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Kredite nicht um jeden Preis
»Wir sind für Russland«
Klingt wirklich super!
Tsipras betont »rote Linien« vor neuen
Verhandlungen mit Eurogruppe. Seite 2
Transnistrien – auf der Insel zwischen
der Ukraine und Moldawien. Seite 3
Rapper Haftbefehl begeistert die
Mittelschicht. Warum? Seite 16
Foto: Jens Malling
Foto: dpa/Maxim Rosenbauer
Montag, 16. Februar 2015
70. Jahrgang/Nr. 39
STANDPUNKT
Aert van Riel über die
Bürgerschaftswahl in Hamburg
UNTEN LINKS
Dieser Tage erschreckte uns die
Meldung, dass der Computerkonzern Apple mehr wert sei als
die Schweiz. Das ist in der Tat
erstaunlich. Schließlich verfügt
Apple zwar über ganz viele verschiedene Telefone und sonstiges
kommunikatives Equipment, aber
weder über Berge noch Schokolade noch Käse noch Offiziersmesser. Auch der Bestand an
Bernhardinern oder Papstgardisten dürfte sich bei dem kalifornischen Unternehmen in sehr engen Grenzen halten. Außerdem
ist der Tourismus eher unterentwickelt und über solide Verfahren
zur Geldwäsche ist gleichfalls
nichts bekannt. Und auch, wenn
der selige Heinz Schenk jahrzehntelang im Fernsehen den
Apple-Woi besang: Die Schweiz
ist bedeutend älter als jeder noch
so blaue Bock. Allerdings: Wilhelm Tell, ohne den es die
Schweiz bekanntlich gar nicht
gäbe, hat bereits vor über 700
Jahren seinem Sohn einen Apple
vom Kopf geschossen. Es wurde
nie geklärt, ob es sich um ein
iPhone 3G oder 3GS handelte. ibo
ISSN 0323-3375
www.neues-deutschland.de
Der »Scholzomat«
darf weiterlaufen
Lauerstellung
In keinem anderen Bundesland
steht die SPD so gut da wie in
Hamburg. Das bestätigen die
Prognosen für die Wahl. Ob Bürgermeister Olaf Scholz weiter mit
absoluter Mehrheit regieren wird,
war am Abend noch offen, aber er
hat in jedem Fall einen großen
Erfolg erzielt. In den Debatten
über die künftige Ausrichtung der
SPD ist das nicht unerheblich.
Denn mit linker Politik hat Scholz
nichts am Hut. Erinnert sei hier
nur an seine harte Linie im Umgang mit in Hamburg gestrandeten afrikanischen Flüchtlingen
und an die Einrichtung von polizeilichen Sonderrechtszonen. In
der Innenpolitik schreckte Scholz
in der Vergangenheit nicht einmal vor menschenrechtswidrigen
Maßnahmen mit Todesfolge zurück. Als Innensenator setzte er
einst den Einsatz von Brechmitteln gegen mutmaßliche Drogendealer durch. Seiner Karriere hat
das nicht geschadet.
Das Gegenteil war der Fall. In
der SPD werden immer wieder
Gerüchte verbreitet, wonach
Scholz ein möglicher Kandidat für
den Parteivorsitz ist. Im Unterschied zu Sigmar Gabriel hat er
immerhin einige Wahlerfolge
vorzuweisen. Eine Entscheidung
für Scholz würde wohl die Rückkehr zur Schröder-SPD bedeuten.
Was im noblen Hamburg vielen
gefällt, weckt bei linken Sozialdemokraten schlimme Erinnerungen. Weil er die Agenda 2010
verteidigt, hat Scholz parteiintern
viele Feinde. Aber die hatte Peer
Steinbrück auch, bevor ihn die
große Mehrheit der Sozialdemokraten zum Kanzlerkandidaten
wählte. Scholz wird wohl in Lauerstellung bleiben.
