ÖKUMENISCHE BIBELWOCHE Der Galaterbrief 2015 ➤ 4. Gal 4,11-20: Distanzlos in der Beziehungsebene 4,11 Ich fürchte, ich habe mich vergeblich um euch bemüht. 4,12 Ich bitte euch, Brüder: Werdet wie ich, denn auch ich bin geworden wie ihr. Ihr habt mir nichts zuleide getan. 4,13 Ihr wisst, dass ich krank und schwach war, als ich euch zum ersten Mal das Evangelium verkündigte; 4,14 ihr aber habt auf meine Schwäche, die für euch eine Versuchung war, nicht mit Verachtung und Abscheu geantwortet, sondern mich wie einen Engel Gottes aufgenommen, wie Christus Jesus. 4,15 Wo ist eure Begeisterung geblieben? Ich kann euch bezeugen: Wäre es möglich gewesen, ihr hättet euch die Augen ausgerissen, um sie mir zu geben. 4,16 Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage? 4,17 Jene Leute bemühen sich um euch nicht in guter Absicht; sie wollen euch abtrünnig machen, damit ihr euch dann um sie bemüht. 4,18 Gut wäre es, wenn ihr euch zu jeder Zeit in guter Absicht um mich bemühen würdet und nicht nur dann, wenn ich bei euch bin, 4,19 bei euch, meinen Kindern, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt annimmt. 4,20 Ich wollte, ich könnte jetzt bei euch sein und in anderer Weise mit euch reden; denn euer Verhalten macht mich ratlos. Pfarrer Dr. Wolfgang Lipp geb. 1939, Repetent am Evangelisch theologischen Seminar Urach, dann Studentenpfarrer in Ulm, bis 2004 Pfarrer der Martin-Luther-Kirche Ulm, seit 2003 Honararprofessor in Biberach. Liebe Gemeindeglieder, Wie verhalten wir uns in Konflikten? Wie können wir sie lösen? Manchmal sind Konflikte unausweichlich. Sie müssen durchgestanden sein. Da geht es nicht um unsere Streitlust, obwohl die verschlimmernd wirkt. Wie Paulus im Konflikt mit den Galatern umgeht, hören wir in dem uns gegebenen Text Gal 4,11-20. Die Galater waren ursprünglich Kelten. In der Zeit bis um 250 v. Chr. lebten sie in Mitteleuropa, von Ungarn der Donau entlang bis zum Rhein. Als der Druck auf die Kelten zu groß wurde, wanderten sie aus. Ein großer Teil zog nach Westen und lebte in Frankreich, das nach ihnen Gallien genannt wurde. Später sind sie auch noch weiter nördlich gezogen auf die britischen Inseln: In Irland, Schottland und in Wales wird bis heute gälisch gesprochen, eine Sprache, die auf das Keltische oder Gallische zurückgeht. Ein anderer Teil der Kelten ist von Mitteleuropa nach Südosten gezogen. Sie verheerten Nordgriechenland, zerstörten die Stadt Delphi, konnten aber das Heiligtum nicht einnehmen. Im Jahr 278 v. Chr. wurden sie vom bithynischen König Nikomedes nach Kleinasien gerufen, um seinen Bruder zu bekämpfen. Nach dem Sieg zogen sie plündernd durch Kleinasien, bis sie in der so genannten Elephantenschlacht besiegt wurden. Danach ließen sie sich nieder und nannten die Landschaft, in der sie siedelten, Galatien, also wieder dieser Name. Von den Galliern an der Westküste Frankreichs erzählt eine Comic-Zeitschrift, dass ein unbesiegbares Dorf sogar dem Caesar widersteht und allen römischen Heeren. Sie verlassen sich auf einen Zaubertrank, den ihr Druide herstellt und der unbesiegbar macht. Ansonsten sind sie zum Streit geneigt, sind Grobiane und Rabauken. Wenn keine Römer zur Hand sind, verprügeln sie sich gegenseitig. Nun ist von diesen Comic-Galliern nicht unbedingt auf die Galater zu schließen, obwohl diese auch eine unruhige Geschichte haben. Aber unter den Römern sind sie ruhiger geworden. Paulus besucht und missioniert sie auf seiner zweiten und dritten Missionsreise. Einige Gemeinden gibt es dort. Aber in diesen haben sich andere Missionare breit gemacht, die das Halten des Gesetzes und sogar die Beschneidung fordern. Sie sind also von Paulus, vor allem aber vom Evangelium abgefallen. An manchen Stellen des Galaterbriefes kann man den Eindruck