ANZEIGE ANZEIGE NR. 108/167 An der Ellenbogengesellschaft können wir nichts ändern. Aber den Ellenbogen eine Pause gönnen. Mit dem Eames Plastic Armchair. Das Original kommt von: Z E I T U NG F Ü R D E U T S C H LA N D Montag, 27. Oktober 2014 · Nr. 249 / 44 D 2 Merkel: Nicht mit Freizügigkeit herumhantieren F.A.Z. FRANKFURT, 26. Oktober. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich klar gegen die Pläne des britischen Premierministers David Cameron zur Begrenzung der Einwanderung aus ärmeren EU-Mitgliedstaaten ausgesprochen. „Deutschland wird nicht mit den grundlegenden Prinzipien der Freizügigkeit innerhalb der EU herumhantieren“, sagte Merkel in einem am Sonntag veröffentlichten Interview mit der britischen Zeitung „Times“. Sie reagierte damit auf das Vorhaben Camerons, die Regeln zur Freizügigkeit von Arbeitnehmern in der EU zu ändern, um die Einwanderung gering qualifizierter EU-Migranten nach Großbritannien zu begrenzen. Der scheidende EU-Arbeitskommissar László Andor sagte, die Pläne seien illegal und würden von keinem anderen Mitgliedstaat mitgetragen. Mit Blick auf den Missbrauch von Sozialleistungen durch EU-Einwanderer sagte Merkel, sie wolle mit den Briten zusammenarbeiten. „Das sind umstrittene Themen, die auch in unserem Land diskutiert werden“, sagte sie. „Ich bin der Meinung, dass sie so gelöst werden müssen, dass Missbrauch bekämpft wird.“ Die Freizügigkeit dürfe zu diesem Zweck aber nicht eingeschränkt werden. (Kommentar Seite 8.) Heute Zwei Jahre, fünf Kilogramm Indien ist eine aufstrebende Wirtschaftsmacht. Trotzdem sind zwei Drittel der Inder unterernährt. Deutschland und die Welt, Seite 7 Dysfunktional Die Schwächen des Wahlsystems treten vor der amerikanischen Kongresswahl wieder offen zutage. Politik, Seite 5 In Picassos Kopfraum Das Pariser Musée Picasso zeigt seit je die Bilder, die der Maler nicht verkaufen wollte. Jetzt ist es neu eröffnet. Feuilleton, Seite 9 HERAUSGEGEBEN VON WERNER D’INKA, BERTHOLD KOHLER, GÜNTHER NONNENMACHER, HOLGER STELTZNER Wahl im Krieg Von Rainer Hermann ie Konflikte und Kriege des Nahen Ostens wirken bereits tief in D unsere Gesellschaften hinein. Sie ver- Militärisch gekleidet: Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko ist am Tag der Parlamentswahl in den Osten des Landes geflogen. Er besuchte ein Wahllokal in der Stadt Kramatorsk, die Regierungstruppen im Juli von den Separatisten zurückerobert hatten. Nachwahlbefragungen zufolge liegen die proeuropäischen Parteien klar vorne. Der „Block Petro Poroschenko“ erhielt laut Prognosen 23 Prozent der Stimmen. In 15 Wahlbezirken, die sich noch unter der Kontrolle prorussischer Kämpfer befinden, und auf der Halbinsel Krim konnte nicht gewählt werden. Foto AFP In Europa haben 13 Großbanken zu wenig Kapital Stresstest / Deutsche Institute „solide“ / Schlechte Ergebnisse in Italien und Griechenland ppl. FRANKFURT, 26. Oktober. Im Bilanz- und Stresstest unter 130 europäischen Großbanken haben 25 Banken nicht alle Kapitalanforderungen erfüllt. Ihnen fehlten zum Stichtag 31. Dezember 2013 rund 25 Milliarden Euro. Im Jahresverlauf 2014 haben allerdings zwölf Banken schon genügend neues Kapital aufgenommen, so dass aktuell noch 13 Banken knapp 9,5 Milliarden Euro Lücken haben, darunter vier italienische und drei griechische Finanzhäuser. Dies teilte die Europäische Zentralbank (EZB) am Sonntag in Frankfurt mit. Sie hatte den Bilanzund Stresstest zusammen mit der Bankenbehörde EBA ausgerichtet. „Die Resultate sind glaubwürdig“, versicherte EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio. Der Test sei streng gewesen. Es stellte sich heraus, dass die untersuchten Banken ausfallgefährdete Forderungen im Wert von 136 Milliarden Euro mehr als bislang angenommen bilanziert hatten. Insgesamt beliefen sich die notleidenden Kredite auf fast 880 Milliarden Euro. Ökonomen werteten dies als Grund zur Besorgnis. Die untersuchten 25 deutschen Banken haben alle Kapitalanforderungen gut bestanden. Nur der genossenschaftlichen Münchner Hypothekenbank fehlte zum Stichtag ausreichend Eigenkapital, inzwischen hat sie die Kapitallücke aber geschlossen. Die Präsidentin der deutschen Bankenaufsichtsbehörde Bafin, Elke König, sagte: „Die deutschen Institute stehen solide da.