1 „Menschen schützen – mit aller Gewalt oder gewaltfrei“ Vortrag bei

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„Menschen schützen – mit aller Gewalt oder gewaltfrei“
Vortrag bei einer Klausurtagung im Forum ziviler Friedensdienst
Köln, 24. April 2015
Dietrich Becker-Hinrichs, Bretten
Was tun angesichts von Menschenrechtsverletzungen und Massakern an der
Zivilbevölkerung in den Kriegen unserer Tage? Die Hände in den Schoß legen oder
militärisch intervenieren? Oder ist diese Alternative gar nicht die einzige? Gibt es
andere – gewaltfreie - Wege, seine Schutzverantwortung wahrzunehmen?
Hinter der Fragestellung, die uns angesichts der Genozide des 20. und 21.
Jahrhunderts bewegt, verbirgt sich auch eine grundlegende ethische Fragestellung:
Kann es Situationen geben, in denen Gewalt, wenn nicht ethisch geboten, dann doch
schuldhaft-verantwortbar ist, um schlimmere Gewalt zu beenden? Muss es dafür
Regeln geben – oder darf es die gerade nicht geben? Gibt es Situationen, in denen
die gewaltfreie Konfliktbearbeitung an ihre Grenzen kommt?
1. Die Frage nach der stellvertretenden Übernahme von Schuld
Ich will gleich einsteigen mit der grundlegenden ethische Fragestellung, die uns
umtreibt: Kann es Situationen geben, in denen in Extremsituationen der Einsatz von
Waffengewalt als letzter Ausweg und kleineres Übel notwendig werden kann, um
gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen, die unmittelbar tödlichen Gefahren
ausgesetzt sind. Ich möchte dabei ausgehen von Debatten innerhalb der
Evangelischen Kirche in Deutschland. Ich glaube, dass diese Debatten repräsentativ
sind und nicht nur theologische Fragestellungen im engeren Sinne aufgreifen. Die
Evangelische Kirche in Deutschland hat sich in den letzten Jahren wiederholt
angesichts politischer Konfliktlagen zu Wort gemeldet und militärische Einsätze oder
Waffenlieferungen befürwortet.
Bezeichnend dafür ist die Aussage des EKD Ratsvorsitzenden Präses Nikolaus
Schneider vor der EKD Synode 2011. Er sagt: „Die Friedensdenkschrift hält den
Einsatz militärischer Gewalt und damit Krieg als „ultima ratio“ für denkbar, wenn es
dafür einen Rechtsrahmen gibt, d.h. ein Mandat der Vereinten Nationen. Mir ist
bewußt, dass es Kirchen, Friedensfachorganisationen und konziliare Gruppen gibt,
die das anders sehen. Ich habe Respekt vor ihren Positionen, die auf dem Einsatz
gewaltloser Mittel auch in aussichtslos scheinenden Situationen bestehen und sich
dabei auf das von Jesus gepredigte und gelebte Gebot der Nächstenliebe berufen.
Ihre radikale Schlussfolgerung lautet: ein Leben in der Nachfolge Jesu lässt keine
Option auf militärische Gewalt als äußerstes Mittel zu.
Wir sehen das anders. Unsere unterschiedlichen Antworten verweisen uns an die
Frage, ob es Situationen gibt, in denen Menschen nicht schuldfrei bleiben können.
Im Blick auf unsere deutsche Geschichte und im Blick auf gegenwärtige Terror- und
Gewaltregime sehe ich folgendes Dilemma. Der Verzicht auf die Anwendung
militärischer Gewalt lässt Menschen schuldig werden an den Opfern von Terror,
ethnischen Säuberungen oder brutaler Gewalt staatlicher Machthaber gegen die
eigene Bevölkerung. Und der Gebrauch militärischer Gewalt lässt Menschen
schuldig werden als Täter.“
Ich bezeichne diese Argumentation im Folgenden als die „Dilemmathese“.
2
Mit der „Dilemmathese“ wird postuliert, dass man schuldig werde, wenn man
wegsschaue und so z.B. Völkermord zulasse und dass man ebenso schuldig werde,
wenn man militärisch eingreife. In der jüngsten Vergangenheit wurde dieses
Argumentationsmuster immer zur Begründung militärischen Eingreifens eingesetzt.
Diese ethische Argumentationsfigur geht in ihrem Kern auf Überlegungen Dietrich
Bonhoeffers in seiner Ethik zurück. Dietrich Bonhoeffer stand im zweiten Weltkrieg
vor der Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern oder sich dem Widerstand
gegen Hitler anzuschliessen. Er entscheidet sich für die Teilnahme am Widerstand
und reflektiert diese Frage in seiner Ethik. Er sagt darin: „Die letzte verantwortliche
Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehen kann, sondern wie eine
kommende Generation weiterleben soll.“ Bonhoeffer plädiert für den Tyrannenmord
in der Bereitschaft zur bewussten Übernahme von Schuld. Aber für mich stellt sich
die Frage, ob es legitim ist, diese persönliche Entscheidung Bonhoeffers zu
verallgemeinern und damit Kriegseinsätze zu legitimieren.
Die Dilemmathese ist sehr wirkungsvoll. Der erste Fall, in dem deutsche Soldaten
nach dem zweiten Weltkrieg wieder an einem Kriegseinsatz mitwirkten, war der
Kosovokrieg. Es war der protestantische SPD-Politiker Erhard Eppler, der damit vor
dem Parteitag der SPD im April 1999 die Zustimmung der Sozialdemokraten zum
Militäreinsatz der Bundeswehr im Kosovokrieg herbeiführte. Er sagte: “Tragisch ist
eine Situation, wenn man schuldig wird, ganz gleich, was man tut“. Zum Luftkrieg der
NATO gegen Jugoslawien meinte er dann: Hierbei habe er das Gefühl „dass wir ein
bisschen weniger schuldig werden, als wenn wir es nicht täten.“ Gerührt spendete
der Parteitag ihrem christlichen Vordenker lang anhaltenden Beifall für diesen
Schuldspruch, den sie dankbar aufnahmen als Quasi-Absolution für den
Militäreinsatz1.
1.1. Die Alternative Nichtstun oder Militärisch Eingreifen führt in die Irre
Die Dilemmathese ist unzureichend für die ethische Urteilsbildung: Sie blendet aus,
dass es in jeder Situation mehr als nur zwei Handlungsmöglichkeiten gibt. Wir stehen
nicht wie Bonhoeffer vor der Frage, den Kriegsdienst zu verweigern oder den
Tyrannen zu ermorden. Wir müssen angesichts der schwierigen und komplizierten
Konfliktlagen in unserer Welt nach differenzierten Lösungen suchen. Es gibt niemals
nur die Wahl zwischen Nichtstun oder militärischer Gewalt! In unserer komplexen
Wirklichkeit stehen uns Dutzende von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die
Unrecht eindämmen und menschliches Leiden verringern können, ohne gleich
militärisch zu intervenieren. Das bewahrt uns nicht davor, schuldig zu werden. Aber
es kann uns davor bewahren, in unserem Eifer helfen zu wollen, das Falsche zu tun.
Ich erinnere mich gut an die Entscheidung im britischen Parlament über einen
Militäreinsatz in Syrien. Die Lage hatte sich im Sommer 2013 so zugespitzt, dass
Premierminister Cameron sich genötigt sah, militärisch einzugreifen. Die USA wollten
ihm folgen. Cameron argumentierte immer wieder: „Wir können nicht die Hände in
den Schoß legen. Wir müssen etwas tun. Darum plädiere ich für ein militärisches
Eingreifen in Syrien.“ Das britische Parlament folgte seinen Argumenten nicht. Am
29. August 2013 überstimmte es den Premierminister und lehnte den Einsatz
britischer Truppen in Syrien ab. Auch viele konservative Politker stimmten gegen
Cameron. Als Cameron dann von einem BBC Reporter nach der Abstimmung gefragt
1
Zitiert nach Theodor Ebert, Der Kosovo-Krieg aus pazifistischer Sicht, Hamburg 2001, S. 33
3
wurde: „Heisst das nun, dass Großbritannien nichts tun wird, um den Syrern zu
helfen und die Hände in den Schoß legt?“ antwortete Cameron: „Nein überhaupt
nicht. Wir haben viele Möglichkeiten den Syrern zu helfen. Großbritannien wird seine
diplomatischen Bemühungen verstärken, wir werden unsere humanitäre Hilfe
aufstocken, wir können Flüchtlinge aufnehmen, wir werden alles tun, was in unserer
Macht steht, das Leid der Menschen in Syrien zu lindern.“ Plötzlich gab es für
Cameron nicht mehr nur die Alternative Nichtstun oder militärisch Eingreifen, eine
Fülle von Handlungsmöglichkeiten tat sich auf. Auch wer Flüchtlinge aus einem
Bürgerkrieg aufnimmt, handelt verantwortlich und rettet auf diese Weise
Menschenleben.
