SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen/Aula
Außer sich
Wie umgehen mit Aggression?
Von Franz-Josef Wetz
Sendung: Sonntag, 05. Februar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Außer sich - wie umgehen mit Aggressionen?"
Eigentlich denken wir so: Der Mensch wurde im Verlauf seiner Evolution gezähmt,
aus einem wilden Tier wurde ein vernünftiges Wesen, das seine dunklen gierigen
Impulse im Griff hat und sie wunderbar sublimieren kann.
Franz-Josef Wetz, Professor für Ethik und Philosophie an der PH in SchwäbischGmünd, ist anderer Meinung: Für ihn ist der Mensch nach wie vor ein ungezähmtes
Wesen mit Abgründen, mit ungezügelten Leidenschaften, und die Frage ist: Wie
begegnen wir diesem Potential zu Exzessen und Ausschweifungen? Mit
Strafandrohungen, Standpauken, Bildung? Nein, sagt Wetz, das alles hilft nicht, was
hilft, sind Feste der Leidenschaft im ästhetischen Kontext:
Franz-Josef Wetz:
Irgendwann fliegt die erste Flasche. Und ein anderer schmeißt seine Flasche zurück.
Ist der erste Stein geworfen, folgen sogleich der zweite und dritte. Geringfügige
Anlässe können Kettenreaktionen auslösen, im Nu ist keine Schranke mehr da. Die
erste Flasche brachte bereits den Stein der Gewalt ins Rollen, sie tat den ersten
wichtigen Schritt über die Grenze hinweg. Dieser ist zum Vorbild geworden, das zur
Nachahmung reizt. Gewaltlosigkeit versteht sich nicht von selbst. Bereits auf der
Autobahn lassen sich ungeheuerliche Neigungen aufspüren, die im Alltag sonst eher
verborgen bleiben.
Das Auto bietet gesellschaftlich verpönten Frechheiten ein sicheres Obdach.
Während der Fahrt dürfen Zorn und Verachtung hemmungslos toben, man darf wild
fluchen, ja, die übelsten Verwünschungen aussprechen und sogar ganz offen Gewalt
androhen. Man fühlt, wie sich die Hand zur Faust ballt, während die andere das Auto
steuert. Und die Wut fühlt sich irgendwie überwältigend an – endlich darf das Tier
mal raus aus dem Käfig, man darf roh und ungehobelt seinen Ärger raus brüllen,
ohne sich hierfür rechtfertigen zu müssen. Weder braucht man Sanktionen zu
befürchten noch freundliche Beschwichtigungen geduldig zu ertragen. Wer hat ein
solches Angebot noch nicht genutzt? Freilich kann man über alles reden, für jedes
Problem gibt es eine Lösung, zumindest einen Kompromiss. Aber wer hat schon
immer Lust auf vernünftige Gespräche und den Austausch kluger Argumente?
Eine schöne Seele ist der Mensch. Gewiss. Doch hässliche Abgründe schlummern
ebenfalls in ihm. Wir alle sind irgendwie anders. Ethisch betrachtet ist die
menschliche Natur prekär. Das zeigten früher schon Hinrichtungen. Über
Jahrhunderte fanden Hinrichtungen im Beisein eines größeren Publikums statt, das
die langsame, qualvolle Abschlachtung einer geräuschlosen Tötung auf der Stelle
vorzog. Hinrichtungen waren öffentliche Spektakel. Oft arteten solche Theater des
Schreckens zu einer Art Karneval aus. Sie waren nicht nur pompöse Inszenierungen
der Macht, sondern dienten auch zur kurzweiligen Unterhaltung der Massen. Nicht
selten bekamen sie Volksfestcharakter mit „Arme-Sünder-Würstel“ und „Galgenbier“.
