Ein offener Brief - An den Bundespräsidenten Joachim Gauck

Ein offener Brief
An den
Bundespräsidenten
Joachim Gauck
- persönlich Bundespräsidialamt
Spreeweg 1
10557 Berlin
Mai 2015
Sehr verehrter Herr Bundespräsident,
am 22. Februar 2013 hielten Sie Ihre große Europa-Rede. Darin beschworen Sie
Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit,
Menschenrechte und Solidarität als die europäischen Werte.
Sie sagten: „ Unsere europäischen Werte sind verbindlich und sie verbinden.
……so garantiert Europa doch immer eine kritische Öffentlichkeit und freie
Medien, die für Verfolgte und Unterdrückte besonders in diktatorischen und
autoritären Staaten Partei ergreifen können.“
Und Sie sprachen es aus: „Der europäische Wertekanon ist nicht an
Ländergrenzen gebunden und er hat über alle nationalen, ethnischen,
kulturellen und religiösen Unterschiede hinweg Gültigkeit.“
Klare Worte, die uns alle begeistert und für Sie eingenommen haben.
Nur wenig später, am 25. Februar, wurden Sie in Ihrer Rede vor dem UNMenschenrechtsrat noch deutlicher und kompromissloser. Sie riefen dazu auf,
die Verletzung von Menschenrechten weltweit anzuprangern – offen und ohne
falsche Rücksichten.
Wir trauten unseren Ohren nicht. Endlich sprach ein hochrangiger Politiker
aus, worauf es wirklich ankommt, wenn es in dieser Welt besser werden soll.
Sie sagten: „Menschenrechte brauchen Beschützer, Menschenrechte brauchen
Verteidiger. Regierungen mögen Kritik nicht für richtig halten. Aber das gibt
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Regierungen nicht das Recht, Kritiker einzuschüchtern, zu misshandeln oder gar
zu töten. Staaten, die Kritik unterbinden, sind Unrechtsstaaten.“
Und an anderer Stelle beschrieben Sie treffend die heutige Realität: „Ich nenne
die Todesstrafe, für deren Abschaffung ich mich mit Nachdruck einsetze. Ich
nenne Folter, Gewalt gegen Frauen, willkürliche Haft, ‘Verschwindenlassen‘
und die Einschüchterung von Menschenrechtsverteidigern. Ich nenne die
Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer religiösen
Gemeinschaft und die Diskriminierung wegen Hautfarbe oder Herkunft. All das
ist nicht Geschichte, sondern harte Realität.“ Und ebenso zählten für Sie als
Menschenrechtsverletzungen, wenn die Grundbedürfnisse wie Essen und
Trinken, Gesundheit und Wohnen nicht erfüllt (bzw. wie wir glauben
„verweigert“) werden, keine politische Teilhabe stattfindet, und keine
Meinungs-, Glaubens- und Versammlungsfreiheit oder ein effektiver
Rechtschutz garantiert wird.
Nachdem wir das alles gehört hatten, waren wir bedingungslos bereit, unser
Engagement zu erhöhen. Mit Ihren „Sei nicht gleichgültig!“ „Sei nicht
bequem!“ und „Erkenne Deine Gestaltungskraft!“ zeigten Sie, dass Sie genau
das von uns erwarteten.
Das war 2013….
Im Folgejahr 2014 gab es weitere Anlässe für Sie, in überzeugender Weise für
Frieden und Freiheit, für Rechtsstaatlichkeit, für Völker- und Menschenrechte
das Wort zu ergreifen.
Und dann kam es im Juli/August 2014 zur 3. Gaza-Offensive. Nach heftigen
Luftangriffen verstärkten die Israelis ihren Angriff noch durch eine intensive
Boden-Offensive. Die Folgen in Gaza sind verheerend. Ganze Stadtviertel sind
nur noch ein Trümmerhaufen, 18.000 Gebäude wurden zerstört oder stark
beschädigt, auch Krankenhäuser und Schulen, tausende Familien haben alles
verloren und sind obdachlos. Kein Strom, kein Trinkwasser, kaum eine
medizinische Versorgung. Das Bombardement und der Beschuss durch die
Israelis machte vor nichts Halt.
Und dann die vielen Toten, 2.200 auf der palästinensischen Seite, davon
überwiegend Zivilisten und mehr als 500 Kinder, etwa 70 auf der israelischen
Seite, davon 3 Zivilisten. Es war ein richtiges Massaker, das die Israelis im
Bewusstsein ihrer grenzenlosen militärischen Überlegenheit und in voller
Absicht veranstalteten.
