Ich fühle, also bin ich - was können Emotionen "wissen"?

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SWR2 Essay
Ich fühle, also bin ich - was können
Emotionen "wissen"?
Von Eike Gebhardt
Sendung: 16.02.2015 (Wdhlg.vom 27.02.2012)
Redaktion: Stephan Krass
Regie: Ulrich Lampen
Produktion:
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Spr. 1
Gefühle – das waren doch jene Impulse, die aus dem Bauch (oder auch mal von
Herzen) kamen. Mit dem kühl kalkulierenden Verstand hatten sie angeblich nichts zu
tun. Noch heute kann jeder – z.B. gegen die Anmutung, vernünftig zu handeln – sich
auf seine Gefühle berufen, die angeblich viel tiefer und viel näher am Kern der
Persönlichkeit liegen. Dabei wissen wir natürlich längst: Gefühle reagieren gar nicht
auf Menschen oder Dinge, sie reagieren auf das Bild, das wir von diesen haben, also
auf das, was unser Kopf von diesen Menschen oder Dingen vorgibt.
Spr. 2
Ein einfaches Beispiel:
Der Partner kommt nicht zur gewohnten Zeit nach Hause, es wird später und später,
zuerst steigert man sich in eine Verärgerung hinein, dann in Wut, gemischt
womöglich mit Verlustangst, während die Fantasien durchgehen: Natürlich ist dies
nicht nur ein Kollegentreffen, die Sekretärin ist eine Sirene mit Traumkörper, wer
weiß, wo die beiden gelandet sind. Und während man zwischen ohnmächtiger Wut,
Selbstzweifeln, Depression und Trotz hin- und hergeworfen wird, kommt der Anruf
aus dem Krankenhaus. Von einem Moment auf den nächsten bricht der emotionale
Wirbelsturm rest- und spurlos in sich zusammen, als hätte es ihn nie gegeben. Sofort
übernehmen Angst und Sorge die Plätze von Wut, Trotz und Entschlossenheit.
Spr. 1
Sind Gefühle wirklich derart launisch und unverlässlich? Oder müssen wir, entgegen
unserer Überzeugung, ganz einfach akzeptieren, dass wir Gefühle sowieso nur für
die eigenen Kopfgeburten haben, also keinesfalls Gefühle für die Menschen oder
Dinge selber?
Spr. 2
Wie Kopf und Bauch, Verstand und Gefühl einander bedingen, ist ein ständig
aktualisiertes Modethema in gleich mehreren Forschungszweigen: in der
Psychologie, den Hirnwissenschaften und der Ethnologie; aber auch in der
Philosophie, die Gefühle lange als wirre Störfaktoren für klares Denken stigmatisierte
und verbannte. Angesichts der plötzlichen Flut von Veröffentlichungen zum Thema
spricht mancher heute schon von einer Art zweiter Romantik, von der öffentlichen
Wiederentdeckung der Gefühle, ermöglicht und gefördert von ihren angeblich
verständnislosen Widersachern, den Wissenschaften. Hatten diese lange Zeit
tatsächlich alles, was sich ihren Methoden sperrte, als schiere und objektiv nicht
mehr vermittelbare Willkür abgetan – und damit in die Esoterik, den Spiritismus, den
Okkultismus und allerlei mystische Heilslehren abgedrängt - so versuchen sie heute,
vor allem dank der explosiven Entwicklung der Hirnwissenschaften, die verlorenen
Schäfchen in die Theorie und ins Labor heimzuholen. Nicht nur die längst
unüberschaubaren Titel zeugen davon – viele von höchst seriösen Autoren -, auch
Institute, ja Forschungs-Cluster, oft komponiert aus nahezu zwei Dutzend Disziplinen
samt den entsprechenden Publikationen schießen wie Pilze aus dem Boden.
Daneben widmen Tageszeitungen und Wissenschaftsjournale den Gefühlen ganze
Serien oder Sondernummern.
2
Spr. 1
Indessen ist nicht einmal klar, wie man den Forschungsgegenstand denn dingfest
machen könnte. Vor allem eine sogenannte ‚Philosophie der Gefühle’ feiert
neuerdings wahre Definitions-Orgien. Dabei geht es um Unterschiede zwischen
Gefühlen und Emotionen, Affekten oder Stimmungen und was jeweils darunter zu
begreifen und zu subsumieren sei. Emotionen – so ein weithin herrschender, wenn
auch nicht einmütiger Konsens - seien „gerichtete“ Erregungszustände, sie hätten ein
Objekt (als Auslöser oder auch als Handlungsziel), während bloße Stimmungen oft
grund- und ziellos erlebt würden und mithin nur Befindlichkeiten seien.
Spr. 3
„Eine Emotion erschöpft sich nicht in einer bestimmten Erlebnisqualität – dem ‚Wiees-ist’, sie zu empfinden -, sondern repräsentiert ihren jeweiligen Gegenstand als in
bestimmter Weise seiend: die Schlange als gefährlich, den Nachbarn als
beneidenswert und die Untat als beschämend für das eigene Selbst. … Emotionen
… sind wesentlich intentional (auf etwas in der Welt gerichtet) und haben einen
repräsentationalen Inhalt (stellen die Welt als in bestimmter Weise seiend dar).“
Spr. 1
So die Herausgeberin eines bekannten Sammelbandes.
Spr. 2
Allgemeine Angstzustände oder Depressionen, heißt es weiter, können, müssen aber
keine Ursachen oder Auslöser haben, sowenig wie der rheinländische Frohsinn oder
der amerikanische Optimismus; sie könnten bloße momentane Stimmungen sein,
aber auch emotionale Einstellungen (im Doppelsinn des Wortes), die uns die Welt
auf bestimmte Weise filtern, also durchaus eine Gerichtetheit, eben eine Einstellung
zur Welt beschreiben.
Spr. 1
Jedenfalls harrt die Geschichte emotionaler Begriffssprachen noch der
wissenschaftlichen Aufarbeitung. Das mag daran liegen, dass erkenntnistheoretische
Fragen, wie sie z.B. Hume, James oder Mach gestellt haben, auch heute noch nur
beiläufig und pflichtbewusst erwähnt werden, eine gründliche Auseinandersetzung
mit Emotionen als Wahrnehmungs- und Verarbeitungsinstanzen aber aussteht.
