte zwar anführen, dass A die Möglichkeit hat, die Stelle durch das Tragen von Kopfbedeckungen zu kaschieren. Es kommt aber nicht darauf an, ob die Entstellungen in der Regel sichtbar sind,
da § 226 I Nr. 3 das Erscheinungsbild in allen Lebenslagen schützt, damit auch im Intimbereich.
Fraglich ist aber, ob die Entstellung auch dauerhaft ist. Denn hier konnte die A durch eine Haartransplantation die kahlen Stellen wieder „füllen“. Dauernd ist die Entstellung, wenn das Aussehen endgültig oder
für einen unbestimmt langwierigen Zeitraum beeinträchtigt ist. Allerdings ist ein Dauerschaden dann
nicht gegeben, wenn die Verunstaltung durch übliche und zumutbare medizinische oder kosmetische Korrekturen behoben werden kann.15 Heutzutage handelt es sich bei Haartransplantationen um kosmetische
Eingriffe, die ohne unzumutbare Folgen für das Opfer verbunden sind.
Somit ist § 226 I Nr. 2 auch nicht verwirklicht.
VII. Ergebnis
Es bleibt damit bei der Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 1, 2, 5.
B.) Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 durch den Tritt mit dem beschuhten Fuß
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a. Grundtatbestand
Ein Tritt mit dem beschuhten Fuß in die Nierengegend stellt eine körperliche Misshandlung dar; der der
Niere zugefügte Riss stellt ein pathologischen Zustand dar.
b. Qualifikation
aa. Gefährliches Werkzeug gem. § 224 I Nr. 2 Var. 2
14
Vgl. Rengier BT II, § 15, Rn. 21.
15
Fischer § 226, Rn. 9a; Rengier BT/II, § 15, Rn. 18.
11
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Bei dem Schuh handelt es sich um ein gefährliches Werkzeug, weil es in seiner konkreten Art der Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Im vorliegenden Fall hat der Tritt sogar
zu einem Riss in der Niere geführt.
bb. Eine das Leben gefährdende Behandlung, § 224 I Nr. 5
Wie gesehen, genügt eine abstrakte Lebensgefährdung, die hier vorliegt, da das Treten mit festem
Schuhwerk in den Torso stets die Gefahr innerer Verletzungen und daraus resultierender innerer Blutungen birgt (a.A. vertretbar).
2. Subjektiver Tatbestand
a. Vorsatz bezüglich des Grundtatbestandes
L handelte mit Körperverletzungsvorsatz.
b. Vorsatz bezüglich der Qualifikationen
Auch handelte er vorsätzlich bezüglich der Verwendung des Schuhs als gefährliches Werkzeug.
II. Rechtswidrigkeit
Auch der Tritt ist nicht gerechtfertigt, hier fehlt es bereits an der Gegenwärtigkeit des Angriffs.
III. Schuld
Auch handelte L schuldhaft.
IV. Ergebnis
Damit hat sich L wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 strafbar gemacht.
V. Verwirklichung der Erfolgsqualifikation,
1. Eintritt der schweren Folge nach § 226 I Nr. 2
Fraglich ist, ob A mit dem Entfernen ihrer Niere ein wichtiges Glied i.S.d. § 226 I Nr. 2 verloren hat.
Als Glied des Körpers kommen unstreitig zunächst alle nach außen in Erscheinung tretenden verbundenen Körperteile mit abgeschlossener funktionaler Existenz in Betracht.16
Umstritten ist allerdings, ob auch innere Organe Glieder i.S.v. § 226 I Nr. 2 sein können. Fordert man –
wie einige Stimmen verlangen – eine Verbindung mit einem Gelenk, scheiden innere Organe von vorne
herein aus. Dafür scheint der Wortlaut zu sprechen, da ein Glied immer Teil eines größeren Ganzen ist.
16
Vgl. Fischer § 226, Rn. 6; Schönke/Schröder-Stree § 226, Rn. 2; SSW-Momsen § 226, Rn. 10.