gewinnen, Paulus habe nicht die Galater im Blick sondern jene Rabauken in dem westgallischen Dorf, als gehöre auf einen groben Klotz auch ein grober Keil. Paulus tadelt sie wegen ihres Abfalls (1,6), er verflucht die falschen Missionare (1,8+9), ja er verspottet sie: statt die jüdische Beschneidung zu fordern, sollten sie sich lieber gleich kastrieren (5,12). Aber Paulus gibt die Hoffnung nicht auf, die Galater zu gewinnen. Wie gehen wir miteinander um in Konflikten? Paulus könnte ein Vorbild sein. Paulus beschwört die Erinnerung herauf: wie er ihnen und sie ihm begegnet sind. Das wissen sie ja noch. Dabei betont er nicht seine eigene Leistung, seine Redekunst, seinen Opferwillen, sondern er beschreibt, wie er selber bedürftig war: er war nämlich krank und sie haben das nicht auf dämonische Mächte zurückgeführt und ihn deswegen geächtet. Sondern sie haben ihn gepflegt und umsorgt, ja sie hätten für ihn die eigenen Augen ausgerissen. So eng waren sie ihm verbunden: eine gute Erinnerung! Vielleicht hilft das auch uns bei Konflikten, etwa in der Ehe oder mit den Kindern, gute Erinnerungen zu erzählen: wie das war am Anfang, was es zu loben gibt, wo wir miteinander glücklich waren, was der andere mir Gutes getan hat. Und daran wieder anknüpfen. Kaum etwas verbindet eine Gemeinschaft mehr als gute Erinnerung. Auch in der Politik etwa: was uns am Anfang verbunden hat, welche Ziele wir gemeinsam hatten, was wir erlebt und wie wir einander geholfen haben. Oder in einem Nachbarschaftsstreit: die Erinnerung an ein gelungenes Grillfest, an eine gemeinsame Wanderung oder an die gute Zusammenarbeit im Garten. Paulus betont, dass es ihm nicht um den eigenen Vorteil geht. Wie damals sollen sie sich um ihn bemühen, auch wenn er abwesend ist. Dafür nimmt er sogar Schmerzen auf sich. Wenn Neues entstehen soll, neue Gemeinschaft, dann geht das nie ohne Schmerzen ab, wie bei der Geburt eines Kindes. Es gibt das Neue nicht ohne Wehen. Die auf sich zu nehmen, ist Paulus bereit. Ein Konflikt kann nicht gelöst werden ohne diese Schmerzen. Aber die Frage ist, ob ich die Schmerzen dem anderen zufüge, oder ob ich sie selber übernehme. Das müssen nicht körperliche Schmerzen sein. Demütigungen, Niederlagen, auch Beleidigungen tun genau so weh. Jedenfalls kann dies die Möglichkeit eröffnen zu neuer Gemeinschaft. Warum kann Paulus so nachgiebig sein? Warum kann er so zurückstecken? Es geht ihm nicht um sich selber, sondern es geht ihm um die Freiheit im Evangelium. Nicht durch eigene Leistungen: Beschneidung, Halten von jüdischen Feiertagen oder Befolgung des mosaischen Gesetzes, kann der Mensch sich selbst erlösen. Sondern dies geschieht ihm allein durch die Annahme Jesu Christi. Der hat uns Menschen alles geschenkt. Paulus lässt sich also bestimmen von einer größeren Macht. Darum kann er nachgeben und vieles auf sich nehmen. Darum kann er die Galater auffordern: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibet darum fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen“ (5,1). Ob Paulus auch darin uns ein Vorbild sein kann? Ich wünsche es Ihnen und grüße Sie freundlich Ihr Wolfgang Lipp ÖKUMENISCHE BIBELWOCHE Der Galaterbrief 2015 ➤ 4. Gal 4,11-20: Distanzlos in der Beziehungsebene 4,11 Ich fürchte, ich habe mich vergeblich um euch bemüht. 4,12 Ich bitte euch, Brüder: Werdet wie ich, denn auch ich bin geworden wie ihr. Ihr habt mir nichts zuleide getan. 4,13 Ihr wisst, dass ich krank und schwach war, als ich euch zum ersten Mal das Evangelium verkündigte; 4,14 ihr aber habt auf meine Schwäche, die für euch eine Versuchung war, nicht mit Verachtung und Abscheu geantwortet, sondern mich wie einen Engel Gottes aufgenommen, wie Christus Jesus. 