“ Ähnlich äußerte sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Die Ergebnisse seien erfreulich und hätten Zweif- ler widerlegt, sagte König. Auch im simulierten Krisenszenario, dem Stresstest, hätten die Banken bewiesen, dass sie genügend Kapital hätten, um einen globalen wirtschaftlichen Schock auszuhalten. Aber sie dürften sich nicht darauf ausruhen. Bundesbankvorstand Andreas Dombret warnte, dass die deutschen Banken in einem harten Wettbewerb stünden, die Regulierung schärfer werde und das Umfeld mit den Niedrigzinsen schwierig sei. Die deutschen Banken seien insgesamt zu ertragsschwach und hätten im europäischen Vergleich Nachholbedarf, mahnte Dombret. Sie müssten ihr Geschäftsmodell überdenken, es gebe zu viele. „Fusionen sind nicht tabu“, sagte Dombret. Außerdem müssten die Banken ihre Kosten senken. (Siehe Wirtschaft, Seite 15.) Zahl der Salafisten in Deutschland steigt stark an Verfassungsschutzpräsident Maaßen warnt / Dunkelziffer bei ausreisenden Dschihadisten elo. BERLIN, 26. Oktober. Die Zahl radikalisierter Islamisten in Deutschland steigt dramatisch. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, HansGeorg Maaßen, sprach am Wochenende von „weit über 6300 Salafisten“. Dem RBB-Inforadio sagte Maaßen, er rechne mit 7000 Salafisten bis zum Jahresende. Zu Beginn des Monats hatte Deutschlands oberster Verfassungsschützer vor Bundestagsabgeordneten noch von mehr als 6200 Salafisten gesprochen. Auch die Zahl der aus Deutschland nach Syrien ausreisenden Dschihadisten ist offenbar höher als bislang mitgeteilt. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.) berichtete von 1800 Ausreisen. Die offizielle Angabe lautet bisher, dass 450 Islamisten das Land in Richtung der nahöstlichen Kriegsgebiete in Syrien und Irak verließen. Die F.A.S. zitiert einen Verfassungsschützer mit den Worten: „Wir müssen die offiziellen Angaben mit dem Faktor vier multiplizieren, um eine realistische Zahl zu erhalten.“ Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte dieser Zeitung, man habe die „gesicherte“ Zahl von 450 Fällen. Darüber hinaus gebe es jedoch eine „Dunkelziffer“. Dass diese bei 1800 Personen liege, könne er nicht bestätigen. Unterdessen geht die Debatte weiter, wie mit Islamisten umzugehen sei. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte der F.A.S., wenn durch Salafisten „unmittelbare Gefahren für die Sicherheit in Deutschland drohen, dann haben unsere eigenen nationalen Interes- Rivlin bittet um Vergebung für Massaker Sisi will härter gegen Islamisten vorgehen Metallindustrie: Keine Nächster Rückschlag großen Lohnerhöhungen für Borussia Dortmund hcr. JERUSALEM, 26. Oktober. Der israelische Präsident Reuven Rivlin hat an einer Gedenkveranstaltung für das Massaker von Kafr Qasim vor 58 Jahren teilgenommen und sich für die Tötung von 49 arabischen Zivilisten durch israelische Grenzsoldaten entschuldigt. Er bezeichnete die Tat als „furchtbares Verbrechen“. Rivlins versöhnliche Geste erfolgte vor dem Hintergrund anhaltender Krawalle arabischer Jugendlicher in Israel. Der Präsident kritisierte beide Seiten im Konflikt. (Siehe Seite 2.) mrb. KAIRO, 26. Oktober. Nach einem schweren Selbstmordattentat gegen ägyptische Sicherheitskräfte auf der SinaiHalbinsel hat die Regierung ein härteres Vorgehen