Vor was läufst du eigentlich davon?

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Reinecke: Vor was läufst du eigentlich davon?
Margareta Reinecke
Vor was läufst du
eigentlich davon?
Laufen in der Natur ist für mich etwas vom Schönsten. Einfach Draufloslaufen, mal
schnell mal langsam, je nach Lust, Laune und Verfassung. Dass dies meinem Körper und
vor allem meiner Psyche gut tut, wäre – an dieser Stelle erwähnt – Wasser in die Nordsee getragen.
Wieder gerate ich ins Schwärmen, spüre, wie mich Laufen befreit, der Kopf ausgelüftet wird, Platz für neue Ideen und Taten gemacht wird. Oft gelingt es mir, auch andere Leute mit meiner Begeisterung anzustecken. Geteilte Freude ist doppelte Freude …
Doch eben, nicht immer. Denn neulich passierte mir Folgendes. Und dies
möchte ich hier erzählen:
Eine Bekannte, nachdem sie meiner begeisterten Ausführung eines Lauftrainings eine Zeitlang zugehört hatte, stellte mir folgende Frage:
Vor was läufst du mit deiner Joggerei eigentlich davon?
Ich war wie vor den Kopf gestoßen! Ich, davonlaufen? Ja, nein. Ich liebe doch das Laufen über alles. Jetzt soll dies nicht recht sein? Merkt denn die nicht, wie mir die Bewegung
gut tut? Dies scheint doch offensichtlich! Und gerade ich werde mit dieser Frage bedrängt!
Ich, die ich mich doch absolut als lustvolle Läuferin bezeichne. Nichts von verbissenem
Training oder auf die Uhr schauen. Ich laufe doch nur weil und wenn’s mir Spaß macht!
Ja klar, einige Straßen-Marathons gehören in meine Laufbiografie, dabei habe ich eventuell mal etwas härter trainiert … und dann, auch der Engadin Skimarathon gehört regelmäßig ins Programm. Aber sonst, sonst nehme ich’s doch wirklich locker!!
Und dann fragt mich diese impertinente Person: Vor was läufst du davon? Vor
nichts natürlich!
Was hat dies mit mir zu tun?
Als Psychologin soll ich ja über innerpsychische Zustände Bescheid wissen. Das heißt in
diesem Fall: Reagierst du auf etwas sehr heftig, dann hat dies mit Bestimmtheit etwas mit
dir zu tun. Also reflektier mal brav! Überleg dir, weshalb dich diese Frage so aus der Fassung bringt. Ja, um Himmelswillen, was hat denn das Davonlaufen mit mir zu tun, geht
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Laufen: Die persönliche Erfahrung
mir ständig durch den Kopf. Bin ich etwa doch zu verbissen, zu angefressen beim Laufen? Laufe ich tatsächlich vor etwas davon? Belüge und betrüge ich mich selbst, eventuell
schon das ganze Leben? Mir wird immer elender. Klar, verglichen mit einigen völlig unsportlichen Kolleg/innen wäre ich mit Bestimmtheit bei den Hypersportlichen einzustufen. Doch verglichen mit meinen Lauftreffkumpels, die ständig von ihrem 3 1/2-Minuten-Schnitt erzählen, bin ich eine lahme Ente! Ich bin nicht nur ratlos, ich werde auch
wütend. Wütend werden ist mein Stichwort. Weshalb werde ich denn bei dieser Frage
wütend, ja gar aggressiv?
Ich assoziiere. Ich erinnere mich, wie damals der Professor an der Uni in der
Motivationsvorlesung über Aggressivität/Aggression philosophiert hat. Er meinte, Aggressivität sei nicht, wie meist angenommen, nur negativ, sondern habe auch die Bedeutung von Auf-etwas-Zugehen. Jetzt wird’s mir klar. Ich laufe nicht vor etwas davon,
ich laufe auf etwas zu. Die dumme Ziege hat’s nur nicht kapiert!
Balance halten
Zugegeben, das Leben ist nicht immer ein Schleck. Manchmal müssen wir ganz schön
was aushalten. Wir sollen Problemen und Schwierigkeiten nicht ausweichen, über uns
und unser Verhalten reflektieren, nachdenken. Und wie soll ich mich verhalten, wenn’s
mir mal wirklich schlecht geht, ich mich so richtig down fühle? Soll ich über mehrere Tage in meinen vier Wänden verharren um mir nicht auszuweichen? Oder darf ich mir erlauben, mit Hilfe des Joggens in freier Natur auf andere, leichtere, positive Gedanken zu
kommen? Wieder Hoffnung für mein Leben schöpfen? Ist dies Davonlaufen, wenn ich
mir selbst etwas Gutes tue, selbst wieder aktiv werde, für mich Verantwortung übernehme? Für mich soll gelten: Sei ehrlich zu dir selbst, weiche deinen Themen nicht aus. Und
dem steht das Joggen nicht im Wege. Denn eines ist klar, ganz ausweichen kann ich mir
eh nie!
