Brief 7-8

ÖKUMENISCHE
BIBELWOCHE
Der Galaterbrief 2015
➤ 4. Gal 4,11-20:
Distanzlos in der Beziehungsebene
4,11 Ich fürchte, ich habe mich vergeblich um euch bemüht.
4,12 Ich bitte euch, Brüder: Werdet wie ich, denn auch ich bin geworden wie ihr. Ihr habt
mir nichts zuleide getan.
4,13 Ihr wisst, dass ich krank und schwach war, als ich euch zum ersten Mal das Evangelium verkündigte;
4,14 ihr aber habt auf meine Schwäche, die für euch eine Versuchung war, nicht mit Verachtung und Abscheu geantwortet, sondern mich wie einen Engel Gottes aufgenommen,
wie Christus Jesus.
4,15 Wo ist eure Begeisterung geblieben? Ich kann euch bezeugen: Wäre es möglich gewesen, ihr hättet euch die Augen ausgerissen, um sie mir zu geben.
4,16 Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage?
4,17 Jene Leute bemühen sich um euch nicht in guter Absicht; sie wollen euch abtrünnig
machen, damit ihr euch dann um sie bemüht.
4,18 Gut wäre es, wenn ihr euch zu jeder Zeit in guter Absicht um mich bemühen würdet
und nicht nur dann, wenn ich bei euch bin,
4,19 bei euch, meinen Kindern, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis Christus
in euch Gestalt annimmt.
4,20 Ich wollte, ich könnte jetzt bei euch sein und in anderer Weise mit euch reden; denn
euer Verhalten macht mich ratlos.
Pfarrer Dr. Wolfgang Lipp
geb. 1939, Repetent am Evangelisch theologischen
Seminar Urach, dann Studentenpfarrer in Ulm,
bis 2004 Pfarrer der Martin-Luther-Kirche Ulm, seit 2003
Honararprofessor in Biberach.
Liebe Gemeindeglieder,
Wie verhalten wir uns in Konflikten? Wie können wir
sie lösen? Manchmal sind Konflikte unausweichlich.
Sie müssen durchgestanden sein. Da geht es nicht um
unsere Streitlust, obwohl die verschlimmernd wirkt.
Wie Paulus im Konflikt mit den Galatern umgeht, hören
wir in dem uns gegebenen Text Gal 4,11-20.
Die Galater waren ursprünglich Kelten. In der Zeit bis
um 250 v. Chr. lebten sie in Mitteleuropa, von Ungarn
der Donau entlang bis zum Rhein. Als der Druck auf die
Kelten zu groß wurde, wanderten sie aus. Ein großer
Teil zog nach Westen und lebte in Frankreich, das nach
ihnen Gallien genannt wurde. Später sind sie auch
noch weiter nördlich gezogen auf die britischen Inseln: In Irland, Schottland und in Wales wird bis heute
gälisch gesprochen, eine Sprache, die auf das Keltische
oder Gallische zurückgeht.
Ein anderer Teil der Kelten ist von Mitteleuropa nach
Südosten gezogen. Sie verheerten Nordgriechenland,
zerstörten die Stadt Delphi, konnten aber das Heiligtum nicht einnehmen.
Im Jahr 278 v. Chr. wurden sie vom bithynischen König
Nikomedes nach Kleinasien gerufen, um seinen Bruder
zu bekämpfen. Nach dem Sieg zogen sie plündernd
durch Kleinasien, bis sie in der so genannten Elephantenschlacht besiegt wurden. Danach ließen sie sich
nieder und nannten die Landschaft, in der sie siedelten,
Galatien, also wieder dieser Name.
Von den Galliern an der Westküste Frankreichs erzählt
eine Comic-Zeitschrift, dass ein unbesiegbares Dorf
sogar dem Caesar widersteht und allen römischen
Heeren. Sie verlassen sich auf einen Zaubertrank, den
ihr Druide herstellt und der unbesiegbar macht. Ansonsten sind sie zum Streit geneigt, sind Grobiane und
Rabauken. Wenn keine Römer zur Hand sind, verprügeln sie sich gegenseitig.
Nun ist von diesen Comic-Galliern nicht unbedingt auf
die Galater zu schließen, obwohl diese auch eine unruhige Geschichte haben. Aber unter den Römern sind sie
ruhiger geworden. Paulus besucht und missioniert sie
auf seiner zweiten und dritten Missionsreise. Einige Gemeinden gibt es dort. Aber in diesen haben sich andere
Missionare breit gemacht, die das Halten des Gesetzes
und sogar die Beschneidung fordern. Sie sind also von
Paulus, vor allem aber vom Evangelium abgefallen.