1.2. Die richtigen Fragen stellen
Die Beschreibung des ethischen Dilemmas in dem wir uns befinden, ist ja an sich
nicht falsch. Es ist in der Tat so, dass wir durch unser Handeln und auch durch unser
Nicht-Handeln schuldig werden. Wir werden auch schuldig durch unsere
Verflechtung in ungerechte Strukturen der Weltwirtschaft und können uns mit dem
fairsten Konsumverhalten daraus nicht völlig lösen. Es gibt kein schuldfreies Leben.
Wenn Pazifistinnen und Pazifisten vor dem Einsatz militärischer Gewalt warnen,
dann nicht, weil sie eine weiße Weste behalten wollen, weil sie meinen, man käme
schuldfrei durchs Leben. Der Hauptantrieb, der uns dazu bringt, unsere Stimme
gegen den Krieg zu erheben, ist, dass wir der Auffassung sind, dass das Leid durch
den Einsatz militärischer Mittel nicht vermindert wird. Es ist also nicht der Versuch,
ein Prinzip Gewaltlosigkeit zu retten, sondern eher die Frage nach den verantwortlicheren Lösungen, die Frage nach dem jeweils besseren Handeln in einem
aktuellen Konflikt. Wenn man die Wahl hat militärisch einzugreifen oder sich mit den
Mitteln der zivilen Konfliktbearbeitung einzumischen, dann gilt es folgende Fragen
zu beantworten:



Welcher Ansatz ist der nachhaltigere, welcher ist der, der mehr Perspektiven
für ein späteres Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionen
und Völker bietet?
Welcher kostet voraussichtlich weniger Menschenleben?
Welcher birgt weniger Gefahren, dass neue gewalttätige Konfliktkonstellationen aus den derzeitigen entstehen?
Dies sind dann die Kriterien, die eine Entscheidung über Handlungsoptionen leiten
sollten. Die Dilemmathese hilft bei der ethischen Urteilsbildung überhaupt nicht
weiter. Und ich finde es fahrlässig, mit dieser These Kriegseinsätze zu begründen.
Wie der Rückblick auf die Kriege im Kosovo, in Afghanistan, im Irak und in Libyen
zeigen, haben die militärischen Einsätze der letzten Jahre die Lage in den Ländern
meistens verschlimmert. Kein einziger Kriegseinsatz der letzten Jahre hat einen
Völkermord verhindert, im Gegenteil! Hunderttausende von Menschen wurden
getötet, ganze Regionen destabilisiert. Dennoch hat die Dilemmathese nach wie vor
eine verführerische Kraft. Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Schuldübernahme gibt die Kirche den politisch und militärisch Verantwortlichen einen
Freibrief an die Hand. Sie könnte auch ganz anders argumentieren. Sie könnte
beispielsweise davor zu warnen, Krieg zu führen und die Kriterien für den legitimen
Gebrauch rechtserhaltender Gewalt ins Spiel bringen.
4
1.3 Prüfkriterien für den Gebrauch rechtserhaltender Gewalt
Eigentlich kennt man in der Friedensethik schon seit der konstantinischen Wende
Kriterien, die in einer Situation, in der es darum geht, militärische Gewalt
einzusetzen, um das Leben Unschuldiger zu schützen, beachtet werden sollten.
Es sind die klassischen Kriterien aus der Lehre vom gerechten Krieg. Die
evangelische Kirche benutzt sie in ihrer letzten Friedensdenkschrift aus dem Jahre
2007, um den Gebrauch „rechtserhaltender Gewalt“ zu begründen.
Man sollte daher vor einem Einsatz militärischer Mittel ganz nüchtern fragen:
Gibt es für den militärischen Einsatz einen hinreichenden Grund?
Sind diejenigen, die zu Gewalt greifen, dazu ausreichend legitimiert?
Verfolgen sie ein verantwortbares Ziel?
Beantworten sie ein eingetretenes Übel nicht mit einem noch größeren?
Gibt es eine realistische Aussicht auf Erfolg?
Wird die Verhältnismäßigkeit gewahrt?
Bleiben Unschuldige verschont?
Diese sieben Fragen sollten allesamt positiv beantwortet sein, bevor man einen
Militäreinsatz gut heissen kann! So die klassische Lehre vom gerechten Krieg.
Entscheidet sich beispielsweise für einen Militäreinsatz, der überwiegend aus
Luftschlägen besteht, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass Unschuldige verschont
bleiben, relativ gering. Daher müsste die Kirche dann eigentlich von einer solchen
Art der Kriegsführung abraten. Ich bin der Auffassung, dass diese sieben Kriterien
durchaus eine rationale Sichtweise ins Spiel bringen, wenn ein Konflikt sich zuspitzt.
Aber ich behaupte zugleich: Sie sind in der Schreibtischstube der Theologen und
Philosophen entstanden und verkennen die Realität der Kriege.
Die Lehre vom gerechten Krieg funktioniert nicht im Krieg2
Die pazifistische Warnung vor dem Einsatz militärischer Mittel hat etwas zu tun mit
der Eigendynamik von Kriegen, die oftmals nicht erkannt wird. Kriege taugen nicht
als Mittel der Politik. Entwickelt sich ein militärischer Einsatz zum Krieg, dann treten
stets Faktoren auf den Plan, die der Politik das Heft des Handelns aus der Hand
nehmen. Der amerikanische Kriegsforscher Gabriel Kolko analysiert die Kriege des
20. Jahrhunderts und stellt fest: "Die Planung der Kriege in diesem Jahrhundert
zeugt stets von Wunschdenken, so z.B. allein durch hohe Mobilität einen glatten Sieg
zu landen oder, neuerdings, mit der Luftwaffe und modernsten Techniken "kurzen
Prozeß" machen zu können: Militärstrategen haben zwar durchaus großartige Pläne
gemacht, aber es kam immer ganz anders.“ “Sobald ein Krieg einmal vom Zaun
gebrochen ist, beherrschen gänzlich unvorhersehbare Faktoren seinen weiteren
Verlauf, was sich immer wieder aufs Neue bestätigt hat."3 Was Kolko für das 20.
Jahrhundert analysiert, gilt ebenso für die Kriege der letzten 15 Jahre.
So glaubte die NATO zu Beginn des Kosovokrieges, Präsident Milosevic werde nach
einem zweitätigen Bombardement nachgeben und seine Unterschrift unter den
Vertrag vom Rambouillet setzen. Niemand hatte vorher das sich dann entwickelnde
Szenario einer schrankenlosen Eskalation vorhergesehen: In der Luft bombardierte
2
Wenn ich im Folgenden von Kriegen spreche, dann gebrauche ich dabei eine Definition aus der Friedens- und
Konfliktforschung: Krieg ist ein internationaler Konflikt zwischen zwei Parteien - von denen mindestens eine
den Charakter einer militärischen Streitmacht hat - mit mehr als 1000 Toten. In diesem Sinne waren der
Kosovokrieg und der Afghanistankrieg echte Kriege, auch wenn die Politiker versucht haben, diesen Begriff zu
vermeiden. Davon deutlich zu unterscheiden sind beispielsweise Blauhelmeinsätze unter der Führung der UNO
wie im Kosovo nach dem Ende des Krieges.. Hier würde ich zwar von einem militärischen Einsatz, aber nicht
von Krieg sprechen. Hier fehlt auch das entscheidende Element der Konflikteskalation, das Kriegen zu eigen ist.
3
Gabriel Kolko, Das Jahrhundert der Kriege, Frankfurt 1999, S. 384f.
