Wie Trüffelschweine und Löwen unsere Erinnerung beleben

Philosophisch-historische Fakultät
Institute of Advanced Study
in the Humanities and
the Social Sciences IASH
Ein Portrait-Bericht über einen Gastreferenten am IASH
von Sarah King
Wie Trüffelschweine und Löwen unsere Erinnerung
beleben
Psychiater, Psychotherapeut, Professor für affektive Neurowissenschaften - Malek Bajbouj (41)
bewegt sich über Disziplinen hinweg im Feld der Emotionen. Über die Rolle der Emotionen
beim Erinnern und Vergessen hält er auch einen Vortrag an der Universität Bern. Ein erinnernswerter Einblick ins menschliche Gehirn.
„Positiv gestimmte Menschen sind aufmerksamer“, wird Malek Bajbouj (sprich ‚Baschbusch’) im Verlauf seines Referats eine Studie zitieren, und es scheint, dass sich die Hypothese auch ausserhalb
des Forschungskontexts bestätigen lässt: Der Referent lächelt – ob er spricht oder zuhört, die Aufmerksamkeit ist greifbar.
Dass Emotionen das Erinnern und Vergessen wesentlich beeinflussen,
illustriert Malek Bajbouj während eineinhalb Stunden mit praktischen
Beispielen aus seiner psychotherapeutischen Arbeit am Charité in Berlin, wo er die Abteilung für Affektive Neurowissenschaften leitet. Theoretisch unterlegt er die Praxisbeispiele mit Forschungsergebnissen aus
Studien, die er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im interdisziplinären Forschungscluster „Languages of Emotion“ (www.languages-ofemotion.de) der Freien Universität Berlin durchführen. Dort forschen
ungefähr 150 Doktorierende zu ganz unterschiedlichen Themen im Feld
zwischen Sprache und Emotion. Bajbouj und sein Team spürt der Frage
nach, mit welchen Interventionen sich Verhalten und Gedächtnisprozesse beeinflussen lassen.
Auf den ersten Blick wirkt es simpel. Das Gedächtnis ist eine Funktionseinheit mit zwei Hauptfunktionen: Erinnern und Vergessen. Welche Komplexität sich hinter diesen beiden Gedächtnisprozessen
verbirgt, zeigt sich bei der Vielzahl von Gedächtnisformen und Definitionen. Als konstruktivistisch wird
es von Frederic Charles Bartlett bezeichnet. Vergangene Erfahrungen werden zerlegt und neu rekonstruiert. Dabei greifen Gedächtnisprozesse über das einzelne Individuum hinaus und vereinen sich in
einem „kollektiven Gedächtnis“: das Gedächtnis einer Gemeinschaft. Mit dieser Form des Gedächtnisses hat sich Maurice Halbwachs bereits vor 80 Jahren befasst. Inhalt und Form von Erinnerungen
entstehen interaktiv in Gruppen. Aleida und Jan Assmann erweitern diese Ansicht um den kulturellen
Aspekt. Neben dem kommunikativen, alltagsnahen gebe es auch ein kulturelles, alltagsfernes Gedächtnis: Traditionen, die über Generationen und viele Jahrhunderte hinweg in Form von Texten oder
Bildern weitergegeben werden. Konstruiert, kollektiv, kulturell – das Gedächtnis beschäftigt Forscher
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aus allen möglichen Disziplinen. Malek Bajbouj richtet seinen Fokus jedoch auf das Individuum – unter
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anderem aus technischen Gründen: „Es hat nur eine Person Platz im fMRI “.
Aber selbst beim Individuum ist das Gedächtnis ein komplexes Unterfangen. „Wir haben ein elastisches Erinnerungssystem, um vergangene Ereignisse für die Zukunft aufzubereiten“, erklärt Bajbouj.