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Wie Friedrich Nietzsche schon bemerkt: „Ohne Grausamkeit kein Fest“. So lehrt es
die älteste und längste Geschichte der Menschheit. Ein zweites Beispiel: Kriege und
der Zerfall von Gewaltmonopol. Weltweit gibt es zahlreiche militante Männermilieus,
in denen Gewalt das alltägliche Denken, Fühlen und Handeln ihrer Mitglieder
bestimmt. Wo es an konsequenten staatlichen und gesellschaftlichen Anstrengungen
fehlt, körperliche Gewalt moralisch zu ächten und strafrechtlich zu verfolgen, dort
bricht sie regelmäßig in großem Maßstab durch. Die Gefahr von Bürgerkriegen,
regionalen, religiösen und ethnischen Konflikten, wächst in dem Maße, wie es einem
Staat an robuster Durchsetzungskraft mangelt, die Staatsmacht versagt oder
zusammenbricht.
Dazu schwindet das Bürgervertrauen in die Ordnungskräfte, wenn sie brutale
Gewaltexzesse bewaffneter Banden, Paramilitärs oder korrupter Polizisten dulden.
Man denke etwa an Kolumbien, an Guatemala, an El Salvador, Honduras oder
Nicaragua, um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn nun eine Schreckensherrschaft
nach ihrer Niederlage nicht gleich wieder neue Triumphe feiert – wie in Nordafrika,
das dort der Fall ist – sich jedoch auch nicht sofort stabile Demokratien mit
überlegener Staatsautorität als Friedensgaranten etablieren, dann entsteht ein
Machtvakuum, in dem fast automatisch überall Chaos ausbricht. Ethnische, religiöse
und soziale Konflikte, in denen kollektive Demütigungen brutale Racheaktionen
auslösen können, drohen, zerbrochene Gesellschaften eben in Stücke, ja in den
Abgrund zu reißen. Menschen, die jahrelang Tür an Tür nebeneinander wohnten,
fallen plötzlich übereinander her.
Sind also der Zusammenhalt eines Landes und dessen Ordnungsmacht schwach,
das Gewaltmonopol erodiert und die Kontrollmechanismen pulverisiert, dann können
leicht Guerillaverbände, Todesschwadronen, Volksmilizen, Terrorgruppen oder
paramilitärische Einheiten wuchern und ihr Unwesen treiben. Kurzum: Wo die
Staatsautorität zerfällt, steigt die Gefahr eines Bürgerkriegs.
Liegt es nun am Menschen selbst, an seinen Anlagen, oder liegt es an der Lage des
Menschen, der Situation, in der er sich befindet?
Im Jahre 1971 führte der Psychologe Philip Zimbardo das berühmte Stanford-PrisonExperiment durch, bei dem eine kleine Anzahl normaler Studenten nach dem
Zufallsprinzip in Wärter und Häftlinge eingeteilt wurde, die über zwei Wochen
miteinander Gefängnis spielen durften. Jedoch geriet das Experiment schon nach
wenigen Tagen außer Kontrolle, so dass es bereits vor Ende der ersten Woche
abgebrochen werden musste. Die Wärter hatten sich zu sehr mit ihrer Rolle
identifiziert und infolgedessen ihre Machtstellung schamlos ausgenutzt. Sie
schikanierten die Häftlinge mit endlosen Nachtappellen, ließen sie immer wieder
Liegestützen und Kniebeugen machen, sie legten ihnen willkürlich Handschellen an,
beraubten sie ihrer Privatsphäre, steckten sie über längere Zeiträume in Einzelhaft,
ketteten sie auch aneinander, ließen sie nackt den Korridor auf und ab marschieren,
brüllten sie brutal an und beschimpften sie mit obszönen Worten.
Im Jahre 2003 wiederholte sich die Situation in Stanford im Irak. Die Bilder von 1971
sind fast austauschbar mit den Bildern von Abu Ghraib, wo durchschnittliche USSoldaten auf ähnlich beklemmende Weise irakische Gefangene drangsalierten und
demütigten.
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Nach gängiger Auffassung sind nicht die Peiniger selbst und deren Dispositionen,
deren Anlagen, für solche moralischen und sozialen Entgleisungen verantwortlich,
sondern die jeweiligen Situationen, in denen sie sich befinden. Ein gesundes Hirn sei
hierzu nicht imstande, so die gängige Meinung. Aber diese Einschätzung ist falsch.