Schon die Antike unterschied die Wertigkeit diverser Affekte - allerdings weithin
kasuistisch, d.h. je nach Lage. In der christlichen Tradition wurden Affekte dann fast
nur noch unter moralischen Vorzeichen diskutiert. Erst mit der Aufklärung und dem
cartesianischen Geist-Körper-Dualismus kristallisiert sich ein neuer Begriff heraus:
sensibilité. Als Entsprechung setzte sich das deutsche Wort Gefühl durch, als
Gegenpart zu den kruden Affekten und animalischen Passionen, den
Leidenschaften. Das sogenannte Zeitalter der Empfindsamkeit mündete in eine
ungemein breit gefächerte Gefühlskultur, die ein ganzes Repertoire entwarf – vom
gerührt Weinenden, dem der Tränenfluss die Füße nässte bis hin zu jenen Helden,
3
deren Großtat eben in der Unterdrückung jener Rührungen bestand. Die
wechselnden emotionalen Moden schöpfen bis heute aus jenem Angebot.
Spr. 2
Für die Zwecke unserer kurzen Revue freilich werden wir uns nicht strikt an die
konkurrierenden Begriffssprachen halten, die ohnehin trotz aller Mühe oft mehr
verwirren als sie klären. Wir werden die bestimmenden Themen und Fragen
vorstellen, ansonsten dem alltäglichen Sprachgebrauch folgen und im Einzelfall die
nötigen Differenzierungen anfügen. Unter dem gebotenen höflichen Umgangston der
scientific community aber toben Kontroversen, die an Religionskriege erinnern – geht
es doch um das Definitions-Monopol über die Wirklichkeit, mindestens aber um das
Privileg, unsere Assoziationsautomatiken zu steuern. Emotionen, heißt es gemeinhin
in der Literatur, seien immer und grundsätzlich Wertungen – und damit
Handlungsnormen, die wiederum Gefühle prägen und damit das Verhalten steuern.
Man denke nur an das unsägliche Elend im Gefolge des Keuschheitsideals oder im
Namen der Ehre, der Vaterlandsliebe oder der Religionen. Im Namen des Atheismus,
der freien Liebe oder der vaterlandslosen Gesellen sind jedenfalls noch nie Kriege
geführt worden - eine Erkenntnis, die der Evolutionsbiologe Richard Dawkins im
Jahre 2008 auf Londoner Bussen plakatieren ließ.
Spr. 1
Machen wir einen einfachen Praxistest und nehmen ein Allerweltsgefühl wie die
Liebe. Zielt sie a priori auf ein Objekt, wie wir in unserer Kultur meist glauben, ist sie
somit eine „gerichtete“ Erregung, also eine Emotion mit einer Repräsentation des
Objekts im Kopf? Oder ist sie eine allgemeine Stimmung wie ein Frühlingsgefühl, wo
wir verliebt sind und nur noch nicht wissen, in wen – also ein zunächst zielloser
Gefühls- oder Geisteszustand, der sich dann jedes beliebige Objekt wählen kann.
Und vor allem:
lässt sich diese Differenz über die Zeiten aufrecht erhalten? Auch Freud hatte ja die
Liebe im antiken Griechenland von unserer geschieden:
Spr. 3
„Der eingreifendste Unterschied zwischen dem Liebesleben der alten Welt und dem
unsrigen liegt wohl darin, daß die Antike den Akzent auf den Trieb selbst, wir aber
auf dessen Objekt legen. Die Alten feierten den Trieb und waren bereit, auch ein
minderwertiges Objekt durch ihn zu adeln, während wir die Triebbetätigung an sich
geringschätzen und sie nur durch die Vorzüge des Objekts entschuldigen lassen.“
Spr. 1
Das simple Beispiel zeigt: auch wissenschaftliche Gegenstandsdefinitionen sind
offenkundig kulturellen Mythen und Moden unterworfen – was Wissenschaftler noch
immer nicht gerne hören.
4
Spr. 2
Ein anderes Beispiel:
Eine der durchaus ernsthaften Kontroversen umkreist die Rolle körperlicher
Reaktionen – z.B. Herzklopfen bei Stress, Atemnot bei Angst, Würgen bei Ekel.
Einige unserer Zeitgenossen halten Emotionen vor allem für Körperreaktionen, ohne
allerdings die Frage nach der Henne und dem Ei zu beantworten: Was kommt
zuerst? Rufen Ängste oder Glücksgefühle körperliche Reaktionen hervor - oder sind
diese Zustände einfach unbestimmte nervliche Erregungszustände, denen wir, je
nach Deutung der Situation, bestimmte kulturelle Etiketten zuordnen? Sind die
Körperreaktion schon gerichtete Emotionen oder gar bewusste Gefühle (d.h. zugleich
Objekte unserer Wahrnehmung) oder müssen die auslösenden Situationen erst
erkannt und gedeutet werden, um sich zu bestimmten ‚gerichteten’ Emotionen oder
bewussten Gefühlen zu verdichten?
Spr. 1
Schon der Begriff der „Gerichtetheit“ einer Emotion oder - wie es meist heißt - ihrer
Intentionalität, ist schillernd genug, andererseits aber eben jene Begriffskrücke, mit
der Forscher den kognitiven Korrelaten oder Funktionen von Gefühlen auf die Spur
kommen wollen. Denn „gerichtete“ Gefühle arbeiten mit einer bestimmten Vorstellung
ihres Objekts, die meist durchaus nicht nur auf individueller Vorstellung beruht,
sondern weithin kulturell geprägt und daher auch verhandelbar ist. Typisches
Beispiel: Der Verlierer eines Kampfes, das zeigen Untersuchungen, verliert fast
immer auch an Gunst und Liebe, auch bei der Partnerin.
