1 Rede von Herrn Bürgermeister Kessler anlässlich der Kranzniederlegung/Reichspogromnacht am 10.11.2014 Sehr geehrte Frau Wagner-Redding, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler, wir kommen jedes Jahr an dieser Stelle zusammen, um des Tages zu gedenken, an dem – wenn man so will – die aktive Verfolgung der Juden in Deutschland begann. Wir müssen bei solch regelmäßigem Gedenken die Gefahr der Abstumpfung, der Routine sehen – man kommt zusammen, es werden zwei Reden gehalten, Kränze niedergelegt und man geht wieder auseinander. Deshalb ist es wichtig, dieses Gedenken durch Beispiele lebendig zu halten und diese Beispiele dürfen auch gerne über das Geschehen des 9. November hinausgehen. In meinem Urlaub Anfang September war ich unter anderem in Innsbruck. Ich schlenderte mit meiner Frau durch die Fußgängerzone und sehe plötzlich große Stoffbahnen an 2 Metallständern – offensichtlich bedruckt. Mitten im Weg – sie sollten offenbar den Lauf stoppen und den Besucher ruckartig aufmerksam machen. In der Tat wurden wir neugierig und traten näher. Auf diesen Stoffbahnen waren die Namen von über 80 Österreichern abgedruckt, die im Dritten Reich Juden beschützt und versteckt hatten. Juden zu verstecken war ein großes Risiko – ein Risiko, das man im Entdeckungsfall nicht nur bitter zu büßen hatte, sondern das das eigene Leben kosten konnte. Und das waren beileibe nicht nur Pastoren, bei denen man vielleicht noch eine tiefere Motivation vermuten konnte, nein, es waren Menschen, mitten aus der Gesellschaft, die zu eben diesen Juden eine private Beziehung hatten oder Menschen, die das Schicksal der Todgeweihten so berührt hat, dass sie sich in der Pflicht sahen zu helfen – koste es was es wolle. Mich hat das sehr beeindruckt und ich habe mich gefragt, ob ich diesen Mut aufgebracht hätte – wegen einem jüdischen Mitbürger -mein Leben zu riskieren. Ich habe Zweifel, ob ich diesen Mut gehabt hätte. 3 Ich weiß, auf die Menge der vernichteten Juden sind diese positiven Beispiele ein Tropfen auf den heißen Stein, aber das hat es gegeben. In auswegloser Situation stand ein Bürger, eine Bürgerin, einem Juden zur Seite – die meisten der Beschützten standen kurz vor dem Abtransport in eins der Konzentrationsläger. Natürlich habe ich mir auch die Frage gestellt auf Peine bezogen – hat denn keiner der Peiner Bürger denjenigen Juden zur Seite gestanden, deren Geschäfte in besagter Nacht angegriffen wurden, deren Scheiben zerschlagen oder beschmiert wurden? Zumindest mir ist das nicht bekannt und es waren doch viele Peiner, die die jüdischen Geschäftsleute persönlich kannten – deren Geschäfte liefen doch gut, es waren tagtäglich viele Kunden da, sonst hätten sie sich ja nicht mitten in der Breiten Straße in bester Lage halten können! Zumindest in diesem Zeitpunkt war ja noch keine Lebensgefahr gegeben – ein Zeichen der Solidarität wäre doch möglich gewesen. Auch davon habe ich nie etwas gehört. 4 Ich erinnere an den jüdischen Kaufmann, der nach dem nächtlichen Angriff seine Orden aus dem 1. Weltkrieg in seinem Schaufenster dekorierte, der mutig sein Vaterland von 1914 bis 1918 verteidigt hatte und die Worte dazu schrieb: „Ist das der Dank für meinen Einsatz?“ Meine Damen und Herren, das Gedenken darf nicht aufhören, die Erinnerungskultur muss aufrechterhalten werden. Mit Interesse habe ich in der Zeitung gelesen, dass die sechsten Klassen des Ratsgymnasiums, aber auch Lerngruppen anderer Jahrgangsstufen, sich in letzter Zeit intensiv mit der jüdischen Religion befasst haben. Sogar das jüdische Museum Berlin war zu Gast in der Schule. So praktiziert man Religion zum Anfassen und die Schüler lernen das Andere besser verstehen. Aber nicht nur die Religion an sich auch die Geschichte der Juden gehört dazu und es erstaunt mich immer wieder, wie viele Facetten aus der Zeit des Nationalsozialismus, aus dieser Zeit der Dunkelheit noch 70, bald 80 Jahre später auftauchen.
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