SWR2 Forum Buch

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Vom 29.01.2017 (17:05 – 18:00 Uhr)
Redaktion und Moderation: Katharina Borchardt
Neue Literatur aus Skandinavien von: Karolina Ramqvist, Ann-Marie Ljungberg,
Halldór Laxness Halldórsson, Helle Helle, Lars Svendsen, Morten Strøksnes
Karolina Ramqvist: "Die weiße Stadt"
Aus dem Schwedischen von Antje Rávic Strubel
Ullstein-Verlag
18 Euro
(Gespräch mit Anja Brockert)
Ann-Marie Ljungberg: "Dunkelheit, bleib bei mir"
Aus dem Schwedischen von Eva Scharenberg
Weidle-Verlag
23 Euro
(Rezension von Frank Rumpel)
Halldór Laxness Halldórsson: "Ich bin ein Bauer und mein Feld brennt"
Aus dem Isländischen von Christian Filips
Verlag roughbooks
9 Euro
(Rezension von Gesa Ufer)
Helle Helle: "Wenn du magst"
Aus dem Dänischen von Flora Fink
Dörlemann-Verlag
20 Euro
(Gespräch mit Peter Urban-Halle)
Lars Svendsen: "Philosophie der Einsamkeit"
Aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach
berlin university press
18 Euro
(Kurzkritik von Katharina Borchardt)
Morten Strøksnes: "Das Buch vom Meer"
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Sylvia Kall
Deutsche Verlagsanstalt
19,99 Euro
(Rezension von Clemens Hoffmann)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
SWR2 Forum Buch können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio
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Ann-Marie Ljungberg: "Dunkelheit, bleib bei mir"
Von Frank Rumpel
Autor:
Ein Foto vom Tag danach: Schnee türmt sich entlang der Straßen. Hinter einem
Zaun drängen sich Schaulustige, blicken auf dicke Rauchschwaden, zwischen denen
ein Kamin aufragt. Der blieb stehen, als am 3. März 1940 das Redaktionsgebäude
der sozialistischen Zeitung Norrskensflamman im nordschwedischen Luleå von
Terroristen gesprengt wurde.
Zitat aus "Dunkelheit, bleib bei mir":
Alles ist hell, die Straße in klares Tageslicht getaucht. Und dann der Schlag. Er
betäubt ihn. Das Geräusch von splitterndem Glas. Entfernt und sonderbar. Er geht
weiter, starr vor Schreck. Sein Blick ist auf den schneebedeckten Bürgersteig
gerichtet, der nur von einem kleinen Schneewall begrenzt ist. Der Lichtschein ist jetzt
schwächer, und er muss kurz anhalten und sich umdrehen, um sich zu vergewissern,
dass es kein Traum war, ein Hirngespinst seiner Überspanntheit.
Autor:
Der da durch die Märznacht des Jahres 1940 torkelt, ist Paul Wilhelmsson,
Protagonist und einer der Attentäter in Ann-Marie Ljungbergs Roman „Dunkelheit,
bleib bei mir“. Wilhemsson ist eine fiktive, aber glaubhaft gezeichnete Figur, die
Ljungberg ebenso wie andere Charaktere ihres Romans den historischen Attentätern
nachempfunden hat. Im Falle Wilhemssons war das der Journalist Gunnar
Hedenström, der für den Norrbottens-Kuriren schrieb, die andere Zeitung in Luleå,
einer kleinen Stadt an der Küste Nordschwedens, unweit der finnischen Grenze.
Finnland befindet sich im Krieg mit der Sowjetunion. Durch diese räumliche Nähe
wächst bei Wilhelmsson, wie bei manch anderem im neutralen Schweden, die Angst,
die Rote Armee könnte sich, nachdem sie Finnland überrannt hat, auch gleich das
rohstoffreiche Nordschweden unter den Nagel reißen. Als Feind im eigenen Land hat
Wilhemsson zusammen mit einigen strammen Rechten, darunter auch ein seltsam
entrückt wirkender städtischer Beamter, die sozialistische Zeitung Norrskensflamman
ausgemacht. Die Männer beschließen, die Redaktionsräume zu sprengen. Fünf
Menschen sterben, darunter zwei Kinder. Bis heute gilt dieser Anschlag als der
Schwerste in der schwedischen Geschichte.