Bundesausgabe 1,70 €
Bürgerschaftswahl in Hamburg: SPD wird erneut klar
stärkste Kraft / CDU mit hohen Verlusten
Hamburgs alter und neuer Erster Bürgermeister
Foto: dpa/Jörn Pollex
Berlin. Kurz nach 18 Uhr brach bei der SPD
in der Hansestadt frenetischer Jubel aus, als
ihr Ergebnis bekannt wurde: Nach den ersten Prognosen sind die Sozialdemokraten
die klaren Sieger der Hamburger Bürgerschaftswahl – während die CDU auf ein historisches Tief abrutscht. Bürgermeister Olaf
Scholz ist nach den Prognosen von ARD und
ZDF vom Sonntagabend nach vier Jahren
Alleinregierung aber voraussichtlich auf einen Koalitionspartner angewiesen.
Die FDP kann sich erstmals seit September 2013 in einem Landesparlament behaupten. Die Alternative für Deutschland
(AfD) konnte wohl erstmals knapp in ein
westdeutsches Landesparlament einziehen.
Die SPD kam demzufolge auf 46,5 bis 47
Prozent. Die CDU stürzte mit 16 Prozent auf
ihr schlechtes Ergebnis in Landtagswahlen
seit den 50er Jahren. Die Grünen behaupteten sich bei 11,5 bis 12 Prozent. Die LINKE kam auf 8,5 bis 9 Prozent, die FDP auf
7 bis 7,5 Prozent. Die AfD erreicht 5,2 bis
5,5 Prozent. Daraus ergab sich folgende
Sitzverteilung: SPD: 59, CDU 20; Grüne 15,
LINKE 11, FDP 9 und AfD 7. Die absolute
Mehrheit liegt bei 61 Sitzen – der SPD fehlten demnach zwei Mandate für eine Fortsetzung ihrer Alleinregierung. Sollte es die
AfD letztendlich doch nicht in die Bürgerschaft schaffen, könnte die SPD weiter allein regieren.
Dabei war die Wahl in Hamburg schleppend angelaufen. 38,5 Prozent der Wahlberechtigten gaben bis 14 Uhr ihre Stimme
ab, sagte ein Sprecher des Landeswahlamts. Das waren deutlich weniger als zum
gleichen Zeitpunkt vor vier Jahren (43,2
Prozent). Eine Stunde vor Schließung der
Wahllokale lag die Wahlbeteiligung bei 52,3
Prozent. Bei der Wahl 2011 war die Gesamtbeteiligung mit 57,3 Prozent bereits auf
einen Tiefstwert für Hamburg gefallen.
Terroranschläge erschüttern Dänemark
Attentäter erschießt in Kopenhagen zwei Menschen und wird selbst von der Polizei getötet
Rund 1,3 Millionen Bürger waren aufgerufen, über die Zusammensetzung des Landesparlaments für die kommenden fünf Jahre und über die Landesregierung zu entscheiden. Erstmals durften auch 16- und 17Jährige mitwählen.
SPD-Spitzenkandidat, Erster Bürgermeister Olaf Scholz, hatte nach der Stimmabgabe in seinem Wahllokal in Altona-Altstadt gesagt: »Es kann sich jeder vorstellen,
was ich gewählt habe. Ich habe einfach nur
die Kreuze bei der SPD gemacht.« Sollte er
die absolute Mehrheit verpassen, will Scholz
eine Koalition mit den Grünen bilden. Sein
CDU-Konkurrent Dietrich Wersich erklärte:
»Sechs Wochen Straßenwahlkampf – das ist
schon eine Freude, wenn das vorbei ist«, so
Wersich in seinem Wahllokal im Stadtteil
Alsterdorf.
Bei der Wahl 2011 war die SPD auf 48,4
Prozent gekommen, die CDU auf 21,9, die
Grünen auf 11,2, die LINKE auf 6,4 und die
FDP auf 6,7 Prozent. Die 121 Sitze in der Bürgerschaft verteilten sich so: SPD (62), CDU
(28), Grüne (14), FDP (9) und LINKE (8).