5
die NATO und am Boden wurde Tausende von Kosovo-Albanern durch serbische
Milizen vertrieben und getötet. Der asymmetrische Krieg zog sich noch über mehrere
Wochen hin. Das politische Ziel im Vertrag von Rambouillet war es gewesen, einen
multiethnischen Kosovo zu erhalten. Dieses Ziel wurde durch den Krieg völlig ad
absurdum geführt. Am Ende stand ein Ergebnis, das so zuvor niemand gewollt hatte:
Ein eigenständiger Kosovo, aus dem dann Hunderttausende von Serben vertrieben
wurden.
Diese Unkalkulierbarkeit und Unberechenbarkeit von Kriegen macht deutlich: Der
Einsatz militärischer Gewalt als friedenserzwingende Massnahme erweist sich in der
Tat als das Irrationalste, das es im Bereich des Politischen geben kann. Es gehört
zum Wesen des Krieges, dass er sich nicht an die Vorgaben der Moraltheologen und
Ethiker hält. In der Geschichte der Kriege gab es immer heftige Debatten über die
Forderungen aus der Lehre vom gerechten Krieg, die die Gewalt im Krieg
begrenzen soll, aber im Ernstfall setzten sich immer die Generäle durch.
Ein Beispiel dafür, dass der Einsatz militärischer Mittel sich nicht an die hohen
ethischen Standards hält, wenn in der realen Situationen Eskalationsdynamiken
auftreten, ist auch der Afghanistankrieg. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung
der EKD stellt daher in einer vor anderthalb Jahren veröffentlichen Studie über den
Aghanistaneinsatz fest: „Im Blick auf den Afghanistaneinsatz stellt sich allerdings die
ernste Frage, ob nicht die militärischen Mittel eine Eigendynamik entwickelt haben,
die dazu führte, dass das Leitbild des „gerechten Friedens“ aus dem Zentrum des
Handelns herausgerückt ist. Auch wenn anzuerkennen ist, dass die Einsatzregeln
für COM ISAF zivile Verluste und Schäden so weit wie möglich zu vermeiden
suchen, kommen Beobachter zu dem Urteil, dass der Einsatz von militärischer
Gewalt – als Reaktion auf die asymmetrische Gewaltanwendung der oppositionellen
militärischen Kräfte – an manchen Orten zu einer Spirale der Gewalteskalation
geführt hat, die nur schwer rechtlich eingehegt werden konnte.“4 Diese Analyse
bestätigt das oben Gesagte.
Die Dilemmathese, die zur Legitimierung des Einsatzes militärischer Mittel benutzt
wird, ist also unzureichend für die ethische Urteilsbildung, weil sie überhaupt nicht
nach dem Mass der eingesetzten Mittel fragt und keine Grenze benennt, jenseits
derer der Einsatz militärischer Mittel ausgeschlossen bleiben muss. Und sie verkennt
völlig die Eigendynamik und Eskalationsdynamiken von Kriegen, die letzten Endes in
vielen Fällen zur Verschlimmerung der Lage geführt haben.
1.4. Der Wunsch zu helfen darf nicht die Frage nach den Folgen des Handelns
ersetzen
Natürlich ist es ist, in Situationen, in denen die Gewalt in einem Bürgerkrieg eskaliert,
einen kühlen Kopf zu bewahren. Es ist unerträglich, hilflos mit anschauen zu
müssen, wie unschuldige Menschen unter der Gewalt anderer leiden. Der Ruf nach
der Gewalt ist in solchen Situationen gespeist von der Motivation helfen zu wollen.
Man möchte nicht untätig bleiben, man möchte irgend etwas tun und eingreifen. Wie
Susanne Luithlen bemerkt, befreit Gewalt, diejenigen, „die sie ausüben von
4
„Selig sind die Friedfertigen“ – Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik eine
Stellungnahme der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD. EKD Texte 116, Hannover 2013 S. 49
6
Ohnmachtsgefühlen, indem sie Komplexität reduziert und sich selbst und anderen
Handlungsmöglichkeiten demonstriert.“5
Aber muss nicht auch in einer solchen Situation die Frage erlaubt sein, ob
militärische Gewalt überhaupt ein taugliches Mittel ist, um eine Lage zu entschärfen
und die herrschende Gewalt zu minimieren? Zeigen nicht viele der sog. humanitären
Einsätze der letzten Jahre, dass das Versprechen der Rettung, mit dem man einen
militärischen Einsatz begonnen hatte, gerade nicht eingelöst werden konnte?
In einem Dossier der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden zum Thema
„Schutzverantwortung“ weisen Lou Pingeot und Wolfgang Obenland darauf hin.
Die Befürworter der r2p gehen davon aus, dass es möglich sei, in Situationen
massiver Menschenrechtsverletzungen militärisch einzugreifen und Menschenleben
zu retten. „Dieser nicht problemorientierte Umgang mit militärischen Mitteln übergeht
das Eskalationspotential, das mit vielen Interventionen verbunden ist, sowie die
Wahrscheinlichkeit ziviler Opfer, Schäden an Infrastruktur und viele weitere negative
Auswirkungen militärischen Eingreifens. Dieser blinde Fleck im R2P Diskurs ist
hochproblematisch, bedenkt man den zweifelhaften Erfolg bisheriger „humanitärer
Interventionen“.6
Bellizistische Gesinnungsethik versus pazifistische Verantwortungethik
Es reicht nach nicht aus, aus guter Gesinnung heraus zu handeln, mit der Motivation
helfen zu wollen. Es gibt eine Art bellizistischer Gesinnungsethik, die sich in den
letzten Jahren ausgebreitet hat, vor allem bei Grünen und SPD Politikern und
kirchenleitenden Persönlichkeiten, die diesen Parteien nahe stehen. Man möchte
helfen und schickt das Militär, weil man doch irgendetwas tun muss. Aber man fragt
nicht nach den Folgen. Diese Beobachtung deckt sich übrigens mit der Analyse des
Dossiers in der Zeitschrift Wissenschaft und Politik. Die Autoren beschreiben, dass
der Ruf nach der Schutzverantwortung besonders von Mitte-Links Regierungen
getragen wird. „Mit dem Ruf nach der Schutzverantwortung hat eine Moralisierung
militärischer Interventionen stattgefunden. Indem liberale und links der Mitte zu
verortende Intellektuelle R2P weiter verbreiten und verfechten, tragen sie zu einer
gefährlichen Remilitärisierung der internationalen Beziehungen bei.“7
Eine pazifistische Verantwortungsethik, wie sie hier vertreten wird, fragt dagegen
nach den Folgen der Mittel, die eingesetzt werden. Pazifismus heisst in diesem
Zusammenhang gerade nicht, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun.
Pazifismus ist zunächst einmal eine scharfe Kritik an Krieg und Militär. Daraus speist
sich eine Ethik, die den gewaltfreien Kampf propagiert oder - moderner ausgedrückt zu den Mitteln der zivilen Konfliktbearbeitung rät. Diese Mittel können zur
Deeskalation in Konflikten beitragen. Schnellen Erfolg, ein unmittelbares Ende von
Gewalt können sie nicht garantieren, wie man ihn sich vom Einsatz militärischer
Gewalt erhofft. Aber genau diesen schnellen und durchschlagenden Erfolg bleiben ja
die militärischen Mittel erst recht schuldig.
5
Susanne Luithlen, Unwirksam und hilflos? Zivile Konfliktbearbeitung als Handlungsprinzip in eskalierten
Gewaltkonflikten, ZFD Impuls, November 2014
6
Lou Pingeot und Wolfgang Obenland, In wessen Namen? Ein kritischer Blick auf die
„Schutzverantwortung“, Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3-2014, Dossier 76 S. 4
7
Ebd. S. 9
7
Es ist ja eine unhinterfragte These, dass man in bestimmten Situationen, wenn
beispielsweise ein Genozid drohe, mit militärischer Gewalt vorgehen müsse. Damit
wende ich mich noch einmal der Frage zu, was in Situationen, in denen ein
Völkermord droht, getan werden kann, um Unschuldige zu retten.
2. Ein Völkermord kann militärisch nicht aufgehalten werden Lektionen einer Reise durch Ruanda
Der UNO Beauftragte für den Sudan in den Jahren 2003, Professor Mukesh Kapila
aus Großbritannien8, reflektiert auf einer Reise durch Ruanda im Jahre 2014 die
Frage, was getan werden kann, um Völkermorde aufzuhalten. 20 Jahre nach dem
Völkermord in Ruanda reist er noch einmal durch das Land und denkt über die Frage
nach, was getan werden müsse, um Genozide in Zukunft zu verhindern. Und er
kommt dabei zu interessanten Schlussfolgerungen.
