Die Befreiung am 8. Mai 1945 als europäische Geburtsstunde – Erinnerung, Verpflichtung, Aufgaben PLENUM am 6. Mai 2015 - TOP 2. Aktuelle Debatte Rede von Brigitte Lösch MdL Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 8. Mai 1945 endete der zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Als die Waffen endlich schwiegen, waren mehr als 60 Millionen Menschen tot – gefallen im Krieg, ermordet in Konzentrationslagern, verbrannt in Bombennächten, gestorben an Hunger, Kälte und Gewalt auf der großen Flucht. Deshalb sind wir heute in Gedanken bei den vielen Millionen Menschen, die während des nationalsozialistischen Regimes verfolgt, gequält, gefoltert und ermordet wurden. 70 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem Ende der industriellen Tötung von Menschen in Vernichtungslagern verneigen wir uns vor denjenigen, die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden. Als Richard von Weizäcker 1985 seine Rede zum 40sten Jahrestag des Kriegsendes hielt, prägte er die Formulierung vom „Tag der Befreiung“ – dies war eine merkbare und notwendige Zäsur in der Erinnerungskultur. Für viele Menschen in Deutschland stellte dies einen großen Fortschritt in der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit dar, denn er stellte das Verhältnis von Ursache und Wirkung richtig. Wir als Deutsche mussten vom Nationalsozialismus befreit werden. Aus eigener Kraft, aus eigenem Antrieb erfolgte dies nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Erinnerung nicht zur hohlen Floskel werden soll und Gedenktage nicht zur Routine verkommen, dann müssen wir auch bereit sein aus der Geschichte zu lernen und das Gelernte in Alltagshandeln umzusetzen. Aus unserer Vergangenheit erwächst die Verpflichtung gegen Totalitarismus, Faschismus und Rassismus aufzustehen. Ich möchte nochmals Richard von Weizäcker zitieren: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das was in der Geschichte daraus wird.“ Und die nächste Generation wird sich an die Menschheitsverbrechen der Nazis nicht mehr erinnern – deshalb müssen wir die Erinnerungskultur fördern. Die Gedenkstättenarbeit, die vielen Bildungsorganisationen und die ehrenamtlich engagierten leisten eine unglaublich wichtige Arbeit für unsere Demokratie, und ich möchte mich an dieser Stelle dafür bedanken. Die Gedenkstätten ermahnen uns zur Wachsamkeit und Zivilcourage und dass wir die Arbeit der über 80 Gedenkstätten sehr schätzen zeigt sich auch daran dass wir durch die schrittweise Anhebung der Landesgedenkförderung (in 2017 auf 750 000 Euro) den Einrichtungen eine nachhaltige und zukunftsorientierte Planung ihrer Projekte ermöglichen. Aus dem Gedenken und Erinnern an die Opfer des zweiten Weltkriegs wächst die Pflicht zu Frieden und Humanität. Wir in Europa haben das große Glück, dass wir auf eine lange friedliche Epoche zurückblicken können. Weltweit aber sterben Menschen in Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen, Hundertausende fliehen vor diesen Bedrohungen. Die Erinnerung an die beiden Weltkriege und an den Terror des NS-Regimes verpflichten uns zu einem gesellschaftlichen Konsens, dass das oberste Gebot die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge sein muss. Die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer ist eine Schande für Europa. Menschenrechtsverletzungen, Krisen und Konflikte zwingen immer mehr Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und in Europa Schutz zu suchen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen dem Sterben von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer endlich ein Ende setzen. Nötig ist umgehend ein europäisches Seenotrettungssystem. Es muss möglich werden, über legale Wege nach Europa zu kommen und einen Asylantrag zu stellen, ohne dabei sein Leben zu riskieren. Die EU-Staaten müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen und gerechter verteilen. Denn sonst ist diese Flüchtlingspolitik die alte geblieben. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres sind bereits 30 mal mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken als im letzten Jahr – in Zahlen heißt das: 1750 Flüchtlinge sind seit Jahresbeginn ums Leben gekommen. Wir dürfen nicht weiter zuschauen wie das Mittelmeer zum Massengrab wird – es ist eine humanitäre Verpflichtung, dass nicht zuvorderst nur die Mittelmeerländer – sondern die EU – als Union – als Werteunion – Flüchtlinge auf ihrem Fluchtweg hilft anstatt wegzuschauen. Wir hätten gegenwärtig eine neue Chance Europa in seinen humanistischen Wurzeln erkennbar werden zu lassen und der zunehmenden Geringschätzung der europäischen Realität etwas entgegenzustellen. Vor dem EU-Parlament in Straßburg forderte er am Mittwoch einen legalen Zugang für Flüchtlinge nach Europa und eine Länderquote. Die Presse lobt den Vorstoß des Kommissionschefs und drängt die Öffentlichkeit, in der Migrationskrise Druck auf die Politik auszuüben. Lassen sie mich nochmals auf das Gedenken und die Erinnerung zum Sprechen kommen, die auch Verpflichtung bedeutet – die Befreiung Deutschlands vor 70 Jahren ist für uns Anlass den Bogen vom historischen zu den aktuellen Herausforderungen in Europa zu schlagen. Das sind zum einen die riesigen Flüchtlingszahlen von Menschen, die aus verschiedenen Gründen bei uns Schutz suchen, zum anderen aber auch die sich bildende rassistische Pegida-Bewegung und ein gesellschaftliches Klima, in der Angriffe auf Flüchtlinge oder Asylbewerber stattfinden, nicht zu vergessen die Angriffe auf Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt! Deshalb müssen wir gemeinsam fortwährend für ein demokratisches und tolerantes Miteinander streiten. Rechtsextremen, antisemitischen und homophoben Gesinnungen dürfen wir keinen Nährboden geben und müssen dem entschieden entgegentreten. Aber zum Glück erleben wir auch, dass immer mehr Menschen quer durch alle Alters- und Berufsgruppen, durch alle religiösen und politischen Überzeugungen gegen diesen Rassismus für Vielfalt und ‚Buntheit‘ auf die Straße gehen - gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Hier erfahren wir: Gelebte, funktionierende Vielfalt, zu der wir alle positiv beitragen, macht ein Gemeinwesen stabil! Lassen sie mich zum Abschluss nochmals Noach Flug zitieren, den ehemaligen Präsidenten des Auschwitz Komitees: „Die Erinnerung ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum.“ Dass die Erinnerung „lebensnotwendig“ ist und „kein Verfallsdatum“ hat, ist vollkommen zutreffend: Einen Schlussstrich kann und darf es nicht geben. Unsere schuldbeladene Vergangenheit lastet bleibend auf uns und bedeutet eine fortwährende Verantwortung. Für uns Heutige verbindet sich diese Verantwortung jedoch weniger mit Schuld, als vielmehr mit dem Auftrag, wachsam zu sein: Wir müssen die Würde jedes Einzelnen schützen und jeglicher Menschenfeindlichkeit wehren. Gerade heute, in einer Welt, in der Kriege und internationale Konflikte wieder zunehmen, sind wir aufgerufen, an dem europäischen Projekt weiterzubauen – und den 8. Mai, als Tag der Befreiung zum Anlass nehmen die unglaublich friedensstiftende Kraft der europäischen Idee nicht aus den Augen zu verlieren – und dieses große Projekt nicht durch nationalstaatliche Arroganz und Egoismus zu beschädigen.
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