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Das alles als Folge eines exzessiv ausgelegten Selbstverteidigungsrechts der
israelischen Seite. Es ging gar nicht mehr darum, sich gegenüber den HamasRaketen zu verteidigen. Das Ziel war offensichtlich, die palästinensische
Bevölkerung einzuschüchtern und ihren Willen zu brechen, sich gegen die seit
Jahrzehnten bestehende Besatzung aufzulehnen; und darüber hinaus war es
das Ziel der israelischen Regierung, den Gaza-Streifen unbewohnbar zu machen
und seine Bewohner dazu zu veranlassen, das Land zu verlassen. Das belegen
etliche teilweise bereits vor dem Beginn der Gaza-Offensive bekannt
gewordene Aussagen von führenden israelischen Politikern und der OCHABericht der UNO. Dass sich die israelische Seite dann später an der
internationalen Geber-Konferenz zum Wiederaufbau Gazas nicht beteiligte,
war nur folgerichtig. Und schließlich gelangen in letzter Zeit, gefördert von der
Organisation „Breaking the Silence“, Informationen darüber an die
Öffentlichkeit, dass die im Kampfeinsatz erteilten Befehle immer wieder die
Aufforderung erhielten, jeden zu töten, der den Soldaten begegnete. In den
meisten Fällen war das Mord.
Der internationale Aufschrei war groß, Deutschland blieb stumm. Auch unser
Bundespräsident ließ nichts von sich hören.
Nach alldem, was wir in den letzten Jahren von Ihnen gehört haben, hätten
wir erwartet, dass Sie als erster Ihre Stimme erheben gegen dieses
grauenvolle unmenschliche Vorgehen in Gaza. Was hätte es noch gebraucht,
damit Sie Ihre Stimme erhoben hätten? Noch mehr an
Menschenrechtsverletzungen, noch eindeutigere Verstöße gegen das
humanitäre Völkerrecht?
Und jetzt, im April 2015, haben Sie auf der zentralen Gedenkfeier im Berliner
Dom klar und ohne Umschweife das Massaker und die Gräueltaten an den
Armeniern vor 100 Jahren als „Völkermord“ bezeichnet, an dem auch die
Deutschen durch ihr Schweigen nicht unbeteiligt gewesen sind. Auf diese unter
Historikern als unumstritten geltende Einstufung wollten einige unserer
einflussreichsten Politiker verzichten, um nicht die Beziehungen zur Türkei zu
belasten. Sie haben sich nicht daran gehalten, und das verdient höchsten
Respekt und außergewöhnliche Anerkennung.
Dieser Vorgang ist von besonderer politischer Bedeutung und verdient eine
hohe Aufmerksamkeit. Denn vermutlich sind Sie der erste hochrangige
Politiker, der sich als integre allseits anerkannte moralische Instanz für die
Wahrheit entschieden hat.
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Wir sind jetzt überzeugt, dass Sie sich als Vorkämpfer für die Menschenrechte,
für ein humanitäres Völkerrecht und für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
einsetzen und dafür sorgen wollen, dass unser europäischer Wertekanon
international wirklich ernst genommen wird. Das macht uns glücklich und
bereit, Sie bei Ihrer großen Aufgabe vorbehaltlos zu unterstützen, soweit uns
das möglich ist.
Die Vertreibung und Ermordung der Armenier war vor 100 Jahren. Alle daran
seinerzeit Beteiligten sind heute tot. Die nachfolgenden Generationen haben
die Verpflichtung, die historische Schuld anzuerkennen und zu würdigen. Das
ist für viele schon schwer genug.
Noch schwerer aber ist es, und es verlangt ein hohes Maß an Wahrhaftigkeit
und Redlichkeit, die Stimme gegen die Vertreibung des palästinensischen
Volkes und den an ihm stattfindenden schleichenden Völkermord zu erheben,
ein Vorgang, der bis auf den heutigen Tag andauert. Erster Kronzeuge für diese
andauernde Katastrophe ist der israelische Historiker und Politikwissenschaftler Ilan Pappe mit seinem Bericht „Die ethnische Säuberung Palästinas“
aus dem Jahre 2006.
Es hat Mut gebraucht, die systematische Vertreibung und Ermordung von
vermutlich einer Million Armeniern in der Öffentlichkeit als „Völkermord“ zu
bezeichnen, geschehen vor 100 Jahren, in den Jahren 1915 bis 1917.
Wir fragen Sie, sehr verehrter Herr Bundespräsident, wieviel Mut brauchen
Sie, um die immer wieder gezielt betriebene Vertreibung und Tötung der
Palästinenser in der Öffentlichkeit als Völkermord zu bezeichnen? Beides
geschieht bis heute und dauert nun schon 70 Jahre.
Initiativgruppe
SalamSchalomSalem
88682 Salem am Bodensee
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