Spr. 2
Fast jedes Gefühlsobjekt ist kollektiv definiert in einem Kultur- und
gruppenspezifischen Bedeutungsfeld mit zugeordneten Auslösern und Bezügen, die
alle ihrerseits Gefühle hervorrufen können – eine Gemengelage, der wir kaum
entrinnen können. Ganze Berufsgruppen gedeihen auf diesem Sumpfboden, von der
Werbung bis zu Psychotherapien. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat den
„Konsum der Romantik“ unter Bedingungen des Kapitalismus untersucht. Danach
erwarten wir die typischen Konsumangebote als Beleg dafür, dass jemand uns lieb
und wert ist: Ausgehen zum Essen, Kino oder Theater, eine Karibik-Reise, wertvolle
Geschenke und dergleichen. Wir reagieren auf diese Instrumentalisierung der
Gefühle zwar mit der Sehnsucht nach Authentizität, doch die Psychologen wissen
längst: Nach ihren Glücksvorstellungen befragt, zitieren die meisten Menschen
Schlagertexte.
Spr. 1
Kann es also überhaupt ‚reine’ Gefühle geben, so wie es ‚reine’ Begriffe gibt? Kann
es – akademisch ausgedrückt - ein tertium non datur der Gefühle geben, gilt auch
hier der Satz vom ausgeschlossenen Dritten? Gibt es reine Liebe, wie in Märchen
besungen oder reinen Hass wie in den großen Epen der Ilias und der Nibelungen?
Gibt es Gefühle ungetrübt von jeglicher Beimischung wie in der Hassliebe oder der
selbstzerstörerischen Wut? Sind Hassliebe oder Angstaggression nur für Puristen
oder Nichtbetroffene widersprüchliche Gefühle, die einander dämpfen oder gar
5
neutralisieren, aber klar auseinanderzuhalten sind? Oder bilden sie ad hoc
Synthesen, denen mit Begriffen nicht beizukommen ist - und vielleicht macht das
womöglich ihren Zauber, ihren Abenteuercharakter aus, mithin ihre Unlogik?
Standard-Titel des Literaturkanons wie Ronald de Souzas Die Rationalität der
Gefühle lassen das vermuten.
Spr. 2
Wir kennen „kognitive Dissonanzen“ – aber kann es auch emotionale Dissonanzen
geben? Oder gibt es ohnehin nur Gefühlspakete, weil Emotionen praktisch nie nur
auf einen stabilen, klar abgegrenzten Gegenstand gerichtet sind? In der Tat sind
Emotionen fast immer eingebettet in eine Art narrativen Kontext, der je nach
wechselndem Lageverständnis blitzschnell wechseln kann. Die Philosophin Martha
Nussbaum hat die wohl gründlichste Untersuchung über die Beziehung zwischen
Emotionen und anderen Kognitionen vorgelegt – und nennt ihr massives Buch
programmatisch Upheavals of Thought - Turbulenzen des Denkens. Darin mahnt sie
feinere Differenzierungen an:
Spr. 3
„Wir müssen z.B. unterscheiden zwischen allgemeinen und spezifischen Emotionen,
zwischen einem allgemeinen emotionalen Hintergrund und situativen Emotionen und
noch anderen nicht-kognitiven Einstellungen, die bei Emotionen eine Rolle spielen und die sich nicht einfach auf den intentionalen Inhalt reduzieren lassen.“
Spr. 1
In ihrem jüngsten Buch über die Fronten der Gerechtigkeit plädiert sie sogar für das
universale Recht auf ein ausdifferenziertes emotionales Erleben. Wie ein Leitmotiv
taucht hier immer wieder der Begriff „narrativ“ auf. Frei interpretiert: Gefühle sind – im
Gegensatz zu Ideen oder Begriffen – in gewisser Hinsicht bereits Handlungen, die im
Verlauf viele Aspekte in ihre Dynamik hereinziehen, teils in unserer Vorstellung, teils
durch die sozialen Reaktionen, die ihrerseits Gefühlsäußerungen hervorrufen und auf
diese zurückwirken. Folglich bleiben sie nie dieselben. Manche Forscher wie der
israelische Emotionsexperte Ben-Ze’ev, halten die Vorstellung stabiler Emotionen für
einen Widerspruch an sich. Emotionen gebe es überhaupt nur durch
Zustandsveränderungen:
Spr. 3
„Die typische Ursache der Emotionen: eine wahrgenommene signifikante
Veränderung. … Emotional bedeutsam ist nicht das gewohnte Niveau, sondern die
Veränderung. … Wenn wir uns an die Veränderung gewöhnt haben, lässt die
geistige Aktivität nach, weil es sinnlos ist, Zeit und Energie für etwas zu
verschwenden, an das wir bereits angepasst sind.“
Spr. 1
Diese Veränderung muss nicht von außen kommen, betont Ben-Ze’ev;
6
Spr. 3
„Emotional bedeutsam kann sowohl eine tatsächlich wahrgenommene als auch eine
imaginierte Veränderung sein.“
Spr. 2
Und Emotionen als Reaktion auf imaginierte Vorgänge folgen naturgemäß jenen
Assoziationsketten, die uns das begriffliche Verständnis der fraglichen Situation
anbietet. Da die Emotionen eben auf das Bild gerichtet sind, das wir vom Auslöser
haben - also auf das imaginierte Objekt der Begierde, der Liebe oder Wut imaginieren wir auch weitgehend die interpretierenden Schaltstellen solcher
Veränderungen, und damit die Chancen der Steuerung. D.h. wir ermöglichen,
ermutigen, verhindern oder steuern Emotionen weithin selber. Das geschieht selten
durch Willensakte – hier liegt ein Missverständnis der positiven Psychologie -,
sondern über unser weithin kultur- und bildungsabhängiges Situationsverständnis.
