Analyse 1

08.04.2015
Bericht zum Erstantrag für analytische Psychotherapie
Chiffre:
1.
„Ich bin bereit alles zu tun, was Sie mir sagen, Hauptsache, wir können irgendwann eine
glückliche Familie sein“. Die 34 jährige Pat. kommt auf dringende Empfehlung ihres
Hausarztes und schildert mit deutlich spürbarer Verzweiflung ihre aktuelle Symptomatik. Die
Industriekauffrau könne sich am Arbeitsplatz kaum noch konzentrieren, leide an ständigen
„Heulanfällen“ und einer zunehmenden Schwäche. Wenn Frau D. alleine sei, fühle sie sich
„tief traurig und einsam“ und verspüre einen starken Schwindel, der ihr große Angst bereite.
Ihre „ewigen schlimmen Stimmungsschwankungen“ belasteten ihre Partnerschaft und
führten zu ständigen Streitereien in ihrer „On-Off-Beziehung“, die wie folgt ausschaue: In
„On-situationen“ lebe Frau D. mit der gemeinsamen dreijährigen Tochter bei ihrem Freund
und pendele dann wegen ihrer 50km entfernten Arbeitsstelle und der Kindergrippe täglich hin
und her. Sobald es zu einer erneuten Auseinandersetzung zwischen dem Paar komme,
packe Frau D. „alles zusammen“ und ziehe mit dem Kind zurück in ihre Wohnung. Dieser
komplette Ein- und Auszug finde monatlich statt. Wenn es ihr schlecht gehe, müsse sie
zudem „große Mengen“ essen, was zu einer kurzfristigen Beruhigung führe, sie sich danach
aber umso schlechter fühle.
2.
Die Pat. scheint kaum Erinnerungen an ihre Kindheit zu haben, Schilderungen bleiben
auffallend blass und oberflächlich. Ihre Eltern seien aus XX nach Deutschland
ausgewandert, sie selbst sei in X geboren und aufgewachsen. Frau D. habe eine ältere
Schwester (+9J) und einen jüngeren Bruder (-2), mit dem es häufige Streitereien gegeben
habe. Ansonsten sei sie „sehr glücklich“ gewesen und „ich hatte alles, was man brauchte.“
Sowohl Mutter (+30) als auch der Vater (+40) hätten jedoch als Arbeiter kaum Zeit gehabt,
sich um die Kinder zu kümmern. Die Mutter, deren Unbeholfenheit die Pat. „gehasst“ habe,
sei sehr auf Ordnung und Sauberkeit aus gewesen. Sie habe ständig geputzt, („fast schon
steril“) und sich dem Vater “total überlassen und untergeordnet“. Ihre Mutter könne keine
Gefühle zeigen. Ansonsten habe sie kaum Erinnerungen, fast so, als sei „die Mutter nie da
gewesen.“ Im Gegensatz zur Mutter wird der Vater ausschließlich positiv geschildert. Frau D.
fühlte sich von ihm am „meisten geliebt“ und habe immer so sein wollen wie er. Andererseits
berichtet sie, dass der Vater ihr nie gesagt habe, dass er sie liebe, Frau D. habe es aber
vermutet. Die schulische Entwicklung verlief laut Pat. unauffällig. Nach Grund-, Haupt- und
Realschule habe sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau absolviert und sei noch immer im
selben Unternehmen angestellt. In engeren Beziehungen sei es bereits in der Pubertät zu
häufigen Konflikten gekommen, weshalb die Pat. kaum soziale Kontakte gepflegt habe.
Überhaupt sei die Adoleszenz eine schwierige Phase gewesen, seit der die unter 1
geschilderten Beschwerden bestehen würden. Ihre aktuelle Beziehung, die nun seit 5 Jahren
halte, habe sich ihrer ersten Partnerschaft angeschlossen. Ihr Freund sei erfolgreicher
Gastronom und sehr eng mit seiner Mutter verbandelt, „es gilt, was diese Frau sagt.“
Gemeinsam mit ihrem Partner habe Frau D. eine dreijährige Tochter, wobei es die Pat. sehr
bedaure, wegen ihrer Arbeit kaum Zeit für sie zu haben. Phasen, in denen es als Familie gut
laufe, wechseln sich laut Pat. aufgrund seines erhöhten Alkoholkonsums und ihrer Labilität
mit „der Hölle“ ab, die dann ihren Rückzug in die eigene Wohnung bedinge.