Dabei lassen sich verschiedene Prozesse unterscheiden – von Daniel L. Schacter als sieben Sünden
des Gedächtnisses bezeichnet: Erinnerungen sind vergänglich, zerstreut, blockiert, werden falsch
zugeordnet, sind suggestibel und unerwünscht beständig. Welche Relevanz diese Sünden im medizinischen Kontext haben, illustriert Bajbouj am Korsakow-Syndrom: „Bei Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit kann es wegen Mangelernährung zu einem Vitamin B1 Mangel kommen, was zu einer
strukturellen Veränderung eines Hirnareals führt, das vor allem für die Wiedererkennung und das Lernen zuständig ist. Korsakow-Patienten leiden an Gedächtnisverlust und produzieren objektiv falsche
Aussagen.
Nicht nur reduzierte, sondern auch ein Zuviel an Erinnerung kann schädlich sein. Malek Bajbouj erlebt
dies bei Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). „Wer extremen Traumata wie
Krieg oder Vergewaltigung ausgesetzt wird, erlebt die Situation in verzerrter Weise immer wieder in
Form von Flashbacks. Der Fokus ist dabei oft auf unwesentliche Details gerichtet.“ In diesem Fall
habe das Vergessen eine heilende Wirkung.
Diese positive Seite des Vergessens wird oft übersehen. „Vergessen wird häufig als etwas Negatives betrachtet, weshalb sich 95% der psychologischen Forschung auf die Erinnerung konzentriert. Dabei hat
Vergessen durchaus auch gesunde Funktionen. Paarkonflikte lassen sich zum Beispiel vor allem dann lösen,
wenn das Paar vergessen kann“, weiss Bajbouj aus
seiner Forschung zum Thema Vergebung. Ganz in
Vergessenheit geriet die Kehrseite der Erinnerung also
nicht und sie ist auch nicht minder komplex: Sieben
Vergessens-Typen hat zum Beispiel Paul Connerton
beschrieben. Das repressive und vorgeschriebene
Vergessen sind dabei eher kollektive Formen: Indem die Erinnerung und Wiedergabe eines Ereignisses verboten wird, zum Beispiel von einer politischen Macht, setzt das Vergessen in der Gesellschaft
ein. Auch die neue Identitätsbildung fördert den Vergessensprozess, was in Kulturen mit einer hohen
Mobilität zu beobachten ist. Weitere Typen sind die strukturelle Amnesie (Verlust bestimmter Informationen), der Informationsüberfluss (Unwesentliches wird aus dem Gedächtnis verdrängt), das geplante
Veraltern (immer wieder denselben Dingen ausgesetzt sein) sowie das verschämte Schweigen.
Damit der Vergessensprozess bei den Zuhörenden im Vorlesungssaal nicht zu rasch einsetzt, greift
Malek Bajbouj zu einer simplen Technik, um die Aufmerksamkeit zu steigern: Er verbreitet mit einem
amüsanten Filmausschnitt aus „Benny & Joon“ gute Stimmung. In Experimenten konnten er und sein
Team nachweisen, dass diese Intervention zu einem Anstieg der Aktivität im Emotionszentrum im
Gehirn und somit zu einer besseren Aufmerksamkeit führt. Mit anderen Worten: Emotionale Inhalte
speichern wir besser ab. In seinem Forschungslabor in Berlin greift Malek Bajbouj ausser zu Filmpräsentationen noch zu drastischeren Techniken, um die Erinnerung zu beeinflussen. Mittels magnetischer oder elektrischer Stimulation bestimmter Gehirnregionen lässt sich die Aufmerksamkeit steigern.
Erfolgt die elektrische Stimulation in einem Hirnareal, das für Lernen und Gedächtnis zuständig ist,
zeigen Patienten eine bessere Orientierungs- und Gedächtnisleistung. Bajbouj weist aber auch auf die
Gefahren hin: „Dieses Wissen kann in unserer leistungsorientierten Gesellschaft missbraucht werden.“ Ein Thema für die Neuro-Ethik.
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funktionelle Magnetresonanztomographie. Bei diesem Verfahren liegen Patienten während der Untersuchung in einer Röhre,
die nur für eine Person, in Spezialfällen für zwei Personen, Platz bietet. Mittels fMRI lassen sich aktive Hirnareale bildlich darstellen.