Spr. 1
Gefühle sind offenbar wie ein Cocktail: Sie sind immer eine Komposition – und sie
wirken als solche. You only love me for my body, ist ein geflügelter Vorwurf – wir
haben gefälligst den ganzen Menschen zu lieben. Wirklich? You only love me for my
mind, ist vermutlich nie jemandem vorgeworfen worden, der nur ein gutes Gespräch
suchte. Es geht also gar nicht um Fragmentierung, sie selber scheint uns ja durchaus
nicht schäbig, so sie, ideologisch korrekt im Sinne einer Leitkultur, die richtigen Teile
der Beziehung abspaltet. Der britische Anti-Psychiater Ronald Laing hat just in
diesem Sinn eine entsprechende Persönlichkeitsspaltung als gesunde
Überlebensstrategie gerechtfertigt: Wir errichten Mauern in unserem Hirn analog zu
den Mauern, mit denen wir Relevanzbereiche im konkreten Leben voneinander
trennen: Wir bringen das Gewehr des Reservedienstes nicht in die Sitzung des
Kirchenbeirats, bringen Liebhaber nicht nach Hause zur Familie – und im Kopf bzw.
im Sitz der jeweiligen Gefühle lassen wir die Bereiche ebenfalls nicht miteinander
reden.
Spr. 2
Im Gegenteil, den ganzen Menschen zu „brauchen“ – ironischerweise gilt diese
Abhängigkeitserklärung gemeinhin als Liebeserklärung – kann durchaus
pathologisch sein. Und das nicht nur, weil wir damit den Partner zum Werkzeug
unserer Bedürfnisbefriedigung erklären. Vielmehr produzieren wir, indem wir auf
Selektivität verzichten, fast unaufhörlich double binds. Nicht nur Eltern kennen das
Symptom der sog. „dependent disobedience“, des abhängigen Ungehorsams: Er
braucht ein Gegenüber als Autorität – um gegen sie zu rebellieren. Anlehnungs- und
Ablehnungsbedürfnis, Bewunderung und Verachtung im selben Gefühl. „Ich hasse
dich – verlass mich nicht!“ lautet ein bekannter Titel über das Borderline-Syndrom.
Solche Aussagen werden nur als widersprüchlich wahrgenommen, weil wir glauben,
Gefühle müssten wie Begriffe funktionieren: widerspruchsfrei, stringent, gerichtet und
auf ein Ziel zugeschneidert.
7
Spr. 1
Von „angemessenen Gefühlen“ spricht auch die Forschung – um jenen kognitivemotionalen Brückenschlag zu unterstreichen: Sie meint damit nicht etwa eine
Diätetik der richtigen Lebensführung, sondern „emotionale Kompetenz“ als eine Form
der kulturellen Kompetenz. Der Begriff ist verräterisch: Kompetenz ist immer
instrumentell, zieldefiniert. Nie ist der Weg das Ziel, nie ist die Emotion der
Selbstzweck, die Erlebnisqualität, ja nicht einmal die Erlebnisfähigkeit mit ihren
kognitiven, kreativen Konsequenzen. Der Begriff der „emotionalen Kompetenz“ will
denn auch Emotionen gänzlich unbefangen als Mittel zum Zweck verstehen – selbst
bei einer so allumfassenden emotionalen Erfahrung wie dem heute beliebten Ideal
des Flow-Erlebnisses, bei dem eigentlich die emotionale Balance das Ziel ist.
„Emotionale Kompetenz“ meint also eine Emotion im Dienste einer Aufgabe. Gefühle
als Werkzeuge, verwertbar auch für gefühlsfremde Zwecke – wie Sex, der in den
Augen mancher nicht etwa ein Genuss sein soll, sondern der Babyproduktion zu
dienen habe und sonst gar nichts. Gefühle sind aus dieser Sicht Dienstleister.
Kennen müssen wir sie nur, damit wir sie auf ihre Verwertbarkeit prüfen können.
Spr. 2
Darin waren sich nicht nur Kirche und Werbewirtschaft einig, sondern auch die
meisten Psychotherapien, besonders die „Positive Psychologie“, die sich so gern von
den Pop-Weisheiten des „positiven Denkens“ absetzen möchte, diese dann aber,
mit akademischen Weihen veredelt, spiegelt. „Pessimisten küsst man nicht“, so ihr
berühmtes Coaching-Motto, dem unvermeidlich das berüchtigt schlichte Credo für die
therapeutische Hirnwäsche folgt: „Individuen wählen selber, wie sie denken wollen!“.
Wie ein Offenbarungseid klingt jene Belehrung, die Oberguru Martin Seligman für
Kritiker bereit hält:
Spr. 3
„Es ist nicht die Aufgabe der positiven Psychologie, Ihnen zu sagen, dass Sie
optimistisch oder gläubig oder menschenfreundlich oder humorvoll sein sollen. Ihre
Aufgabe besteht vielmehr darin, die Auswirkungen dieser Eigenschaften zu
beschreiben – z.B. dass Optimismus, … bessere körperliche Gesundheit, höhere
Leistungen einbringt, vielleicht auf Kosten Ihres Realismus.“
Spr. 2
Im Klartext heißt das:
Schalten sie ihre Wachsamkeit aus bei Gefahr, Ihre Kritik bei Schweinereien, Ihre
Trauer über Tod oder Trennung – unnütze Ablenkungen allesamt. Gefühle sind ganz
einfach Instrumente, gewissermaßen ein Arbeitsbesteck: der Schliff auf ein Ziel hin
ist der einzig sinnvolle Umgang mit Emotionen – ihren Inhalt, ihr Wesen erhalten sie
durch ihren Zweck! Soziale Rollenforderungen, so pathogen sie auch sein mögen,
sind aus dieser Sicht das Kriterium, wenn wir von „angemessenen Gefühlen“
sprechen. Seltsamerweise gelten genau diese sozial vermittelten Gefühle oft als
„rein“ – im Doppelsinn von edel und von unvermischt, will sagen: unverfälscht. Die
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Rolle definiert das Gefühl, z.B. die als ‚reine’ Liebe fälschlich beschworene
Mutterliebe. Es ist nicht Liebe für ein Individuum, das die Mutter als solches kennt,
schätzt oder eben lieben gelernt hat, sondern rein für dessen Funktion als eigenes
Kind. Die Engländer verspotten diese Liebe einsichtsvoll mit jenem vielzitierten
Spruch: „A child only a mother could love …“
Spr. 1
Reine oder ‚wahre’ Liebe? Auch die platonische Liebe ist nichts als eben eine
spezifische Rollenliebe, und den Stellenwert der Rolle bestimmt die Kultur. Das Wort
Liebe für ein angeblich reines, d.h. eindeutiges Gefühl ist offenkundig ein käuflicher
Begriff. Er dient sich jedem an und schließt in sein großes Bedeutungsfeld die
Verliebtheit wie die Nächstenliebe, die Vaterlandsliebe, die Liebe zur Musik oder die
käufliche Liebe ein, ebenso die Liebelei wie die Liebedienerei, um von Liebe zur
Natur, der körperlichem Liebe und gar der göttlichen zu schweigen – und schuf der
polymorphe Gott die Menschen nicht nach seinem eigenen Bilde?