3.
Keine wesentlichen somatischen Erkrankungen.
4.
Die kleine und deutlich übergewichtige Patientin erscheint auf die Sekunde genau zu den
Sitzungen. Auffallend blaue Augen gehören zu einem sehr ebenmäßigen hübschen Gesicht,
um das sich ihr langes dunkles Haar legt. Frau D. ist gepflegt und zur Figur und ihrem Alter
entsprechend gekleidet. Ihre telefonische Kontaktaufnahme wirkt wie ein Hilferuf; in den
einzelnen Sitzungen, in denen der Pat. immer wieder Tränen kommen, wird ihre
Verzweiflung deutlich spürbar. Sie sei zu „allem“ bereit, um ihre Beziehung zu halten. Die
Pat. spricht schnell und haltlos. Ich fühle mich als Person gar nicht wirklich wahrgenommen
und von ihrer gehetzt vorgetragenen Wortmasse fast „erschlagen.“ In der Gegenübertragung
entstehen aufgrund ihrer unterwürfigen und hilflosen Haltung schnell Helferimpulse und
betroffene Anteilnahme, aber auch Wut und Angst, von ihrer Wortlawine erdrückt zu werden
und vor einer der Idealisierung folgenden Entwertung. In der Abwehr dominieren Spaltung
und Verdrängung, sowie Projektion, Regression und Wendung gegen das Selbst. Sie ist zu
allen Qualitäten orientiert, von Suizidalität ist sie glaubhaft distanziert, es besteht keine
Sucht.
5.
Siehe Konsiliarbericht.
6.
Die Kindheit der Pat. scheint durch eine unzureichende Befriedigung frühkindlicher
Geborgenheits- und Schutzbedürfnisse durch eine häufig abwesende und unbeholfene,
schwache Mutter geprägt worden zu sein. Eine Mutter, von der nur erinnert wird, dass sie
keine Gefühle habe zeigen können und nur auf Sauberkeit geachtet habe, konnte vermutlich
nicht für genügend Sicherheit, ausreichend Spiegelung und eine warmherzige Atmosphäre
sorgen. Dabei scheint Frau D. schon früh gelernt zu haben, durch Spaltungsprozesse die
Gegensätze, die sie nicht ertragen kann, aufzulösen und ihr Leben somit größtenteils zu
bewältigen. Diese Art der Abwehr lässt sich bei der Schilderung ihrer Eltern erkennen, in
dem Frau D. den wütenden Anteil ihrer Objektvorstellung auf ihre Mutter und den liebenden
auf den Vater projiziert. Der wichtige Entwicklungsschritt, dass der geliebte andere auch der
versagende und gehasste sein kann, findet nicht statt. Dazu kommt die Vermutung, dass die
frühkindlichen Ängste durch Introjektion negativer und nicht bewusst erinnerbarer
Erfahrungen in der Mutter-Kind-Dyade die Verinnerlichung verfolgender Objekte verursacht
wurde. Diese „bösen“ Objekte in ihr sind bis heute präsent und lassen sich von ihr alleine
aufgrund der geringen strukturellen Fähigkeit, positive und negative Anteile zu integrieren,
nicht regulieren. Somit bleibt Frau D. bis heute auf Bezugspersonen angewiesen, die sie im
Sinn primärer dyadischer Objektbeziehungen braucht, um von diesen massiven Ängsten
nicht völlig überflutet zu werden. Bezugspersonen sind für sie Teil-Objekte. Ihre heftigen
Reaktionen bei Versagungen dieser Teil-Objekte bzw. Bewusstwerdung der Getrenntheit von
diesen sind somit als Ausdruck tiefer Verzweiflung und früher Verlassenheits- und
Fragmentierungsängste einzuordnen. In Trennungssituationen kommt es daher zum
psychischen Zusammenbruch und der Symptomentstehung. Ihre Objektangewiesenheit
befriedigt sie durch eine entsprechende Partnerwahl, in der sich das Beziehungsmuster ihrer
Eltern widerspiegelt und sie durch identifikatorische Übernahme der Rolle ihrer Mutter in
ihrer Vorstellung dem idealisierten Vater nahe sein und ihre Bedürftigkeit zeigen kann, sich
aber gleichzeitig ablehnen (aufgrund der negativen mütterlichen Introjekte) und in ihrer
existenziellen Abhängigkeit hassen muss, was wiederholt zur Dekompensation führt. Ihre
Gier nach Beziehung und die damit verbundene ungestillte Sehnsucht zeigen sich in ihren
Essattacken, die den Selbsthass vergrößern und den Teufelskreis bedingen. Zudem äußern
sich die Ängste in abgewehrter Form in der narzisstisch anmutenden Wut aufgrund der für
sie nicht kontrollierbaren und letztlich versagenden Objekte. Dies wird durch Wendung
gegen das Selbst in Form der depressiven Symptomatik abgewehrt.