An manchen Stellen des Galaterbriefes kann man den
Eindruck gewinnen, Paulus habe nicht die Galater im
Blick sondern jene Rabauken in dem westgallischen
Dorf, als gehöre auf einen groben Klotz auch ein grober
Keil. Paulus tadelt sie wegen ihres Abfalls (1,6), er verflucht die falschen Missionare (1,8+9), ja er verspottet
sie: statt die jüdische Beschneidung zu fordern, sollten
sie sich lieber gleich kastrieren (5,12). Aber Paulus gibt
die Hoffnung nicht auf, die Galater zu gewinnen.
Wie gehen wir miteinander um in Konflikten? Paulus
könnte ein Vorbild sein.
Paulus beschwört die Erinnerung herauf: wie er ihnen
und sie ihm begegnet sind. Das wissen sie ja noch.
Dabei betont er nicht seine eigene Leistung, seine Redekunst, seinen Opferwillen, sondern er beschreibt, wie
er selber bedürftig war: er war nämlich krank und sie
haben das nicht auf dämonische Mächte zurückgeführt
und ihn deswegen geächtet. Sondern sie haben ihn
gepflegt und umsorgt, ja sie hätten für ihn die eigenen
Augen ausgerissen. So eng waren sie ihm verbunden:
eine gute Erinnerung!
Vielleicht hilft das auch uns bei Konflikten, etwa in der
Ehe oder mit den Kindern, gute Erinnerungen zu erzählen: wie das war am Anfang, was es zu loben gibt, wo
wir miteinander glücklich waren, was der andere mir
Gutes getan hat. Und daran wieder anknüpfen. Kaum
etwas verbindet eine Gemeinschaft mehr als gute
Erinnerung.
Auch in der Politik etwa: was uns am Anfang verbunden hat, welche Ziele wir gemeinsam hatten, was wir
erlebt und wie wir einander geholfen haben. Oder
in einem Nachbarschaftsstreit: die Erinnerung an ein
gelungenes Grillfest, an eine gemeinsame Wanderung
oder an die gute Zusammenarbeit im Garten.
Paulus betont, dass es ihm nicht um den eigenen
Vorteil geht. Wie damals sollen sie sich um ihn bemühen, auch wenn er abwesend ist. Dafür nimmt er sogar
Schmerzen auf sich. Wenn Neues entstehen soll, neue
Gemeinschaft, dann geht das nie ohne Schmerzen ab,
wie bei der Geburt eines Kindes. Es gibt das Neue nicht
ohne Wehen. Die auf sich zu nehmen, ist Paulus bereit.
Ein Konflikt kann nicht gelöst werden ohne diese
Schmerzen. Aber die Frage ist, ob ich die Schmerzen
dem anderen zufüge, oder ob ich sie selber übernehme. Das müssen nicht körperliche Schmerzen sein.
Demütigungen, Niederlagen, auch Beleidigungen tun
genau so weh. Jedenfalls kann dies die Möglichkeit
eröffnen zu neuer Gemeinschaft.
Warum kann Paulus so nachgiebig sein? Warum kann
er so zurückstecken? Es geht ihm nicht um sich selber,
sondern es geht ihm um die Freiheit im Evangelium.
Nicht durch eigene Leistungen: Beschneidung, Halten
von jüdischen Feiertagen oder Befolgung des mosaischen Gesetzes, kann der Mensch sich selbst erlösen.
Sondern dies geschieht ihm allein durch die Annahme
Jesu Christi. Der hat uns Menschen alles geschenkt.
Paulus lässt sich also bestimmen von einer größeren
Macht. Darum kann er nachgeben und vieles auf sich
nehmen. Darum kann er die Galater auffordern: „Zur
Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibet darum fest und
lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft
auflegen“ (5,1).
Ob Paulus auch darin uns ein Vorbild sein kann?
Ich wünsche es Ihnen und grüße Sie freundlich
Ihr
Wolfgang Lipp
ÖKUMENISCHE
BIBELWOCHE
Der Galaterbrief 2015
➤ 4. Gal 4,11-20:
Distanzlos in der Beziehungsebene
4,11 Ich fürchte, ich habe mich vergeblich um euch bemüht.
4,12 Ich bitte euch, Brüder: Werdet wie ich, denn auch ich bin geworden wie ihr.
Ihr habt mir nichts zuleide getan.
4,13 Ihr wisst, dass ich krank und schwach war, als ich euch zum ersten Mal das
Evangelium verkündigte;
4,14 ihr aber habt auf meine Schwäche, die für euch eine Versuchung war, nicht
mit Verachtung und Abscheu geantwortet, sondern mich wie einen Engel Gottes
aufgenommen, wie Christus Jesus.