12
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Auch systematische Erwägungen lassen sich anführen: § 226 I Nr. 1 ist abschließend formuliert und beschränkt auf bestimmte Fälle, inwieweit Organe geschützt seien.
Allerdings mutet es seltsam und lebensfremd an die Wichtigkeit nach einem rein physischen Kriterium zu
bestimmen. Vielmehr muss es darauf ankommen, welche Rolle das „Glied“ im Gesamtorganismus spielt,
welche funktionelle Bedeutung ihm also vorkommt. Insofern lässt sich auch das Wortlautargument zugunsten dieser weiteren Sichtweise entfalten: Die Niere ist ein Körperteil, und Körperteile können als
Körperglieder (= selbstständige Teile des ganzen Körpers) umschrieben werden. Zieht man teleologische
Erwägungen untermauern, dass die Schwere der Schädigung her der Verlust innerer Organe genauso ins
Gewicht fallen kann, wie der Verlust eines Armes oder ähnliches. Insbesondere sollte das Unrecht der
heutzutage vorkommenden Fälle von heimlichen Organentnahmen bei Patienten oder von Entführungen,
um dem Opfer ein inneres Organ zu entnehmen, von § 226 erfasst sein.17 Mithin sind auch innere Organe
grundsätzlich als Glieder einzustufen.
Wann ein Glied wichtig ist, wird unterschiedlich bestimmt.18 Grundsätzlich steht aber fest, dass dies von
der Gesamtfunktion des Körperteils im Organismus abhängt. Wesentliche Körperfunktionen müssen beeinträchtigt sein. Das ist unter Berücksichtigung der eingetretenen Folgen im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln. Hier verliert die A eine ihrer Nieren. Man könnte anführen, dass A zwei
Nieren hat und der Verlust aus diesem Grunde eventuell nicht so ins Gewicht fällt. Dieser Einwand kann
indes nicht verfangen. Zum einen kommt es nicht darauf an, ob das verlorene Organ ersetzbar ist. Doch
selbst wenn man es darauf ankommen lassen wollte, bedeutet zumindest zum anderen der Verlust der
„Reserve“-Niere eine gleichartige schwere Schädigung für den Fall, dass die verbliebene Niere eines Tages
ausfallen sollte.
Weiterhin muss A die Niere verloren haben. Verlust des Gliedes meint seine völlige Abtrennung vom Körper. Erfasst ist auch der Fall, dass erst eine tatbedingte ärztlich indizierte Amputation zur Abtrennung des
Gliedes führt.19 Mithin liegt ein Verlust vor.
2. Spezifischer Gefahrzusammenhang zwischen Grundtatbestand und schwerer Folge
Dieser ist gegeben, da der Verlust der Niere gerade auf den Tritt des L zurückzuführen ist.
17
Rengier, BT II, § 15 Rn. 9.
18
Probleme ergeben sich insbesondere, wenn ein Glied für eine Personengruppe eine andere Rolle spielt (so haben die Finger
z.B. bei Berufspianisten einen anderen Stellenwert als bei einer Buchhalterin).
19
Fischer § 226, Rn. 8:
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3. Wenigstens Fahrlässigkeit hinsichtlich der schweren Folge (§ 18)
L handelte sowohl objektiv als auch subjektiv sorgfaltspflichtwidrig. Insbesondere ist es für jedermann
und auch für den L in der konkreten Situation der Verlust eines Organs vorhersehbar, da es nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung liegt, dass ein Tritt in diese Gegend zu einem Schaden an inneren Organen
führen kann.
VI. Ergebnis
Damit hat sich L auch wegen schwerer Körperverletzung gem. §§ 223 I, 226 I Nr. 2 strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit des X
A.) Fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 229, 13
Indem X die gefährliche Säure ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen vor dem Baumarkt stehen ließ,
könnte er sich wegen fahrlässiger Körperverletzung an A strafbar gemacht haben.
I. Tatbestand
1. Handlung
X hat die Reinigungsmittel ohne weitere Sicherungsvorkehrungen offen vor dem Baumarkt stehen lassen.
