St. Galler Tagblatt, 30.4.2015

2 Thema
Donnerstag, 30. April 2015
ZUR SACHE
Auswärtige müssen
wählbar sein
Gallus Pfister wurde am 12. April
zum Gemeindepräsidenten von
Heiden gewählt. Da er damals
nicht in der Gemeinde wohnte,
sind seine Stimmen ungültig.
D
er Schlamassel in Heiden ist perfekt. Der
Ausserrhoder Regierungsrat heisst eine
Stimmrechtsbeschwerde teilweise gut
und erklärt die Stimmen für den neugewählten
Gemeindepräsidenten Gallus Pfister für ungültig.
Dieser hatte zum Zeitpunkt der Wahl seinen
Wohnsitz nicht in Heiden, sondern in Wil. Damit
steht das Biedermeierdorf ab Juni vorübergehend
ohne Gemeindepräsident da – erst am 14. Juni ist
nochmals ein Wahlgang fällig. Die Stimmberechtigten allerdings haben sich kürzlich deutlich für
Pfister ausgesprochen. Der Kandidat einer überparteilichen Findungskommission erhielt mit 651
Stimmen fast 300 Stimmen mehr als der zweitplazierte Ueli Rohner. Dieser hat inzwischen auch
die Wiederwahl in den Gemeinderat abgelehnt
und wird sich nicht mehr als Kandidat zur Verfügung stellen. Sofern keine Überraschungskandidaten auftauchen, dürfte also am 14. Juni erneut
Pfister als Gemeindepräsident gewählt werden.
Spätestens dann stellt sich die Sinnhaftigkeit
der Beschwerde. Sie sorgt für eine unnötige Verzögerung. Allerdings: Die Findungskommission
hätte im Vorfeld abklären können, ob die Wahlvoraussetzungen erfüllt sind. Sie hätte schnell
bemerkt, dass Auswärtige nicht wählbar sind. Das
bestätigt nun auch der Entscheid des Regierungsrats. Diese Einschränkung ist nicht mehr zeitgemäss. Es wird zusehends schwieriger, Kandidaten zu finden. Deshalb wird über die Gemeindeund Kantonsgrenze hinaus nach geeigneten Personen gesucht. Dass diese schon vor einer allfälligen Wahl bloss der Form halber ihren Wohnsitz
in die Gemeinde verlegen müssen, ist Unsinn. Es
gilt das Gesetz nachzubessern. So können missliche Situationen dieser Art verhindert werden.
Patrik Kobler
patrik.kobleryappenzellerzeitung.ch
 OSTSCHWEIZ 19
PRESSESCHAU
In Baltimore kam es zu heftigen Ausschreitungen nach
dem Tod eines jungen Schwarzen in Polizeigewahrsam.
Die Probleme in der
Polizeibehörde reichen Jahre zurück. Der Tod von
Freddy Gray zeigt auf grausame Weise, dass noch viel
an dem Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung
verbessert werden muss. Zu klären sind nicht nur die
Fehler der Polizei, sondern auch, wie es dazu kam, dass
ganze Stadtviertel dem Verfall überlassen wurden. Was
grundsätzlich in Baltimore fehlt, ist ein Vertrauen, dass
Gerechtigkeit für jeden seiner Einwohner erreichbar ist
unabhängig von Herkunft und Lebensumständen.
Der erste Schritt zur
Besserung liegt darin, dass sich Amerikas Polizisten
zügeln. Ihr oft martialisches und herablassendes
Gehabe verstört nicht nur schwarze Amerikaner. Sie
aber stehen praktisch unter Generalverdacht. Die
Gerichte in Baltimore haben den Opfern von
Polizeigewalt innert vier Jahren fast sechs Millionen
Dollar zugesprochen, oft wegen Knochenbrüchen.
Obwohl das Land seit Monaten über Polizeigewalt
redet, töten Polizisten noch immer.
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Bild: ky/Peter Klaunzer
War sieben Jahre lang Präsident der grössten Behindertenorganisation im Kanton Freiburg: Innenminister Alain Berset.
«Sie wird seit Jahren gemacht»
Bundesrat Alain Berset erklärt, warum das Verbot der Präimplantationsdiagnostik
bei der Abstimmung am 14. Juni fallen soll. Und inwiefern das Thema ihn selber betrifft.