7.
Mittelgradige depressive Episode (F32.1), Binge eating (F50.4), V.a. emotional instabile
Persönlichkeitsstörung (F60.3) bei emotional instabiler Persönlichkeitsstruktur auf niedrigem
bis mittlerem Strukturniveau vor dem Hintergrund eines Individuation-AbhängigkeitKonfliktes.
8.
Die Indikation einer analytischen Behandlung basiert auf der Notwendigkeit für eine Arbeit an
den strukturellen Defiziten und dem repetitiven maladaptiven Bewältigungsmuster der Pat.,
die dazu führen, dass die Pat. immer wieder in ähnlichen Situationen dekompensiert.
Strukturell zeigen sich bei der Patientin Einschränkungen und Defizite vor allem in den
Bereichen der Selbststeuerung, Affekttoleranz, Objektkonstanz sowie in der Fähigkeit, auf
gute innere Objekte zurückgreifen zu können. Dabei zielt die Therapie vor allem auf eine
Nachreifung ihrer Ichentwicklung ab, indem die defizitären Ich-Funktionen gestärkt und die
Spaltungsabwehr geschwächt werden. Durch die anvisierte Integration ihrer polaren Selbstund Objektvorstellungen zu einem umfassenderen Erleben wird es primär darum gehen,
dass ich eine Hilfs-Ichfunktion übernehme und Frau D. in der Differenzierung von
Wahrnehmungen durch Stärkung ihrer mangelnden Selbstreflexion und in ihrer Einfühlung
unterstütze. Frau D. soll mich als eine wohlwollende, ihr ungeteilte Aufmerksamkeit
widmende und verlässliche Person erleben. Sie soll die korrigierende Beziehungserfahrung
von Annahme, Halt und Ermutigung erleben, um eine erste Stabilisierung erreichen zu
können. Durch das Erleben eines „sicheren Hafens“, der ihr auch die Erfüllung ihrer
Bedürfnisse nach Spiegelung, Geborgenheit und Sicherheit ermöglicht, kann Frau D. auch
in strukturspezifischen Belastungssituationen Stabilität und Geborgenheit erfahren, um sich
an eine Auflösung der dysfunktionalen Wiederholung heranzutrauen und die bisher
verdrängte Vergangenheit ins bewusste Erleben zu rücken. Die Bearbeitung ihrer Neigung
zu impulsivem Streit und unüberlegten Handlungen muss gerade aus Rücksicht auf ihre
Tochter einen großen Platz in der Behandlung einnehmen. Zur Erreichung der
umschriebenen Ziele werden 160 Stunden analytische Psychotherapie mit einer Frequenz
von zwei Sitzungen pro Woche beantragt.
9.
Die Pat. erscheint pünktlich und motiviert zu den Terminen. Für eine gute Prognose spricht
die Tatsache, dass die Pat. ihr Leben trotz widriger Umstände bisher erfolgreich und
zielstrebig gemeistert hat und über eine gute Intelligenz und einen starken Lebenswillen
verfügt. Partielle Lebensbewältigung besteht in der Stabilität ihrer beruflichen Entwicklung.
Die Gesamtprognose gestaltet sich daher hinsichtlich der Therapieziele als ausreichend
günstig.