Wie wird ein Mensch zum Attentäter? Dieser Frage geht die 1964 geborene, in
Nordschweden aufgewachsene, heute in Göteborg lebende Autorin Ann-Marie
Ljungberg nach, indem sie sich erzählerisch an die Fersen des Journalisten
Wilhelmsson heftet. Für ihren Roman hat sie in Archiven recherchiert - und sich an
die Erzählungen ihres Großvaters erinnert, der damals in Luleå lebte. Aus diesem
Material hat sie, wie sie im Nachwort schreibt, ihre Figuren und eine Geschichte
destilliert.
Zitat aus "Dunkelheit, bleib bei mir":
Jede Person, die in diesem Buch auftritt, existiert, und zwar in meinem Kopf. In
diesem Buch kommen Begebenheiten vor, die tatsächlich niemals geschehen sind.
Und es gibt auch Begebenheiten, die sich zwar ereignet haben, die aber nicht
vorkommen. Das historische Ereignis, der Anschlag auf den Norrskensflamman im
März 1940, zerfällt, zersplittert.
Autor:
Die historischen Informationen zu dem Anschlag und den Männern, die ihn
ausführten ergeben nur auf den ersten Blick ein scharfes Bild. Sobald man näher
hinschaut, tun sich Lücken auf. Und weil sich Ljungberg für genau diese Lücken
interessierte, musste sie den Stoff fiktionalisieren. In kurzen Kapiteln springt sie
zwischen zwei Zeitebenen hin und her, folgt ihren Protagonisten ein paar Wochen
vor und nach dem Anschlag. Zentral sind dabei die Gerichtsszenen, in denen der
Angeklagte Wilhemsson die Aussagen seiner Mitstreiter verfolgt, die versuchen, ihm
die Hauptschuld zuzuschieben. Es sind knappe Sequenzen, die Ljungberg zwischen
jene Passagen geschnitten hat, in denen sich die Männer zu Terroristen entwickeln.
Zunächst organisieren sie den Aufbau einer Freiwilligenarmee mit, die Schweden in
Finnland gegen die Sowjets verteidigen soll. Doch als ein Sieg der Roten Armee
immer wahrscheinlicher wird, beschließen sie, gewaltsam etwas gegen die
sozialistische Propaganda im eigenen Land zu unternehmen.
Ljungberg setzt geschickt Mosaiksteine zusammen, die am Ende das Bild eines
Enttäuschten und Verbitterten ergeben, der ernsthaft glaubt, mit der Sprengung einer
Zeitungsredaktion könne er eine politische Idee vernichten. Am liebsten hätte sich
Wilhelmsson selbst der Freiwilligenarmee angeschlossen, doch kann er einer
Tuberkulose-Erkrankung in seiner Kindheit wegen nicht Soldat werden. Außerdem
kommt eine Jugendliebe Wilhelmssons in die Stadt zurück, und auch sie bringt sein
Lebenskonzept ins Wanken, lässt ihn an seiner freudlosen Ehe zweifeln.
Ljungberg treibt ihre Geschichte im Präsens voran, schafft so Nähe und
Unmittelbarkeit. Ihr sachlich, nüchterner Stil wirkt bisweilen etwas spröde, doch
gewinnt ihr Roman, je vertrauter die Namen und Milieus, je deutlicher die
Zusammenhänge werden, zunehmend an Komplexität. Zumal Ljungberg wie
nebenbei auch von der lähmenden Ungewissheit und von einer gespaltenen
Gesellschaft jener Zeit erzählt, wobei der vermeintliche Gegner nicht immer leicht
auszumachen ist. Gelegentlich findet er sich ganz in der Nähe, wie Wilhelmsson am
Tag nach dem Attentat bei einer flüchtigen Begegnung mit seiner Jugendliebe Edit
aufgeht.
Zitat aus "Dunkelheit, bleib bei mir":
Er betrachtet sie eine Weile. Ihre Augen funkeln so lebhaft und gleichzeitig so
schmerzvoll, dass er sich vorbeugen, ihre Hand nehmen und ihr sagen will, dass sich
schon alles finden wird und dass er ihr helfen wird...doch dann kommt die Einsicht.
Nicht einschneidend, sondern ganz selbstverständlich. Edit ist Kommunistin.
Autor:
Wie groß dieser gesellschaftliche Riss war, verdeutlicht Ljungberg nochmals im
Nachwort, in dem sie von einer Kindheitserinnerung erzählt.
Zitat aus "Dunkelheit, bleib bei mir":
Meine allererste und emotionalste Erkenntnis in Luleå war, dass es mit den
Zeitungen etwas Besonderes auf sich hatte. Welche Zeitung man in Norrbotten
meiner Kindheit abonnierte, war eine wirklich ernstzunehmende Sache. Ernster, als
eigentlich Anlass dazu bestanden hätte.