Wegen des Wahlrechts mit seinen zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten – die
Bürger hatten zehn Stimmen – sollte am
Sonntagabend in einem vereinfachten Verfahren nur die Sitzverteilung ermittelt werden. Welche Kandidaten als Abgeordnete ins
Parlament einziehen, wird erst am Montag
ausgezählt.
In der Debatte um Maßnahmen gegen die
immer weiter sinkenden Wahlbeteiligungen hat sich nun auch die Union zu Wort gemeldet. Wahllokale sollten künftig bis 20
Uhr geöffnet bleiben, heißt es in einem Strategiepapier der Generalsekretäre Peter Tauber (CDU) und Andreas Scheuer (CSU).
Weitere Vorschläge betreffen die Stimmabgabe im Ausland und die Briefwahl. Agenturen/nd
Seite 5
Waffenruhe in der
Ostukraine hält
Entspannung trotz Ausnahmen
Ein Wochenende der Angst in
Kopenhagen: Ein Attentäter ermordet einen Filmemacher und
einen jüdischen Wachmann und
wird selbst erschossen. Die Szenen erinnern an Paris.
Von Andreas Knudsen, Kopenhagen
Sonntagvormittag in Kopenhagen.
Jogger laufen um die Seen, die das
Zentrum umkränzen. Kinder nehmen die Spielplätze in Beschlag
und die Cafés sind bereits gut besucht. Erst wenn man sich dem
Vereinshaus »Krudttønde« oder
der jüdischen Synagoge nähert,
ändert sich das Stadtbild markant: ungewöhnlich viele Polizisten, zudem mit Maschinenpistolen bewaffnet, Absperrungen und
Blumensträuße hier wie da.
Das alles erinnert an die dramatischen Ereignisse zwischen
Samstagnachmittag und Sonntagmorgen in einer Stadt, durch
die man sonst auch in der Nacht
noch spazieren kann, ohne Angst
haben zu müssen. Innerhalb von
zehn Stunden erschoss ein Mann
einen Filmemacher während einer
Diskussion über Meinungsfreiheit
und einen jüdischen Wachmann
vor einer Synagoge. Fünf Polizisten wurden verletzt. Eine dramatische Großfahndung endete mit
tödlichen Schüssen der Sicherheitskräfte auf den mutmaßlichen
Attentäter.
Dass das Thema Kunst, Blasphemie und Meinungsfreiheit explosiv ist, wussten die Veranstalter im »Krudttønde«, aber dass es
sich zu einem tödlichen Ereignis
entwickeln würde, konnten sie sich
wohl nicht vorstellen – selbst wenn
mit dem schwedischen Mohammed-Karikaturisten Lars Vilks und
dem französischen Botschafter
zwei potenzielle Ziele islamistischen Terrors Gäste waren. Der
Attentäter feuerte eine MPi-Salve
durch die Fenster des Hauses und
floh. Gegen Mitternacht erschoss
er dann einen jungen jüdischen
Mann, verantwortlich für die Einlasskontrolle bei einem privaten
Fest in der Synagoge. Wieder gelang dem Täter die Flucht vor der
Polizei. Die hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits eine Vermutung zu seiner Identität und erwartete ihn bei seiner Wohnung.
Der Attentäter schoss erneut ohne
zu zögern und wurde getötet.
»Es gibt viele Fragen, die die
Polizei noch beantworten muss«,
sagte Ministerpräsidentin Helle
Thorning-Schmidt. »Aber es gibt
eine Antwort, die wir heute schon
geben können – dass wir unsere
Demokratie verteidigen werden.«
Auch Königin Margrethe beschwor die Dänen, nach den Terroranschlägen zusammenzuhalten. Polizei und Geheimdienst
sind zurückhaltend mit Informationen zum Attentäter, gehen aber
davon aus, dass er islamistisch
orientiert war und vom »Charlie
Hebdo«-Angriff inspiriert wurde.