4,15 Wo ist eure Begeisterung geblieben? Ich kann euch bezeugen: Wäre es möglich gewesen, ihr hättet euch die Augen ausgerissen, um sie mir zu geben. 4,16 Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage? 4,17 Jene Leute bemühen sich um euch nicht in guter Absicht; sie wollen euch abtrünnig machen, damit ihr euch dann um sie bemüht. 4,18 Gut wäre es, wenn ihr euch zu jeder Zeit in guter Absicht um mich bemühen würdet und nicht nur dann, wenn ich bei euch bin, 4,19 bei euch, meinen Kindern, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt annimmt. 4,20 Ich wollte, ich könnte jetzt bei euch sein und in anderer Weise mit euch reden; denn euer Verhalten macht mich ratlos. Dr. Stefan Plöger geb. 1958, Studium der Psychologie, im Nebenfach Philosophie, Philosophie und Theologie, Promotion in Humanbiologie, Leiter der Telefonseelsorge Ulm/Neu-Ulm. Liebe Leserin, lieber Leser, wahrscheinlich sind Sie ähnlich erstaunt und verwirrt wie ich, nachdem Sie Gal Gal 4,11-20 gelesen haben. „Ich fürchte, ich habe mich vergeblich um euch bemüht“ (Gal 4,11). „…denn euer Verhalten macht mich ratlos“ (Gal 4,20). Alle Kommunikationsratgeber sind sich einig: Das ist der Sündenfall der Kommunikation. Der Schreiber spricht von sich, spricht sogar von seinem Gefühl („Ich fürchte“) und verpackt darin eine massive Kritik am Gegenüber. Also so ziemlich der direkte Weg ins Messer des Zerwürfnisses. Jedes Eheseminar wüsste es besser. Vorwürfe, Abwertungen in der Larve der IchBotschaft: So geht es nicht, gut miteinander zu reden. Sind die Angesprochenen nun seine Brüder (und Schwestern), gar seine Kinder oder doch seine Feinde? Es ist eine ziemlich heiß-kalte Dusche, die den Lesern da zugemutet wird. Lob in der ersten Hälfte, viel Kritik in der zweiten. „Wo ist eure Begeisterung geblieben?“ (Gal 4,15). Für was brennt ihr? Wir denken: Wer zu sehr brennt, brennt aus. Vor mir sehe ich den Programmierer, der mit leuchtenden Augen von seinen Kindern spricht, wenn er seine Programme meint. Ich sehe die Gruppe Jugendlicher, die in alltäglicher und anhaltender Faszination ihre Smartphones bearbeitet. Die Musikliebhaber in weltfremdem Lauschen. Können Menschen als Menschen noch Begeisterung auslösen? Schöne Körper vielleicht. Schöne Geister? Eher unwahrscheinlich. Babys vielleicht? Kann ich mir eine Situation vorstellen, in der z. B. ein ganz normaler Grundschüler erlebt, dass er wirklich wichtig ist? Ich erlebe eher, dass Kinder versorgt werden müssen und eigentlich stören. „Gut wäre es, wenn ihr euch zu jeder Zeit in guter Absicht um mich bemühen würdet und nicht nur dann, wenn ich bei euch bin“ (Gal 4,18). Das, was nicht (medial) sichtbar ist, wird nicht wahrgenommen. Was nicht medienwirksam an Personen und Schicksale gebunden vermarktet werden kann, fällt raus aus der öffentlichen Wahrnehmung. Es gibt in unserer Gesellschaft eine erschreckende und zutiefst beunruhigende Tendenz zur Entsolidarisierung. Da gibt es die vielen Binnenwelten, die nicht teilhaben und die nicht in den Blick rücken. Da gibt es die vielen schreienden Ungerechtigkeiten, die aber rechtens und damit irgendwie zulässig sind. „Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage?“ (Gal 4,16). Wer die (unbequeme) Wahrheit sagt, macht sich unbeliebt. Fragen wir andersherum: Wo kommt es vor, dass Wahrheit öffentlich gesagt wird oder dass um Wahrheit öffentlich gerungen wird? Es ist die Ausnahme. Politik beschränkt sich auf Inszenierungen, anstatt Inhalte zu vertreten. Wie sagte der Führer durch den Stuttgarter Landtag: „Wofür gibt es die Debatten im Landtag? Das ist eine Inszenierung für die Öffentlichkeit“ (sic). Und was ist mit dem Lob, das Paulus verteilt? Wie einen Engel Gottes haben die Galater ihn aufgenommen (vgl. Gal 4,14). Die Augen hätten sie sich für ihn ausgerissen (vgl. Gal 4,15). Und: „Ihr aber