gegen islamistische Extremisten beschlossen. Der Ministerrat entschied am Wochenende, die Befugnisse des Militärs auszuweiten. Der im Juni zum Präsidenten gewählte Abd al Fattah al Sisi bezeichnete die Aufständischen in einer Fernsehansprache als existenzielle Bedrohung für das Land. Er kündigte am Samstag „viele Maßnahmen“ der Armee auf der Sinai-Halbinsel an, die in weiten Teilen als unkontrolliertes Rückzugsgebiet für Extremisten gilt. Beim dem Anschlag am Freitag waren 31 Soldaten getötet worden. (Siehe Seite 2.) dc. BERLIN, 26. Oktober. Die Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie sehen nur geringe Spielräume für Lohnerhöhungen in der bevorstehenden Tarifrunde mit der IG Metall. Lohnforderungen zwischen fünf und sechs Prozent, wie sie zurzeit in der Gewerkschaft diskutiert werden, wären nach Ansicht von Gesamtmetall erheblich zu hoch. Die Forderungen des IG-Metall-Vorstands „sind hoffentlich von deutlich mehr wirtschaftlichem Realitätssinn geprägt“, sagte Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger dieser Zeitung. Der Vorstand der IG Metall will am 11. November seine Position für die neue Tarifrunde für die insgesamt 3,7 Millionen Beschäftigten der Branche festlegen. (Siehe Wirtschaft, Seiten 15 und 17.) Neue Epoche in Weiß Real Madrid tritt wieder als ein selbstbewusstes Kreativteam auf – wie beim Sieg im Clásico gegen den FC Barcelona. Sport, Seite 27 Lob der Komplexität Möglichst einfache Lösungen suchen: Das galt lange Zeit als Manager-Ideal. Warum das heute anders ist. Der Betriebswirt, Seite 16 Briefe an die Herausgeber Seite 18 4<BUACUQ=eacdaj>:W;l;V;p;p 2,30 € D 2954 A Nahöstliche Anarchie Gerangel um Betten Das Online-Portal HRS hat den deutschen Hotelmarkt aufgemischt. Doch der Wettbewerb wird härter. Wirtschaft, Seite 22 Eames Plastic Armchair, 1950 sen ganz klar den Vorrang“. Die Sprecherin für Innere Sicherheit der Grünen-Fraktion im Bundestag, Irene Mihalic, kritisierte Hermann. Wenn Gefahr für die Sicherheit drohe, müssten die jetzt schon gesetzlich vorgesehenen repressiven Maßnahmen ergriffen werden. „Abschiebung oder Ausbürgerung wären kontraproduktiv.“ Mihalic sprach sich ebenso wie der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) für mehr Prävention aus. Ulbig sagte dieser Zeitung: „Wir müssen an die Wurzel rangehen.“ Das gehe nur mit Präventionsarbeit. Er regte an, die Islamkonferenz „durch Regionalisierung zu stärken, damit auch die muslimischen Verbände dort, wo das Problem besonders groß ist, in die Pflicht genommen werden können“. (Siehe Seite 3.) F.A.Z. FRANKFURT, 26. Oktober. Borussia Dortmund hat in der Fußball-Bundesliga den nächsten Rückschlag hinnehmen müssen. Die Mannschaft ist nach dem 0:1 gegen Hannover 96 TabellenFünfzehnter. Werder Bremen setzt nach der Trennung von Robin Dutt auf das Trainer-Gespann Viktor Skripnik und Torsten Frings. Sie sollen den Klub vom Tabellenende wegführen. Der VfB Stuttgart gewann mit seinem Trainer Armin Veh 5:4 bei Eintracht Frankfurt. Der VfL Wolfsburg besiegte am Sonntag den FSV Mainz 05 3:0. Skirennfahrer Fritz Dopfer ist mit Platz zwei im Riesenslalom von Sölden in die WMSaison gestartet. Sieger beim Weltcup-Auftakt wurde der Österreicher Marcel Hirscher. (Siehe Sport.) Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH; Abonnenten-Service: 0180 - 2 34 46 77 (6 Cent pro Anruf aus dem dt. Festnetz, aus Mobilfunknetzen max. 42 Cent pro Minute). Briefe an die Herausgeber: [email protected] Belgien 3,00 € / Dänemark 23 dkr / Frankreich, Griechenland 3,00 € / Großbritannien 3,00 £ / Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande 3,00 € / Österreich 3,00 € / Portugal (Cont.) 3,00 € / Schweiz 4,80 sfrs / Slowenien 3,00 € / Spanien, Kanaren 3,00 € / Ungarn 780 Ft ändern unser Zusammenleben mehr als alle anderen Umwälzungen der vergangenen Jahre: Zunehmend werden die Konflikte auch auf unseren Straßen ausgetragen, aus unserer Mitte reisen Dschihadisten in das Kriegsgebiet, und von dort greifen immer mehr Flüchtlinge verzweifelt nach einem sicheren Ufer. Wer kann, steuert Europa an. Allein der Krieg in Syrien hat schon mehr als neun Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Europa kann sie natürlich nicht alle aufnehmen. Die Augen vor ihrem Leid kann aber auch niemand verschließen. Lange ist die Gefahr unterschätzt worden, die von den europäischen Dschihadisten ausgeht. Heute ist die Öffentlichkeit alarmiert. So haben die Sicherheitsbehörden die Zahl der aus Deutschland ausgereisten Kämpfer auf 1800 vervierfacht, und eine aufgeregte (und streckenweise ratlose) Debatte hat eingesetzt – die einen wollen die Dschihadisten an der Ausreise hindern, die anderen wollen sie ausweisen. Was immer man tut, es löst das F. A. Z. im Internet: faz.net Problem nicht. Wer an der Ausreise gehindert wird, kann seine Frustration hier in Gewalt entladen; das ist die Lehre aus dem Anschlag auf das kanadische Parlament. Und wer verroht aus dem Kriegsgebiet zurückkehrt, kann in unserer Mitte bedenkenlos zur Waffe und zum Sprengstoff greifen; das ist die Lehre aus dem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel. Beunruhigt sind die Sicherheitsbehörden auch, weil neben Dschihadisten immer mehr Kurden von Deutschland nach Syrien reisen. Sie werden von der PKK angeworben und wollen gegen den „Islamischen Staat“ kämpfen. Die Fronten im dortigen Kriegsgebiet wiederholen sich bei uns. Eine Vorstellung von der wachsenden Gewaltbereitschaft gaben die blutigen Zusammenstöße von Herford und Hamburg. Ob aus dem Kriegsgebiet Rückkehrer zu uns kommen oder Flüchtlinge: Jeder bringt seine Konflikte und Traumata mit, was unseren gesellschaftlichen Frieden gefährdet. Die Konflikte und Kriege des Nahen Ostens führen zu einem Staatszerfall und damit zu Anarchie. Die Anarchie aber ist schlimmer als die Diktatur, und so werden wir wohl auch dort wieder Diktaturen akzeptieren müssen, wo wir vor ein paar Jahren noch geglaubt haben, es entstünden Demokratien. Auf dem Weg in eine andere Republik Von Jasper von Altenbockum as soll kein Signal sein? Es wird auffällig untertrieben von den BeD teiligten in Thüringen, die sich anschicken, den ersten Funktionär der Linkspartei in das Amt eines Ministerpräsidenten zu wählen. Das sei 25 Jahre nach dem Mauerfall ein Zeichen von Normalität, heißt es, und kein Grund, Rückschlüsse für die Berliner Bühne zu ziehen. Von einer „Signalwirkung“ könne nicht die Rede sein, teilte Yasmin Fahimi mit, die Generalsekretärin der SPD, der Partei, die erst vor gut einem Jahr den Beschluss gefasst hat, dass ein Bündnis mit der Linkspartei auch im Bund spätestens nach der nächsten Bundestagswahl jederzeit in Frage komme. Und auf diesem Weg in eine doch recht andere Republik, als man sie bisher gewohnt war, soll der seit Jahren von der Linkspartei vorbereitete Machtwechsel in Thüringen, soll ein linker Ministerpräsident Bodo Ramelow keine Rolle spielen? Dieser Bodo Ramelow wird der SPD zunächst einmal vor Augen führen, dass es ihr in 25 Jahren nicht gelungen ist, die SED-Nachfolgepartei in der ehemaligen DDR zu verdrängen oder auch nur kleinzuhalten. Das war damals die Hoffnung, als die SPD vor der schwierigen Wahl stand, entweder alte SED-Kader aufzunehmen oder aber eine klare Abgrenzung damit zu bezahlen, dass es ihr lange Zeit an organisatorischer Kraft fehlen würde. Sie entschied sich für den schwierigen Weg, während CDU und CSU keine Probleme damit hatten, sich mit den „Blockflöten“ zu arrangieren. Das rächt sich nun für die SPD. In Thüringen muss sie sich kleinlaut dem