Es ist problematisch, Gewalt ausschließlich auf die äußeren Voraussetzungen
zurückzuführen, unter denen sie wahrscheinlich wird, wie es bei uns heute häufig der
Fall ist. Nach verbreiteter Auffassung können die Auswirkungen des sozialen
Umfeldes auf das Handeln der Menschen gar nicht überschätzt werden. Unter
bestimmten Voraussetzungen triumphiere die Macht der Situation über die
Autonomie des Einzelnen. Situative Kräfte seien in der Lage, gute Jungs in böse,
freche Kerle, anständige Menschen in grausame Sadisten zu verwandeln, die andere
schikanieren und drangsalieren.
So zutreffend solche Beobachtungen und Einschätzungen einerseits sind,
andererseits sind die Fakten oftmals viel einfacher. Das Unmenschliche ist nicht nur
jederzeit möglich. Wo die Chance zu sanktionsfreier Grausamkeit besteht, dort wird
sie seit jeher auch genutzt. Zwar nicht von allen, aber doch von einigen Menschen,
wenn sich diesen eine günstige Gelegenheit hierzu bietet. Noch einmal Friedrich
Nietzsche: „Dieselben Menschen, die durch Sitte, Brauch, gegenseitige Bewachung,
Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Freundschaft sich beweisen, sie
sind, wo die Fremde, das Fremde beginnt, wie losgelassene Raubtiere“. Sobald sich
Menschen unbeobachtet fühlen, sinkt leicht ihre Moral.
Bei alldem ist verblüffend, mit welch hoher Geschwindigkeit es gerade in Ländern
ohne Zentralgewalt zu bewaffneten Konflikten und Bürgerkriegen kommt. Und wie
schnell sich Milizen bilden, für die sich hauptsächlich jüngere Männer so leicht
anheuern lassen. Auf der Suche nach Abenteuern können diese es kaum erwarten,
sich mit gegnerischen Gruppen zu bekriegen. Bemerkenswerterweise brauchen wir
Menschen fast keinerlei Einführung und Eingewöhnung, um brutale Handlungen
ausführen oder anschauen zu können. „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“,
betitelt de Goya ein Gemälde mit schrecklichen Traumbildern seiner zügellosen
Phantasie. Ähnliche Bilder finden sich im Schneesturm in Thomas Manns Roman
„Zauberberg“, wo ein reich bebilderter Abstieg zum animalischen Chaos, Rohen und
Grässlichen im Menschen beschrieben wird. Anscheinend kommt das Wilde und
Monströse dann gerne zum Vorschein, wenn die strengen Regeln der sittlichen
Vernunft außer Kraft gesetzt werden.
Heutzutage werden brutale Hinrichtungen als pathologisch und pervers eingestuft.
Folterungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen und Kannibalismus werden
inzwischen nur noch wenigen Gewalttätern mit kranker Geistesverfassung zugetraut.
Sie gelten als Ausgeburten einer zerrütteten Einbildungskraft: „Wer so etwas tue,
müsse verrückt sein – ein psychisch Gesunder sei hierzu nicht imstande“. Aber:
Diese Annahme ist falsch. Die Zivilisation mag noch so hoch steigen. Trotz aller
Veredelung des Menschen existieren die ewige Leidenschaft und das ewige
Verbrechen fort.
So der naturalistische Schriftsteller Émile Zola in seinem Roman „Bestie Mensch“. Im
Mittelpunkt dieses Romans steht Jacques, ein zuverlässiger Lokführer, in dem wilde
Triebe hervorbrechen, um brutal zu morden. Warum hatte er gemordet? Zolas
verblüffende Antwort hierauf: weil ihn die Erbschaft der Grausamkeit des
Mordinstinkts, der in vorzeitigen Wäldern ein Tier auf das andere jagte, blind machte.
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Manchmal bricht, was in unserem Inneren von der ursprünglichen Grausamkeit
geblieben ist, mit einer merkwürdigen Heftigkeit hervor. Unter dem dünnen Gewand
moderner Höflichkeit bläht sich zuweilen unser Herz in unbekannter grausamer Gier.
Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig spricht vom Dämonischen unserer
Natur, den gefährlichen Bestien der Leidenschaft. Und schon Michel de Montaigne
schrieb in der frühen Neuzeit: „Die Natur selbst, fürchte ich, hat dem Menschen einen
gewissen Trieb zu Unmenschlichkeit eingepflanzt“. Eine gewaltfreie Gesellschaft wird
es also wohl niemals geben. Gewalt gehört, so könnte man alles zusammenfassen,
zum biologischen Erbe der Menschheit. Sie ist immer da, nur ihr Gesicht ändert sich.