Autor:
Ein spannender, sorgfältig komponierter Roman ist Ljungberg da gelungen, in dem
sie versucht, Antworten zu finden, sich aber bewusst ist, dass sie sich solchen
Antworten allenfalls nähern kann. Sie markiert jene Punkte im Leben des Paul
Wilhemsson, an denen sich für ihn die Weichen Richtung Extremismus stellen. Dabei
ist viel Irrationalität im Spiel, manche Entscheidung fußt auf banalen sozialen
Zwängen und gruppendynamischen Prozessen. Da radikalisiert sich einer, der
beruflich eine rosige Zukunft vor sich hat innerhalb weniger Wochen, da wird ein
gesellschaftlich Integrierter erst zum Außenseiter, dann zum Mörder. Damit hat
Ljungberg nicht nur einen Roman über ein Attentat im Jahr 1940 geschrieben,
sondern auch zu einem Thema, das brandaktuell ist.
Halldór Laxness Halldórsson: "Ich bin ein Bauer und mein Feld brennt"
Von Gesa Ufer
Drei putzige Kerle sitzen auf dem Podium der schönen alten Villa am Wannsee:
Neben dem Autor Halldór Laxness Halldórsson sind das der Musiker Benedict
Christianson mit Wanderklampfe und knallroten Kniestrümpfen statt Schuhen und
der Autor, Regisseur und Musikdramaturg Christian Filips, der die isländischen Texte
für den Lyrikverlag roughbooks übersetzt und herausgegen hat.
Filips hatte sich im Rahmen seines Mediävistik-Studiums bereits das Friaulische und
Frühneuhochdeutsche beigebracht, etwa um mittelalterliche Mysterienspiele neu
fürs Theater zu übersetzen. Halldórssons Gedichte nun will er - so sagt es der
Verlagstext - im Zustand vulkanischer Trance in den Tagen der vergangenen
Europameisterschaft übersetzt haben. Sozusagen mit direktem Zugang zum
sprachlich Unterbewussten:
TAKE 32 0:54 - 1:30
Ja, so war es, vor allem als wir in Island während dieser Fahrten mit diesen
Vierradantriebautos über die Pisten gefahren sind und über die Gedichte gesprochen
haben. Die Gedichte sind voller Autos. Er hat einen Autowahn.
Er, damit ist der Enkel des bekanntesten isländischen Schriftstellers Halldór Laxness
gemeint, Halldór Laxness Halldórsson, Jahrgang 1985, Rapper, Comedian und nach
seinem Studium der angewandten Theaterwissenschaften in Reykjavík und Gießen
nun auch Dichter.
„Ich bin Bauer und mein Feld brennt“ heißt seine Sammlung, aus der er heute
vorliest, ein schmales, aber wildes Buch mit Kurzprosa, Langgedichten aber auch
kurz angerissenen Ideen für skandinavische Skaldensagen, TV-Serien oder
Theaterstücke, die allesamt munter zwischen Realismus und Surrealismus hin und
her springen. Und so lässt sich auch diese Lesung an, bei der die Gäste zunächst
von einer Tonbandstimme - wie bei einer Schnitzeljagd - durchs Haus navigiert
werden:
„Nehmen sie am Klavier die Treppe nach oben, folgen sie der Treppe, bis es nach
Fisch stinkt, bis sie den Dichter aus dem hohen Norden treffen.“
Schritte
Die Gäste setzen sich in Bewegung, hoch ins oberste Stockwerk, wo Halldór
Laxness Halldorsson erst einmal seine eigenen Deutschkenntnisse parodiert. „An der
deutsche Sprecherwelt“ heißt sein Begrüßungstext. Man findet ihn auch in seinem
Buch:
Sie sind ein Deutsch. Was soll ich Ihnen Saga?
Vielleicht: Herzlichen Glückwunsch zu Ihre Nationalität? Ich werde nicht gleich
fressen Dich, und auch nicht der Menschheit Richter sein. Denn ich will tragen Deine
Kleid, und küssen Deine Frau.
Vielleicht soll ich fragen, wo ist der nächste BMW-Händler, ich brauch ein Jeep X6 ...
Ding, wie Du wissen brauch ich eins in Farbe von die Batman-Auto, das machen
kann die Reise von Freiburg nach Rostock in sehr kurz verrückte Zeit. Sowieso, ich
brauch einen. Brauch ihn sofort. Gib ihn her Mann.