Frankreichs Innenminister Ber-
»Wir werden
unsere Demokratie
verteidigen.«
Ministerpräsidentin
Helle Thorning-Schmidt
nard Cazeneuve eilte noch am
Sonntag nach Kopenhagen und
legte am ersten Anschlagsort Blumen nieder. Ministerpräsident
Benjamin Netanjahu forderte die
Juden in Europa zur Auswanderung nach Israel auf.
Seit der sogenannten Karikaturenkrise von 2005, als zwölf dänische Karikaturisten den Propheten Mohammed zeichneten,
wird die Sicherheitssituation in
Dänemark und insbesondere in
Kopenhagen durch den Geheimdienst als ernst beschrieben.
Mehrfach hat es Attentatsversuche auf Zeitungsredaktionen und
Einzelpersonen gegeben, auch gegen Lars Vilks. Darüber hinaus hat
sich Dänemark aktiv an den Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen,
Mali und jetzt erneut gegen den Islamischen Staat beteiligt.
Für die nähere Zukunft werden
sich insbesondere die Kopenhagener an eine Polizei gewöhnen
müssen, die deutlich mehr präsent ist im Straßenbild als sonst
üblich. Sowohl Justizministerin
Mette Frederiksen als auch der Geheimdienst PET charakterisieren
die Situation als ernst, aber unter
Kontrolle. Die Möglichkeit eines
einzelnen Angriffs in Dänemark
oder auf dänische Einrichtungen
im Ausland wollen sie jedoch nicht
ausschließen.
Im Laufe des Sonntags führte
die Polizei eine Reihe von Hausdurchsuchungen durch. Schwer
bewaffnete
Sicherheitskräfte
stürmten ein Internetcafé. Der
Fernsehsender TV2 berichtete,
zwei Verdächtige seien festgenommen worden. Auch die Bundespolizei war im Einsatz und
überwachte an den drei Flensburger Grenzübergängen den Verkehr. Kurzfristig wurde der Karnevalsumzug in Braunschweig abgesagt.
Seiten 4 und 6
Donezk. Die Waffenruhe im Kriegsgebiet Ostukraine hat Hoffnungen auf eine allmähliche
Entspannung im Konflikt zwischen der prowestlichen Führung in Kiew und prorussischen Separatisten genährt. Beobachter der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bestätigten am
Sonntag in Kiew, die Feuerpause habe in den
ersten zwölf Stunden gehalten – mit einigen
Ausnahmen vor allem im strategisch wichtigen Ort Debalzewo. Dort berichteten auch die
Konfliktparteien weiterhin von vereinzeltem
Artilleriebeschuss.
Der UN-Sicherheitsrat wollte sich am
Sonntag in einer Dringlichkeitssitzung mit
dem Friedensplan für die Ostukraine befassen. Nach einem russischen Resolutionsentwurf sollen alle Konfliktparteien aufgefordert werden, den in Minsk vereinbarten Friedensplan einschließlich des Waffenstillstands »vollständig umzusetzen«.
Die Kreditwürdigkeit der Ukraine wurde
von der Ratingagentur Fitch mit »CC« auf ein
Niveau knapp über der Zahlungsunfähigkeit
abgewertet. Geschätzt wurden das Haushaltsdefizit im Jahr 2014 auf 13 Prozent und
die Schulden auf 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Ein Zahlungsausfall der
Ukraine sei »wahrscheinlich«.
Ex-Kanzleramtsminister und Bahn-Lobbyist Roland Pofalla (CDU) soll laut einem Zeitungsbericht künftig auf deutscher Seite den
Petersburger Dialog leiten. Er löse Ende März
den ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten
Lothar de Maizière ab.
Seiten 7 und 10