Der zivilisierte Bürger möchte sich zwar die verstörende Erkenntnis der Normalität
sozial unverträglicher Impulse ersparen, aber bisweilen empört man sich über
Schmutz, weil man darin den eigenen Fußabdruck erkennt.
Natürlich gehört zum Schicksal unserer Gattung ebenso ein Hang zum Guten –
Liebe, Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Gegenseitigkeit, Mitleid, Empathie und
Sympathie – man spricht heute von Spiegelneuronen. Es gibt eine natürliche
Neigung des Menschen zu Fairness und Kooperation, gewiss. Überlebt der Einzelne
doch besser in Gemeinschaft, als allein auf sich gestellt. Allerdings haben auch
grausame Temperamente natürliche Ursachen. Wir haben von unseren Vorfahren
kriegerische Neigungen geerbt, die in der zivilisierten Welt keineswegs ausgestorben
sind. Abhängig von ganzen Bündeln prägender Faktoren, fällt aber die
Gewaltneigung bei uns Menschen natürlich ganz verschieden aus.
Allerdings darf die differenzierte Perspektive nicht darüber hinwegtäuschen, dass
Gewaltszenen für auffällig viele Menschen, besonders für Männer in jüngeren
Jahren, einen hohen Reiz besitzen. Da Gewalt eine natürliche Grundlage besitzt,
sind wir alle in gewissem Maße hierfür anfällig. Alle. Normalerweise bleibt unser
Drang nach Gewalt zwar gehemmt oder verborgen, bisweilen aber wollen sich die
Menschen ungehindert austoben. Keiner kennt sich gut genug, um sicher zu sein,
niemals grausame Taten verüben zu können. Jeder von uns kann gewalttätig
werden. Niemand ist davor gefeit. Gewalt ist eine völlig normale Ressource, über die
jedermann verfügt. Man könnte auch sagen: Wir alle sind wurmstichig.
In dem Selbstbildnis „Das Monster in mir“ bringt der berühmte Maler Francis Bacon
seine Angst vor der eigenen Grausamkeit im Wartestand auf bedrückende Weise zur
Darstellung. Ähnlich schildert Joseph Conrad in das „Herz der Finsternis“ eine
albtraumartige Expedition in die Abgründe der eigenen Seele. Diese Erkundungstour
in den Dschungel des kolonialisierten Kongo wird nicht nur als Selbsterkenntnis der
eigenen Bedeutungslosigkeit inmitten einer sinnlosen Welt in Szene gesetzt, die
Expedition in die düstere Wildnis wird ebenfalls als Blick in die menschlichen
Untiefen beschrieben. Der Urwald steht in dieser Novelle für das Wilde, Abgründige,
Unberechenbare im Menschen. Mit dem „Herz der Finsternis“ ist deshalb
gleichermaßen das durchwanderte Landesinnere, der Kongo, wie auch das
durchleuchtete Seeleninnere gemeint.
Noch einmal wieder Friedrich Nietzsche: Er findet hierfür in „Jenseits von Gut und
Böse“ die passenden Worte: „Wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der
Abgrund auch in Dich hinein“. Dazu passend Georg Büchner im „Woyzeck“: „Jeder
Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“. Wie viele
Zivilisten und Soldaten berauschten sich bereits an Gewalt? Nicht aus ideologischen
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oder krankhaften Motiven, sondern nur, weil sich die Chance hierfür ergab, und sie
sahen eben nicht anders aus als wir, denn in jedem von uns steckt eben alles – auch
jedes Laster.
Nach allem bisher Dargelegten ist nichts erstaunlicher als das friedliche
Zusammenleben der Menschen, wie es seit Jahrzehnten in Westeuropa der Fall ist.
Heute finden die Menschen Gewalt eher abscheulich und ekelhaft. Aber selbst die
freie Wohlstands- und Konsumgesellschaft ist die Gewalt noch nicht losgeworden.