1. Lektion: Völkermord hat charakteristische Eigenschaften und kommt niemals aus
heiterem Himmel
2. Lektion: Völkermorde sind über Zeit und Raum miteinander verbunden und
hinterlassen dauerhafte Altlasten
Lektion 3: Das „Nie wieder“ wird „immer wieder“ passieren
Lektion 4: Kein völkermörderisches Regime ist ohne Zwang von außen entfernt
worden.
Während seine vierte Lektion als Beispiele den Krieg der Allierten gegen Hitler oder
den Sturz des Po Pot Regimes in Kambodscha durch die vietnamesische
Intervention anführt, sagt Kapila in der 5. Lektion.
2.1. Militärische Interventionen von außen kommen immer zu spät, um einen
Völkermord aufzuhalten.
Das ist eine bemerkenswerte These. Der Krieg der Alliierten gegen Hitlerdeutschland
wird ja oft als Beispiel angeführt, dass es Situationen gäbe, wo man, um einen
Völkermord zu verhindern, Krieg führen müsse. Man wird die Legitimität des Krieges
der Alliierten gegen Deutschland unschwer bestreiten. Aber wenn wir den Verlauf
des Krieges und des Genozids genauer anschauen, müssen wir feststellen: Der
Krieg hat ja den Völkermord nicht aufgehalten. Im Schatten des Krieges wurden
6 Millionen Juden umgebracht. Kapila ist kein Pazifist. Er plädiert für militärische
Gewalt zum Sturz von Regimen, die einen Völkermord durchführen. Aber er sagt
zugleich: Eine militärische Intervention kommt immer zu spät, um einen Völkermord
aufzuhalten.
8
Mukesh Kapila ist Professor of Global Health and Humanitarian Affairs an der Universität von Manchester.
Er war für die UNO und die Weltgesundheitsorganisation tätig und war in den Jahren 2003 und 2004 für die
UNO im Suda eingesetzt. Er publizierte als erster Nachrichten über den Völkermord in Darfur und klagte die
Weltöffentlichkeit an. Im Mai 2014 reiste er wieder einmal durch Ruanda und veröffentlichte danach persönliche
Notizen: „Erfahrungen von einer persönlichen Reise durch den Völkermord in Ruanda“. Darin stellt er
12 Lektionen vor, die es zu beherzigen gilt, wenn man einen Völkermord verhindern will. Seine Thesen habe ich
der website der nonviolent peaceforce entnommen, zu deren Beraterstab Mukesh Kapila gehört.
www.nonviolentpeaceforce.org
8
Mukesh Kapila beschreibt diesen Zusammenhang im Blick auf mögliche militärische
Interventionen zur Rettung Verfolgter so: „Ein Völkermord kommt nicht aus heiterem
Himmel, aber wenn er losgeht, geht alles sehr schnell, weil die Schockwirkung
notwendig für die Täter ist, um Erfolg zu haben. Die notwendige bewaffnete
Intervention auf den Weg zu bringen, braucht jedoch Zeit, und erst recht, wenn diese
von der internationalen Gemeinschaft verantwortet wird. Eine Intervention muss erst
von verschiedenen Staaten beschlossen werden – möglicherweise auch im UN
Sicherheitsrat - um einen Konsens zu bilden und die Intervention zu rechtfertigen
und zu legitimieren.
Die Verlaufskurve der Tötungen in einem Völkermord von der Zeit des Holocaust bis
in die Gegenwart in Darfur - einschliesslich der Erfahrungen in Ruanda - zeigt, dass
vielleicht bis zu zwei Drittel der Menschen, die getötet werden, während der Zeit
getötet werden, in der externe bewaffnete Schutztruppen eintreffen. Und dann
brauchen diese Zeit, um die Kontrolle im Land zu erringen, und während dieser Zeit
werden die Tötungen möglicherweise noch schlimmer. Das lässt sich übrigens am
Verlauf des Holocaust sehr gut beschreiben. Alles dies unter dem Best Case
Szenario, dass die Täter den Zugang zum Land erlauben oder leicht zu überwältigen
sind. Des weiteren nehmen wir an, dass die externen Truppen gut ausgebildet sind,
genügend Ressourcen haben, hochmotiviert sind und diszipliniert vorgehen, um
Frieden zu erzwingen, ohne selbst Teil des Problems zu werden.- Nahezu alle
jüngsten Erfahrungen von UN organisierten und UN sanktionierten Peacekeeping
Einsätzen zeigen, dass dies nicht der Fall war. Zudem erweist sich, dass, je länger
die Intervention von außen dauert, desto größer die Aussichten sind, dass neue
Instabilitäten erzeugt werden.“
Die Konsequenzen, die Kapila zieht sind folgende:
Lektion 6: Das Schicksal eines Volkes liegt letztlich in seinen eigenen Händen. Die
Menschen haben das höchste Recht sich selbst zu verteidigen, wenn sie mit
existentiellen Bedrohungen konfrontiert werden.
Kapila unterscheidet hier also zwischen einer externen militärischen Intervention, die,
wie er sagt, immer zu spät kommt, und dem Recht eines Volkes, sich selbst zu
verteidigen. Auch als Pazifist fällt es mir schwer, dem in jedem Fall zu
widersprechen. Es gibt Fälle der Notwehr, die legitim sind. Wer hätte sich nicht für
die Juden im Warschauer Getto gewünscht, dass ihr militärischer Aufstand Erfolg
gehabt hätte und wenigstens einige Tausend Menschenleben gerettet worden
wären. Wer fiebert bei der Lektüre des Romans von Franz Werfel nicht mit dem
Schicksal der kleinen Gruppe von Armeniern auf dem Berg Musa Dagh, die sich dort
verschanzen, sich mit primitiven Waffen den Türken entgegenstellen und am Ende
durch das Eintreffen eines französischen Panzerkreuzers gerettet werden.
Aber solche heldenhaften Fälle von Selbstverteidigung gelingen in den seltensten
Fällen. In der Regel haben Minderheiten, die von einem Genozid betroffen sind,
diese Möglichkeiten nicht. Die Juden im Dritten Reich waren nicht bewaffnet.
Was also tun, wenn die bedrohte Minderheit unbewaffnet ist und keine Möglichkeiten
hat, sich zu wehren? Was ist zu tun wenn, wie Kapila treffend feststellt, militärisches
Eingreifen in der Regel zu spät kommt, um den Massenmord aufzuhalten?
9
2.2. Gewaltfreier, ziviler Widerstand kann Menschen schützen
Solidarischer gewaltfreier Widerstand kann in vielen Situationen Menschen schützen,
selbst in Situationen, wo ein Genozid im Gange ist. Ich möchte diese gewagte
These prüfen an der schwierigsten Frage, nämlich, was man in den von den
Nationalsozialisten besetzten Ländern mit nichtmilitärischen gewaltfreien Mitteln
hätte tun können, um das Leben der bedrohten Juden vor dem Völkermord zu retten.
Oder was man mit gewaltfreien Mitteln in Ruanda hätte ausrichten können.
2.2.1 Gewaltfreier Schutz von Juden im Nationalsozialismus.
Betrachten wir also die Situation im zweiten Weltkrieg. Während in den Jahren 1942
und 1943 die Allierten an allen Fronten gegen die deutschen Truppen vorrückten,
ging das Morden in den Todeslagern weiter. Der Krieg hielt das Morden nicht auf.
Während die Alliierten sagten, sie müssten erst den Krieg gewinnen, bevor sie sich
um die Juden in den Konzentrationslagern kümmern könnten9, gab es Beispiele, wie
man allein mit den Mitteln des zivilen Widerstandes Tausenden Juden und Jüdinnen
das Leben retten konnte. Nötig dafür waren nur Zivilcourage und solidarisches
Handeln.
Für Deutschland bekannt ist der Widerstand der Frauen von der Rosenstrasse, die
im Februar 1943 öffentlich gegen die Deportation ihrer jüdischen Männer
demonstrierten und damit Erfolg hatten. Viele ihrer Männer kamen frei und
überlebten den Krieg.