habt auf meine Schwäche … nicht mit Verachtung und Abscheu geantwortet“ (Gal 4,14). Wie sind wir da heute aufgestellt? Wie ist unser Umgang mit Schwäche? Was sind heute die Schwächen, auf die, wenn man der Versuchung erliegt, mit Verachtung und Abscheu reagiert wird? Allem Gerede zum Trotz: Wer psychisch krank ist, hat schlechte Karten in unserer Gesellschaft. Depressionen und Psychosen sind nicht in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Da ist es schon wahrscheinlicher, dass die solchermaßen Marginalisierten in der TelefonSeelsorge anrufen. Oder wo auch sonst immer auf Hilfe hoffen. Im Galater-Brief wird ein merkwürdiges Verhältnis von Schwäche und ihrer Wirkung beschrieben. Als Schwacher bewirkte Paulus viel, auch wenn es nicht nachhaltig war. Ich stelle mir vor: Die Galater beeindruckte es, Paulus als einen in seiner Schwäche starken Menschen zu erleben. Stark sein trotz Nachstellung und Bedrohung? War es das, was ihnen Mut machte? Dass in der Begegnung mit den eigenen Schwächen große Kräfte wachsen können, dass der Schwache etwas Besonderes auslösen kann, wenn er gelernt hat, sich seiner Schwäche zu stellen, kann ich mir ohne Zweifel vorstellen. In einem Selbsterfahrungskurs habe ich folgendes Gedankenexperiment erlebt: Wenn ich mir das vorstelle, auf das ich in meinem Leben wirklich stolz bin und schaue, durch welche Umstände genau dies befördert wurde, dann stoßen viele Menschen auf Situationen des Mangels, der Entbehrung, der Erschütterung. Und genau an dieser Stelle nimmt etwas seinen Anfang, was dann zu einer besonderen Kraft wird. Ein wichtiger Erfahrungshintergrund ist für mich die TelefonSeelsorge. Viele Ehrenamtliche stellen sich hier Tag und Nacht den vielen eingehenden Anfragen. Es ist eine Begegnung von Mensch zu Mensch, ohne Machtanspruch, ohne Amtsrolle: ein Dialog mit leeren Händen zumindest insofern, als die TelefonSeelsorgerin nicht sicher wissen kann, ob und was sie in dieser Begegnung zu geben hat. Da steht sie in der Tradition des Paulus. Auch bei ihm klingt an: Ich bin nicht der, von dem die Hilfe kommt. Er steht zu seiner Ratlosigkeit. Er hat keinen guten Ratschlag. Und genau damit öffnet er etwas: Die „Kinder“ der Gemeinde müssen ihre eigenen Kräfte entwickeln, indem sie zulassen, dass Christus in ihnen Gestalt annimmt. Die naive Vorstellung von Hilfe ist: Eine(r) gibt, ein(e) andere nimmt. Es ist gar nicht selten, dass sich das unterstellte Verhältnis der Dialogpartner umkehrt: Plötzlich ist der Helfer der Beschenkte und der, dem geholfen wird, der Schenkende. Wie kann das entstehen? Die Ehrenamtlichen der TelefonSeelsorge unterscheiden zwischen Mitleid und Mitgefühl. Wirklich gute Hilfsbereitschaft gibt dem Bedürftigen seine Würde zurück, indem sie mit ihm mitfühlend den Zugang zu sich selbst und den Möglichkeiten seiner Selbstbestimmung sucht. Abstrakt? Nein. Überlegen Sie für sich selbst: Irgendwann früher oder später sind wir alle auf Hilfe von anderen angewiesen. Wie gut können Sie Hilfe annehmen? Können Sie sich vorstellen, dass das zusammen geht: hilfsbedürftig sein und die eigene Würde zu bewahren in den dann möglichen Räumen der Selbstbestimmung? Allein sich solchen Gedanken zu stellen, öffnet für mich große Räume, in denen eine innere und ganz persönliche Auseinandersetzung zugelassen wird, die letztlich die Basis für Empathie und Toleranz ist. Da geschieht etwas Wunderbares, weil wir als Geschöpfe spürbar werden und Bedrohliches und die Angst, die dadurch ausgelöst wird, nicht ausgeklammert werden müssen. Liebe Leserin, lieber Leser, zu was regen meine Überlegungen Sie an? Ich wünsche Ihnen befruchtende Begegnungen, in denen Begeisterung Platz hat, und grüße Sie herzlich, Stefan Plöger
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