Brutale Gewaltszenen lassen sich auch in der Vorstellungswelt zivilisierter Bürger
antreffen. Wie viele können sich an uferlos obsessiver Pornographie ergötzen? Wie
viel häusliche Gewalt bleibt unbenannt und unbekannt? Wie viele Zeitgenossen
berauschen sich an blutigen Boxkämpfen am Samstagabend vor dem Fernsehen?
Wie viele friedliche Menschen fordern nicht nur die Todesstrafe, sondern auch deren
blutige Vollstreckung im Zusammenhang mit schweren Verbrechen? Selbst der im
Sport weit verbreitete Jargon mit oft derben Redewendungen lässt sich auf eine rohe
Aggressivität zurückführen. Diese Sprache im Sport entstammt größtenteils der
Sprache des Krieges und der Sexualität. Wir Menschen lieben die Sprache des
Unrats. Bei günstiger Gelegenheit ergreifen wir alle gerne die Chance, unsere
Anstandsmasken abzuwerfen, um auf gemeine Weise übermütig zu werden und
niedere Gelüste auszuleben.
Zudem ist Gewalt ein fester Bestandteil unserer Unterhaltungsindustrie, die dauernd
mit dem staatlichen Gewaltmonopol virtuell bricht. Im Fernsehen, Kino, Internet und
Computerspielen ist körperliche Gewalt gar nicht mehr wegzudenken, als ob mit dem
Gewaltverzicht im Alltag, das Bedürfnis nach stellvertretend ausgeübter und virtuell
ausgelebter Gewalt steigen würde. Brutale Szenen im Netz sind an der
Tagesordnung. Schauplätze mit blutigen Gewalttaten zeigen die modernen
Massenmedien zuhauf. Die seriösen Nachrichten liefern unter dem Vorwand der
Empörung schreckliche Berichte täglich frei Haus. Hierdurch werden nicht nur, wie es
den Anschein erweckt, Informationsbedürfnisse gestillt, sondern ebenso
Katastrophensehnsüchte befriedigt. Die Medien bieten der ungestillten
Aggressionslust des zivilisierten Bürgers willkommene Ersatzbefriedigungen. Wie es
scheint, braucht selbst der zivilisierte Mensch nicht nur gute, sondern auch schlechte
Nachrichten, Skandale, Katastrophen, Grausamkeiten. Traditionelle Gegenmittel
gegen diese dunkle Neigung von uns allen heißen Disziplinierung, Drill, Dressur.
Freundlicher formuliert: Humanismus, Aufklärung, der alles Extreme, Grausame,
Zügellose zuwider ist.
Die zivilisierte Gesellschaft tritt der Gewalt mit unterschiedlichen erzieherischen
Maßnahmen und mit harten Strafandrohungen entgegen. Doch lässt sich mit deren
Hilfe das wilde Triebchaos nur teilweise zurückdrängen und entkräften. Ausschalten
lässt es sich hierdurch nicht. Darum empfiehlt sich ein zusätzlicher, dritter Weg,
neben der genannten Erziehung und Strafandrohung, ein Weg, der hier beschritten
und empfohlen werden soll, das dunkle Begehren sozialverträglich auszuleben. Jede
noch so vernünftige Gesellschaft braucht Ventile, ich möchte sagen „Ventilsitten“ für
die extremen Neigungen ihrer Bürger, die Grenzen der bestehenden Ordnung und
des eigenen Ich zu überschreiten.
Die Abgründe unserer vulkanischen Leidenschaften, die in uns wie Lavaströme im
Schoß der Vulkane brodeln und die tragische Seite unseres Daseins ausmachen,
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dürfen nicht ignoriert, sondern müssen sozial verträglich bewirtschaftet werden. So
sehr wir Menschen also tragender Strukturen und Routinen bedürfen, so sehr
sehnen wir uns nach zeitweiliger Aufhebung dieser Strukturen und Routinen.
Menschen haben ein unstillbares Verlangen, etwas Außeralltägliches am eigenen
Leib zu erfahren, die jüngere Generationen noch mehr.
