13. M A I 2015 D I E Z E I T No 2 0 Selektion im Labor Soll man Frauen nur noch »gute« Embryos einpflanzen? »Ich hätte auch keines gewollt« Werden behinderte Kinder noch stärker diskriminiert, wenn die Präimplantationsdiagnostik in der Schweiz zugelassen wird? Das befürchten manche. Unser Autor BEAT GLOGGER ist Vater eines behinderten Sohnes und plädiert dennoch für ein Ja bei der Abstimmung am 14. Juni W enn mir die Langeweile ein Loch ins Gehirn ätzt. Ich mit meinem autistischen Sohn immer wieder dieselben Sätze wechsle und so tue, als wäre es ein Gespräch. Mir dabei kein zugewandter Tonfall gelingen will. Ich die Spannung nicht mehr aushalte, weil er in stereotyper Bewegung durch die Wohnung hetzt und nach emotionalem oder kognitivem Input sucht. Mir aber die Ideen ausgegangen sind und ich erschöpft bin. Nein, selbst dann stelle ich mir diese Frage nicht: Hätten wir unseren Sohn nicht besser abgetrieben? Aber ich frage mich oft, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn er nicht behindert wäre. Und ich verstehe, dass werdende Eltern kein behindertes Kind zur Welt bringen möchten. Ich selber hätte auch keines gewollt. Und genau deshalb befürworte ich die Präimplantationsdiagnostik (PID), über deren Legalisierung wir in der Schweiz am 14. Juni abstimmen (siehe nebenstehenden Text). Auch wenn meine Frau und ich schon oft am Abgrund standen. Wir lieben unseren Sohn, so wie er ist. Wir tun alles, damit er glücklich ist. Wir waschen ihn, putzen ihm die Zähne, wischen ihn sauber nach dem Toilettengang. Wir suchen die besten Betreuungsmöglichkeiten, organisieren sämtliche sozialen Kontakte und nehmen ihn so oft wie möglich mit in die »normale Welt« – zu Konzerten, in Restaurants, auf Feste. Er kennt in unserer Stadt mehr Leute als ich. Er weiß die Sternzeichen von mehreren Hundert Personen auswendig und kann die Besetzung unzähliger Bands heruntersagen. Das macht Eindruck. Doch was nützt es ihm? Viele Leute finden ihn lustig. Auch wir lachen oft mit. Aber unter unserem Lachen verbirgt sich immer Schmerz. Schmerz, weil unser Sohn in zwanzig Jahren höchstens zweimal zu einem Kindergeburtstag eingeladen worden ist, weil ihn in diesen Jahren kein einziges Mal ein Freund in die Ferien mitgenommen hat. Weil er gar keinen Freund hat. Weil er in seiner autistischen Welt gefangen ist; in seinem zerebral gelähmten Körper. Weil er nicht Rad fahren konnte, nicht schwimmen, nicht Fußball spie- Künstliche Befruchtung: Die medizinischen Tests finden nur genetische Defekte len, praktisch nichts von dem tun konnte, was dividuum, das noch gar keines ist, sondern andere Kinder taten. Weil die Kinder davon- dessen Umfeld, die Eltern. rannten, wenn er auf den Spielplatz kam. Weil Nicht wenige Familien sind unter der Last er dann alleine dastand – und alles kapierte, eines behindertes Kindes zerbrochen. Meist ist aber nicht sagen konnte, wie er sich fühlte. Soll- es der Vater, der abhaut. Mütter werden eher te ich ihm sagen, die Welt sei gut? fanatisch, sektiererisch, geben sich für die BeHalte ich also das Leben meines zerebral ge- hinderung ihres Kindes auf. Unsere Ehe hat es lähmten, autistischen und von einer Epilepsie nicht zerrissen. Woran das liegt, weiß ich geschlagenen Sohnes für wertlos? Sicher nicht. nicht. Vielleicht daran, dass wir nicht so tun, Ja, es ist geradezu perfide, wenn man mich dazu als sei alles gar nicht so schlimm. Denn das noch fragt, ob behinderte Menschen etwa kein Leben mit einem behinderten Kind ist unRecht auf Leben hätten. Denn die Frage ist ver- glaublich anstrengend. kehrt herum gestellt: Sie betrachtet das Leben Warum zeigen Ethikerinnen, die gerne den in der Rückschau. Sie macht die Situation von »Wert der Behinderung« in die Diskussion einheute zur Entscheidungsgrundlage von damals. werfen, in ihren Vorträgen keine Bilder von Das ist unzulässig. Menschen, die wegen spastischen Krämpfen »Aber er gibt euch doch so viel zurück«, ver- dauernd am Rollstuhl festgeschnallt sein müssucht man uns zu trösten – oder besser: uns ein- sen? Oder von Kindern, die mit dem Essen die zureden. Das ist sicher gut Betreuerinnen anspucken, gemeint, zeugt aber mehr weil sie an einer zerebralen »Es ist ein von Hilflosigkeit. Ich frage Bewegungsstörung leiden? zurück: »Was gibt er uns?