Spr. 2
Der unbestechliche Montaigne plädierte dafür, den Blick nicht zu vernebeln durch die
Vermischung von Emotion und Wissen: Sie könnten ja durchaus koexistieren, sollten
aber in Beziehungen strikt getrennt bleiben. In einer Partnerschaft will man wissen,
worauf man ‚rechnen’ oder ‚zählen’ kann – die notorisch wechselhaften Emotionen
seien daher eine denkbar schlechte Basis für die Partnerschaft. Und umgekehrt sollte
man Gefühle nicht vergiften, austrocknen oder vergewaltigen, indem man sie in ein
vertragliches Gefängnis festgeschriebener Erwartungen sperrt. Montaigne hätte sich
auf die griechischen Götter berufen können, denen ein Versprechen oder auch ein
Vertrag in jedem Fall heilig und bindend war – außer in einem: in der Liebe.
Spr. 1
Wir wiederholen, heißt es, in der individuellen Entwicklung fast das ganze kollektive
Programm der Menschheitsgeschichte. In den unterschiedlichen Erwartungen an
verschiedene Altersstufen tragen wir dem Rechnung. Kinder sind eben nicht nur
körperlich kleiner, auch ihr Hirn ist, obwohl ursprünglich gar noch reicher mit
Neuronen ausgestattet, partiell arbeitsfähig erst nach dem 20. Lebensjahr.
Heutzutage ist es ein Gemeinplatz, dass die kognitive und die moralische
Entwicklung sich wechselseitig bedingen – und hier setzt die Psychologie der
Gefühle an. Verdächtig einig scheint sich die ansonsten zersplitterte Zunft der
Emotionsforscher dabei über eines: Emotionen seien Wertungen. Und gerade
deshalb fungieren sie als eine Art Ordnungspolitiker:
Spr. 3
„Emotionen drücken unsere Wertvorstellungen und Präferenzen aus und können
daher nicht wahllos sein. Wahllosigkeit liefe darauf hinaus, keine Präferenzen und
Wertvorstellungen zu haben, sie wäre ein Zustand der Nicht-Emotion.“
9
Spr. 2
So kurz und apodiktisch der bereits zitierte israelische Emotionsforscher Aaron BenZe’ev. Emotionen verkörpern in dieser Sicht Ordnungsprinzipien, individuell wie
kollektiv, deren Wurzeln allerdings höchst willkürlich erscheinen. Artengeschichtlich
hatten manche vermutlich ihren Sinn. Ihr Vorteil: Einfach gestrickte emotionale
Reaktionen waren schnell und unmittelbar, sie mussten nicht abwägen und damit
kostbare Zeit verlieren. Die Hirnwege sind nachweisbar kürzer, denn sie müssen
nicht vergleichen, abwägen, Möglichkeiten prüfen und durchspielen – all das braucht
Zeit und muss seinen Weg durch verschiedene Hirnareale durchlaufen. Bei
Bedrohung oder bei einer einmaligen Chance aber musste sofort reagiert werden.
Einfache Emotionen sind die schlichtere, aber schnellere Art zu reagieren, sie sind
binär codiert: Das Schema für entweder-oder, gut-schlecht, Beute oder Bedrohung,
Angriff oder Flucht ist schon im Stammhirn programmiert, die einfache Alternative
braucht keinen Neokortex – wenn dieser differenziert, ist es womöglich schon zu
spät.
Spr. 1
Freilich gibt es keinen Konsens darüber, welche Emotionen als elementar zu gelten
haben. Unverkennbar sind viele Emotionen einfach ein Sozialprodukt und oft sogar
nur eine ideologische Zwangsassoziation. Sexuelle Verkrampfung aufgrund religiöser
Vorurteile sind das bekannteste Beispiel, aber die Ordnungspolitik mithilfe von
Gefühlswerten funktioniert auch mit anderen Assoziationsketten, wie die Werbung
weiß: Im Falle der Religion verbindet deren Propaganda Sex und Sünde, in der
Reklamewirtschaft ist es Sex, Erfolg und Status, beim Verführer Sex und Liebe.
Immer geht es um erwünschte Handlungsfolgen. Gefühle sind so leicht zu lenken,
dass heute schon emotionale Moden geplant werden – selbst richtungslose
Empfindungen und Stimmungen lassen sich assoziativ ganz leicht für Werbe- und
Verführungszwecke einspannen.
Spr. 2
Im Gegensatz zur vielstrahligen – und eben nicht apriori ‚gerichteten’ - Vernunft, die
zur Verarbeitung von Input verschiedene Einstellungen durchspielt, funktionieren
Emotionen, sofern sie eine Werteneigung zeigen, fast immer nur binär: Angenehm
oder unangenehm, positiv oder negativ, im besten Fall graduell, also „weniger
angenehm“ – aber es sind immer polarisierte, quantitative Wertungen auf Skalen: Je
näher man einem Pol kommt, desto ferner ist man von anderen. Noch heute verlangt
jeder Fragebogen solche Antworten: Finden Sie dies oder jenes richtig oder falsch?
Stimmen Sie eher zu oder eher nicht? Reagieren Sie eher spontan und
leidenschaftlich oder eher gelassen und rational usw. Dass schon die Polarisierung
irreführend, ja ein Pseudo-Konflikt sein kann, löst offenbar so lange keine Empörung
aus wie sie den amtierenden kulturellen Stereotypen entspricht.
