SWR2 Musikstunde

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Genies in der Wiege
Über Eltern großer Musiker (1-5)
Von Werner Klüppelholz
Sendung:
Redaktion:
Montag, 23. Januar 2017 - 9.05 – 10.00 Uhr
(Wiederholung von April 2013)
Bettina Winkler
Bitte beachten Sie:
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SWR2 Musikstunde mit Werner Klüppelholz
Genies in der Wiege
Über Eltern großer Musiker (1)
SWR 2, 23.01. -27.01.2017 , 9h05 – 10h00 Uhr
I
Indikativ
Dies ist eine „Musikstunde“ für die ganze Familie, für alle Väter, Söhne, Mütter und
Töchter.
Wenn auch in unterschiedlichen Prozentanteilen. Natürlich – dabei ist es kein
Naturgesetz – stehen die Väter an erster Stelle. Sie haben das musikalische
Berufsziel ihrer Söhne - ganz selten Töchter - verständnisvoll gefördert, massiv
behindert oder haben sie zum Üben geprügelt. Die Väter waren selbst
Berufsmusiker oder wären es gerne geworden, da stand einer musikalischen
Laufbahn der Söhne nichts im Wege. Andere sahen ihre Kinder durch Musik in der
Armut versinken, also unternahmen sie alles, um die Söhne von solchem Irrweg
abzubringen. Seltener sind die Fälle von familiärem Reichtum, wo’s auf Geld
ohnehin nicht ankam oder die Väter trugen berühmte Namen, die auf den
Schultern der Söhne lasteten. Die Mütter, die doch eigentlich ins Zentrum
gehörten, stehen auch in der Musikgeschichte fast immer am Rande. Ihre
Hauptaufgabe lag darin, im Generationenkonflikt zu vermitteln und die Männer
zu besänftigen, wenn sie nicht gerade selbst zur Hyäne wurden. Wie auch immer,
die Eltern großer Musiker haben die Entwicklung ihrer Kinder geprägt - und damit
deren Musik.
Schubert: Der Knabe in der Wiege D 579
D. Fischer-Dieskau, G. Moore
M 0103364 019
2’30“
Franz Schubert „Der Knabe in der Wiege“ auf ein Gedicht von Anton Ottenwald,
mit Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore.
Louis Berlioz war ein angesehener Arzt und Bürgermeister des Städtchens La
Cote-Saint-André, zwischen Grenoble und Lyon gelegen, und passionierter Leser
vor allem antiker Autoren. Der Hausrat des geräumigen Bürgerhauses an der
heutigen Rue de la République wurde bei seinem Tod auf 4500 Franc geschätzt,
der Wert seiner Bibliothek auf 6000.
Neben der vielen Arbeit übernimmt er noch die Erziehung seines elfjährigen
Sohnes Hector, den er täglich Verse von Horaz oder Vergil auswendig lernen lässt
und auch auf der Piccoloflöte unterrichtet. Musik hat für den Vater indes nur den
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Wert einer Freizeit-Belohnung; für ihn steht fest, dass der Sohn in Paris ebenfalls
Medizin studieren solle. Der fügt sich zunächst, doch vor dem Anblick der
Leichenteile in der Anatomie, an denen die Ratten nagen, vor den
Schmerzensschreien der Kranken und dem Röcheln der Sterbenden flüchtet sich
Hector immer öfter in die Oper. Die dort gehörten Arien singt er anderntags beim
Durchsägen von Schädeln. Bei einem Besuch von Glucks „Iphigenie auf Tauris“
fasst er den Entschluss, die Medizin aufzugeben zugunsten der Musik. Mit der
Androhung, die Zahlungen einzustellen, beordert der Vater Hector zurück. Wenn
schon nicht Medizin, denkt er, dann irgendein anderes Fach, aber keinesfalls
Musik, das würde nur in der Mittelmäßigkeit enden; eine Eigenschaft, die bei
Ärzten jener Zeit offenbar unbekannt war. Der Sohn bleibt bei seinem Berufsziel
standhaft und nach einigen schlaflosen Nächten stimmt der Vater einem
Musikstudium zu. Allerdings solle Hector heimlich nach Paris abreisen, damit die
Mutter nur ja nichts davon erführe. Eine sehr fromme Frau, tief im provinziellen
Katholizismus verwurzelt, für die Musiker, Dichter oder Schauspieler ein gottloses
Gesindel sind, vor dem sich ehrbare Leute hüten müssen. Und eine misstrauische
Frau, denn sie entdeckt das Komplott zwischen Vater und Sohn sofort. Kaum
stärker können Gefühlswallungen sein als bei Eltern widerborstiger Kinder. „Ihr
Vater ist schwach genug gewesen, Ihre Rückkehr nach Paris zu gestatten. Ich
widersetze mich ausdrücklich dieser Abreise. Ich beschwöre Sie, Hector, nicht in
Ihrem Wahn zu beharren. Sehen Sie, ich knie vor Ihnen, ich, Ihre Mutter, und flehe
Sie demütig an zu entsagen. Mein Gott, Mutter, stehen Sie auf, ich kann diesen
Anblick nicht ertragen. Nein, ich bleibe. (Pause) Du weigerst Dich, Unglücklicher?
