Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Pola Oloixarac: Kryptozän
Aus dem Spanischen von Timo Berger
Verlag Klaus Wagenbach
192 Seiten
20 Euro
Rezension von Peter B.Schumann
Montag, 20. Februar 2017 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Pola Oloixarac gilt als ein ausgefallenes Talent in der
argentinischen Literatur, seit sie mit ihrem Debüt-Roman Die wilden
Theorien die intellektuellen Zirkel von Buenos Aires verstört hat.
Sie beschrieb darin ungeschminkt den Machismo unter linken
Studenten an der Philosophischen Fakultät der staatlichen
Universität und ihre abstrusen Gesellschaftsprojekte. In ihrem
neuen Werk Kryptozän beschäftigt sie sich mit einem jungen
Informatiker in der Cybersphäre, der mit seinen IT-Viren und
Genmanipulationen leicht die Welt zugrunde richten könnte: der
erste lateinamerikanische Hacker-Roman.
Nun hatten wir uns gerade an den Begriff Anthropozän gewöhnt, an
den von Menschen geschaffenen Teil der Weltgeschichte. Und
schon wird uns das ‚Kryptozän‘ serviert als die Fortsetzung
menschlicher Verheerungen inform unsichtbarer Machenschaften
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in der Cyberwelt. Die heutigen Hackerattacken auf sensible
Netzwerke und die Möglichkeiten der Wahlbeeinflussung durch
gefakte Informationen sind eine Bagatelle angesichts der
schädlichen Quellcodes und Viren, die Pola Oloixarac ihre
Hauptfigur Cassio erfinden lässt.
Er ist ein „Wunderkind der Kryptografie“, also der
wissenschaftlichen Verschlüsselung. Hervorgegangen ist er aus
der „Vereinigung von argentinischen und brasilianischen DNAs“.
Der Verweis auf seine Gene als familiärem Ursprung hat einen
realen Hintergrund: Argentinien ist eines jener Länder, in denen die
Sammlung von Gen-Daten und der Einsatz biometrischer
Technologien sehr weit fortgeschritten ist.
Pola Oloixarac wollte dieses Thema ursprünglich in einem Roman
über die legendäre Hacker-Szene von Buenos Aires behandeln.
Doch das schien der 39-jährigen zu simpel. Sie suchte einen
größeren Zusammenhang und fand ihn in der Vermessung der
Welt.
Deshalb stürzt sie den Leser zunächst ins Jahr 1882 und zeigt am
Beispiel der Expedition des jungen Naturkundlers Niklas, wie aus
der Beobachtung bizarrer Anomalien bei Indigenen auf einer
tropischen Vulkaninsel eine folgenreiche biologische Theorie
entwickelt werden kann, die ihn berühmt macht. Von diesem
Erzählstrang zieht Pola Oloixarac eine gar nicht so utopische
Parallele zu der gigantischen Datenbank der Biologin Piera, der
dritten Hauptfigur. Sie arbeitet im Jahr 2024 an der Erhebung aller
genetischen Daten von Südamerika, d.h. an der nahezu totalen
Überwachung der Bevölkerung: Google in der Zukunft.
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Der Programmierer Cassio interessiert an Piera nicht die Frau,
sondern deren Projekt. Überhaupt liebt er seine Katze mehr als die
Menschen. 1983, am Ende der Militärdiktatur, ist er auf die
argentinische Welt gekommen. Durch seine genialen
mathematischen Fähigkeiten entwickelt er sich zum
Vorzeigewissenschaftler und zum Star der Hackerszene. Er
vermag jedoch sein Denken soweit von Konventionen zu lösen,
dass er in der Blütezeit des Neoliberalismus zum Schöpfer von
Viren mit extremster Zerstörungskraft degeneriert. Er wird zum
Prototyp der neuen, weniger augenfälligen Diktatur der Algorithmen
und der Biokybernetik.
Pola Oloixarac sieht diesen Cassio jedoch auch als „Störelement
im Kosmos der universellen Vermessung“. Für sie ist er ein Held,
sind die Hacker „die politischen Helden unserer Zeit“. Sie können
die Welt ins Chaos stürzen, aber auch – wie Edward Snowden –
als subversive Kraft des Widerstands agieren gegen – Zitat – „das
Monster, das es zu bekämpfen gilt“ und das die Autorin in einem
Interview als „die neue Form des militärisch-industriellen
Komplexes“ bezeichnet. Dieser demokratische Aspekt des
Hackings fehlt allerdings in dem Roman. Pola Oloixarac beschreibt
ausschließlich die dunklen Seiten von Cassios Fähigkeiten. Auf
eine kritische Auseinandersetzung mit diesem zentralen Thema,
die sie in ihren Stellungnahmen immer wieder anmahnt, verzichtet
sie in ihrer fiktionalen Auseinandersetzung völlig.
Was ihren Roman Kryptozän literarisch auszeichnet, ist der
Verzicht auf traditionelle Erzählformen, auf eine stringente
Handlung. Die Autorin arbeitet vielmehr mit der Verschränkung von
Zeitebenen, stellt mehrfach Bezüge zwischen den surreal
erscheinenden Forschungen von Niklas im 19. Jahrhundert und
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den Mutationen von Viren in unserer Zeit her. In die Schicksale der
wenigen Akteure blendet sie Betrachtungen über die Entwicklung
neuer Technologien, die DNA-Forschung und den
Überwachungsstaat ein. Mit Hilfe eines raffinierten Geflechtes aus
Elementen des Bildungsromans, der Science Fiction und des
philosophischen Diskurses gelingt es ihr, die komplexe Materie zu
einer anschaulichen Lektüre zu gestalten. Und nicht zuletzt vermag
sie den Leser mit ihrer außerordentlichen Sprachkunst zu fesseln,
für die Timo Berger eine kongeniale Übersetzung gefunden hat.
Mit Kryptozän hat die Autorin nicht nur den ersten überzeugenden
Hackerroman Lateinamerikas geschaffen, sondern sich auch als
eine der ungewöhnlichsten Autorinnen des Kontinents in unser
Bewusstsein geschrieben.
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