Systemverbund Bahn Mobilitätstrends Digitale Agenten für die Planung der Mobilitätszukunft Benno Bock und Yasemin Dönmez, Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) GmbH, Berlin Komplexe Fragestellungen zu aktuellen Mobilitätstrends bringen häufig den Wunsch nach konkreten Zahlen mit sich. Das zeigt sich auch in den letzten Jahren bei der gesellschaftlichen Diffusion neuartiger Mobilitätsprodukte, wie zum Beispiel der Elektromobilität oder des free-floating-Carsharing. Bei welcher Durchdringung von Elektrofahrzeugen setzt die Lärmminderung spürbar ein? Wie platziert man am besten die Ladeinfrastruktur? Werden Busfahrten durch Carsharing ersetzt und wenn ja wie viele? Und das nächste große Thema steht schon vor der Tür: autonome Verkehre. Wir befinden uns also in einer Zeit, in der Modellierungstools der Verkehrsplanung auf dem Prüfstand stehen und mit neuen Herausforderungen einem echten Flexibilitätstest unterzogen werden. Traditionell wird in der Verkehrsplanung der Vier-Stufen-Prozess zur Quantifizierung von Mobilitätsstrukturen genutzt. Namensgebend sind für diese Modellierungsmethode die vier Stufen Verkehrserzeugung, Verkehrsverteilung, Verkehrsauswahl und Verkehrsumlegung. Der Vier-Stufen-Prozess liefert nützliche Modelle des Verkehrsaufkommens – jedoch können aufgrund der zeitlich und räumlich aggregierten Daten dynamische und kleinteilige Prozesse nicht abgebildet werden. Eine Hilfeleistung zur Bewertung, zum Beispiel der oben stehenden Fragen, kann kaum erbracht werden. Um zeitlich variable Modelle zu generieren, greifen heutzutage immer mehr Modelle auf aktivitätsbasierte Daten aus Wegetagebüchern zurück, jedoch wird auch bei ihnen weiterhin eine räumliche Aggregation der Daten vorgenommen. Multi-Agenten-Modell Bei einem Multi-Agenten-Modell wird über die Nutzung von aktivitätsbasierten Daten hinaus eine synthetische Bevölkerung aus so genannten Agenten simuliert. Die grundlegende Konzeption ist hier, dass durch eine inkrementelle Verkleinerung der Verkehrszellen letztendlich Haushalte oder Individuen übrigbleiben. Multi-Agenten-Modelle weisen daher eine sehr hohe Flexibilität in den Möglichkeiten der Anpassung von Nachfrage, Verteilung und Auswahl auf, so dass sehr spezifische Aussagen bei einem angemessenen Aufwand getroffen werden können. Damit können solche Modelle ein verändertes Verhalten aufgrund neuer Mobilitätsangebote abbilden. Um die Auswirkungen einer weiteren Verbreitung von SharingProdukten zu quantifizieren, wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Berlin elektroMobil ein Carsharingmodell für den Berliner Raum in Form einer Multi-Agenten-Simulation erstellt. Neben der Frage nach der Wirkungsstärke war auch die Machbarkeit einer solchen Studie und die Qualität der Ausgabe eine wichtige Motivation für die Durchführung. Das Modell, welches auf ein bestehendes BVG-Modell fußt, umfasst vier Millionen Agenten in Berlin und unmittelbarem Umland sowie fünf Verkehrsträger inklusive der Carsharing-Varianten. Berechnungen wurden für vier Fallstudien des damaligen Prognosejahrs 2015 durchgeführt. Die Programmierung der neuartigen Verkehrsmitteleigenschaften wurde vom Schweizer Unternehmen Senozon mit dem Simulationspaket MATSim durchgeführt. Alle Rechte vorbehalten • Bahn Fachverlag GmbH Deine Bahn 3/2015 35 Systemverbund Bahn Die Grundlage für das Aufkommen der etablierten Verkehrsmittel sind Landnutzungsdaten und Daten der größten deutschen Mobilitätserhebungen. Für die Carsharing-Angebote wurden Parametergrundlagen