Du hast, ohne Dich erweichen zu lassen, Deine Mutter zu Deinen Füßen sehen
können? Wohlan! Reise ab! Gehe und wälze Dich im Schlamm von Paris, entehre
Deinen Namen, bringe Deinen Vater und mich vor Scham und Kummer unter die
Erde! Ich verlasse das Haus, bist Du gegangen sein wirst. Du bist mein Sohn nicht
mehr! Ich verfluche Dich!“
Berlioz: Symphonie fantastique, 5. Satz
London Classical Players, Ltg. R. Norrington
Virgin 5613792 LC 7873
10’37“
Geleitet von Sir Roger Norrington spielten die London Classical Players das Finale
der „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz, dessen Eltern keinen einzigen
Takt der Musik ihres schon bald berühmten Sohnes jemals gehört haben.
Lehrzeit bei einem Seilermeister um 1700: „Da er so wenig Lust zur Arbeit hatte,
forderte er desto mehr von mir. Seine Lehrmethode war folgendergestalt. Erst trat
er hin und machte mir eine Sache zwei Mal vor, dann gebot er mir unter den
fürchterlichsten Drohungen, es auch so zu machen. Statt mir bei der Arbeit zu
Hülfe zu kommen, überließ er mich mir selbst, der ich noch in allen Kunstgriffen
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unbekannt war. Allein wenn er dann nach Tagen kam nachzusehen, was ich
gemacht hatte, so erhub sich ein solches Donnerwetter, dass mir jetzt noch die
Haare zu Berge stehen. Fluchen, Drohungen, Reden, die wie Schwerter mich
durchbohrten, und eine ungemessene Tracht Schläge, dass ich oft ohnmächtig
darnieder sank.“ Was heute Schwarze Pädagogik heißt, war damals ganz
normaler Erziehungsstil. Georg Händels Vater war Kupferschmied, ein Gewerbe,
das noch weniger durch gesteigerte Feinfühligkeit bekannt war.
Als er an der Pest starb, musste sein fünfzehnjähriger Sohn den Plan begraben,
die Rechte zu studieren. Stattdessen wurde er Barbier, was in solchen nicht allzu
spezialisierten Zeiten bedeutet, Friseur und Chirurg in Personalunion. Als
Schiffsbarbier gelangt er bis ins ferne Portugal, bevor er in Halle sesshaft,
Ehemann und mit 63 Jahren Vater von Georg Friedrich wurde. Vater Händel soll
ein verschlossener Charakter gewesen sein, streng, mürrisch und der Musik
gänzlich abhold. Für ihn steht ebenfalls fest, was sein Sohn zu studieren hat,
nämlich genau das Fach, das ihm selbst versagt geblieben war. Erstaunlich bis
auf den heutigen Tag ist freilich der Instinkt, der Kinder geradezu
schlafwandlerisch in die Richtung leitet, die zu einem erfolgreichen eigenen
Leben führt. Gegen das väterliche Verbot beschafft sich der kleine Georg
Friedrich ein Cembalo, auf dem er heimlich übt; gewiss in Komplizenschaft mit
der geliebten Mutter. „Will er Bierfiedler werden?“, ruft der Vater aus, als er
dahinterkommt. Leider sind meine Nachforschungen über die genauen
Einkommensverhältnisse von Bierfiedlern im Barock erfolglos geblieben, aber sie
scheinen ebenso als Schreckgespenst gedient zu haben wie heute die
Müllmänner; Telemann hört aus dem Munde seines Vaters die gleiche Frage. Als
Deus ex machina kommt dem jungen Händel der Herzog von SachsenWeißenfels zu Hilfe. Der hört ihn bei einem Gottesdienst die Orgel schlagen, ist
von seinem Talent höchst beeindruckt und rät dem Vater eindringlich, Georg
Friedrich zum Musiker ausbilden zu lassen. Na gut, denkt der Vater, es gibt ja
auch Klavier spielende Advokaten, stimmt widerstrebend zu und stirbt recht bald.