Die Rettung der dänischen Juden
Noch erfolgreicher war der gewaltfreie Widerstand, wenn ganze Gesellschaften oder
große Institutionen wie die Kirchen ihn praktizierten. So wurden in Dänemark durch
den zivilen Widerstand der Bürger über 90 Prozent der dänischen Juden rechtzeitig
vor der Deportation gewarnt, sie wurden einige Tage in Privatwohnungen und auf
den Speichern von Kirchen versteckt und dann in einer Nacht- und Nebelaktion mit
Fischerbooten nach Schweden gebracht. Dass die Solidarität mit den Juden die
ganze Gesellschaft bis hin zum Königshaus erfasste, führte zu der Legende, der
dänische König sei persönlich durch die Stadt geritten und habe dabei selbst einen
Judenstern getragen. Diese Legende geht wohl zurück auf eine Karikatur, die 1942
in einer dänischen Zeitung erschien. Sie zeigte König Christian, der auf einen
Davidstern deutet und erklärt, dass wenn die Nazis die Juden in Dänemark zum
Tragen des Sterns zwängen, »dann müssen wir alle den Stern tragen«.
Die Rettung der bulgarischen Juden
In Bulgarien war es der stellvertretende Parlamentspräsident Dimitar Peschew, der
seinen Einfluss auf den Innenminister geltend machte und die Deportation der
bulgarischen Juden im März 1943 verhinderte. Er fand große Unterstützung bei der
bulgarisch-orthodoxen Kirche. Das in der bulgarischen Öffentlichkeit sehr
angesehene Kirchenoberhaupt Stefan von Sofia, wandte sich am 24. Mai 1943,
nachdem er noch eine Delegation aus Vertretern der jüdischen Gemeinde
empfangen hatte, unmittelbar an Zar Boris III. (also den König) und forderte ihn auf,
die Deportationen unverzüglich auszusetzen, da diese in fundamentalem Gegensatz
zur traditionellen Toleranz der Bulgaren stünden. Im Übrigen würde auch Gott ihn für
9
Dieser Vorwurf wird in der Jüdischen Allgemeinen vom 4.9.2013 erhoben: „Jahrelang hatten die alliierten
Regierungen betont, dass für die Rettung der Juden vor den Nazi-Häschern nichts getan werden könne, bevor
nicht der Krieg gewonnen sei. Doch in einer einzigen, außerordentlichen Nacht verwies das dänische Volk diese
Behauptung ins Reich der Legenden und änderte den Lauf der Geschichte. In diesem Herbst ist es 70 Jahre her.“
10
seine Taten zur Rechenschaft ziehen. Noch am selben Tag zelebrierte Metropolit
Stefan auf dem Alexander-Newski-Platz ein Tedeum und nahm die Juden öffentlich
in Schutz. Er selbst nahm den Großrabbiner von Sofia unter persönlichen Schutz.
Diese gemeinsamen Interventionen führten dazu, dass Eichmann das Vorhaben, die
bulgarischen Juden zu deportieren aufgab. Rund 48.000 bulgarische Juden
überlebten so den 2. Weltkrieg. Bulgarien ist das einzige Land, in dem nach dem
zweiten Weltkrieg mehr Juden lebten als vor dem Krieg.
Die Rettung der Juden in Frankreich: Zivilcourage und gegenseitige Hilfe
In einer jüngst erschienenen Studie10 zeigt der französische Historiker Jacques
Semelin, dass durch Zivilcourage und gegenseitige Hilfe 75% der französischen
Jüdinnen und Juden gerettet werden konnten. Sie wurden versteckt, ihnen wurde bei
der Flucht in die Schweiz geholfen, ganze Dörfer wie das Dorf Le Chambon sur
Lignon stellte unter der Führung ihres pazifistischen Pfarrer Andre Trocme
schützend vor die Juden. Diese Beispiele belegen die reale Möglichkeit des zivilen
Widerstandes im Dritten Reich.
Ohne Waffen gegen Hitler
In einer großen Studie aus dem Jahre 1989 „Sans armes face à Hitler. La resistance
civile en Europe 1939 – 194311 beschreibt Jacques Semelin, dass ziviler Widerstand
in zahlreichen Ländern im von Deutschen besetzten Europa Wirkung entfalten
konnte z.B. auch in Norwegen oder den Niederlanden. Während der militärische
Widerstand die Wut der Nationalsozialisten weiter entfachte und den Völkermord in
den Todeslagern über lange Zeit nicht aufhalten konnte, leisteten gleichzeitig in den
von Nazis besetzten Ländern Tausende von Menschen erfolgreich zivilen
Widerstand.
Das scheint auf den ersten Blick völlig absurd zu sein, zeigt aber die unterschiedliche
Wirkungsweise von militärischem Eingreifen und zivilem Widerstand. Gewaltfreie
zivile Methoden zum Schutz von Menschengruppen, die vom Genozid bedroht sind,
sind zu jeder Zeit möglich. Die Studie von Semelin zeigt auch, wie relativ hilflos die
Nationalsozialisten in den besetzten Ländern auf gewaltfreien Widerstand reagierten.
Auf Anschläge von Partisanen reagierten sie äusserst brutal und mit großer Härte.
Aber gegenüber zivilem Widerstand, z.B. in Form von Nichtzusammenarbeit oder
Streiks oder angesichts der offen ausgesprochenen Solidarität gegenüber
Minderheiten, fanden sie nur wenig Machtmittel. Der britische Militärhistoriker Liddell
Hart, der nach dem Krieg deutsche Generäle in Kriegsgefangenlagern zu den
verschiedenen Formen des Widerstands befragte, äussert dazu: „Die Erklärungen
der Generäle reflektierten die Effizienz des unbewaffneten Widerstands. … Ihren
eigenen Angaben zufolge sahen sie sich außerstande, ihm zu begegnen. Sie waren
Experten der Gewalt und für die Konfrontation mit der Gewalt ausgebildet. Andere
Aktionsformen brachten sie aus dem Gleichgewicht – und dies um so mehr, je
subtiler und verdeckter die angewandten Mittel waren. Sie waren geradezu
erleichtert, wenn der Widerstand Gewalt anzuwenden begann und wenn zu den
gewaltfreien Methoden Guerillaaktionen dazukamen. Denn es war ungleich
einfacher, schwere Repressionsmaßnahmen gegen die beiden letztgenannten
10
Jacques Semelin (2013): Persécutions et Entraides dans la France Occupée. Paris
Eine Besprechung dieses Buches ist von Tanja Hildebrandt beim Bund für Soziale Verteieidung als Hintergrundund Diskussionspapier im Februar 2015 erschienen
11
Titel der deutschen Ausgabe: Jacques Semelin, Ohne Waffen gegen Hitler, Eine Studie zum zivilen
Widerstand in Europa Frankfurt 1995
11
Widerstandsformen durchzusetzen.“12 (Lidell Hart 1969, 205).
Die Tragödie ist demnach nicht, dass gewaltfreie Widerstandsmethoden nicht auch
unter der Herrschaft des Nationalsozialismus funktioniert hätten, sondern eher, dass
sie so selten angewandt wurden. Man hätte sich mehr Länder wie Dänemark,
Bulgarien oder Frankreich gewünscht oder Menschen wie den schwedischen
Diplomaten Raul Wallenberg, der mit einer kleinen Schar von Helfern, allein mit
diplomatischen Mitteln, mindestens 10.000 ungarische Juden vor der Deportation
nach Auschwitz rettete.
2.2.2 Der Völkermord in Ruanda
Zwischen dem April und Juli 1994, spielte sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit
ein unbeschreiblich grausamer Völkermord ab. Zwischen 800.000 und 1 Million
Menschen, vornehmlich Angehörige des Stammes der Tutsi wurden von den
regierenden Hutu niedergemetzelt. Dieser Genozid war von langer Hand vorbereitet.
Der Hass zwischen den beiden ethnischen Gruppen hatte sich über Jahre aufgebaut.
In der Propaganda der Hutu wurden die Tutsi als Ratten und Schmeissfliegen
bezeichent, die es auszurotten galt.