In der nächsten Stunde wird es noch häufig um dicke Autos gehen. Vielleicht stammt
die Vorliebe für Statussymbole noch aus Haldórssons Zeiten als Rapper, genauso
wie der Gestus seines lyrischen Ichs, „auf dicke Hose zu machen“. Es wird jedenfalls
ordentlich Vollgas gegeben in diesen Texten, geraucht, gesoffen und geflucht.
Skurrile Ideen und geniale Miniaturen wechseln sich/einander ab, mal melancholisch,
mal pubertär-exaltiert, dann wieder ironisch und von geradezu düsterer
Endzeitstimmung geprägt. Sensible Roadtrips in die eigene Kindheit wechseln sich
mit großmäuligen Pamphleten im Stile platter Werbetexte ab. Halldór Laxness
Halldórsson spielt dabei selbst eine Art brachialen Bauern, der ordentlich zupackt auf
dem Feld der Sprache, so hemdsärmlich, bis es lichterloh in Flammen steht. Im
Vortrag ergibt sich durch das sprachliche Wechselspiel zwischen dem sich eher
vierschrötig gebenden Halldórsson und seinem betont kultivierten, feinsinnigen
Übersetzer ein unterhaltsamer Kontrast. Das gegenseitige Korrigieren mündet mehr
und mehr in einen witzigen Schlagabtausch „Seid ihr aus der Hauptstadt, Jungs?“ frag ich zum Spaß, und vierzig Kerle lachen.
Dann bauen wir weiter, im Stillen, nur das Radio plärrt.
… am Ende sogar mit überraschend melancholischem Tiefgang, wenn Halldórsson
und Filips das Gedicht lesen, mit dem auch der Gedichtband endet: „Ein neuer Tag
am Eyjafjord“
Ein großspuriger Gewinnertyp, dessen Leben aus einer einzigen Aneinanderreihung
von Erfolgen zu bestehen scheint, gesteht tiefe Verzweiflung und Trauer ob seines
toten Kindes.
Das ist der Moment. Der einzige Moment, der mich glücklich macht. Dass diese
Männer in mir einen Kumpel, einen Gleichgesinnten sehen.
Das ist alles, was ich will, und wenn ich es kriege – dann kann man mich zufrieden
neben das Kind betten, das gestorben ist.
Und in einer andern Welt baue ich Spielzeug aus Holz, und wir machen die Schritte,
die wir zu Hause nie machen durften. Sagen Worte, die wir nie lernen konnten. Und
die Trauer, die mein Herz einfror, schwebt langsam fort, und alles wird sein, wie es
sollte.
(Einblendung Klaviermusik und isländischer Gesang darüber:)
Benedict Christianson, der Mann mit den roten Kniestrümpfen singt schließlich Franz
Schuberts „Schöne Müllerin“ auf Isländisch, und draußen vor der Tür gibt es am
Ende - ganz dem Autofetisch des Autors folgend - sogar noch Autogramme in einer
nagelneuen schwarzen Luxuslimousine - inklusive intimer Privatlesung.
Können Sie mir was auf Isländisch schreiben? „Für meine liebste Nellie, die den
anarchischen Witz liebt“
Und auf dem Beifahrersitz will ich schon auf dem Förderband
Die Massen salutieren
Wie die Soldaten
-
Man muss es auch genau so lesen, hat uns großen Spaß gemacht.
Vom begnadeten Entertainer Halldór Laxness Halldórsson vorgetragen, entwickeln
seine Texte tatsächlich Wucht, Komik und viel Sympathie für das kleine eigensinnige
Volk aus dem Norden.
Mögliche Abmod: Gesa Ufer über Halldor Laxness Halldorsson und seine Berliner
Lesung aus dem Gedichtband „Ich bin ein Bauer und mein Feld brennt“. Übersetzt
von Christian Filips, und erschienen im kleinen Verlag Roughbooks
Morten Strøksnes: "Das Buch vom Meer"
Von Clemens Hoffmann
Alles beginnt mit einem lang gehegten Traum, einer fixe Idee: Hugo Aasjord hat
diesen Traum, ein etwas menschenscheuer und exzentrischer Künstler und ein alter
Freund des Autors Morten Stroksnes. Auf der winzigen Insel Skrova hoch im Norden
Norwegens malt Hugo und nebenbei baut er eine zerfallene Fischfabrik zu einem
Kulturzentrum um. Aber eigentlich will er noch etwas ganz anderes:
OT Stroksnes (Englisch mit OV)
Hugo erzählte mir von seiner Obsession, diesen Eishai zu fangen. Er hat
Jahrzehnte darüber nachgedacht und jetzt kommt dieser Wunsch an die
Oberfläche. Er will ihn fangen. Ob ich mitkommen will? Auf jeden Fall, sage ich,
ohne eine Sekunde zu zögern. Ich werde darüber schreiben! 24sec
Gesagt, getan: Ein ganzes Jahr lang versuchen der Ich-Erzähler und sein kauziger
Maler-Freund Hugo im Vestfjord, einem launischen Stück Meer vor den Lofoten den
Eishai zu fangen.