Händel: Toccata III
D. Calcagno, Orgel
Dynamic CDS 65
Kein LC
3’58“
Daniele Calcagno spielte Toccata III von Georg Friedrich Händel.
Dass die Väter eigenmächtig den Beruf ihrer Söhne bestimmten, war noch im 19.
Jahrhundert gängige Praxis. Dabei ließen sie sich nicht immer von dem
verständlichen Wunsch leiten, ihren Kindern sollte es einmal besser ergehen. Beim
Lehrer Franz Theodor Schubert herrschte die blanke Not. Viele hungrige Mäuler
mussten gestopft werden, dabei reichte das Geld nur für ein Brot pro Woche.
Durchaus wird die Musik in der Familie gepflegt, der Vater spielt zudem Geige in
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einem Laienorchester. Doch Musik macht nicht satt. Den Sohn Franz braucht er
dringend als Arbeitskraft in seiner Schule, die in Österreich als Privatunternehmen
geführt wurde. Äußert der junge Franz den Wunsch, Musiker zu werden, setzt es
Prügel vom Vater. Zu Franz’ ersten Kompositionen gehören die Ballade „Der
Vatermörder“ und das Lied „Leichenphantasie“, in Klammern „Die ohnmächtige
Trauer eines Vaters am Grabe des dahingeschiedenen Sohnes“. Definitiv teilt
Franz eines Tages mit, er wolle nicht Lehrer werden, der Vater erteilt ihm
daraufhin Hausverbot. Seine sterbende Mutter, die er über alles liebt, konnte er
daher nicht mehr sehen. Es kommt zu einer halbherzigen Versöhnung zwischen
Vater und Sohn und zu dem Kompromiss, doch die Lehrerbildungsanstalt zu
besuchen und gleichzeitig Unterricht bei Salieri zu nehmen. Die Zeugnisse der
Anstalt werden allerdings immer schlechter, was der Vater erneut mit Prügel
quittiert. Um ihn zu besänftigen, schreibt der Sohn eine Messe, denn Franz
Theodor ist äußerst fromm. Drei Jahre lang ist Franz Schulgehilfe seines Vaters,
aber er gleitet immer stärker in die Bohème ab, lernt Tabak und Alkohol schätzen
und auf Körperhygiene zu verzichten. Der Vater ist zwischenzeitlich
wiederverheiratet, nur elf Monate nach dem Tod seiner ersten Frau, was den
Groll des Sohnes weiter nährt. Franz Theodor wirft Franz erneut aus dem Haus, mit
der Auflage, sonntags zum Besuch des Gottesdienstes und zum Essen zu
erscheinen. Dabei steckt ihm die Stiefmutter – benannt nach dem
Aufbewahrungsort - ein wenig „Strumpfgeld“ zu. Am Sterbebett seines Sohnes
fehlt der Vater. Franz Schubert „Mein Traum“:
„Ich war ein Bruder vieler Brüder und Schwestern. Unser Vater und unsere Mutter
waren gut. Einstmals führte uns der Vater zu einem Lustgelage. Da wurden die
Brüder sehr fröhlich. Ich aber war traurig. Da befahl mir mein Vater, die köstlichen
Speisen zu genießen. Ich aber konnte nicht, worüber mein Vater erzürnend mich
aus seinem Angesicht verbannte. Da kam mir Kunde von meiner Mutter Tode. Ich
eilte sie zu sehen und mein Vater hinderte meinen Eintritt nicht. Da sah ich ihre
Leiche. Tränen entflossen meinen Augen. Von dieser Zeit an blieb ich wieder zu
Hause. Da führte mich der Vater in seinen Lieblingsgarten. Er fragte mich, ob er
mir gefiele. Doch mir war der Garten ganz widrig und ich getraute mir nichts zu
sagen. Da schlug mich mein Vater und ich entfloh. Lieder sang ich nun lange
Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich Schmerz
nur singen, ward er mir zur Liebe. So zerteilte mich die Liebe und der Schmerz.“
Schubert: Messe Nr. 1, Agnus Dei
2’49“
Jörg Hering, Harry van der Kamp, Wiener Sängerknaben, Chorus Viennensis,
Orchestra of the Age of Enlightment, Ltg. B. Weil
Sony 88697964492 LC 06868
Dies war das “Agnus Dei” aus Schuberts 1. Messe F-Dur, in einer Aufnahme unter
Bruno Weil.