10
Spr. 1
Ein einfaches Beispiel:
Das Gegenteil von Unglück ist nicht zwingend Glück, trotz des semantischen
Gegenteils. Wenn das Unglück aufhört, sind wir noch lange nicht glücklich – und
umgekehrt: Das Gegenteil von Glück kann Langeweile sein, auch Depression, d.h.
gar keine Emotion, einfach ein leeres Gefühl. Das Gegenteil von Spiel ist nicht etwa
Ernst; niemand spielt so ernst wie ein Kind. Der Einwand gilt für beinahe alle
Emotionen – und damit für all ihre semantischen Etiketten.
Spr. 2
Binäre Wertungen haben keinen Blick – und lassen keinen Spielraum für andere,
latente oder potentielle Bezüge jenseits ihres behaupteten Konfliktfelds. Emotionale
Wertungen sind Strategien der Ausschließung oder des Einschließens – sie sollen ja
handlungsfähig machen, Handlungen vorbereiten, verunsichernde Alternativen
ausschließen. Das Erfahrungswissen über Optionen aber muss durchaus nicht
bewusst sein: Wenn ich einen Stein werfe, weiß ich, wo er ungefähr landet, auch
ohne komplexe Kalkulation über Kinetik, Schwerkraft, Ballistik, Luftwiderstand und
dergleichen. Deshalb empfinden wir ein „Bauchgefühl“ oft als verlässlicher – es stellt
nämlich im Regelfall, als methodisches Destillat unserer Lebenserfahrung, alle diese
Berechnungen an, wohingegen eine bewusste Kalkulation immer eine Auswahl ist
und womöglich den einen oder anderen Aspekt übersieht, den unsere
Lebenserfahrung aber sehr wohl registriert und gespeichert hat.
Spr. 1
Gewiss, emotionale Reflexe erscheinen zunächst schnell und umweglos, aber ob über Angst und Aggression hinaus - alle Emotionen reflexhaft verlaufen, scheint
fraglich, auch wenn die Schaltwege des limbischen Systems kürzer sind als die des
urteilenden Neocortex. Bekanntermaßen fragt auch das limbische System
gelegentlich beim Neocortex nach; nur der Mandelkern, weithin zuständig für Angst,
scheint wirklich reflexhaft zu reagieren. Wie aber steht es mit den Emotionen, die das
Stammhirn noch gar nicht kannte? Unrechtsgefühle, Sehnsucht oder Stolz zum
Beispiel? Wenn Emotionen sich wirklich aus Kognitionen speisen, also aus – realen
oder virtuellen - Gegenstandsdefinitionen, sind sie fraglos, gemeinsam mit diesen, im
Laufe der Evolution komplexer geworden. Kognitive Wertungen wägen viele Faktoren
– entsprechend ist auch unser emotionales Urteil oft ambivalent. Wir zeigen z. B.
Verständnis für einen Täter, wir empfinden „gemischte Gefühle“ und sind nicht selten
gerade deshalb unentschlossen. Nicht etwa weil wir Schokolade oder Fleisch nicht
mögen, sondern weil wir auch den Wert unserer Gesundheit oder die Qual der
Schlachttiere – als Wert – empfinden.
Spr. 2
Dennoch haben wir unsere Charakterideale, und entsprechend unser
Bildungssystem, immer enger zugeschneidert auf klar definierbare Zwecke und
Funktionen und dazu passt natürlich das binäre Denken. So posaunen in
verdächtiger Einmütigkeit fast alle unsere Institutionen heute das Hohelied der
Zielstrebigkeit. Die Tyrannei der Ziele aber hat eine ungewollte – und kaum je
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thematisierte - Nebenwirkung: In dem Maße, wie Ziele uns steuern und antreiben,
verstümmeln und verarmen sie uns auch. Mit zielgerichtetem Blick sortieren wir alles
auf dem Weg dorthin nur noch danach, ob es förderlich oder hinderlich ist; der
Eigenwert von Erfahrungen bleibt auf der Strecke. Und so verkürzt unsere vielgelobte
Zielstrebigkeit auch unsere kognitive und emotionale Entwicklung. Polemisch
zugespitzt könnte man formulieren: Wir amputieren unsere kindliche Neugier – und
erleben diese Verstümmelung als Reife.
Spr. 1
Andere Kulturen bauen die emotionalen und kognitiven Kompetenzen jeder
Entwicklungsphase aufeinander auf, reichern sie also an statt mit dem Übergang von
einer Lebensphase in die nächste die vorangegangen Kompetenzen zu entsorgen,
weil sie angeblich in die neue Rolle nicht mehr passen. Ein Jugendlicher will nicht
kindlich sein, ein Erwachsener nicht pubertär, klagte die US-amerikanische
Ethnologin Ruth Benedict. Anthropologen und Ethno-Pychiater sind sich indessen
einig: Dies ist genau der Grund, warum Erlebnisse der Kindheit und vor allem ihr
emotionales Substrat mit unseren erwachsenen Programmen meist nicht mehr
‚lesbar’ sind. Nicht mehr gebrauchte Neuronen und ihre Vernetzungen, soviel wissen
wir aus der Neurologie, aber werden abgebaut und entsorgt.
Spr. 2
Dabei ist gerade eine Form der kulturell sanktionierten Zielstrebigkeit als Emotion
besonders faszinierend: die Gier. Seltsamerweise finden sich sogenannte Triebe fast
nie in den sonst ziemlich einfallsreichen Listen der Emotionstypen. Warum eigentlich
nicht? Jedenfalls in den Triebtheorien sind sie ziemlich genau „gerichtet“, also
intentional, sie lösen Erregungszustände aus, und sie sortieren ihr Handlungsfeld mit
manchmal verblüffender kognitiver Kompetenz. Ob Geld oder Sex, Triebe zeigen alle
Indizien, die für Emotionen reklamiert werden.