Zitator
Der Eishai ist ein Urzeitwesen, das am Grund tiefer norwegischer Fjorde bis
hinauf zum Nordpol schwimmt. Er kann größer werden als der Weiße Hai und
ist damit der größte fleischfressende Hai der Welt. Meeresbiologen haben vor
kurzem festgestellt, dass ein Eishai zweihundert Jahre alt werden kann.
Theoretisch könnte der Eishai, den wir fangen wollen, also während der
Napoleonischen Kriege geboren worden sein. 25sec
Im Schlauchboot und nur mit einer Angel bewaffnet rücken die Freunde aus. Der
verwesende Kadaver eines schottischen Hochlandrindes wird als Köder für die
Bestie zu Wasser gelassen. Ein anderes Mal ein halber Zentner Wal-Speck. Dann
heißt es abwarten. Schweigend, geduldig. Schaukelnd auf den Wellen. Eins mit den
Elementen. Eine fast meditative Stimmung.
OT Stroksnes (Englisch mit OV)
Das Meer ist geheimnisvoll! Vor allem wenn du in einem Boot sitzt, unter dir die
Tiefe. Du fischst. Dieses Gefühl, du siehst überhaupt nichts, und da unten ist
so viel Leben! Wenn etwas anbeißt, können es sehr seltsame Gestalten sein –
aufregend! 18sec
Doch das Buch vom Meer ist mehr als eine literarische Reportage über zwei
mittelalte Männer beim Fischen. Ein Zitat aus dem Alten Testament ist diesem ganz
und gar erstaunlichen Buch vorangestellt. Eine Frage Gottes an den frommen Hiob,
die den Ton vorgibt für das, was auf den nächsten 350 Seiten folgen wird.
Zitator
Bist Du zu den Quellen des Meeres gekommen und auf dem Grund der Tiefe
gewandelt?
Nun ist Autor Morten Stroksnes kein sonderlich gläubiger Mensch. Aber er hat sich
das Staunen über die Unergründlichkeit der Schöpfung bewahrt.
Ot Stroksnes (Englisch mit OV)
Ich stieß zufällig auf das Zitat und fand es sehr passend. Darum geht es doch:
Können wir die Tiefe des Meeres erfahren? Es sind so viele Dinge da unten.
Und die Antwort ist natürlich: Nein! 16,5 sec
Denn - und davon handelt dieses Buch: Das Meer ist selbst für einen Norweger ein
fremdes Universum. Obwohl mehr als zwei Drittel der Erde von Wasser bedeckt sind,
wurde bisher nur ein sehr kleiner Teil der Meeresbewohner erforscht. Vor allem die
Tiefsee birgt noch viele unergründete Geheimnisse. Überraschende Seitenlinien der
Evolution. Ihre Biologie ist nicht die unsre. Ihre Sprache auch nicht, schreibt
Stroksnes:
Zitator
Einige Lebensformen sind rund und haben keinen Kopf. Andere sehen aus wie
Schnüre oder Bänder mit pulsierendem Plasma und tanzen graziös und
offensichtlich koordiniert durchs Wasser. Eine Staatsquallenart, die Praya
Dubia, kann vierzig Meter lang werden und verfügt über dreihundert Mägen.
Eine Tintenfischart hat große Leuchtorgane an allen acht Armen. Wenn sie auf
die Jagd geht, können alle Lichter gleichzeitig blinken, sodass die Beute den
Eindruck haben muss, von einer riesigen weihnachtlichen Lichterkette
angegriffen zu werden. 34 sec
Stroksnes ist kein Meeresbiologe. Als Journalist schreibt der Norweger Sachbücher
von herausragender literarischer Qualität – über den Kongo, über die Sierra Madre
oder den Nahen Osten. Das Meer hat den 1965 im nordnorwegischen Kirkenes an
der Barentssee geborenen Autor aber schon von klein auf fasziniert. Schließlich ist er
mit dem Ozean aufgewachsen.