Selbst wenn sich nicht jeder zu jeder Zeit ekstatischer Grenzenlosigkeit verschreiben
möchte, so steckt doch fast in allen der Wunsch, hin und wieder aus dem geordneten
Alltag auszubrechen. Wie viele sind auf der Suche nach aufregenden Abenteuern,
Extremsituationen, in denen sie sich selbst überwinden, Neues erforschen, sich mal
extravagant fühlen dürfen. Eine außeralltägliche Möglichkeit unseres Daseins ist der
Exzess, in dem der Einzelne sein Leben entweder katastrophal, in
menschenverachtender Gewalt, wie dargelegt, oder glorios, in sozial verträglichen
Delirien verschwenden darf. Auch Durchschnittsbürger haben hin und wieder den
Wunsch, die gewohnten Tagesabläufe zu durchbrechen.
Es gibt eine flügelschlagende Sehnsucht nach rauschhaften Exzessen, die über alle
Rationalität hinausgehen und die Grenzen der Normalität sprengen. In traditionellen
Gesellschaften gibt es hierfür festliche Rituale, die jährlich zu bestimmten Zeiten an
ausgewählten Orten stattfinden und die geltende Ordnung zeitweilig aufheben. So
leiten viele Kulturen den Jahreswechsel oder den Frühlingsbeginn mit viel Getöse
ein. In alten Stammeskulturen kehren solche religiös motivierten Unterbrechungen
des Alltags jährlich wieder, die der Gemeinschaft obszöne Ausgelassenheit erlauben,
welche Anstand und Höflichkeit für gewöhnlich untersagt.
Bei solchen Feiern dürfen sexuelle und aggressive Rohenergien entfaltet werden.
Dabei entspricht der Trennung von Alltag und Festtag, von Werktag und Sonntag, in
diesen alten Kulturen die Unterscheidung zwischen profan, also weltlich, und sakral,
also heilig. Auch wir Heutigen suchen Erlebnisräume, die uns verzaubern sollen. Das
Zauberhafte ist ein Gestaltungsraum, der immer wieder neu modelliert werden
möchte. Wie gerne experimentieren Menschen doch mit ihren schöpferischen Kräften
und gebrauchen dabei den eigenen Körper als Quelle ganz verschiedenartiger
Genüsse.
In der säkularen Welt schaffen sich die Menschen ihre eigenen Festzeiten und
heiligen Orte und lassen sie sich nur noch teilweise von der Ordnungsmacht, das
heißt von Staat und Kirche, vorgeben. Für diese säkularen Orte der Lust stehen
Konzertsäle, Technoclubs, Popkonzerte, wo die Menge voller Begeisterung kocht,
johlt und kreischt. Außerdem große Fußballspiele und andere Sportveranstaltungen,
wo das Publikum vor Anspannung zischt, stampft und grölt. Enthemmte
Karnevalsorgien oder heiße Sexpartys, auf denen das pralle Leben tobt und bebt.
Aber auch jede Kunst, die fesselt, berührt und begeistert. Oder, verharmlost und
einfach, das gemütliche Spazieren durch schöne Landschaften und das neugierige
Flanieren durch bunte Großstädte.
Hier wie dort kann es zu exaltierter Verzauberung und euphorischer Verzückung
kommen. Solche Ekstasen bereichern das Leben auf wundervolle Weise. Zugleich
schützen sie es aber auch vor partiell fanatischem Gotteskriegertum. Sie schützen es
vor grausamer Mordlust und brutalem Folterwahn, indem sie das überschäumende
Verlangen auf sozial verantwortbare Weise befriedigen. Man könnte sagen: „Wer
tanzt, tötet nicht“. Oder: „Wer feiert, feuert nicht“. Aber: Das dunkle Begehren ist zu
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stark, als dass sich der Einzelne ihm vorbehaltlos ausliefern darf, ohne sich selbst
und seine Mitbürger zu schädigen. Wie die weltweiten Orgien blutiger Gewalt
beweisen, ist die Angst berechtigt, das feurige Potential der Menschen könne deren
Dasein und jede Gesellschaft zerstören. Deshalb dürfen das berechtigte Verlangen
nach Intensität, das Bedürfnis nach Selbstverausgabung und die Lust auf Exzesse
bloß eingeschränkt ausgelebt werden.
