SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE, SWR2 DIE BUCHKRITIK Hakan Günday: Flucht Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe btb Verlag 478 Seiten 22,99 Euro Rezension von Stefan Berkholz Donnerstag, 17. November 2016 (14:55 – 15:00 Uhr) Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Der türkische Schriftsteller Hakan Günday wird in seiner Heimat als Kultautor gefeiert, als Provokateur, als Rebell. Günday greift Themen der Zeit auf und gießt sie in drastische Bilder. Vor zwei Jahren erschien sein erster Roman auf Deutsch, der Titel: „Extrem“. Darin erzählt der Schriftsteller eine außergewöhnliche Liebesgeschichte voller verlorener Seelen und geschundener Kreaturen. Nun hat der Verlag den zweiten Roman des 40-Jährigen Schriftstellers übersetzen lassen, der Titel: „Flucht“. Eine Geschichte von Schleusern und Menschenhändlern, in der von der Not und dem Ausgeliefertsein illegaler Flüchtlinge und den Abgründen der Menschheit erzählt wird. Stefan Berkholz hat den Roman gelesen. Autor: Gaza heißt die Hauptfigur, der anfangs neunjährige Sohn eines türkischen Schleusers und Menschenhändlers. Der Junge lernt schnell von seinem despotischen Vater, er ist der willige Gehilfe in einem fiktiven türkischen Dorf an der Ägäisküste. Hunderte von Flüchtlingen werden den Menschenhändlern dort zugeführt und dann gegen Prämie weitergeleitet. Im „Depot“, so nennen sie ihr Auffanglager, Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT schwingt sich Gaza zum Herrn über die Illegalen auf, stellt Menschenversuche mit ihnen an und wird zum Mörder. Er ist so etwas wie ein Stellvertreter für jenen Teil der Menschheit, die dem Elend der Flüchtlinge desinteressiert oder ablehnend zusieht, gegebenenfalls sogar Profit aus ihm schlägt. In Gazas Kreisen wird der Mensch zur „Ware“. All dies steckt in den drastischen Beschreibungen der Hauptfigur in Hakan Gündays Roman „Flucht“. Immerhin erhält Gaza eine Chance zur Umkehr, womöglich gar zur Läuterung. Als einziger Überlebender eines Unfalls auf einem Flüchtlingstransport erwacht der mittlerweile Fünfzehnjährige traumatisiert – und er beginnt nachzudenken, entwickelt sogar Empathie für Andere und macht sich dann auf den Weg. Er will seinem Leben und seiner Herkunft auf die Spur zu kommen. Oder vielmehr will er die Vergangenheit überwinden und nach vorne schauen, um eine neue Chance zu erhalten. „Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, hätte ich nie das Licht der Welt erblickt“, lautet der erste Satz im Roman, der später immer wieder, wie ein Leitmotiv, auf den knapp fünfhundert Seiten auftaucht. Ein Satz, der mehrdeutig ist. Begreift der Erzähler überhaupt erst „das Licht der Welt“, weil er auf der Welt ist, und, älter werdend, ansatzweise sehend wird? Oder meint es allein das Geständnis seines Vaters zu Beginn, mit dem dieser ihm einschärft, sich selbst immer der Nächste zu bleiben, egal in welche Not er gerät und egal, wer dabei auf der Strecke bleibt? Gaza erzählt seine Geschichte selbst, entstanden ist ein breit angelegter, ausufernder und facettenreicher Roman. “Sie hielten mich für ein Monster“, glaubt Gaza zu Beginn, „und ich wurde zum Monster.“ So rasch sind die Fronten Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT zwischen den Illegalen und den Schleusern geklärt. Ein Grundmotiv in Gündays Literatur ist seine Annahme, jeder Mensch befinde sich in einer Zelle. Familie, Armee, Sekte, Vereine, Parteien, irgendein gesellschaftlicher Verband schaffe die Wände, in der das Individuum befangen, ja gefangen sei. Und er, Günday, frage sich, so sagte er es in einem Interview, ob es gelingen könne, aus diesem Gesellschaftsverband auszubrechen, neu anzufangen, und welcher Preis dafür zu zahlen sei. Auf vier, fünf Seiten analysiert Günday gegen Ende – beinahe essayistisch - die Beschaffenheit gegenwärtiger (und vergangener) Gesellschaften, den Zustand unseres Zusammenlebens, die Verfasstheit des Menschen als Krieger. Die Hauptfigur Gaza gerät nach dem Unfall in ein Internat in Istanbul. Dort zählt er zu den Besten, weil er intelligent ist und diszipliniert. Er wird auserwählt und könnte ein Stipendium für Cambridge erhalten, um Anthropologie, also Menschenkunde, zu studieren. Doch er steht sich selber im Weg. Und er fantasiert immer wieder Gespräche mit jenem afghanischen Flüchtling, den er auf dem Gewissen hat, der so etwas wie sein Über-Ich wird. Schließlich wechselt Gaza die Fronten, begibt sich auf den Weg nach Afghanistan, und stellt sich die Frage, was es bedeutet, menschlich zu sein. Der Roman endet so düster, wie er begonnen hat. Hakan Günday wirft einen Blick in die Abgründe des Menschen. Er weidet Schrecklichkeiten förmlich aus, die Gewalt zwischen Menschen, den Erfindungsreichtum, wenn es darum geht, andere zu quälen, den Aufbau von Gesellschaften in Internierungslagern, ekelerregende Situationen in der Not. Der Roman „Flucht“ ist brisant und aktuell, rätselhaft und Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT spannend, ekelerregend und poetisch, sehr verwickelt und vielschichtig, doch gradlinig erzählt - und stimmig und überzeugend übersetzt von Sabine Adatepe. Hakan Günday erschafft Literatur, die berührt und bewegt und stellt Fragen, die den Leser verfolgen. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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