OT Stroksnes (Englisch mit OV)
Das gibt dir eine spezielle Verbindung zum Meer. Du verbringst so viel Zeit am
Wasser! Oder darauf - im Boot. Als Junge spielst du am Strand. Es gibt so
viele Dinge, die du tun kannst. Da ist so viel Leben. Du kannst Tiere fangen. Du
kannst die aufregendsten Fische angeln. 20sec
Drei Jahre hat Stroksnes an dem Buch gearbeitet, zur Hälfte übrigens in Berlin, wo er
eine kleine Wohnung besitzt, in die sich der in Norwegen sehr bekannte Autor
regelmäßig zum intensiven Schreiben zurückzieht. Für das „Buch vom Meer“ hat sich
der 51ährige mit unbändiger Neugier und Akribie in die Recherche gestürzt. Und
zuerst einmal: sehr viel gelesen.
Ot Stroksnes (Englisch mit OV)
Poesie, wissenschaftliche Artikel, Geschichtsbücher. Ich versuche, mich in
diese Lektüre hinein zu versenken. Ich recherchiere immer viel zu viel , und
dann muss ich auswählen und Vieles weglassen. Das ist ein sehr harter
Prozess. 19sec
Die Kunst des Weglassens beherrscht Stroksnes. Aber noch glänzender beherrscht
er die Kunst des farbigen Erzählens. In abenteuerlichen Assoziationsketten fabuliert
sich Stroksnes durch sein Material. Mischt uralte Mythen mit brandaktuellen
Problemen wie der Überfischung, der zunehmenden Meeresverschmutzung oder der
Bedeutung der Weltmeere als Regulativ für unser Klima. Wobei die eine Geschichte,
wenn ihr allmählich die Puste ausgeht, der nächsten auf den Rücken tippt und sie
wie bei einem Staffellauf weiterschickt.
Ot Stroksnes (Englisch mit OV)
Assoziativ zu schreiben, das ist ein Weg, das Manuskript zusammenzuhalten.
Man kann es falsch machen, dann ist es zu offensichtlich für den Leser und
wirkt künstlich. Ich versuche es natürlich so zu machen, dass es nicht
gezwungen wirkt. 22,5 sec
Von den Geräuschen eines Wintersturms wird Stroksnes in einen schweißtreibenden
Meeres-Alptraum geworfen. Später philosophiert er über die menschliche Furcht vor
den Gewalten der Ozeane. Während der Sturm sich zu einem Orkan auswächst, liest
er sich fest in einer frühen historischen Beschreibung sagenhafter Meeresgestalten,
um von dort auf die real existierenden Meereswunder unserer Tage zu kommen.
Zitator
Ein Tintenfisch, der 2005 in Indonesien entdeckt wurde, ist in der Lage, die
Form einer Scholle, einer Seeschlange oder verschiedener Fischarten
anzunehmen. Außerdem können die meisten Tintenfische blitzschnell Farbe
und Muster ihrer Haut verändern, um mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Die
Tintenfische der Tiefsee sind weder von oben noch von unten zu erkennen.
22sec
Morten Stroksnes spinnt dabei kein Seemannsgarn. Ein beindruckender
Quellenkatalog im Anhang belegt noch die unwahrscheinlichsten Phänomene.
Meeresbiologen hätten alle Fakten gecheckt, beteuert Stroksnes. Wobei sich „Das
Buch vom Meer“ keine Sekunde wie ein dröger Wissenschaftsessay liest. Das liegt
vor allem an der originellen Rahmenhandlung, der Jagd nach dem Eishai über der
die Jahreszeiten vergehen. Es stürmt und regnet. Oft ist das Nordmeer zu rau, um
hinauszufahren. Dann wieder glattgezogen wie ein Spiegel. Manchmal ruckelt es an
der Angelschnur, doch der Hai, das Urmonster, bleibt ein Phantom. Unserer
schaudernden Vorfreude auf die finale Begegnung tut das keinen Abbruch. Im
Gegenteil: Die Lese-Spannung steigt eher noch, mit jedem weiteren erfolglosen
Fang-Versuch. Der Schluss sei hier nicht verraten. Nur so viel: fast ein bisschen
unwillig legt man das Buch aus der Hand – ungläubig, dass das Abenteuer vorbei
sein soll, aber auch tief beglückt. Es hätte noch ewig so weitergehen können.