EVA NOVAK/SERMˆIN FAKI
Herr Berset, Ihre eigene Partei versagt
Ihnen die Gefolgschaft bei der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik
(PID), die CVP hingegen hat für die
Verfassungsänderung die Ja-Parole gefasst. Was heisst das für den Urnengang
am 14. Juni?
Alain Berset: Das stimmt so nicht: Die
SP hat sich zunächst klar für die
Änderung der Verfassung ausgesprochen. In einer zweiten Abstimmung
hat sie allerdings Stimmfreigabe entschieden, weil Fortpflanzungsmedizin ein sehr persönliches Thema ist,
zu dem man den Parteimitgliedern
keine Empfehlung abgeben wollte.
Ich verstehe das. Es freut mich, dass
die meisten Parteien den Verfassungsartikel unterstützen, denn bei
einem Nein geraten wir in eine
schwierige Situation.
In welche?
Berset: Dann ist die PID auf Jahre hinaus vom Tisch. Ein Paar, das von
einer schweren Erbkrankheit betroffen ist, hat dann weiterhin nur zwei
Möglichkeiten. Entweder es zeugt
quasi ein Kind auf Probe. Und wenn
dann die Tests nach einigen Wochen
ergeben, dass das Kind stark leiden
müsste oder gar keine Überlebenschance hätte, muss sich das Paar entscheiden, ob es die Schwangerschaft
abbricht. Das ist sehr belastend.
Oder das Paar geht ins Ausland.
Berset: Richtig. In jedem Fall kommen die betroffenen Paare in eine
schwierige Situation mit viel Leid.
Glücklicherweise bleibt die grosse
Mehrheit der Paare davon verschont,
weil die Gründung einer Familie normalerweise ohne medizinischen Eingriff funktioniert. Für die wenigen
Ausnahmefälle brauchen wir aber
eine vernünftige Lösung, die sie freiwillig wählen können. Genau dafür
legt der Verfassungsartikel die
Grundlage.
Der Bundesrat wollte eine restriktivere
Lösung als das Parlament beschlossen
hat. Mutet man der Bevölkerung einen
zu grossen Schritt zu?
Berset: Unterschiede zwischen Bundesrat und Parlament gab es beim
Gesetz, wo das Parlament weiter gegangen ist als es der Bundesrat vorgeschlagen hatte. Doch über das Gesetz
werden wir erst im kommenden Jahr
abstimmen, falls das Referendum ergriffen wird. Die einzige Frage, über
die wir am 14. Juni entscheiden müssen, ist die der Änderung der Verfassungsgrundlage. Daran hat das Parlament nichts geändert.
Das Gesetz liegt bereits vor und es ist
unmöglich, über den Verfassungsartikel
zu sprechen, ohne die konkrete Ausgestaltung zu beachten. Fürchten Sie
nicht, dass der Verfassungsartikel am
Gesetz scheitert?
Berset: Bestimmte Kreise versuchen,
beides zu vermischen, weil sie Unsicherheit schüren wollen. Doch ich
Die Anwendung wird
begrenzt bleiben. Eine
künstliche Befruchtung
ist belastend und teuer.
bin zuversichtlich, dass die Bevölkerung den Unterschied versteht und
am 14. Juni Ja sagt. Auch Behindertenverbände, die dem Gesetz kritisch
gegenüberstehen, sprechen sich für
die Änderung des Verfassungsartikels
aus. Mit einem Nein ist nämlich
nichts gewonnen. Die PID würde ja
nicht verschwinden. Es gibt sie, sie
wird seit Jahren gemacht – einfach im
Ausland, wo die Regeln meist viel
liberaler sind. Ich finde: Statt eine solche Vogel-Strauss-Politik zu praktizieren, ist es besser, die PID bei uns
zuzulassen, aber zu unseren Bedingungen, mit engen Grenzen, die wir
selber definieren.
Gegner der PID fürchten, dass sich
Eltern künftig rechtfertigen müssen,
wenn sie ein behindertes Kind haben.
Berset: Diese Gefahr droht nicht, das
zeigen Erfahrungen aus anderen
Ländern, in denen die PID schon
lange zugelassen ist. Wir alle kennen
betroffene Paare und behinderte
Menschen. Ich selbst war vor meiner
Zeit im Bundesrat sieben Jahre lang
Präsident der grössten Behindertenstiftung im Kanton Freiburg. Für
mich ist das bis heute eine Herzensangelegenheit, ich fühle mich nach
wie vor eng mit diesen Kindern und
Erwachsenen verbunden. Zu sagen,
aus Respekt vor diesen Menschen
dürfe man nicht über die Frage der
PID diskutieren, halte ich aber für
falsch. Und noch einmal: Der Rahmen ist sehr eng gesetzt.