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Ethisch weniger bedenklich ist die sprachliche Beeinflussung der Aufmerksamkeit, zum Beispiel durch
„Priming“: Ein präsentiertes Wort aktiviert im Hirn ein Netzwerk verwandter Begriffe. „Löwe“ aktiviert
zum Beispiel alle möglichen Raubkatzen, weshalb ein Tiger oder ein Panther nach dem Priming
schneller wahrgenommen wird. Die Aufmerksamkeit wird indirekt auch beeinflusst, indem mit der
Sprache Emotionen geweckt werden – zum Beispiel mit Wiederholungsfiguren in der Musik, Literatur
oder Rede. Eine Sonderform von Wiederholung ist die „Inner Speech“, die vor allem bei Patienten mit
einer Depression schädliche Wirkung zeigt: Ihre negativen Gedanken drehen sich in einer Endlosschleife um dieselben Dinge, was zu einer starken Emotionalisierung führt.
Trotz aller Interventionen – wie schnell Informationen wahrgenommen und abgespeichert werden,
variiert von Mensch zu Mensch. „Manche sind wie Trüffelschweine “, sagt Bajbouj „sie sind sehr kompetent im Entdecken von Stimuli.“ Ausserdem ist der Wert der Erinnerung auch kulturabhängig. „In
Kulturen, wo die Emotionen Stolz, Ehre und Scham einen hohen Stellewert haben, sind Erinnerungen
von grösserer Bedeutung.“ Malek Bajbouj wird es wissen. Er ist selbst arabischer Abstammung und
regelmässig exponiert in einem Spannungsfeld zwischen zwei Kulturen. „Das ist manchmal hilfreich
und manchmal schwierig.“ Im arabischen Raum komme es schneller zu Interaktionen zwischen den
Menschen, während es in Mitteleuropa leichter falle, die Perspektive ausserhalb der Familie einzunehmen. Therapieversagen könne entstehen, wenn diese Unterschiede – auch in der Gewichtung
einzelner Emotionen – nicht beachtet werden.
Wir müssen also nicht nur Trüffelschweine sein, sondern auch wissen, welchen Wert der Trüffel für
das Individuum hat. Wie kompetent wir darin sind, hängt nicht zuletzt von unseren Genen ab. „All unsere Verhaltensweisen sind Modifikationen unserer genetischen Ausstattung“, erklärt Bajbouj, der sich
in seiner Forschung auch mit der Veränderung von Genen während der Lebensspanne beschäftigt.
Eines dieser Gene steuert den Dopaminhaushalt. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der unter anderem die Aufmerksamkeitsfähigkeit beeinflusst. Wer viel Dopamin ausschüttet, kann besser fokussieren
und zeigt insgesamt eine bessere neuronale Aktivität. Mit Medikamenten kann die Dopaminausschüttung gesteuert werden. Aber auch hier genügt der Griff in die Sprachkiste. „Menschen mit tiefem Dopaminspiegel sprechen möglicherweise besser an auf rhetorische Figuren.“ Doch nicht immer, warnt
Malek Bajbouj: „Bei Menschen mit hohem Dopaminspiegel ist eine zusätzliche Emotionalisierung ungünstig.“
Die Ausführungen zeigen: Offensichtlich ist diese Funktionseinheit „Gedächtnis“ alles andere als simpel. Erinnern und Vergessen sind dynamische und auf viele Arten beeinflussbare Prozesse, die unser
Erleben und Verhalten mitbestimmen, und eng mit unseren Emotionen verknüpft sind. Das Gebiet ist
noch lange nicht ausgeforscht und verlangt auch in Zukunft viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit.
Doch Malek Bajboujs Gesichtsausdruck lässt vermuten: An letzterer scheint es ihm nicht zu fehlen. Er
lächelt immer noch.
Podcast des Vortrags vom 18.10.2012:
http://www.iash.unibe.ch/content/podcasts/prof_dr_malek_bajbouj/index_ger.html
22.10.2012 | sk | www.sarahking.ch
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