« Oder von jungen ErwachseHirngespinst, dass Nein, das Lächeln, das einen, die ihr Leben lang nur nem auch ein behindertes die PID Paare unter rumliegen – und sonst Kind dann und wann zu nichts tun können? Druck setzt, keine schenken vermag, wiegt Weil niemand solche nicht die Sorgen und Quabehinderten Kinder Bilder sehen will. Sie würlen auf, die es uns Eltern in den den Mythos vom zur Welt zu bringen« »glücklichen Behinderten« all den Jahren bereitet hat – und bis an unser Lebensenzerstören. Einen Mythos, de bereiten wird. den sich einige Behinder»Es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind«, tenorganisationen auch jetzt wieder zunutze hielt man mir kürzlich in der TV-Sendung machen, um die PID zu verhindern. Mit fröhvor. Nein, dieses Recht gibt es nicht. Ich habe lich lächelnden Jugendlichen, die am Downes auch nie gefordert. Aber ich nehme für Syndrom leiden, suggerieren sie, die Diagnostik mich in Anspruch, selbst entscheiden zu dür- richte sich gegen diese Menschen. fen, wie viel Last ich mir aufladen möchte. Das ist Mumpitz! Dass die PID BehinderunUnd jedes Paar muss das Recht haben, selbst gen ausrotte und so Behinderte in ihrem Wert über seine Zukunft zu entscheiden. Wer will, mindere, lässt sich mit simpler Statistik widerledarf dabei gerne auf die Präimplantations- gen. Erstens ist eine PID nur nach einer Readiagnostik verzichten. genzglasbefruchtung möglich – also bei etwa Wie gesagt: Ich befürworte die PID. Bei zwei von hundert Geburten. Zweitens haben der Entscheidung, welcher Embryo nach einer auch die heute standardmäßig angewandten Befruchtung im Reagenzglas der Mutter Pränataltests – Chorionbiopsie und Fruchteingesetzt wird, geht es nämlich um wasserpunktion – keine Behinderungen einen Zellhaufen, aus dem noch ausgemerzt. Zwar sank nach der Einfühalles werden kann: ein glücklicher rung dieser Tests die Geburtsrate von Mensch, ein depressiver PsychiaMenschen mit Down-Syndrom martriepatient – oder ein Massenmörkant. Aber seit 1990 bleibt sie konstant. der. Die PID betrifft nicht ein InOffenbar sind ältere Mütter, die auch ein höheres Risiko für ein Kind mit Chromosomenanomalien haben, eher bereit, ein behindertes Kind zu akzeptieren. Sie wissen, was sie im Leben tragen mögen. Und drittens findet eine PID – wie auch die konventionellen Pränataltests – nur genetische Defekte. Diese machen aber gerade mal zehn Prozent aller Geburtsgebrechen aus. Der Rest der angeborenen Behinderungen ist auf spontane Entwicklungsstörungen zurückzuführen: ein offener Rücken oder eine zerebrale Lähmung, wie mein Sohn sie hat. Es ist ein Hirngespinst, dass die PID Paare unter Druck setze, keine behinderten Kinder zur Welt zu bringen. Ebenso unbegründet ist die Furcht, wir würden bald zur behindertenlosen Gesellschaft werden: Neben den rund 28 000 Personen, die in der Schweiz eine Invalidenrente wegen eines Geburtsgebrechens beziehen, leben hier 21 000 Menschen, die durch einen Unfall zu IV-Rentnern wurden, und rund 100 000, die ein psychisches Leiden teilweise arbeitsunfähig macht. Keine Frage: Die Situation behinderter Menschen ist in der Schweiz prekär. Dafür verantwortlich sind aber nicht vorgeburtliche Untersuchungen, sondern es ist die Politik. In mehreren Wellen haben bürgerliche Sparapostel in den vergangenen Jahren die öffentlichen Sozialbudgets gestutzt. Die Invalidenversicherung wird unter Druck gesetzt, gegen »Scheininvalide« vorzugehen, sodass auch unsere Familie alle paar Jahre aufs Neue beweisen muss, dass unser zerebral gelähmter Sohn nicht imstande ist, seine Körperhygiene selbst zu verrichten. Dabei wird in Minuten gezählt, wie viel Aufwand uns Eltern dadurch entsteht. Das ist erniedrigend. Und es ist pervers, dass ausgerechnet die sparwütige Schweizerische Volkspartei mit religiösen und pseudo-ethischen Argumenten gegen die PID antritt. Dass ein Drittel der Schweizer Bevölkerung diese Partei und damit deren Umgang mit behinderten Mitmenschen unterstützt, ist nur noch deprimierend. Trotz allem hat die Behinderung unseres Sohns unsere Familie nicht zerrissen. Sie hat uns zusammengeschweißt. Trotz allem arbeiten meine Frau und ich als Selbstständige. Woher wir die Kraft dazu nehmen, weiß ich nicht. Vielleicht schöpfen wir sie trotz allem: aus der Liebe zu unserem Sebastian. Beat Glogger, 55, ist Wissenschaftsjournalist. Er lebt in Winterthur D as größte Elternglück ist manchmal ganz unromantisch. Dank des medizinischen Fortschritts können heute Paare Kinder kriegen, die eigentlich keine Kinder bekommen können. Pro Jahr kommen in der Schweiz etwa 2000 Kinder zur Welt, die außerhalb des Mutterleibs gezeugt wurden. Dafür werden Ei- und Samenzellen in einer Glasschale, also in vitro, zusammengebracht. Gelingt die Befruchtung, werden maximal drei befruchtete Eizellen in die Gebärmutterhöhle eingepflanzt. Die Frau ist nun schwanger. Sie kann, wenn sie will, wie jede andere Schwangere, mithilfe von diversen vorgeburtlichen Kontrollen, also der Pränataldiagnostik (PND), herausfinden, ob ihr Kind an Gendefekten oder Chromosomenanomalien leidet. Und bis zur zwölften Schwangerschaftswoche kann sie sich dafür entscheiden, ein behindertes Kind auszutragen – oder dagegen. Am 14. Juni muss das Schweizer Stimmvolk darüber entscheiden, ob neben der heute selbstverständlichen PND auch die Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt sein soll. So wie dies in den meisten Ländern Europas zulässig ist – nur in Litauen ist sie bei künstlichen Befruchtungen verboten. Kurzum: Eine Frau, die nur auf künstlichem Weg schwanger werden kann, soll den Zustand der Embryos untersuchen lassen dürfen, bevor sie sich diese einpflanzen lässt. Embryonen mit einem genetischen Defekt könnten so vor der Einpflanzung aussortiert werden. Wie alle ethischen Fragen wird auch diese heftig, kontrovers und nicht entlang der Parteigrenzen geführt. Die Vorlage spaltet nicht nur die CVP, sondern auch die SVP und die SP. Und auch die Stimmbürger. Eine Befragung des Forschungsinstituts gfs.bern ergibt, dass Ende April 44 Prozent von 1212 Befragten Nein oder eher Nein zur Vorlage gesagt hätten. Für die Befürworter ist die Verfassungsänderung eine zeitgemäße und sinnvolle Vorverlegung der Pränataldiagnostik zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Die PIDGegner hingegen sehen darin ein »Instrument der Selektion«, mit dem zwischen »wertvollem und minderwertigem Leben« unterschieden wird – und das es darum zu bekämpfen gilt. Sie sehen das Recht des ungeborenen Kindes in Gefahr und fürchten, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Ersatzlager- und Designerbabys künstlich erzeugt werden. Was stimmt nun? Dient der Verfassungsartikel einer seriösen Reproduktionsmedizin – oder wird damit die Büchse der Pandora geöffnet? Welche Folgen ein Ja am 14. Juni genau hat, wird erst das Fortpflanzungsmedizingesetz regeln. Dieses wird ebenfalls geändert. Klar ist, der PID sollen in der Schweiz enge Schranken gesetzt werden. Und sie darf nur in zwei Fällen eingesetzt werden: um eine Unfruchtbarkeit zu überwinden und die Gefahr einer schweren Erbkrankheit beim Kind abzuwenden. Konkret: In Zukunft sollen so viele Eizellen befruchtet werden dürfen, wie »für die medizinisch unterstützte Fortpflanzung notwendig sind«. Heute sind nur drei Eizellen erlaubt. Tritt keine Schwangerschaft ein, muss die Befruchtung im Frau die langwierige Reagenzglas Vorbereitungsprozedur von Neuem beginnen. Die überzähligen, befruchteten Eizellen sollen künftig eingefroren werden dürfen. Auch das ist heute verboten. Und schließlich sollen die Embryos vor der Einpflanzung untersucht werden können. In diesem Punkt geht der Vorschlag des Parlamentes weiter als jener des Bundesrats. Dieser wollte die Untersuchung nur jenen Paaren erlauben, die Träger von schweren Erbkrankheiten sind. Andere reproduktionsmedizinische Träume, etwa die Auswahl eines immunkompatiblen Embryos für ein krankes Geschwister – ein sogenanntes Retterbaby –, die Wahl des Geschlechts oder der bevorzugten Augenfarbe, sollen verboten bleiben. Genauso wenig darf einem gehörlosen Paar zu einem gehörlosen Kind verholfen werden – was theoretisch möglich wäre. Was auch immer der 14. Juni bringen wird. Die Abstimmung ist nur ein Testlauf für das Gesetz über die Fortpflanzungsmedizin. Das Referendum dagegen ist bereits angekündigt. Die Kinderfrage bleibt der Schweizer Politik also erhalten. SARAH JÄGGI Fotos: Karsten Schmid/fotolia; dpa; privat (u.) 10 SCHWEIZ
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