Statt das Leben auf der Suche nach intensiven Augenblicken leichtfertig und
waghalsig aufs Spiel zu setzen, sollte vielmehr das spielerische Moment bei der
unproduktiven Verausgabung kultiviert werden. Gerade weil die Spielbeteiligten
nichts voreinander zu befürchten haben, kann es zur fiebrigen Raserei kommen, wie
sie für große Musik-, Tanz- und Sportveranstaltungen oder für
experimentierfreudigen Sex kennzeichnend ist. Im sorgenfreien Spiel kann sich die
Lust am stärksten entfalten. Denn: Gerade, wo fast nichts ernsthaft riskiert wird, kann
man sich dem Spiel gänzlich überlassen, bis man selbst zu dessen Spielzeug
geworden ist. Man kann sich ins Delirium stürzen, gerade weil das Spiel keinen
wirklichen Kampf darstellt, in dem die eigene Existenz gefährdet wäre.
Die moderne Gesellschaft hat Räume der Lust geschaffen, in denen der Einzelne
seine Gelüste auf sozial verantwortbare Weise ausleben kann. Räume, die dem
sinnlichen Verlangen nach der vollen Intensität des Lebens gerecht werden sollen.
Aus guten Gründen hat die moderne Zivilisation dabei den Rückweg in die freie
Wildnis verbaut, dafür aber Reservate mit speziellen Spielregeln eingerichtet. Das
wilde Tier darf im kämpferischen Sport, in Technoclubs, auf Musikfestivals, auf
ausgelassenen Festen jeder Art und bei abenteuerlichen Sexspielen fast ohne jede
Tarnung sich verausgaben.
Diese Events bilden die zoologischen Gärten der Lüste unserer Zeit, die dem
gewaltbereiten Menschen einen kurzen Abstecher in den Urwald seiner sonst
gebändigten Begierden auf sozial verträglicher Weise gestatten. Solche Ausbrüche
sind zivilisierte Formen der Rückkehr in die Wildnis, die solange gutgeheißen werden
dürfen, wie sie sich nicht in Höllen ohne Spielregeln verwandeln. Nur für die Müden,
die schon das bloße Existieren erschöpft, ist Ruhe bereits das Glück. Nicht aber für
die Enthusiasten, die der Durst nach Abenteuer verzehrt, weil sie den starken
Pulsschlag des Lebens noch spüren.
„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu
können“, schwärmt Friedrich Nietzsche. „Dann ergibt sich das Gefühl, es sternt mich
an“, jubelt Gottfried Benn. Die Wahrheit allen sinnlichen Verlangens ist der
abenteuerliche Exzess. Statt den Überschuss explosiver Kräfte aber katastrophal in
häuslicher Gewalt, grölenden Straßenrandalen oder grausamen Bürger- und
Gotteskriegen zu vergeuden, sollte er lieber auf gloriose Weise, durch aufreizende
Körperspiele, aufpeitschende Technopartys und aufputschende
Sportveranstaltungen verprasst werden.
Solche Möglichkeiten leisten einen wesentlichen Beitrag zu Gewalteindämmung.
Denn fröhliche Exzesse geben brutaler Gewalt keine Chance, weil sie alles Begehren
in pralles Leben verwandeln, das im Club, beim Sex oder beim Sport sozial
verträglich verausgabt wird. Was man nicht bändigen kann, muss man feiern. Im
Garten der Lüste gedeiht kein Terror.
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Prof. Dr. Franz Josef Wetz, geb. 1958, studierte Philosophie, Germanistik und
Theologie 1989 Promotion im Fach Philosophie, 1992 Habilitation. Von 81 bis 93 war
Wetz u. a. beschäftigt am Zentrum für Philosophie in Gießen als wissenschaftlicher
Mitarbeiter, seit 1994 ist er Professor für Philosophie an der Pädagogischen
Hochschule im Schwäbisch-Gmünd.
Forschungsschwerpunkte:
Hermeneutik, Ethik, Kultur- und Naturphilosophie mit der Frage, welche
Konsequenzen haben die modernen Naturwissenschaften für das Selbst- und
Weltbild.
Internetseite: http://www.franzjosefwetz.de
Bücher (Auswahl):
- Exzesse. Wer tanzt, tötet nicht. Alibri Verlag. Aschaffenburg 2016.
- Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung. Alibri. Aschaffenburg 2014.
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