triumphierenden Erbe der DDR fügen, muss sich einer peinlichen Diskussion darüber aussetzen, ob denn diese DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei und ob das mehr sei als eine „Protokollnotiz“. Vor allem aber muss sie mitansehen, wie ihre schon schwache Wählerschaft angesichts einer solchen Kapitulation noch schwächer wird. Warum das alles unbedingt nötig, ja unausweichlich ist, dafür hört man aus der SPD jetzt viele Erklärungen. Die Partei sei in Thüringen dazu „verdammt“, sich an einer Regierung zu beteiligen, lautet eine davon. Aber an dieser? Die „babylonische Gefangenschaft“ der SPD, ihre Abhängigkeit von der CDU, werde dadurch beendet, rechtfertigt Ralf Stegner den Thüringer Weg. Aber hatte sich die SPD hier nicht längst befreit? Im Dreigestirn aus CDU, SPD und Linkspartei, die es in allen ostdeutschen Ländern unter sich ausmachen, wer mit wem koaliert, hatten nur die Sozialdemokraten schon seit Mitte der neunziger Jahre, als sie die ersten rot-roten Bündnisse anbahnten, eine echte Alternative: entweder mit der CDU oder mit der Linkspartei. Richtschnur war immer, ob die SPD den Ministerpräsidenten stellen kann. Da sie in Thüringen, Sachsen, bald vielleicht auch in Sachsen-Anhalt, weit davon entfernt ist, reicht ihr dort nun schon die Regierungsbeteiligung – egal unter welchem Ministerpräsidenten. Entscheidend scheint eine andere Überlegung zu sein. Es muss unbedingt die Linkspartei sein, und zwar dort, wo sie beherrschbare Regionalpartei ist. Deren Willen zur Regierung, den Bodo Ramelow wie kein anderer in der Linkspartei verkörpert, päppelt die SPD, wo immer es geht und wo immer es sie einem SPD-Kanzler näher bringt. Stegner spricht von den „Desperados“ in der Linkspartei, die dadurch zur Vernunft gebracht werden könnten – warum wohl und wozu? Gemeint sind die Berliner Akteure der Linken, die nicht eine Regierungsbeteiligung anstreben, sondern aus der Opposition die Systemveränderung betreiben Der Zug in Richtung Ramelow scheint für die SPD unwiderstehlich zu sein – nicht nur in Erfurt. wollen und deshalb Keile treiben zwischen SPD, Grüne und die eigene Partei. Ihnen konnten bislang nur die ostdeutschen Landesminister der Linkspartei (derzeit ohnehin nur aus Brandenburg) ihren Pragmatismus entgegensetzen. Ein Ministerpräsident wäre da schon noch etwas anderes. Das stärkste Thüringer Signal aber richtet sich an die CDU. Über eine babylonische Gefangenschaft müsste sie sich viel mehr beklagen. In keinem der ostdeutschen Länder hat sie derzeit noch eine langfristige Regierungsperspektive ohne die SPD. Selbst in Sachsen, dem einzigen Land, in dem sie dieser Gefangenschaft durch eine absolute Mehrheit oder mit Hilfe der FDP entfliehen konnte, ist das nun so. Was tun, wenn die SPD selbst dort nicht mehr mitspielt? Dann hat die CDU weit und breit keinen Partner mehr, es sei denn, sie lässt sich auf eine Diskussion ein, auf deren Polarisierungskräfte die SPD schon wartet – nämlich ob die AfD zu ihr passt, das Auffangbecken der Unzufriedenen. Da sich die CDU aber im Westen mit der SPD viel lieber ein Wettrennen um die Gunst der Grünen liefert, wird ihr der Spagat schwerfallen, im Osten einen ganz anderen Weg zu gehen. Die gut viertausend Mitglieder der SPD in Thüringen entscheiden also doch über weit mehr als nur über ihren landespolitischen Vorgarten. Sie dürfen ihre Stimme abgeben, bevor die Koalitionsverhandlungen beginnen. War auch das mit der Linkspartei schon abgesprochen? Denn das Votum wäre das stärkste Druckmittel der SPD gewesen, wenn es nicht vor, sondern erst nach Koalitionsverhandlungen abgegeben worden wäre. Die SPD verzichtet ganz bewusst auf diesen Trumpf. Der Zug in Richtung Rot-Rot-Grün scheint unwiderstehlich zu sein.
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