Anfang 1994 erfuhr der Befehlshaber der UNO Blauhelme General Roméo Dallaire,
dass das Regime in Kigali Waffen sammelte, Todesschwadrone ausbildete und
Listen aller Tutsi aufstellte. Überdies wurden Anschläge auf die Blauhelme
vorbereitet, um sie zum Abzug zu zwingen. Dallaire schickte sofort ein Fax an das
UN-Hauptquartier nach New York. Er werde die Waffenlager ausheben, zum
Selbstschutz, und um einen Genozid zu verhindern. Dazu bat er um Aufstockung des
Blauhelmkontingentes. Die Existenz dieses Fax wurde später jahrelang
geleugnet.Die Antwort aus New York kam jedoch postwendend. Dallaire solle nichts
unternehmen und "neutral bleiben". Die Katastrophe nahm ihren Lauf.13
Die Internationale Öffentlichkeit hatte damals, im Jahre 1994 kein Interesse an der
Lage in Ruanda, dabei spielte auch Rassismus eine Rolle. Der französische
Präsident Mitterand soll gesagt haben "in Ländern wie diesen ist ein Genozid nicht so
bedeutsam". Es waren also nicht pazifistische Motive, die die Weltöffentlichkeit nicht
eingreifen liess, sondern schlicht Desinteresse.
Besonders tragisch ist die Rolle der katholischen Kirche in Ruanda14. In Ruanda
waren es überwiegend katholische Christen, die andere katholische Christen ein und
desselben Kulturkreises brutal massakrierten. Ruanda ist das am stärksten
christianisierte Land Afrikas und Kirchenvertreter spielten während des Mordens
zumeist eine überaus unselige Rolle. Kirchenleute haben auf allen Ebenen massiv
zur Konfliktverschärfung und Gewalteskalation beigetragen, waren z.T. eigenhändig
daran beteiligt. Bischöfe unterstützten die Vernichtung der Tutsi und segneten die
Mörder. Priester sperrten Flüchtende in Kirchen ein, wissend, dass sie darin später
bei lebendigem Leib verbrannt würden. Nonnen trugen das erforderliche Benzin
herbei. Als besonders problematisch erwies sich die überaus enge Verflechtung
12
Ebd. S. 179
13
Roméo Dallaire: Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda. Aus dem
Englischen von Andreas Simon dos Santos. Zu Klampen Verlag, Springe 2008. 651 S.
14
Vgl. dazu Markus Weingardt, Religion Macht Frieden – Das Friedenspotential von Religionen in politischen
Gewaltkonflikten, Stuttgart 2007, S. 310ff.
12
führender Kirchenvertreter mit dem herrschenden Hutu-Regime. Ihnen fehlte
offenbar jede persönliche und ideologische Distanz, um die Genozid- Politik zu
erkennen, zu reflektieren und als nicht mit katholischer Lehre vereinbar zu
verurteilen, geschweige denn, aktiv dagegen vorzugehen.
Der gewaltfreie Widerstand der Muslime in Ruanda15
Die Zeugen Jehovas und die Muslime waren als einzige religiöse Gruppe nicht am
Völkermord beteiligt. 1994 waren 10 % der Ruander Muslime, sowohl vom Stamm
der Hutu als auch vom Stamm der Tutsi. Bereits Anfang der neunziger Jahre
ermahnten sie die Gläubigen unter ausdrücklicher Berufung auf den Koran, sich von
gezielten politischen Wirren fernzuhalten, warnten vor Gewaltanwendung und
unternahmen gezielt Schritte, um die muslimische Bevölkerung zu sensibilisieren und
der staatlichen Hasspropaganda zu begegnen. Dazu gehörte etwa eine
„Sensibilisierungs-Kampagne“ an muslimischen Schulen, die auf Initiative der
religiösen Führer durchgeführt wurde. Dabei wurden z.B. die Gleichheit der
Menschenrechte ungeachtet der Religion oder Ethnie oder das Gebot, nicht zu töten
und stattdessen Notleidenden zu helfen, als dezidiert islamische Werte vermittelt,
begründet auf dem Koran. Ferner wurde in mutigen öffentlichen Stellungnahmen,
über Radio und in Moscheen, in Flugblättern und Hirtenbriefen zu Gewaltlosigkeit
und Mäßigung aufrgerufen. Auch nach Ausbruch der Gewalt wagten es islamische
Führer, sich öffentlich und in den Moscheen gegen die Gewalt auszusprechen und
das Morden als Sünde zu verurteilen. Es ist kein einziger Fall bekannt, in dem ein
muslimischer Geistlicher Gewalt unterstützt oder auch nur stillschweigend geduldet
hätte. Die Massnahmen und Aufrufe der religiösen Führer wurden an der Basis, von
den ruandischen Muslimen weitgehend befolgt. In islamischen Gemeinden scheint es
eher die Regel als die Ausnahme gewesen zu sein, dass Verfolgte gleich welcher
Religion Unterschlupf und Schutz fanden. Sie nahmen Flüchtlinge in Moscheen auf,
versuchten durch Strassensperren das Vorrücken der Todesschwadronen in ihre
Gebiete zu verhindern, boten den Hutu Kämpfern Geld an, um die Schutzsuchenden
zu verschonen. Ausserdem organisierten sie massenhaft Scheinbeerdigungen, bei
denen lediglich Bananenstauden in weissen Säcken beerdigt wurden, um den Tod
von Menschen vorzutäuschen, die sie in Wirklichkeit versteckt hielten. So wurden die
muslimischen Dörfer zu Schutzzonen für Verfolgte. Bis heute wurde kein einziger
islamischer Geistlicher wegen Mithilfe am Genozid angeklagt. Stattdessen bat der
Präsident des Landes bei der Vereidigung des ersten muslimischen Ministers im
Kabinett, an die ruandischen Muslime gewandt: „Lehrt die anderen Ruander, wie
man zusammenlebt!“
3. Das Konzept des just policing
In der friedensethischen Debatte in der Evangelischen Landeskirche in Baden wurde
als weitere Möglichkeit, in Konflikten helfend einzugreifen auf das Konzept des „just
policing“ verwiesen. Dabei geht es um den Einsatz internationaler Polizeikräfte in
Konflikten. In dem badischen Diskussionspapier heisst es dazu:
In Ergänzung zu gewaltfreien Mitteln der Konfliktbearbeitung sind allein
rechtsstaatlich kontrollierte polizeiliche Mittel ethisch legitim. In kriegsähnlichen
Konfliktsituationen, die die nationalen Polizeikräfte überfordern, ist an internationale,
15
Der bis heute nahezu völlig unbekannte gewaltfreie Widerstand der Muslime in Ruanda wird anschaulich beschrieben in:
Markus Weingardt, Was Frieden schafft – Religiöse Friedensarbeit, Akteure, Beispiele, Methoden Gütersloh, 2014, S.
42ff.
13
durch das Völkerrecht legitimierte, z.B. den Vereinten Nationen unterstehende
Polizeikräfte zu denken.
„Das Konzept des just policing (gerechte Polizeiarbeit) ist aus dem mennonitischkatholischen Dialog in den USA entstanden. Mehrere Jahre lang trafen sich
mennonitische Theologen mit katholischen Moraltheologen und debattierten über die
Probleme von Krieg und Frieden. Während die Mennoniten von einem pazifistischen
Standpunkt aus militärische Maßnahmen verwarfen, kritisierten die katholischen
Theologen den Einsatz militärischer Gewalt auf der Grundlage der Lehre vom
gerechten Krieg. Beide Seiten waren sich auch einig darin, dass gewaltfreie Mittel
zur Bearbeitung von Konflikten vorrangig zu behandeln seien. Im Grenzfall seien
allenfalls polizeiliche Mittel ethisch legitim. Wer die klassische Lehre vom gerechten
Krieg ernst nehme, die dem Einsatz militärischer Mittel scharfe Grenzen setze,
komme damit im höchsten Fall nur zu einer Legitimierung polizeilicher Gewalt.
Für die mennonitische Position blieb allerdings die Frage offen, ob mennonitische
Christen sich selbst an der Polizeiarbeit beteiligen könnten. Das Konzept
unterscheidet auch zwischen polizeilichen Zwangsmaßnahmen unter Verzicht auf
tötende Gewalt und Polizeieinsätzen, die tötende Gewalt nicht ausschließen.
Das Ziel von „just policing“ ist es, Menschen in der Bevölkerung zu schützen. Dabei
geht es nicht nur um bestimmte Aufgaben, sondern es meint eine ganz bestimmte
Polizeiform und Ausbildung. Die Aufgabe von „just policing“ besteht vor allem in der
Deeskalation von Konflikten, um damit Raum für die Konfliktbearbeitung zu schaffen.
