Was liegt näher? Die unterschiedliche Beurteilung der Erfinderischen Tätigkeit in der Praxis der europäischen und deutschen Patentbehörden Christof Keussen Gängige Vorurteile Oft gehörte Aussagen von Patentanwälten: Beim Europäischen Patentamt ist Neuheit ein Indiz für Erfinderische Tätigkeit Ein Einspruch gegen ein Europäisches Patent lohnt nicht, man erhebt besser nach Ablauf der Einspruchsfrist Nichtigkeitsklage gegen den deutschen Teil des Patents BGH in X ZB 27/05 (Demonstrationsschrank): Damit sind im Patentrecht nunmehr ohne jegliche Differenzierung alle Erfindungen schutzfähig, die neu und gewerblich anwendbar sind und für den Fachmann nicht naheliegen. Die Anforderungen an die Schutzfähigkeit sind damit derart herabgesetzt worden, dass sie alle nicht nur durchschnittlichen Leistungen erfassen. Bestimmung der Erfinderischen Tätigkeit im EPA – Problem Solution Approach a) Bestimmung des nächstliegenden Standes der Technik b) Feststellung der Unterschiede zwischen diesem Stand der Technik und des Anspruchsgegenstandes c) Feststellung der technischen Effekte, die durch diese Unterschiede bewirkt werden d) Umformulierung dieser technischen Effekte zu einer objektiven technischen Aufgabe e) Prüfung, ob der Stand der Technik insgesamt konkrete Hinweise zur beanspruchten Lösung dieser objektiven technischen Aufgabe gibt Bestimmung der Erfinderischen Tätigkeit durch den BGH – Gutachterfragen in der Nichtigkeitsberufung Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit kommt es darauf an, ob sich die Lehre gemäß dem Hauptanspruch des Streitpatents für einen Fachmann in nahe liegender Weise aus der Gesamtheit aller Kenntnisse ergab, die von dem Prioritätstage durch Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Dazu sind folgende Fragen zu beantworten: a) Welche Schritte muss der Fachmann vollziehen, um zu der Lehre des Streitpatents zu gelangen? b) Hatte der Fachmann Veranlassung, Überlegungen in der Richtung anzustellen? c) Was spricht im Einzelnen dafür oder dagegen, dass der Fachmann auf Grund solcher Überlegungen zur Lösung des Streitpatents gelangt wäre? Unterschiede in der Herangehensweise Fragen a) bis c) des BGH entsprechen weitgehend der Frage e) des EPA Fokus des EPA liegt auf Fokus des BGH liegt lediglich auf Ermittlung der objektiven technischen Aufgabe Prüfen des Naheliegens der Lösung Prüfen des Naheliegens der Lösung “Deutsches” Problem im Umgang mit dem EPA-Ansatz ist, dass die Bedeutung der Ermittlung der “richtigen” technischen Aufgabe übersehen oder unterschätzt wird EPA – Ermittlung der technischen Aufgabe Ausgangspunkt sind technische Effekte, die nachweislich auf Merkmale zurückgehen, durch die sich der Anspruchsgegenstand vom nächstliegenden Stand der Technik unterscheidet Behauptete, aber nicht belegte technische Effekte bleiben außer Betracht (bspw. T 121/82) Die technischen Effekte müssen über die gesamte Anspruchsbreite vorliegen, i.d.R. ist der Patentanmelder/inhaber darlegungs- und beweispflichtig (T 939/92) Liegen technische Effekte/Vorteile nur in einem Teilbereich des Anspruchs vor, können sie nicht zur Begründung erfinderischer Tätigkeit herangezogen werden Praktische Konsequenz: EPA-Erteilungs- und Einspruchsverfahren entscheiden sich häufig an der Ermittlung der technischen Aufgabe 1. Beispiel Agrevo-Entscheidung T 939/92 (EP 0 246 749) Beansprucht war eine breite Klasse von chemischen Verbindungen als solche Verbesserte herbizide Wirkung für einen kleinen Teil der beanspruchten Klasse war nachgewiesen Argument Anmelderin: Da sich für die Bereitstellung der beanspruchten Stoffklasse im Stand der Technik keine Anregung findet, ist sie unabhängig von konkreten technischen Effekten erfinderisch Entscheidung Beschwerdekammer: Die Bereitstellung irgendeiner neuen Stoffklasse ist grundsätzlich naheliegend, solange damit kein besonderer technischer Effekt verbunden ist Diametraler Gegensatz zur Rechtsprechung des BGH, derzufolge die bloße Bereitstellung eines Stoffes erfinderisch sein kann und technische Effekte nicht zum Gegenstand der Stofferfindung gehören (BGH GRUR 1972, 541, 543-Imidazoline) 2. Beispiel EP 793 439 B1 Technisches Gebiet: Geschirrreinigung in Großküchen Problem: Gute