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Mit Fäusten bearbeitet wurde der junge Robert Schumann nicht. Er hatte auf
andere Weise am elterlichen Erbe schwer zu tragen. Vater August ist eigentlich
Schriftsteller, der bereits einige historische Unterhaltungsromane verfasst hatte,
bevor er sich in Zwickau als Verlagsbuchhändler niederließ. Er veröffentlicht
Shakespeare, Lord Byron oder Walter Scott in eigenen Übersetzungen und im
damals revolutionären Taschenbuchformat, mit Auflagen, die zum Teil in die
Millionen gingen; selbst das eigenhändig geschriebene „Vollständige Staats-,
Post- und Zeitungslexikon von Sachsen“, vierzehn Bände, wurde zum Bestseller.
War es mangelnder Realitätssinn, gar Größenwahn, als August Schumann
begann, sämtliche Klassiker der Weltliteratur in hohen Auflagen zu drucken?
Jedenfalls konnte sich Sohn Robert der grenzenlosen Lektüre hingeben
einschließlich der neuesten Lyrik und durfte mit vierzehn Jahren überdies Artikel
für die „Bildergalerie der berühmtesten Menschen aller Völker und Zeiten“
schreiben, ebenfalls ein Buch des Vaters. Was Wunder, wenn Robert gleich
darauf seine eigene Autobiographie abfasst, denn dass er berühmt würde, war
ihm gewiss. August Schumann hat seinen Sohn verhätschelt. Kaum hatten sich
erste musikalische Neigungen gezeigt, wurde ein teurer Flügel angeschafft,
Noten besorgt und Pulte für Roberts häusliche Schüleraufführungen gebaut. Als
der fünfzehn ist, stirbt der Vater; Todesursache „Nervenschwäche“, nachdem er
schon zuvor häufig abwesend war, um in Karlsbad seine Krankheiten und
Depressionen zu kurieren. Robert hat vier Geschwister, alle früh gestorben, die
Schwester Emilie achtzehnjährig durch Selbstmord. Die Mutter Christiane
entstammt einer Medizinerdynastie, hat bei Roberts Geburt das damals
außergewöhnlich hohe Alter von 43 Jahren und ist ebenfalls schwer depressiv. Als
die Krankheit zum ersten Mal ausbricht, ist Robert drei Jahre alt und wird in eine
Pflegefamilie namens Ruppius gegeben. Hier fühlt sich das Kind sehr wohl, nennt
Frau Ruppius Mutter und wird nach über zwei Jahren von seiner leiblichen Mutter
dort wieder herausgeholt. Urvertrauen, die Grundlage einer stabilen
Erwachsenen-Identität, kann so nicht entstehen.
Schumann: Zwielicht
C. Gerhaher, G. Huber
M 0097308
3’12“
„Zwielicht“ aus Schumanns Liederkreis nach Eichendorff. Christian Gerhaher
wurde begleitet von Gerold Huber.
