SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE, SWR2 DIE BUCHKRITIK Thomas Melle: Die Welt im Rücken Rowohlt Verlag 352 Seiten 19,95 Euro Rezension von Margrit Irgang Donnerstag, 13. Oktober 2016 (14:55 – 15:00 Uhr) Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Thomas Melle, 1975 geboren, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin. Er ist Autor vielgespielter Theaterstücke und übersetzte u. a. William T. Vollmanns Roman «Huren für Gloria». Sein Debütroman «Sickster» (2011) war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2014 folgte der Roman «3000 Euro», der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand. 2015 erhielt Thomas Melle, der in Berlin lebt, den Kunstpreis Berlin. Es ist das Jahr 1999, und der Student Thomas Melle ist vierundzwanzig, als sich seine Wirklichkeit auf einmal verändert. Die Menschen scheinen ihn anzustarren und über ihn zu reden. Jeder Popsong meint ihn, die Welt ist voller Zeichen, die ihm Botschaften senden. Auch seine Empfindungen haben sich verändert; in seinem Kopf feuern die Neuronen, er versucht, sich von der heftigen Energie durch zwanghaftes Reden zu befreien und tigert schlaflos durch die Straßen von Berlin. Sein Zustand steigert sich zur Aggression, er Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT randaliert auf Vernissagen und Lesungen, demoliert in Kneipen das Mobiliar; es folgen Alkoholexzesse und wahllose sexuelle Begegnungen. Endlich gelingt es Freunden, ihn zu einem Aufenthalt in der Psychiatrie zu bewegen, wo er eine Bezeichnung für seinen ihm selbst so unheimlichen Zustand erhält: Thomas Melle hat eine bipolare Störung; er ist, wie man es früher nannte, manisch-depressiv. Die manische Phase ist gekennzeichnet durch Hyperaktivität, Auflösung der Ich-Grenzen und bei manchen Betroffenen auch Wahnvorstellungen; die darauf folgende Depression ist ein Fall in tiefste Schwärze. Die Medizin vermutet genetische Ursachen, aber auch eine Hochsensibilität im Erleben und Wahrnehmen. Eine Heilung für diese Krankheit gibt es nicht. Thomas Melle wurde Dramatiker und Schriftsteller und hatte bis heute drei manischdepressive Episoden, die jeweils jahrelang anhielten. Dieses Buch ist der mutige Versuch, in das geistige, körperliche, soziale und materielle Chaos, in das die Krankheit ihn geschleudert hat, Struktur zu bringen durch das, was er zwischenzeitlich verloren hatte und sich wieder erobern will: das Erzählen. Und er erzählt schonungslos: Von Suizidversuchen und dem Wahn, der Messias zu sein, einem Gefängnisaufenthalt, getriebenem Umherreisen, ständigem Wohnungswechsel und Schuldenbergen, bis er auf der untersten Stufe der sozialen Leiter angekommen ist - in einem betreuten Wohnheim für Drogensüchtige, wo er nicht hingehört, aber immerhin ein Zimmer hat. Er spricht von seinem Zustand des „Verspulten und Danebenen“ mit Härte und großer sprachlicher Kraft und denunziert niemanden, auch nicht die Freunde, die sich nacheinander von ihm abwandten. Er klärt über die kargen Erkenntnisse der Medizin über bipolare Störung auf, und hin und wieder rappt er ein paar Szenen aus seinem wahnhaften Universum, wie man das vom Autor Melle kennt. Der Literaturbetrieb hat ihn für solche Texte gefeiert, aber mit dem Menschen, der diese oft sinnbefreiten Monologe zwanghaft von sich gab, wollten Kollegen und Kritiker dann doch nichts zu tun haben. Für Leser ist das Buch eine Zumutung; man sollte sich ihm dennoch aussetzen, denn es wirft nebenbei Fragen auf, die uns im Grunde alle angehen. Zum Beispiel die Frage: Was Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT ist das Ich, wenn es kein Gefühl mehr gibt für eine Identität, die alles zusammenhält? „Das Gefühl der absoluten Nullung“ nennt es Thomas Melle, und in den luziden Momenten, die sein Wahn ja auch hat, fragt er sich, wieso andere Menschen fraglos an ein Ich glauben. Seine Psychiatrie-Erfahrungen sind verheerend; nüchtern bilanziert er: „Die Grenzen zwischen Hilfeleistung und Übergriff sind fließend.“ Im Moment lebt er unter starker Medikation, vermeidet alle Exzesse, die seine Psyche kippen lassen könnten, und nennt es „ein Leben mit angezogener Handbremse“. Über Thomas Melle kursieren viele Gerüchte; er weiß das, und indem er die den Gerüchten immer fehlende andere Hälfte zeigt – nämlich den Bericht aus dem Inneren des Betroffenen -, erobert er sich ein Stück Deutungshoheit über sein Leben zurück. Und so ist dies auch ein Text über die Kraft des Erzählens. Zweimal war Thomas Melle schon für den Deutschen Buchpreis nominiert, mit diesem Buch steht er wieder auf der Shortlist. Er hätte den Preis verdient. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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