2. Erfolg
A hat eine Körperverletzung davon getragen.
3. Kausalität
Diese ist im Sinne der conditio sine qua non Formel geben, denn man kann das Stehenlassen nicht hinwegdenken, ohne dass der tatbestandliche Erfolg – die Verletzungen durch die Flasche und deren Inhalt –
entfiele.
4. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
Fraglich ist, ob X dadurch objektiv sorgfaltspflichtwidrig gehandelt hat.
Objektiv pflichtwidrig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt
(vgl. § 276 II BGB zum rein objektiven Maßstab des Zivilrechts). Der generelle Sorgfaltsmaßstab ergibt sich
aus den Anforderungen, die bei einer ex ante-Betrachtung der Gefahrenlage an einen besonnenen und
gewissenhaften Menschen zu stellen sind, der dem Verkehrskreis des Täters angehört und sich in seiner
konkreten Lage befindet. Man kann sich also eine Art „Normalmensch“ vorstellen, der in die Situation des
Täters zurückversetzt wird und zu beurteilen hat, wie sich ein „normaler“, d. h. ein gewissenhafter und
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besonnener, Autofahrer, Radfahrer, Veranstalter, Unternehmer, Arzt, Architekt, Vater, Tierhalter usw. in
der konkreten Situation verhalten hätte.20
Bezüglich der Verletzungen mit der Glasflasche, kann dem X keine Sorgfaltswidrigkeit vorgeworfen werden. Denn sonst würde der Maßstab für an sich gefährliche Gegenstände zu weit ausgedehnt, was eine
uferlose Strafbarkeit zur Folge haben würde.
Anders könnte es sich aber bezüglich des Inhalts der Flasche verhalten. Denn Personen aus dem Verkehrskreis des Täters, die mit derartigen Mitteln arbeiten, hätten diese entsprechend gesichert, um Verletzungen anderer zu vermeiden. Diesbezüglich handelte X somit sorgfaltspflichtwidrig.
5. Garantenstellung, § 13
Eine Garantenstellung liegt vor, wenn der Garant die Gefährlichkeit der tatbestandsmäßigen Situation
verkennt, z. B. die Notwendigkeit, gefährliche Objekte vor dem eigenen Kind oder anderen Personen zu
sichern. So liegt hier der Fall, so dass eine Garantenstellung in Form einer Überwachungspflicht für die
gefährlichen Reinigungsmittel vorliegt. Als Überwachungsgarant ist L verpflichtet, die Gefahrenquelle
Reinigungsmittel so zu sichern, dass von diesem keine Gefahren egal welcher Art ausgehen.
6. Objektive Zurechnung: Realisierung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung (= der geschaffenen
rechtlich missbilligten Gefahr) im tatbestandlichen Erfolg
Als die Grundformel präzisierende Leitlinie kann die Frage dienen, ob der Erfolgseintritt noch als Werk
des Täters oder als Werk des Zufalls bzw. als Werk des Opfers oder Dritter einzustufen ist. Anders formuliert: Im Erfolg muss sich noch die vom Täter gesetzte Ausgangsgefahr realisieren und nicht ein völlig anderes Risiko, das dem allgemeinen Lebensrisiko entspringt, auf Zufall beruht oder mit einem eigenständigen, die Ausgangsgefahr verdrängenden Verhalten anderer Personen zusammenhängt. Im Kern geht es
also um die Abgrenzung von Verantwortungsbereichen.21
Hier war der X für die gefährliche Flüssigkeit verantwortlich. Das ungesicherte Stehenlassen dieser Flüssigkeit stellt eine rechtlich missbilligte Gefahr dar. Auch ist ein Verletzungserfolg eingetreten. Dieser
20
Rengier, AT § 52 Rn. 15.
21
Rengier, AT § 13, Rn. 48.
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könnte jedoch nicht mehr als Werk des X anzusehen sein, weil der L eigenverantwortlich sich dieser bedient hat. die sich um konkreten Erfolg – den Verletzungen durch die Säure – realisiert hat.