Aber wie lange wird das so bleiben?
Paare, die auf natürlichem Weg
schwanger werden und denen die PID
nicht offen steht, können zu Recht eine
Ungleichbehandlung reklamieren.
Berset: Das stimmt. Dennoch wird die
Anwendung der PID weiterhin auf
wenige Paare begrenzt bleiben. Nur
schon, weil eine künstliche Befruchtung sehr belastend und teuer ist. Ich
glaube kaum, dass Paare, die auf
natürlichem Weg Kinder bekommen
können und bei denen es keine erbliche Vorbelastung gibt, solche Strapazen und Kosten auf sich nehmen.
Steuert man mit der Zulassung der PID
nicht auf eine Gesellschaft ohne Behinderungen und Krankheiten zu?
Berset: Nein. Der Bundesrat hat die
PID mit dem Verfassungsartikel sehr
eng begrenzt. Sie zu beanspruchen,
ist absolut freiwillig. Es gibt keinen
Zwang und übrigens auch keine Kostenübernahme durch die Grundversicherung. Restriktiver als der jetzige
Vorschlag geht es fast nicht. Zudem
sind die allermeisten Behinderungen
nicht genetisch bedingt.
Dann fürchten Sie keinen Dammbruch,
der dazu führt, dass wir in einigen Jahren blauäugige oder besonders kluge
Kinder auswählen?
Berset: Nein. Man hätte ja viel weiter
gehen und eine unbegrenzte Anzahl
von Embryonen pro Behandlungszyklus zulassen können, oder Retterbabies und Babies «auf Bestellung»
mit dem gewünschte Geschlecht und
bevorzugten Eigenschaften. Das ist
mit der vorgeschlagenen Verfassungsänderung verboten – zum
Anzeigen: Fonds 14 Marktplatz 20 Traueranzeigen 25 Ostevent 32/34 Service: Börse 14 Radio/TV 33 Kino 34 Wetter/Sudokus 35
Glück. Aber selbst, wenn es eines
Tages solche Forderungen geben sollte, können wir auf die demokratischen Prozesse vertrauen – Debatte,
Parlamentsentscheid, Referendum,
Volksabstimmung. Wir müssen uns
vor solchen Diskussionen nicht
fürchten.
Einige gehen schon jetzt sehr viel weiter.
Liberale Ethiker sprechen den Eltern die
Pflicht zu, den Nachwuchs genetisch zu
verändern, um ihm bessere Chancen zu
bieten. Ist das für Sie ein Thema?
Berset: Das kommt für mich nicht in
Frage. Mit der gleichen Begründung
könnte man fordern, dass Kinder, die
nicht absolut gesund sind, abgetrieben werden müssen. Undenkbar.
Die Gegner sagen, mit der Aufhebung
des PID-Verbots erlaube der Staat den
Wir müssen klar sagen:
Die Frage, ob man hier
Gott spielt oder nicht,
ist akademisch.
Menschen, Gott zu spielen. Was antworten Sie ihnen?
Berset: Mit dieser Argumentation
muss man vorsichtig sein. Damit
stellt man letztlich auch die Chirurgie
in Frage – ebenso wie all die Möglichkeiten der modernen Medizin, welche uns erlauben, kranke Menschen
zu heilen. Das kann zu äusserst bedenklichen Diskussionen führen.
Ethische Fragen muss man aber sehr
ernst nehmen. Und wir müssen auch
klar sagen: Die Frage, ob man Gott
spielt oder nicht, ist akademisch,
wenn man daran denkt, dass man
von jedem Punkt der Schweiz aus mit
etwa zwei Stunden Fahrt in ein Spital
gelangt, wo die PID erlaubt ist – aber
nach ausländischen Regeln.
Hat der Verfassungsartikel Ihrer Meinung nach gute Chancen vor dem Volk?
Berset: Ich glaube und hoffe es. Mir
wäre nicht wohl, wenn die PID zwar
weiterhin angewandt wird, wir aber
unsere Augen davor verschliessen.