4,15 Wo ist eure Begeisterung geblieben? Ich kann euch bezeugen: Wäre es möglich gewesen, ihr hättet euch die Augen ausgerissen, um sie mir zu geben.
4,16 Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage?
4,17 Jene Leute bemühen sich um euch nicht in guter Absicht; sie wollen euch
abtrünnig machen, damit ihr euch dann um sie bemüht.
4,18 Gut wäre es, wenn ihr euch zu jeder Zeit in guter Absicht um mich bemühen
würdet und nicht nur dann, wenn ich bei euch bin,
4,19 bei euch, meinen Kindern, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis
Christus in euch Gestalt annimmt.
4,20 Ich wollte, ich könnte jetzt bei euch sein und in anderer Weise mit euch reden; denn euer Verhalten macht mich ratlos.
Dr. Stefan Plöger
geb. 1958, Studium der Psychologie, im Nebenfach
Philosophie, Philosophie und Theologie, Promotion in Humanbiologie, Leiter der Telefonseelsorge
Ulm/Neu-Ulm.
Liebe Leserin, lieber Leser,
wahrscheinlich sind Sie ähnlich erstaunt und verwirrt wie ich,
nachdem Sie Gal Gal 4,11-20 gelesen haben. „Ich fürchte, ich
habe mich vergeblich um euch bemüht“ (Gal 4,11). „…denn
euer Verhalten macht mich ratlos“ (Gal 4,20).
Alle Kommunikationsratgeber sind sich einig: Das ist der
Sündenfall der Kommunikation. Der Schreiber spricht von sich,
spricht sogar von seinem Gefühl („Ich fürchte“) und verpackt
darin eine massive Kritik am Gegenüber. Also so ziemlich der
direkte Weg ins Messer des Zerwürfnisses. Jedes Eheseminar
wüsste es besser. Vorwürfe, Abwertungen in der Larve der IchBotschaft: So geht es nicht, gut miteinander zu reden.
Sind die Angesprochenen nun seine Brüder (und Schwestern),
gar seine Kinder oder doch seine Feinde? Es ist eine ziemlich
heiß-kalte Dusche, die den Lesern da zugemutet wird. Lob in
der ersten Hälfte, viel Kritik in der zweiten.
„Wo ist eure Begeisterung geblieben?“ (Gal 4,15). Für was
brennt ihr? Wir denken: Wer zu sehr brennt, brennt aus. Vor
mir sehe ich den Programmierer, der mit leuchtenden Augen
von seinen Kindern spricht, wenn er seine Programme meint.
Ich sehe die Gruppe Jugendlicher, die in alltäglicher und
anhaltender Faszination ihre Smartphones bearbeitet. Die
Musikliebhaber in weltfremdem Lauschen. Können Menschen
als Menschen noch Begeisterung auslösen? Schöne Körper
vielleicht. Schöne Geister? Eher unwahrscheinlich. Babys
vielleicht? Kann ich mir eine Situation vorstellen, in der z. B. ein
ganz normaler Grundschüler erlebt, dass er wirklich wichtig
ist? Ich erlebe eher, dass Kinder versorgt werden müssen und
eigentlich stören.
„Gut wäre es, wenn ihr euch zu jeder Zeit in guter Absicht um
mich bemühen würdet und nicht nur dann, wenn ich bei euch
bin“ (Gal 4,18). Das, was nicht (medial) sichtbar ist, wird nicht
wahrgenommen. Was nicht medienwirksam an Personen und
Schicksale gebunden vermarktet werden kann, fällt raus aus
der öffentlichen Wahrnehmung. Es gibt in unserer Gesellschaft
eine erschreckende und zutiefst beunruhigende Tendenz zur
Entsolidarisierung. Da gibt es die vielen Binnenwelten, die
nicht teilhaben und die nicht in den Blick rücken. Da gibt es
die vielen schreienden Ungerechtigkeiten, die aber rechtens
und damit irgendwie zulässig sind.
„Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit
sage?“ (Gal 4,16). Wer die (unbequeme) Wahrheit sagt, macht
sich unbeliebt. Fragen wir andersherum: Wo kommt es vor,
dass Wahrheit öffentlich gesagt wird oder dass um Wahrheit
öffentlich gerungen wird? Es ist die Ausnahme. Politik beschränkt sich auf Inszenierungen, anstatt Inhalte zu vertreten.
Wie sagte der Führer durch den Stuttgarter Landtag: „Wofür
gibt es die Debatten im Landtag? Das ist eine Inszenierung für
die Öffentlichkeit“ (sic).