Spr. 1
Eine Form von Gier, nämlich die Neu-Gier, und zumindest ein Trieb, der Spiel-Trieb,
tauchen gelegentlich in der neurologisch interessierten Literatur auf. Dass sie so
selten zum Thema werden, lässt sich womöglich durch ihre kulturelle Einfärbung als
‚unreif’ erklären; tatsächlich aber scheinen beide, nach heutigem Wissenstand, für
die kognitive Entwicklung unverzichtbar zu sein – wohingegen Reife-Ideale einen
kulturell wünschenswerten finalen Zustand menschlicher Entwicklung suggerieren:
stabil, berechenbar, verlässlich und verwertbar. Der Spieltrieb als Entdecker-Trieb sei
nicht nur genetisch angelegt und biologisch durch die Hirnstruktur programmiert; er
werde auch immer wieder emotional aufgeladen und verstärkt, betont der
Neuroforscher Manfred Spitzer, der die Hirntätigkeit bei neugierigen Menschen mit
dem Spielverhalten kleiner Kinder vergleicht:
Spr. 3
Sie sind bei der Sache, neugierig und immer in Bewegung, suchen aktiv nach
Erlebnissen der Wahrnehmung, sind überrascht, gelangweilt, freudig oder traurig –
bis sie müde oder hungrig werden. Sind diese Grundbedürfnisse dann gestillt, geht
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die Neugier von vorne los. Menschen sind mithin von Natur aus motiviert und
brauchen nicht motiviert zu werden.
Spr. 2
Das Gehirn ist ein Vielfresser, vor allem aber will es ständig etwas Anderes: Dafür
bildet es jedes Mal neue Vernetzungen, die ihrerseits die Kapazität erweitern. Das
Hirn ist das einzige Speichermedium, das nicht nur nie voll ist; paradoxerweise kann
es umso mehr aufnehmen, je mehr schon drin ist, also je mehr Anknüpfungspunkte
das Neue vorfindet, und die können emotional sein oder kognitiv neu, also emotional
erregend. Hirne, die nur reproduzieren, also immer nur Vorgaben vollstrecken, bauen
ab. Da aber Stetigkeit unser Kulturideal war, haben wir vermutlich ungeheure
Potentiale verschenkt, verschwendet oder sogar zielstrebig zerstört.
Spr. 1
Dass wir für die verlässlichen Routinen den Preis einer gewissen
Gefühlsabstumpfung zahlen, mögen wir hingenommen haben – gegenüber
existenziellen Bedrohungen schien es das geringere Opfer. Dass aber mit dieser
Gefühlsblindheit auch kognitive Kapazitäten gelähmt wurden, trieb den Preis in
schwindelnde Höhen. Denn Neu-Gier, die Gier nach Neuem, ist der Antrieb des noch
nicht zurechtgeschneiderten, naturgemäß nomadisierenden Hirns, würde Spitzer
sagen. Nicht zufällig attestieren wir geschärfte Wahrnehmungen den
Unangepassten, also kulturell nicht ganz Sesshaften. Bewegung jeder Art, eine List
der nomadischen Vernunft, scheint essentiell nicht nur für körperliche Gesundheit,
sondern auch für die kognitiven Funktionen. Aus der Kreativitäts-Forschung wissen
wir, dass ein impulsreiches Umfeld, sprich: Neugier, Entdeckertum, Abenteuerlust,
nicht in kuscheliger Routine gefeiht, sondern in einer Atmosphäre der Fremdheit und
der Überraschung. So betont der israelische Emotionsforscher Ben-Ze’ev:
Spr. 3
Wenn wir uns an die Veränderung gewöhnt haben, lässt die geistige Aktivität nach,
weil es sinnlos ist, Zeit und Energie für etwas zu verschwenden, an das wir bereits
angepasst sind.
Spr. 2
Dennoch haben wir – historisch erklärlich - einen Stabilitätsfetisch entwickelt und
diesen wiederum emotional besetzt. Konflikte sind programmiert, gerade wo die
persönlichen Beziehungen von Emotionen getragen oder in sie eingebettet sein
sollen. Das ist geschichtlich neu: Stabile Beziehungen vor der Romantik beruhten auf
stabilen Interessen, sie waren wie Verträge, bei denen man ja auch wissen will,
worauf man, im Wortsinn, ‚rechnen’ oder ‚zählen’ kann. Das Hirn übernimmt aber
nicht nur ordnungspolitische Aufgaben, die anscheinend vor allem infrastrukturelle
Aspekte betreffen, also die Funktionstüchtigkeit. Es hält sich umgekehrt auch
Abenteurer- und Entdecker-Neuronen in ständiger Bereitschaft, die immer wieder
ausbrechen; ihre treibende Emotion ist die Neu-Gier. Spitzer betont:
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Spr. 3
Denken und Neugier sind auf einen Inhalt gerichtet, sind nicht statisch, sondern in
Bewegung (auf etwas hin, das ich noch nicht kenne). Dieses Auf-etwas-gerichtetsein, das zugleich wesensmäßig noch nicht gekannt ist, macht Neugier aus; und die
Freude daran, die den Menschen treibt, sein Erkenntnisinteresse, ebenfalls.
Spr. 1
Angesichts solcher Zusammenhänge verwundert es, dass seinerzeit Jürgen
Habermas diese beiden kognitiven Motive, Neu-Gier und Spieltrieb, nicht unter die
grundlegenden Erkenntnisinteressen gruppiert hat. Vielleicht weil sie allzu emotional
und damit launisch klangen, anders als stabile zweckrationale Interessen und Ziele.
Aber auch ohne die heutige Kenntnis neuronaler Zusammenhänge hätte sich das
Argument aus Erfahrungswissen – und aus klinischen Quellen - konstruieren lassen.
Spr. 2
Zielstrebigkeit, Monismus und Stabilität sind emotional stark aufgeladene Werte, die
ordnungspolitisch darauf gerichtet sind, die Glückserfahrung des Neuen, mit der das
Hirn die Zufuhr von Herausforderungen belohnt, zu verhindern. Diese bringen zwar –
wie jeder qualitative Pluralismus - potentielle Konflikte, Ambivalenzen und
Dissonanzen mit sich und sind so möglicherweise angstbesetzt und damit
lernhinderlich, aber auch abenteuerlicher, d.h. emotionsträchtiger als die weithin
routinierten Vollzüge eines zielstrebigen Lebens. Im Extremfall kann ein Leben ohne
kognitive Herausforderungen sogar in eine Art Trauma münden. Psychologen
sprechen von einem „Trauma der Ereignislosigkeit“. Die Symptome ähneln
tatsächlich dem Schock-Trauma, bis hin zum post-traumatischen Belastungssyndrom. Es trifft vor allem Menschen, die derart festgelegt sind auf eine Identität, ein
Ziel, dass ihnen kein Entscheidungs- und Gestaltungs-Spielraum bleibt. Sie leben in
sogenannten „totalen Institutionen“, wie der Soziologe Erving Goffman jene Rollen
nannte, die uns, ohne Pause oder Spielraum, rundum und restlos definieren:
Soldaten, Patienten, gläubige Menschen, Karrieristen oder die stereotype Hausfrau
sind typische Kandidaten.