Vater Schumann hätte sich einer musikalischen Laufbahn seines Sohnes nicht in
den Weg gestellt. Im strikten Gegensatz zur Mutter, die nicht nur depressiv war,
sondern auch entschlossen sein konnte. Robert soll Jura studieren. Er unterwirft
sich zunächst der Mutter, geht jedoch zum Jurastudium möglichst weit weg,
nach Heidelberg. Hörsäle betritt Robert dort nur äußerst selten und führt
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stattdessen ein Lotterleben. Er besucht Tanzvergnügungen, flirtet mit allen
Mädchen und mehr, spielt Schach und Boule, verliert viel Geld beim Billard, häuft
Schulden an, ist abends zumeist sturztrunken und wenn er wieder nüchtern ist
komponiert er. In Briefen an die Mutter beschreibt sich Robert als fleißiger JuraStudent. Aus der Distanz einer Italien-Reise beschließt er, sie vor die vollendete
Tatsache eines Studienabbruchs zu stellen. „Lieber Robert! Dein letzter Brief hat
mich so tief erschüttert, da ich seit dem Empfang desselben in meinen ganz
niedergedrückten Zustand zurückgekehrt bin. Vorwürfe mache ich Dir nicht. Aber
billigen kann ich Deine Ansichten gar nicht. Wer hätte geglaubt, dass ich nach
Jahren über Dein musikalisches Talent Tränen vergießen würde. Gehe seit dem
Tode Deines guten Vaters Dein Leben durch, und Du musst sagen, dass Du nur Dir
gelebt hast. Wie wird das enden?“ Robert plagen Schuldgefühle gegenüber der
Mutter. Hinzu kommt: Der Abbruch eines Studiums – dies sagt ein unvollendeter
Germanist – hinterlässt immer ein leises Gefühl des Unerledigten. Die Universität
Leipzig hatte Mendelssohn die Ehrendoktorwürde verliehen, im zarten Alter von
27 Jahren, was Schumann auf die Idee bringt, auf diesem Weg ebenfalls einen
Titel zu erlangen. Schließlich hat er schon einiges für Klavier komponiert und gibt
seit fünf Jahren die „Neue Zeitschrift für Musik“ heraus. „Nun möchte ich
erfahren“, schreibt er, „ob die Ernennung der philosophischen Fakultät viel
Umstände mache“, und fügt etwas guttenbergartig hinzu, „viel Zeit könnte ich
freilich nicht daran setzen, da ich von Berufsarbeiten aller Art gedrängt werde.“
Die Uni Leipzig reagiert abweisend, doch in Jena erhält Schumann den
begehrten Doktortitel, so als ob er ein Studium beendet hätte. Da war seine
Mutter jedoch schon vier Jahre tot.
Schumann: Klavierquintett op. 44, 2. Satz
La Gaia Scienza
W&W 910-113-2 LC 02829
7’33“
Das Ensemble La Gaia Scienza spielte den zweiten Satz des Klavierquintetts op.
44 von Robert Schumann.
Anton Weberns Vater war Bergbau-Ingenieur, Staatsbeamter und für seine
Verdienste um das Kaiserreich mit einem Ehrendoktor belohnt; die Mutter eine
Klavier spielende Metzgerstochter, darauf beschränkte sich die elterliche Pflege
der Tonkunst. Einen einträglichen Beruf solle der Sohn ergreifen, so der Wille des
Vaters, vielleicht passend zum Landgut, das die Familie in Kärnten besaß und
Preglhof hieß. „Mein Ideal“, schreibt Anton, „ist Dirigent. Aber Vater kommt mit
Zweifeln an meinem Talent, dass ich selbst schon zweifle. Vaters Wunsch geht
dahin, dass ich Hochschule für Bodenkultur studiere und mich dann am Preglhof
setze. Du mein Gott! Und die Kunst?“ Als Kompromiss zwischen Landwirtschaft
und Kapellmeisterei dient die Musikwissenschaft, die Anton brav bis zur Promotion
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studiert, um sich dann endgültig dem Dirigieren und Komponieren hinzugeben.
Bis zu seinem Ende, da ist Anton 36, muss ihn der Vater finanziell unterstützen.
Auch konnte er nicht mehr erleben, wie die Bodenkultur die Musik seines Sohnes
beeinflusst hat, in Gestalt von Goethes Urpflanze, von der Webern später
fasziniert war. Wie er zu seiner früh verstorbenen Mutter stand, zeigt ein Brief an
seinen Lehrer Schönberg: „Liebster Freund, erlaube, dass ich Dir diesmal das Buch
Roseggers ‚Waldheimat’ unter den Weihnachtsbaum lege. Es handelt von
Roseggers Jugend. Das letzte Kapitel heißt ‚Von meiner Mutter’. Darin stehen
diese für mich unsagbar schönen Worte: ‚Endlich kam die Träne. Die Träne, die
uns einst das Mutterherz mitgegeben auf die Welt zur Linderung im Leid und zum
einzigen Trost in der Stunde, wo kein anderes Heil der Seele naht, wo die Freunde
uns nicht verstehen können und das Mutterherz gebrochen ist.’“ Von seiner
Mutter handeln Weberns Orchesterstücke op. 6, die allerdings in keiner Weise
nach Rosegger klingen. Das vierte ist ein Trauermarsch.
Webern: 6 Stücke für Orchester op. 6, Nr. 4
Berliner Philharmoniker, Ltg. Herbert von Karajan
M 0077091
4’20“