Und was ist mit dem Lob, das Paulus verteilt? Wie einen Engel
Gottes haben die Galater ihn aufgenommen (vgl. Gal 4,14). Die
Augen hätten sie sich für ihn ausgerissen (vgl. Gal 4,15). Und:
„Ihr aber habt auf meine Schwäche … nicht mit Verachtung
und Abscheu geantwortet“ (Gal 4,14). Wie sind wir da heute
aufgestellt? Wie ist unser Umgang mit Schwäche? Was sind
heute die Schwächen, auf die, wenn man der Versuchung
erliegt, mit Verachtung und Abscheu reagiert wird? Allem Gerede zum Trotz: Wer psychisch krank ist, hat schlechte Karten in
unserer Gesellschaft. Depressionen und Psychosen sind nicht
in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Da ist es schon
wahrscheinlicher, dass die solchermaßen Marginalisierten in
der TelefonSeelsorge anrufen. Oder wo auch sonst immer auf
Hilfe hoffen.
Im Galater-Brief wird ein merkwürdiges Verhältnis von Schwäche und ihrer Wirkung beschrieben. Als Schwacher bewirkte
Paulus viel, auch wenn es nicht nachhaltig war. Ich stelle mir
vor: Die Galater beeindruckte es, Paulus als einen in seiner
Schwäche starken Menschen zu erleben. Stark sein trotz Nachstellung und Bedrohung? War es das, was ihnen Mut machte?
Dass in der Begegnung mit den eigenen Schwächen große
Kräfte wachsen können, dass der Schwache etwas Besonderes
auslösen kann, wenn er gelernt hat, sich seiner Schwäche zu
stellen, kann ich mir ohne Zweifel vorstellen. In einem Selbsterfahrungskurs habe ich folgendes Gedankenexperiment
erlebt: Wenn ich mir das vorstelle, auf das ich in meinem Leben
wirklich stolz bin und schaue, durch welche Umstände genau
dies befördert wurde, dann stoßen viele Menschen auf Situationen des Mangels, der Entbehrung, der Erschütterung. Und
genau an dieser Stelle nimmt etwas seinen Anfang, was dann
zu einer besonderen Kraft wird.
Ein wichtiger Erfahrungshintergrund ist für mich die TelefonSeelsorge. Viele Ehrenamtliche stellen sich hier Tag und Nacht
den vielen eingehenden Anfragen. Es ist eine Begegnung von
Mensch zu Mensch, ohne Machtanspruch, ohne Amtsrolle: ein
Dialog mit leeren Händen zumindest insofern, als die TelefonSeelsorgerin nicht sicher wissen kann, ob und was sie in dieser
Begegnung zu geben hat. Da steht sie in der Tradition des Paulus. Auch bei ihm klingt an: Ich bin nicht der, von dem die Hilfe
kommt. Er steht zu seiner Ratlosigkeit. Er hat keinen guten
Ratschlag. Und genau damit öffnet er etwas: Die „Kinder“ der
Gemeinde müssen ihre eigenen Kräfte entwickeln, indem sie
zulassen, dass Christus in ihnen Gestalt annimmt.
Die naive Vorstellung von Hilfe ist: Eine(r) gibt, ein(e) andere
nimmt. Es ist gar nicht selten, dass sich das unterstellte Verhältnis der Dialogpartner umkehrt: Plötzlich ist der Helfer der
Beschenkte und der, dem geholfen wird, der Schenkende. Wie
kann das entstehen? Die Ehrenamtlichen der TelefonSeelsorge
unterscheiden zwischen Mitleid und Mitgefühl. Wirklich gute
Hilfsbereitschaft gibt dem Bedürftigen seine Würde zurück,
indem sie mit ihm mitfühlend den Zugang zu sich selbst und
den Möglichkeiten seiner Selbstbestimmung sucht. Abstrakt?
Nein. Überlegen Sie für sich selbst: Irgendwann früher oder
später sind wir alle auf Hilfe von anderen angewiesen. Wie gut
können Sie Hilfe annehmen? Können Sie sich vorstellen, dass
das zusammen geht: hilfsbedürftig sein und die eigene Würde
zu bewahren in den dann möglichen Räumen der Selbstbestimmung?
Allein sich solchen Gedanken zu stellen, öffnet für mich große
Räume, in denen eine innere und ganz persönliche Auseinandersetzung zugelassen wird, die letztlich die Basis für
Empathie und Toleranz ist. Da geschieht etwas Wunderbares,
weil wir als Geschöpfe spürbar werden und Bedrohliches und
die Angst, die dadurch ausgelöst wird, nicht ausgeklammert
werden müssen.
Liebe Leserin, lieber Leser, zu was regen meine Überlegungen
Sie an? Ich wünsche Ihnen befruchtende Begegnungen, in
denen Begeisterung Platz hat,
und grüße Sie herzlich,
Stefan Plöger