Spr. 1
Diese Menschen sind meist wenig begabt für die Fähigkeit des Miterlebens, ja
Mitlebens eines Anderen. Diese Form von Empathie, Mitgefühl, nennen Psychologen
virtual role taking: Wir schlüpfen in die gesamte Identität eines Anderen.
Schauspieler kennen das – und berichten häufig über die Euphorie, ja Ekstase,
befreit von der eigenen Routine-Identität, in anderen Identitäten straflos
probehandeln zu können. Das Hirn hungert nach solchen Gelegenheiten, wie
Experimente zeigen – und sucht sich ständig Spielräume dafür im Alltag.
Spr. 2
Natürlich stutzen wir auf diese Weise ein Gegenüber auch zurecht - zu einer Rolle
auf unserer Vorstellungsbühne; es fehlt sein Einspruch, die Entgegnung, auf die wir
empathisch reagieren müssten; ein Einspruch, der nicht unserer eigenen Fantasie
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entsprang. Andererseits konstruieren, erfinden, erschaffen wir auch ein Gegenüber –
mit Zügen weit über alles hinaus, was dieser real einbringen würde. Georg Simmels
Diagnose der Liebe als ein wechselseitiger Schöpfungsakt ist dafür das bekannteste
Muster: Das konkrete Gegenüber reagiert ja seinerseits auf diesen Rollenantrag. In
dieser Form der Kommunikation steckt immer auch ein Angebot, ja eine
Herausforderung für dieses Gegenüber. Ängstliche Menschen ohne Selbstvertrauen
fürchten diese Art von Umgang, sie bevorzugen Informationstausch und
wechselseitige Bestätigung des status quo; eher kreative Menschen - das wissen wir
aus der Forschung - suchen diese Verunsicherung und Entwurzelung: Sie empfinden
sie nicht als bedrohlich sondern als – mitunter rauschhaftes – Abenteuer.
Spr. 1
Sich nicht von der eigenen Identität tyrannisieren zu lassen, galt lange als Gebot der
Vernunft. Wir sollten uns unser souveränes Urteil nicht abschwatzen lassen. Doch
den Befehlsnotstand des eigenen Ich zu unterlaufen, war auch ein Zweck der
ästhetischen Erziehung. Im frühen Bürgertum galt z. B. das ‚Theater spielen’ im
Umgang nicht etwa als Irreführung, im Gegenteil, es gehörte zur guten, d.h.
achtungsvollen Verkehrsform:
Spr. 3
Vor zweieinhalb Jahrhunderten gehörte es zum Bild des Bürgers in der Öffentlichkeit,
dass er selbstverständlich ein Darsteller war – das war seine Identität und wurde
allgemein erwartet. … In dem Sinn, wie Erik Erikson es beschrieb: Eine Identität ist
die Schnittstelle zwischen dem, was jemand sein will und dem, was die Welt ihm
zugesteht.
Spr. 2
Der Soziologe Richard Sennett beschreibt hier eine frühe Erkenntnis des
bürgerlichen Zeitalters: Was wir emotional aufladen, motiviert uns, treibt uns an, wird
zur Trieb-Kraft. So gehörte die emotionale Aufladung ganz selbstverständlich zur
Rolle. Sie förderte die Einfühlung in die Motive Anderer. Ähnlich begriff die deutsche
Ästhetik der Zeit „die Bühne als moralische Anstalt“: Als eine – freilich strikt
abgeschirmte - Enklave der Kunst, in der wir alternative Identitäten durchspielen, mit
ihnen probehandeln konnten. Wichtig für uns ist hier, dass, im sozialen Umgang
Rollen zu verkörpern, gerade nicht als unecht, unauthentisch galt. Eine Rolle
übernehmen heißt, dass wir uns auf unser Gegenüber einstellen, ihn oder sie ernst
nehmen und damit Respekt erweisen, ja Wohlwollen zeigen, also eine emotionale
Beziehung überhaupt erst ermöglichen.
Spr. 1
Und damit im besten Sinne kreativ handeln. Kreativität, weiß die Forschung, gedeiht
in Grauzonen, im Ungewissen, im Zwielicht der Eindeutigkeiten. Erst dort wird ja das
eigene Urteil nötig, wo nicht schon klare Regeln und Kriterien uns das Urteil aus der
Hand nehmen. Neugier, so haben wir gesehen, gedeiht in solchen unvermessenen
Zonen. Und auch der Spieltrieb entfaltet sich nur, wo Raum bleibt zum Durchspielen
von Alternativen zum scheinbar Selbstverständlichen. Das sind handlungs- und
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leistungsentlastete Räume, also gerade nicht dort, wo der produktive Vollzug klarer
Vorgaben gefordert wird. Genau hier, nämlich in ihrer Rolle als Wachmacher und
Kognitionsverstärker bei Veränderungen treten Emotionen heute wieder ins
Rampenlicht.
Spr. 2
Nirgends ist die Wechselwirkung von Emotion und Kognition klarer als beim Lernen,
und das heißt auch: beim lebenslangen Lernen, sprich: bei der Kreativität im Alltag.
Das Hirn ist auf Lernen programmiert, nicht auf den Routine-Vollzug von Vorgaben.
Das Hirn will fremdgehen. Erst beim Unbekannten, Unvertrauten wird es aktiv – und
löst dabei Erkenntnisse und Emotionen aus. Wie soll ich wissen, was ich fühle, bevor
ich den Gegenstand meiner Gefühle kenne? Dem allmählichen Verfertigen der
Gefühle beim Denken entspricht die Geburt der Erkenntnis aus der Emotion.
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