Mit dem Einsatz von Polizeikräften wird nicht ein Sieg über andere angestrebt,
vielmehr geht es darum, gerechte win-win Lösungen zu ermöglichen und dies mit
geringstmöglicher Zwangsausübung.
Polizeiliche Zwangsausübung unterscheidet sich substantiell von der militärischen
Gewalt. Polizeilicher Zwang hat viel stärker den Charakter schützender Gewalt, die
im Zweifelsfall eher den Straftäter entkommen lässt, als unschuldiges Leben in
Gefahr zu bringen. Qualitativ unterschieden von der polizeilichen Gewalt ist die
militärische Gewalt. Im Krieg ist sie auf Unterwerfung und Vernichtung des Gegners
ausgerichtet. In ihrer Eskalationslogik ist sie sehr oft schrankenlos. Während
Polizisten lernen, in Konfliktsituationen deeskalierend einzuwirken, wirkt der Einsatz
von Militär häufig konflikteskalierend.
3.1 Friedenslogik anstelle der bisherigen Sicherheitslogik
Das Konzept des just policing, so wie es in der amerikanischen Diskussion entwickelt
wurde, ersetzt nicht einfach Militär durch Polizei, sondern es setzt, so Lederach,
einen grundlegenden Wandel in den leitenden Metaphern von Sicherheit voraus.
Es orientiert sich nicht mehr an der Idee der „Nationalen Sicherheit“, sondern am
Konzept der „menschlichen Sicherheit“ (human security) (Lederach; in Schlabach S.
176). Diese ist nicht an der Sicherung der Grenzen von Nationen ausgerichtet,
sondern orientiert sich an der Sicherheit einzelner Menschen und ihrer lokalen
Gemeinschaften. Diesem grundlegenden Bedeutungswandel in der Sicherheitspolitik
entspricht die im deutschen Sprachraum entwickelte Idee einer Friedenslogik, die an
die Stelle der bisherigen Sicherheitslogik treten soll16. Eine friedenslogische Politik
soll die klassische Sicherheitspolitik ablösen.
16
Vgl. dazu Hanne Margret Birckenbach, Friedenslogik und friedenslogische Politik, in Wissenschaft und
Frieden – Dossier 75; 2014, S. 3ff.
14
Aus friedenslogischer Sicht kann Sicherheit vor Gewalt nachhaltig nicht auf paradoxe
Weise durch Androhung oder Anwendung von Gewalt oder Machtüberlegenheit,
sondern nur über den Aufbau kooperativer und problemlösungsorientierter
Beziehungen erreicht werden.
Wie ist Polizeiarbeit zu verstehen?
Am Konzept des just policing wird oft kritisiert, dass es ja auch Polizeieinsätze gäbe,
die Gewalt hervorrufen. Es gibt Polizeistaaten und den brutalen Einsatz von Polizei
zur Verbrechensbekämpfung, der keine Grenzen kennt. Diese Einwände nehmen
das mennonitisch-katholische Autorenteam in ihrem von Gerald Schlabach
herausgegeben Sammelband17 auf. So definiert der katholische Moraltheologe
Tobias Winright „Community policing“ als neues Paradigma für die Polizeiarbeit. Das
Modell des Community policing stammt aus den USA. Es beschreibt eine bürgernahe
Polizeiarbeit, bei der Polizisten eher die Aufgaben von Sozialarbeitern haben und in
den Stadtteilen eng mit Bürgerinitiativen, Vereinen und Kirchen zusammenarbeiten,
um Kriminalität zu bekämpfen. Demgemäß ist in diesem Modell der Polizist als crime
fighter nicht mehr gefragt. Polizisten müssen keine weiße Hautfarbe haben und mehr
als 1,85 Meter groß sein, um Verbrechen zu bekämpfen. Der klassische Typ des
crime fighter hat in dem Modell des community policing ausgedient. Im community
policing ist eher der social peacekeeper gefragt, der denselben ethnischen Gruppen
entstammt, wie die Mehrheit der Bevölkerung in bestimmten Stadtteilen. Er oder sie,
denn hier kommen natürlich auch Frauen ins Spiel, kann klein sein und zu den
hispanics in den USA gehören. Entscheidend ist dabei, dass polizeiliche Arbeit beim
community policing auf Dialog angelegt ist und auf Verständigung mit den
Netzwerken der Bürgerinnen und Bürger, die in bestimmten Stadtteilen leben. Statt
Frieden zu erzwingen (coercive) geht es um Überzeugungsarbeit (persuasive).
3.2 An vorhandene Friedensstrategien anknüpfen
Lederach schlägt in seinem Aufsatz vor, mit dem Machbaren zu beginnen: Bei dem
Konzept des just policing gehe es nicht darum, etwas völlig Neues, Innovatives zu
erfinden, sondern an bereits vorhandene nichtmilitärische Strategien zum Aufbau von
Sicherheit anzuknüpfen, sie zu verstärken und mit neuen Ressourcen auszustatten.
Dabei erkennt Lederach drei verschiedene gewaltfreie Strategien, die in der Lage
sind, Sicherheit für die Bevölkerung in Konfliktzonen zu schaffen. Seine Vorschläge
knüpfen also eher an dem an, was im Forum Ziviler Friedensdienst entwickelt wurde,
als dass sie eine Art internationaler Polizei, die einen quasimilitärischen Auftrag hat,
begründen können.
Community policing in Post-Accord Settings – Basisnahe Polizeiarbeit in
Situationen nach einem Bürgerkrieg
Am Beispiel Nordirlands beschreibt Lederach, wie sich nach Ende des Bürgerkrieges
dort das Gesicht der Polizei verändert hat. Aus Einsatzkräften, die quasi-militärisch
operierten, wurden bürgernahe Polizisten, die von Experten auf dem Gebiet der
Mediation und Konfliktlösung geschult wurden. Sie hatten nicht mehr die Aufgabe,
Terroristen zu jagen, sondern mussten lernen, die einzelnen Konfliktparteien mit
Respekt zu behandeln und für Präsenz in der Nachbarschaft zu sorgen. Diese
strategische Veränderung der Polizeiarbeit weg vom crime fighter hin zum social
peacekeeper ist in Situationen nach Bürgerkriegen relevant. Dabei liegt ein
17
Gerald Schlabach (2007) „Just policing, not war – an alternative Response to world violence“
15
Verständnis von Sicherheit zugrunde, das vor allem aus einem Netz von
Beziehungen in der lokalen Gemeinschaft aufbaut. Dieses Netz zu stärken und darin
mitzuarbeiten ist die Aufgabe der neuen Polizeiarbeit (just policing).
Nonviolent Peacekeeping – gewaltfreie Friedenseinsätze
Andere bedeutende Ansätze erkennt Lederach bei den Gruppen und Institutionen,
die peacekeeping Missionen auf gewaltfreiem Wege erfüllen. Er nennt hierbei
Bemühungen der Peace Brigades International, Witness für peace und Christian
peacemaker Teams, die durch gewaltfreie Präsenz Personen schützen, die in
Konfliktzonen besonders gefährdet sind. Große Bedeutung misst er dem Aufbau der
nonviolent peaceforce zu, die in ihrem Ansatz über die vor allem von Kirchen
getragenen Beispiele der erstgenannten hinausgehen und sich mittlerweile im
Rahmen der Vereinten Nationen und großer internationaler Organisationen
bewegen. Ihre Einsätze in Sri Lanka oder auf den Philippinen und im Süd-Sudan
belegen die Möglichkeit eines gewaltfreien Schutzes der Zivilbevölkerung in
Gebieten, wo die Bevölkerung oder bestimmte Minderheiten ständig von Gewalt
bedroht ist. Auch bei den klassischen peacekeeping Missionen, die vom Militär
durchgeführt werden (z.B: UNO Blauhelme) wird immer deutlicher, dass
peacekeeping Missionen eine ganz andere Art der Ausbildung voraussetzen.
Peacekeeper brauchen Fähigkeiten des community building, sie müssen die Sprache
der betreffenden Bevölkerung sprechen und kulturelle Intelligenz an den Tag legen.