auch über Buchungsdaten generiert. Und hier liegt ein weiterer Vorteil von Multi-Agenten-Systemen, denn eine Kombination mit einer passiven Datenerhebung, zum Beispiel durch Smartphone-Tracking, ist gut umsetzbar. Eine Erprobung eines solchen Vorgangs wird zurzeit für das Elektromobilitätsprojekt e-GAP in Garmisch-Partenkirchen durchgeführt, um eine eigene Datengrundlage für touristische Verkehre zu beschaffen. Die Erfassung der Datengrundlage führt zu einem umfangreicheren Datensatz bei einem gleichzeitig geringer werdenden Erhebungsaufwand. InnoZ Carsharing-Modell Die räumliche und zeitliche Verteilung der Wege im InnoZ Carsharing-Modell erweist sich als realistisch und zeigen, dass die Methode für Carsharing-Untersuchungen brauchbar ist. Die Ergebnisse helfen bei der Wirkungsanalyse der neuen Angebote. Eine Erhöhung der Stationsdichte für das stationsbasierte Carsharing führte im Modell zu einem überproportionalen Nachfrageanstieg. Weiterhin konnte das Modell zeigen, dass stationsbasiertes und flexibles Carsharing eher als komplementäre anstatt als konkurrierende Produkte wirken: Bei Addition von flexiblem Carsharing steigt die Nutzung des anderen. Interessant sind aber insbesondere die Auswertungen zum Modal-Shift, also der Verschiebung der Verkehrsmittelwahl, die sich hier allein auf die Kundengruppe beziehen. Der Modal-SplitAnteil des öffentlichen Verkehrs ist bei einem dichten Angebot an Stationen am höchsten. Aber auch nach der Einführung des flexibleren Produkts steigt der Modal-Split-Anteil im Vergleich zu 2011. Nach dessen Einführung nimmt die Größe des Bediengebiets einen wesentlichen Einfluss auf den Modal-Shift. Bei einem großen Bediengebiet ist der Anteil der Privat-PKW am geringsten, die Beschränkung des flexiblen Carsharings auf Gebiete im Stadtzentrum hingegen geht zu Lasten des Radverkehrsanteils. Aus der Sicht der Kommune wäre also ein möglichst großes Bediengebiet, welches auch Stadtteile mit starker Autoorientierung umfasst, anzustreben. Die eigentliche Herausforderung besteht in der Formulierung der Szenarien. Welche Kundenanzahl erwarten wir bei welchen typischen Kundeneigenschaften? Produktinnovationen im Mobilitätsbereich durchlaufen einen schwer einschätzbaren Diffusionsprozess, der stark von weichen Faktoren beeinflusst ist. Die Nutzung, zum Beispiel eines Pedelecs, hängt eben nicht nur davon ab, wie teuer es ist und wie schnell es fährt, sondern auch davon, wie das Fahrerlebnis ist und ob der Nachbar eins vor der Haustür stehen hat. Individuelle Emotionen zu neuen Technologien und die Art, wie sie kommuniziert werden, entscheiden über die Verbreitungsweise. Aber auch zu dieser Herausforderung gibt es wissenschaftliche Lösungsansätze. Neuartige, ebenfalls agenten-basierte Kommunikations- und Diffusionsmodelle könnten in Zukunft mit Modellen, wie dem InnoZ Carsharing-Modell für Berlin kombiniert werden. Der Fachbereich Urbane Zukunft der Fachhochschule Potsdam experimentiert mit Modellen zur Bewertung von politischen Fördermaßnahmen für Elektromobilität in Berlin. Mit dem hierfür entwickelten „InnoMind-Modell“ können Strategien wie zum Beispiel eine Elektrofahrzeugzone, steuerliche Förderungen oder Kommunikationskampangen bewertet werden. Für verschiedene Bevölkerungsgruppen ist die Veränderung ihrer Einstellung zu unterschiedlichen Verkehrsmitteln nach Ablauf eines Diffusionsprozess simulierbar. Übersicht über die Modal-Split Ergebnisse des InnoZ Carsharing-Modells Szenario Bevölkerung Kunden stationsbezogenes