Also, es ist beschlossene Sache, ich laufe auf etwas zu: Auf mehr Freude und
Lust, auf gute Freundschaften, auf das mich rundum Spüren, auf das Wohlgefühl danach,
auf ein feines Essen mit gutem Wein …
Was sagen andere?
Nun, da ich für mich die Frage geklärt habe, interessiere ich mich dafür, wie andere Menschen auf die Frage „Vor was läufst du beim Joggen/Walken davon?“ reagieren? Deshalb stellte ich diese Frage einigen laufenden Kolleginnen, Freunden und Bekannten
knapp und provokativ per E-Mail. Und die Antworten kamen postwendend. Spannend,
was dabei herausgekommen ist:
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Reinecke: Vor was läufst du eigentlich davon?
Beginnen wir mit den Frauen …
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Ja, vor was laufe ich davon …? Vor dem Stress, vor schlechten Gedanken und Gefühlen, vor vielen Kilos. Und ganz wichtig, ich laufe der Natur, den verschiedenen
Naturgerüchen, einem schönen Herbstmorgen usw. entgegen und fühle mich nach
der ‚Anstrengung’ voll ausgelüftet, bereit für neue Taten (nicht ganz immer) und
fühle mich so richtig positiv verschwitzt mit roten Backen und Schweiß auf der Stirne … und dann fällt mir noch etwas ein: Vor dem Haushalt und meinen Verpflichtungen …
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Am Freitagmorgen laufe ich der Arbeit in der Küche, dem Aufräumen der Kinderzimmer und dem Putzen der Badezimmer davon!!!
Dann atme ich die frische Luft ein, sehe den wunderschönen Wald, der sich immer
von einer anderen Seite zeigt und sage mir jedes Mal: Ach, wie einzigartig ist doch
die Natur … die Schweiz!
Meistens koche ich dann in den Walking-Kleidern das Mittagessen und gehe erst
nachher gemütlich duschen oder baden …
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Vor was laufe ich davon? Ich fing in der Hoffnung zu joggen an, endlich wieder auf
andere Gedanken zu kommen (Tod meines Vaters, Schluss einer langjährigen Beziehung etc.). Dies ist mir teilweise auch gelungen, jedenfalls im Moment des Joggens. Zwar waren die Gedanken anfänglich noch sehr negativ, doch machten sie mit
der Zeit positiveren Sichtweisen Platz. Nach dem Joggen fühlte ich mich oft viel besser!
In der jetzigen Zeit habe ich nicht das Gefühl, vor etwas davonzulaufen. Ich gehe
joggen, weil es mir gefällt, den Körper zu spüren, die Natur zu genießen und dabei
etwas Gesundes zu tun. Ich laufe eher auf etwas zu: Aus sportlicher Sicht möchte ich
fit sein und diesbezüglich ein Ziel erreichen. Wenn ich joggen gehe, dann weiß ich,
dass ich diesem Ziel näher kommen kann.
Ich jogge. Ich ziehe das Joggen dem Walken vor. Ich bin schon als Mädchen die
Treppen hinauf und hinunter und in die Schule gerannt, aus Freude an der Bewegung. Vielleicht bin ich dazumal dem Erwachsenwerden davongelaufen, um mir die
unbeschwerte Lebensfreude zu bewahren. Denn sobald das Laufen als Leistung gemessen wurde, rebellierte ich.
Während einiger Jahre stillte ich meinen Bewegungsdrang ohne Joggen, ich liebte
mehrtägige Wanderungen und Bergtouren. Die Natur und die Landschaften wurden wichtiger. Indoor-Sportarten beschränkten sich auf eine Turnstunde in der Damenriege und anderes interessierte mich nicht. Weil mir dies dann doch zu wenig
war, kam ich wieder aufs Joggen – über das in Mode kommende Walken. In dieser
Zeit lief ich der Eintönigkeit des Alltags davon. Es tat mir gut, plus hielt mich fit plus
war ich draußen, plus traf ich interessante Leute – alles passte zu mir.
In der großen Lebenskrise verhalf mir diese Erfahrung zum Überleben. Ich bin dem
Untergang, dem Aufgeben und der Depression davongerannt. Ich tat das sehr be-
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Laufen: Die persönliche Erfahrung
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wusst und auch sehr oft. Ich lief zu einer Form auf, die mich noch heute erstaunt
und der ich zum heutigen Zeitpunkt hinterherlaufe!
Ich hab’s mir noch nie von dieser Seite her überlegt. Ich laufe, walke oder jogge vor
gar nichts davon, höchstens wenn mich ein Hund verfolgt … Ich walke oder jogge
vielleicht der Zeit davon, aber diese holt mich leider auch immer wieder ein!
… und nun die Männer
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Ich laufe grundsätzlich, um mehr essen zu dürfen und dabei doch gesund und fit zu
bleiben. Zudem kommen mir beim Laufen immer gute Ideen.
Vor was laufe ich davon?