Der Erfolg ihrer Arbeit hängt immer mehr davon ab, wie gut sie integriert sind, ob sie
Beziehungen zur lokalen Gemeinschaft unterhalten und ob sie sich auf dem Gebiet
der Konfliktprävention und Verhandlung engagieren. Eine internationale Polizei wird
also nicht einfach aus dem Ausland einschweben und mal schnell die Verbrechen
bekämpfen und dann wieder abziehen, sondern sie wird sich längerfristig auf die
Bedingungen vor Ort einlassen. Wie das funktionieren kann, kann man sehr gut an
den Einsätzen der nonviolent peaceforce beobachten. Hier arbeiten internationale
Teams mit lokalen Kräften Hand in Hand.
Community peace zones – Lokale Friedenszonen
Als drittes Beispiel erwähnt Lederach die Bildung von Friedenszonen, wie sie in
Kolumbien oder auf den Philippinen mit Erfolg praktiziert wurde. Hier engagiert sich
die betroffene Bevölkerung selbst für ihren Schutz und sorgt dafür, dass bestimmte
Zonen, z.B. Marktplätze, Schulen oder ganze Dörfer nicht von bewaffneten Kräften
betreten werden dürfen. In dem Buch „Opting out of war“18 werden 13 Fallbesispiele
gesammelt von Fällen, in denen Gemeinden oder ganze Regionen sich aus einem
sie umgebenden gewaltsamen Konflikt erfolgreich heraushielten. Wer weiss z.B.
dass die Jahgori in Afghanistan in der Zeit des Taliban-Vormarsches ihre
Unabhängigkeit und eigene Lebensweise, zu der u.a. auch der Schulbesuch von
Mädchen gehörte, erfolgreich gewaltfrei verteidigten?19
Es scheint auf dem Gebiet des Einsatzes von zivilen Mitteln zum Schutz von
Menschen im Augenblick viele überraschende Entdeckungen zu geben.
Sicherheit durch Vernetzung und die Stärkung von Beziehungen in der lokalen
Gemeinschaft – nicht durch Zwang von oben
18
Anderson, Mary B. und Wallace, Marshall (2013) Opting Out of War. Strategies to Prevent Violent Conflict.
Ich verdanke diese Hinweise einer Studie von Christine Schweitzer, Neue Einblicke in zivilen Widerstand ,
Hintergrund- und Diskussionspapier des Bund für Soziale Verteidigung, Februar 2015
19
16
Beim Konzept des just policing geht es also nicht einfach darum, Militär durch Polizei
zu ersetzen und damit gewissermassen die ultima ratio des Gewalteinsatzes durch
internationale Poliziesten wahrnehmen zu lassen. Es geht vielmehr um einen
grundlegenden Bedeutungswandel in der Betrachtung von Sicherheit. Sicherheit
orientiert sich beim Konzept des just policing nicht mehr am Modell der nationalen
Sicherheit, die starke Militärkräfte voraussetzt und Frieden durch Zwang von oben
durchsetzen will. Sicherheit orientiert sich am Modell der menschlichen Sicherheit
(human security) und ist auf den Schutz der lokalen Bevölkerung ausgerichtet.
Sicherheit wird gestiftet durch Vernetzung und Verständigung und das
Zusammenwirken zahlreicher Akteure vor Ort. Je stärker so ein Netzwerk wird, in das
auch Polizeikräfte oder unbewaffnete peacekeeper eingebunden sind, desto
tragfähiger ist die Sicherheit.
Schlussfolgerungen
Wenn die Beobachtungen Kapilas zutreffend sind, wenn also, wie gezeigt,
militärisches Eingreifen meistens zu spät kommt, um einen Genozid aufzuhalten, was
heißt das dann für die Frage der Schutzverantwortung? Welche Folgen sind daraus
zu ziehen? Gibt es Situationen, in denen die gewaltfreie Konfliktbearbeitung an ihre
Grenzen kommt?
1.) Militärische Massnahmen sind ein unwirksames Mittel gegen Völkermord
Zunächst einmal ist die Einsicht, dass militärische Massnahmen ein unwirksames
Mittel sind, Menschen wirksam zu schützen, ziemlich ernüchternd. Viele Menschen
tragen diese Option immer in ihren Köpfen herum. Aber der Glaube, dass man
letztlich irgendwann Krieg führen müsse, um Menschenleben zu schützen, ist ein
Mythos. Er gründet auf dem Mythos von der erlösenden Kraft der Gewalt20. Diesen
gilt es aufzudecken und zu entlarven.
2.) Gewaltfreier Widerstand und Zivile Konfliktbearbeitung sind die
nachhaltigeren Mittel
Auf der Basis dieser Einsicht können wir uns dann ganz den Möglichkeiten der
zivilen Konfliktbearbeitung zuwenden. Die Möglichkeiten ziviler Konfliktbearbeitung
sind noch lange nicht ausgeschöpft. Zivile Konfliktbearbeitung bringt gewiss keine
schnellen Lösungen zu Wege. Aber schnelle Lösungen gibt es bei militärischem
Eingreifen auch nicht. Man erhofft sie sich, aber in der Regel erfüllt sich diese
Hoffnung nicht.
3.) Es wird immer auch Situationen geben, in denen wir hilflos sind.
Dies bedeutet dann zugleich, sich einzugestehen, dass es in Zukunft immer wieder
auch Situationen geben wird, wo wir zunächst einmal ratlos sind, wo wir keine
schnellen Antworten kennen, wo wir hilflos zusehen müssen, wie Menschen leiden.
Aber davor bewahrt der Ruf nach militärischem Eingreifen auch nicht.
Er ist eher eine Ersatzhandlung, die das Gewissen erleichtert, aber er kann eine
vernünftige Friedenspolitik nicht ersetzen.
4.) Abschied von der ultima ratio: Keine Verbindung von zivilen und
militärischen Konzepten
Das bisherige Mischkonzept: Zivile Konfliktbearbeitung als prima ratio, militärisches
Eingreifen als ultima ratio funktioniert jedenfalls nicht bzw. geht zu Lasten der zivilen
20
Den Mythos von der erlösenden Gewalt beschreibt Walter Wink ausführlich in seinem Werk. Vgl. dazu
Walter Wink (2014), Verwandlung der Mächte – Eine Theologie der Gewaltfreiheit, Regensburg
17
Konfliktbearbeitung. Wer – wie bsp. die EKD - Gewaltfreiheit als prima ratio
propagiert, sich aber den Einsatz militärischer Mittel für den Grenzfall vorbehält,
sorgt dafür, dass weiterhin militärische Mittel bereit gehalten werden. Damit ist
sichergestellt, dass weiterhin 95 % der Ressourcen in den Aufbau des Militärs
fliessen, (die ultima ratio). Für die prima ratio, den Normalfall der zivilen
Konfliktbearbeitung werden weiterhin nur 5 % der Mittel eingesetzt. Aber gerade die
Mittel der Konfliktprävention und zivilen Konfliktbearbeitung sind die wirksameren
Mittel, um in Konflikten Menschen wirklich zu helfen. Der Einsatz eines Mitarbeiters
der nonviolent peaceforce beispielsweise kostet 50.000 € jährlich, der Einsatz eines
US Soldaten in Afghanistan 2 Millionen US Dollar.
5.) Friedenslogik statt Sicherheitslogik
Das Konzept des just policing scheint sich – so wie es im mennonitisch –
katholischen Dialog entwickelt wurde - sehr stark in Richtung der zivilen Konfliktbearbeitung zu entwickeln. Es geht dabei darum, internationale Kräfte ins Spiel zu
bringen, die in Konflikten deeskalierend wirken können und die lokalen
Friedenskräfte vor Ort stärken sollen. Das Konzept sieht einen Paradigmenwechsel
vor, der eine deutliche Abkehr von der herrschenden Sicherheitslogik hin zu einer
Friedenslogik vornimmt.
Der Autor
Dietrich Becker-Hinrichs ist Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Baden. Er
arbeitet als Gemeindepfarrer in Bretten. Im Rahmen des Forums Friedensehtik
innerhalb der badischen Landeskirche arbeitet er an friedensethischen
Fragestellungen.
Dietrich Becker-Hinrichs gehört zum Vorstand des Trägervereins der Werkstatt für
Gewaltfreie Aktion, Baden. Er ist Mitglied im Bund für Soziale Verteidigung und im
Internationalen Versöhnungsbund.