Entfernung von Stärke und Tee/Kaffeeflecken Patentgegenstand: Sequentielles Dosieren von zwei unterschiedlichen Reinigerkomponenten soll beide Anschmutzungsarten gut entfernen (Subjektive) technische Aufgabe laut Patentschrift: 2. Beispiel EP 793 439 B1 2. Beispiel EP 793 439 B1 Ermittlung der objektiven technischen Aufgabe im Einspruchsverfahren ergab, dass laut Patentschrift ein Teilaspekt (Teefleckenentfernung) auch im nächstliegenden Stand der Technik bereits gelöst ist Objektive technische Aufgabe somit nur noch Verbesserung der Stärkeentfernung 2. Beispiel EP 793 439 B1 Diese Lösung dieser „geschrumpften“ technischen Aufgabe war durch allgemeines Fachwissen nahegelegt Schlussfolgerung: Erst die genaue Ermittlung der tatsächlichen technischen Effekte des Patentgegenstandes ergab eine Aufgabe, die der Fachmann auf naheliegende Weise lösen konnte Ein „Abarbeiten“ an der Frage des Naheliegens ohne vorherige kritische Auseinandersetzung mit der tatsächlich gelösten Aufgabe hätte nicht zum Erfolg (aus Sicht der Einsprechenden) geführt 3. Beispiel EP 935 421 B1 Technisches Gebiet: Maschinelles Befüllen und Verschließen von Wursthüllen Problem: Bekannte Maschinen hatten kinematisch zwangsweise gekoppelte Bewegungsabläufe, unflexibel Patentgegenstand: Entkoppelung und unabhängige Steuerung der Bewegungsabläufe (Subjektive) technische Aufgabe laut Patentschrift: Der Kern der Erfindung besteht darin, die starre Zwangskoordinierung der Bewegungsabläufe beim Schließen der Verpackungshülle zu Gunsten einer flexiblen, an das jeweilige Produkt angepassten Steuerung oder Regelung der einzelnen Bewegungsabläufe aufzugeben. Dadurch besteht die Möglichkeit, den Spreizvorgang z. B. bei Rohwürsten oder Dichtstoff- und Kittwürsten langsamer und geregelt ablaufen zu lassen, das Setzen und Verschließen der Verschlussklammern aber erheblich schneller, als dies bisher üblich ist. Auf diese Weise wird die Produktivität bei der Herstellung solcher Produkte erheblich gesteigert. 3. Beispiel EP 935 421 B1 Hauptanspruch: 1. Verfahren zum Herstellen von wurstartigen Produkten mit einer schlauch- oder beutelartigen Verpackungshülle, bei dem die (einseitig verschlossene) Verpackungshülle zunächst mit Füllgut befüllt und anschließend eingeschnürt wird, daraufhin ein füllgutfreier Zopfabschnitt gewünschter Länge hergestellt und der füllgutfreie Zopfabschnitt schließlich durch Setzen und Schließen mindestens einer Verschlussklammer verschlossen wird, dadurch gekennzeichnet, dass die Teilvorgänge des Verschließens einschließlich des Einschnürens der Verpackungshülle, des Verlängerns des dabei entstandenen Zopfes sowie des Setzens und Schließens der Verschlussklammer zumindest teilweise unabhängig voneinander gesteuert werden. 3. Beispiel EP 935 421 B1 Stand der Technik: Einerseits: Wurstfüllmaschinen mit starrer kinematischer Kopplung Andererseits: Kartonverpackungsmaschinen mit separat ansteuerbaren Antrieben, die aber elektronisch zwangsgekoppelt sind Argumentation Patentinhaberin: Stand der Technik gibt keinen Hinweis auf die durch die höhere Flexibilität der Ansteuerung erzielbaren Vorteile bei Würsten Argumentation Einsprechende: Diese Vorteile sind nicht Teil der objektiven technischen Aufgabe, da der Patentanspruch überhaupt keine vorteilhaften konkreten Bewegungsabläufe beansprucht Entscheidung Beschwerdekammer: Grundsätzliche Vorteile der flexiblen Steuerung naheliegend, irgendwelche konkreten Vorteile nicht Teil der zu lösenden Aufgabe Schlussfolgerungen Im EPA-Einspruchsverfahren bestimmt die Formulierung der objektiven technischen Aufgabe häufig maßgeblich über Erfolg oder Nichterfolg eines Einsprechenden Im deutschen Verfahren wird häufig ohne nähere Prüfung die vom Patentanmelder/inhaber genannte Aufgabe zugrunde gelegt Überspitzt formuliert: DE-Verfahren: Ist es naheliegend? EP-Verfahren: Was ist eigentlich naheliegend (oder nicht)? Sehr breite Patentansprüche sind häufig einfacher im EPEinspruchsverfahren als im DE-Nichtigkeitsverfahren angreifbar Unzutreffend ist die pauschale Aussage, das EPA sei generell großzügiger bei der Beurteilung der Erfinderischen Tätigkeit als deutsche Gerichte
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