Carsharing (CS fix) Kunden free-floating Carsharing (CS flex) Carsharingstationen Fahrzeuge CS fix Fahrzeuge CS flex Wege der Carsharingmitglieder CS fix CS flex Fußwegeanteil Fahrradanteil ÖV-Anteil Pkw-Anteil 36 Basismodell Fallstudie I Fallstudie II Fallstudie III Fallstudie IV 2011 ohne free-floating Carsharing 2015 mit neuen Stationen in ausgewählten Gebieten mit vielen neuen Stationen im VBB-Tarifgebiet A wie Fallstudie I mit zusätzlich freefloating Carsharing und großem Geschäftsgebiet wie Fallstudie I mit zusätzlich freefloating Carsharing und kleinem Geschäftsgebiet 4 422 000 4 506 000 4 506 000 4 506 000 4 506 000 20 000 38 000 86 000 38 000 38 000 - - - 194 000 194 000 82 175 - 152 329 - 351 829 - 152 329 2 500 152 329 2 500 57 000 0,8% 28,5% 19,7% 25,6% 25,4% 108 000 1,1% 28,7% 19,7% 26,3% 24,2% 247 000 1,1% 28,5% 19,9% 26,4% 24,1% 671 000 0,2% 1,5% 28,8% 19,8% 26,3% 23,4% 671 000 0,2% 1,1% 28,8% 19,4% 26,2% 24,3% Deine Bahn 3/2015 Alle Rechte vorbehalten • Bahn Fachverlag GmbH Systemverbund Bahn CarSharing Präferenzen CarSharing Nutzung (Gesamt) weniger als 2 % 2 bis 4 % 4 bis 6 % 6 bis 8 % 8 bis 10 % 10 bis 12 % mehr als 12 % 1 bis 1,5 % 1,5 bis 2 % 2 bis 2,5 % mehr als 2,5 % Die Berliner Verteilung von Präferenzen (als Anteile der Bevölkerung mit starker Präferenz) und Nutzung (als Modal-Split-Anteile von Carsharing bei CarsharingKunden) zeigt das Potenzial des Zusammenspiels von ökonometrischen und psychologischen Modellen InnoMind-Modell Neben der Einstellung zu Elektromobilität und den klassischen Verkehrsmitteln wurde bei InnoMind auch der Einfluss auf die Einstellung zum Carsharing in Berlin simuliert. Damit ist ein direkter Vergleich zwischen dem psychologischen und dem Multi-Agenten-Modell möglich und es zeigt sich Erstaunliches. Die im Kommunikationsmodell ermittelten Präferenzen zum Produkt verteilen sich anders als die modellierten Nachfragedaten. Insbesondere in den wohlhabenderen, süd-westlichen Bezirken zeigt sich eine Diskrepanz in den Ergebnissen: Während es für die Zehlendorfer ökonomisch am meisten Sinn ergäbe, das neue Angebot zu nutzen, scheinen die Präferenzen hier am niedrigsten zu sein. Zeit- und Kostenvorteile werden in diesem Gebiet aufgrund der negativen Einstellung gegebenenfalls gar nicht erst wahrgenommen. Mit solchen Informationen können gezielte Marketingkampagnen den Weg für neuartige Produkte ebnen. Denkbar wäre es, bestimmte Tipping-Points der gesellschaftlichen Akzeptanz zu identifizieren. Bei wie vielen Elektrofahrzeugen kippt die Stimmung gegenüber klassischen Verbrennern? Welche Durchsetzung von autonomen Fahrzeugen ist nötig, um Sicherheitsbedenken zu überwinden? Was ist der Mindestumfang des Mobilitätsangebots bei der Daseinsvorsorge? Modelle der Zukunft können hierzu vielleicht wichtige Hinweise liefern. n Literatur Andreas Graff, Josephine Steiner, Dr. Frank Wolter, Iris Würbel: Elektrische Flotten auf den Straßen von Berlin und Brandenburg, in: Deine Bahn 1/2015, Seite 46ff. Dipl.-Soz. tech. Christian Scherf, Josephine Steiner, Dr. Frank Wolter: Flexibles e-Carsharing ergänzt den öffentlichen Verkehr, in: Deine Bahn 05/2014, Seite 16ff. Wolf, I. et. al. 2015. Changing minds about electric cars: An empirically grounded agent-based modeling approach. Technological Forecasting and Social Change. Die Entwicklung der Einstellungen gegenüber Verkehrsmitteln ist mit Multi-Agenten-Modellen denkbar (Wolf 2015) Alle Rechte vorbehalten • Bahn Fachverlag GmbH Deine Bahn 3/2015 37
© Copyright 2025 ExpyDoc