1. Vor dem Alter. Man realisiert ab einem gewissen Alter, dass der Körper mehr Zeit
zum Regenerieren braucht. Zudem haben die meisten Leute mit 45 nicht mehr den
gleich straffen Körper wie mit 16 (leider bin ich da seit zwei Jahren auch keine Ausnahme mehr). Deshalb versucht man die Zeit, bzw. den Alterungsprozess zu stoppen.
2. Vor dem Lärm. Kinder sind laut, sehr laut. Ich habe gerne meine Ruhe und Zeit
für mich. Eine Stunde Joggen jeden Morgen gibt mir diese Zeit. Ebenfalls genieße
ich Zeit für mich im Auto, im Hotel und im Flugzeug. Dies als Ausgleich zum hektischen Alltag für Leute, die über Gott und die Welt nachdenken möchten.
Angst, dass meine Waage Übergewicht anzeigt und ich dann das feine Essen mit einem Glas Wein nicht mehr so genießen kann (schlechtes Gewissen). Angst, dass ich
mein lieb gewonnenes Umfeld (Läufergruppe), sprich den aufgebauten sozialen
Kontakt (während und nach dem Laufen), verlieren könnte. Angst, dass ich meine
Kondition verliere. Unlust bei der Arbeit. Es gibt aber auch andere Motive als das
,Davonlaufen‘: Das Zwitschern der Vögel im Frühlingswald erleben, einen Sonnenuntergang genießen …
Davonlaufen empfinde ich ein wenig tendenziös – und ist für mich zurzeit nicht von
Relevanz.
In der kritischen Lebensphase ist die These des Davonlaufens partiell zutreffend –
allein Joggen in der Natur ist gut zum Reflektieren/Meditieren, um die Probleme
– in meinem Fall ohne Psychiater – zu verarbeiten.
Der Reflexionsprozess und die physische Anstrengung während des Joggens befreien
und erzeugen wohltuende Entspannung nach der Leistung, verbunden mit einem
starken Erleichterungsgefühl.
In einer normalen Lebensphase gepaart mit ausgeprägtem Stress habe ich nicht das
Gefühl des Davonlaufens. Es ist eher ein Abschalten: Ein starker körperlicher Ausgleich zur extrem einseitig-geistigen Konzentrationsarbeit.
Ich treibe grundsätzlich Sport, um mich zu entspannen und fit zu bleiben. Je mehr
ich mich psychisch belastet fühle (Arbeit, Beziehungen, Wetter, etc.), desto weniger
Willenskraft habe ich, um mich aufzuraffen. Und je mehr ich mich zum Joggen motivieren muss, desto entspannter und gestärkter bin ich am Ende der Leistung. Wenn
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ich jogge, renne ich vor unterschiedlichen Dingen davon (abhängig von der gegenwärtigen Situation). Grundsätzlich jedoch, um mich mit positiver Energie aufzutanken. Fühle ich mich während längerer Zeit sehr gestresst, scheint mir, als würde
ich jegliches Gefühl für meinen Körper verlieren. Das Laufen hilft mir dann, wieder
zu mir, meiner Körperlichkeit, zurückzufinden.
Ursprünglicher und nach wie vor Hauptgrund ist die Regulierung meines Körpergewichtes. Ich esse gerne gut, liebe ein gutes Glas Wein (oder mehrere, mit Grappa) und die Folgen dieses Tuns sind – ohne sportliche Betätigung – immer deutlicher sichtbar.
Seit ich jogge/walke fühle ich mich gesundheitlich wesentlich besser (keine Kopfund Rückenschmerzen mehr).
Beim Joggen laufe ich dem „Alltagsmief“, das heißt der Geschäfts- und Berufswelt
davon. Die freie Natur und die körperliche Anstrengung lässt einem Kopf und Seele ‚durchlüften’. Lapidare, spaßige, fröhliche, vielleicht auch mal ernste Gespräche
mit den Mitläufer/innen helfen zudem, sich während dieser Zeit in einer etwas anderen Welt zu fühlen. Nach dem Laufen habe ich jeweils das Gefühl, als sei die ‚Harddisk in meinem Kopf neu formatiert’. Einen wesentlichen Beitrag zu diesem Wohlbefinden leistet natürlich der oder die Leiter/in (richtiges Tempo, gute Stimmung
etc.). Insgesamt scheint mir, als wären all unsere Lauftreffgruppen mehr oder weniger kleine Selbsthilfegruppen, dafür bestimmt, irgendwelche kleinere oder größere
seelische Bobos zu kurieren.
Und, was hätten Sie geantwortet?
Vor was laufen Sie davon? Auf was laufen Sie zu? Eines scheint auf jeden Fall sicher und
für alle klar: Laufen wirkt!
Nun quält mich nur noch eine Frage … nämlich die folgende: Weshalb habe ich für meinen Beitrag gerade dieses Thema gewählt? Weshalb befrage ich dafür meine laufenden
Kolleginnen und Kollegen? Könnte es sein, dass ich damit einer langen und komplizierten wissenschaftlichen Abhandlung über die psychische Wirkung des Laufens im Allgemeinen und im Speziellen davongelaufen bin?
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