Hinweis: Sehr instruktiv Rengier, AT § 52 Rn. 57:
„Beim Fahrlässigkeitsdelikt geht es in der Konstellation des vorsätzlichen Dazwischentretens um die
Frage, inwieweit die Strafbarkeit einer fahrlässig handelnden Person ausgeschlossen ist, die eine erste
Ursache für den eingetretenen Erfolg gesetzt hat, ansonsten aber im Hintergrund bleibt, weil an ihre
Pflichtverletzung die Vorsatztat einer zweiten Person anknüpft. Man spricht diesbezüglich auch vom
„Ersttäter“ und „Zweittäter“. Aus der Perspektive der §§ 26, 27 ist die fahrlässige Mitwirkung des Ersttäters an der Vorsatztat eines Zweittäters straflos, weil der Teilnehmervorsatz fehlt. Immerhin kann man
wegen der fahrlässigen Förderung von fahrlässiger Teilnahme sprechen. Freilich kennt das Fahrlässigkeitsdelikt Teilnahmekategorien und die Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnahme nicht.
Vielmehr behandelt es im Sinne des sog. Einheitstäterbegriffs jeden Beteiligten als Täter, der eine
Pflichtverletzung begeht und dadurch – beim typischen Erfolgsdelikt – in objektiv zurechenbarer Weise
den Erfolg verursacht.“
Hier interessiert die Konstellation, in der der Ersttäter fahrlässig eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, an die sodann die Fahrlässigkeitstat des Zweittäters anknüpft. Dabei ist zunächst festzuhalten,
dass eine derartige Verletzung von (Garanten-) durch Hinzutreten Dritter nicht den Zurechnungszusammenhang zum fahrlässig handelnden Ersttäter nicht generell ausschließt. Es besteht in dieser Hinsicht
kein Regressverbot.
Die Frage, die man sich in diesem Fall stellen sollte, ist zunächst – und diese Kategorien kennt man aus
der allgemeinen Dogmatik der objektiven Zurechnung – , ob der Schutzzweck der vom Ersttäter verletzten Sorgfaltsnorm auch von einem Zweittäter herbeigeführte Erfolge verhindern soll. Weiterhin gilt es zu
prüfen, ob sich im vom Zweittäter verursachten Erfolg noch das vom Ersttäter gesetzte Ausgangsrisiko
realisiert. Zuletzt muss untersucht werden, ob sich aus den o.g. Punkten und eventuell aus weiteren
Gründen ergibt, dass der Erfolgseintritt auch (bzw. nicht mehr) im Verantwortungsbereich des Ersthandelnden liegt.
Der Schutzzweck besonderer Sicherungspflichten soll gerade davor schützen, dass gefährliche Flüssigkeiten andere direkt verletzen oder dazu missbraucht werden. Das Ausgangsrisiko hat sich gerade in dem
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durch den L herbeigeführte realisiert, da das Risiko, welches von der ungesicherten Flüssigkeit in der Flasche ausgeht, gerade die Verletzung von anderen Personen ist. Zudem ist X als Überwachungsgarant verpflichtet, die Gefahrenquelle Reinigungsmittel so zu sichern, dass von diesem keine Gefahren egal welcher Art ausgehen (s.o.). Aus Garantenpflichten können sich also ebenfalls Pflichten ergeben, Rechtsgutsverletzungen zu vermeiden, die durch das vorsätzliche – und erst recht fahrlässige – Verhalten Dritter
drohen. Mithin hat sich das von X Geschaffene Risiko, nämlich das Versäumen der Sicherung des Mittels
in dem konkreten Erfolg, der Verletzung der A (nur) durch die Säure, verwirklicht (a.A. mit entsprechender Begründung sehr gut vertretbar).
II. Rechtswidrigkeit
Das Handeln war auch rechtswidrig.
III. Schuld
Auch war das Handeln subjektiv sorgfaltspflichtwidrig und vorhersehbar. Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Damit handelt X schuldhaft.
B.) Ergebnis
X hat sich wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar gemacht.
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