SWR2 MANUSKRIPT

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ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
DuMont Buchverlag, Köln 2016
350 Seiten
23 Euro
Rezension von Dina Netz
Freitag, 30.09.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren, lebt dort auch heute und gehört zu den
wichtigsten französischen Schriftstellerinnen. Sie hat ihre ersten Romane nachts
geschrieben, während sie tagsüber ihr Geld in einem Meinungsforschungsinstitut
verdiente. Sie hat zuerst unter dem Pseudonym Lou Delvig veröffentlicht, seit 2005
schreibt sie unter eigenem Namen, und 2007 gelang ihr der literarische Durchbruch mit
„No & ich“, worin eine aufgeweckte Dreizehnjährige vom Leben einer jungen Obdachlosen
erzählt. Für den Roman wurde de Vigan mehrfach ausgezeichnet. Ihr autobiographischer
Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ wurde 2011 ein Bestseller. De Vigans neues Buch
„Nach einer wahren Geschichte“ ist auch preisgekrönt: mit dem wichtigen französischen
Literaturpreis Prix Renaudot. Dina Netz hat den Roman gelesen.
Schon in ihrem vorigen Buch hat Delphine de Vigan von ihrer eigenen Mutter erzählt. Der
2011 erschienene, autobiographisch grundierte Roman hieß „Das Lächeln meiner Mutter“.
Sie beschrieb darin eine unkonventionelle Frau, die eines Tages Selbstmord beging. Nach
Erscheinen dieses Buches wurde de Vigan von ihren Leserinnen und Lesern mit Fragen
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geradezu gelöchert, was daran Wahrheit und was Fiktion sei. Dieses brennende Interesse
am Autobiographischen hat die Autorin offenbar überrascht und verstört, so dass man
ihren neuen Roman „Nach einer wahren Geschichte“ auch als Antwort auf die Reaktionen
ihrer Leser verstehen kann.
Die Erzählerin im neuen Buch ist nämlich eine Schriftstellerin namens Delphine, die
gerade einen erfolgreichen Roman über ihre Mutter veröffentlicht hat, zwei Kinder hat, die
gerade flügge werden, und mit einem Fernseh-Moderator namens François liiert ist. Alles
Informationen, die auch auf die Autorin Delphine de Vigan zutreffen. Aber natürlich ist die
Erzählerin im Buch nicht mit der realen Schriftstellerin gleichzusetzen – oder etwa doch?
Und damit sind wir schon mitten im Thema des Buches.
Es gibt aber nicht nur ein Meta-Thema, sondern auch eine Geschichte: Die Erzählerin
Delphine ist vom Erfolg ihres Mutter-Buches überrascht worden, sie ist erschöpft und
überfordert von zahllosen Veranstaltungen und Gesprächen mit Lesern. Außerdem erhält
sie anonyme Drohbriefe. In dieser angeschlagenen Verfassung lernt sie auf einer Party
eine Frau kennen, deren Namen sie mit L. abkürzt. Sie freunden sich an, und bald schon
nimmt L. in Delphines Leben eine wichtige Rolle ein. So wichtig, dass L. schließlich sogar
eine veritable Schreibblockade auslösen kann, indem sie Delphine ihr nächstes RomanVorhaben ausredet, weil es nicht genug Wahrheit enthalte. Die Leser wollten Wahres,
Authentisches, dass man ihnen vom Leben erzählt, sagt L.
Delphine entwickelt eine Schreibphobie, die so weit geht, dass sie keine Zeile mehr in den
Computer tippen oder zu Papier bringen, schließlich nicht einmal mehr E-Mails schreiben
kann. Wie gelegen kommt da L.'s Angebot, ihr zu helfen, ihre Korrespondenz zu
übernehmen und sie sogar bei einer Veranstaltung zu vertreten! Bis ihr klar wird, dass L.
nicht die Lösung, sondern die Ursache des Problems ist, ist diese schon weit in ihr Leben
eingedrungen. Viel weiter, als Delphine zunächst ahnt. Die Beziehung der beiden Frauen
endet – vorerst – in Stephen King-Manier in einem Haus ohne Kontakt zur Außenwelt, aus
dem Delphine wegen eines verletzten Fußes nicht entkommen kann. Dieser Showdown ist
vielleicht ein wenig pompös geraten. Aber wie de Vigan erzählt, wie L. wie eine Spinne ihr
Netz immer enger um Delphine herum webt, das hat echte Psychothriller-Qualitäten. Und
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diese Ebene ihres Buches kostet de Vigan auch sichtlich aus, indem sie immer neue
irritierende Details einfügt und ihre sich vor unguten Vorahnungen windenden Leser längst
ahnen lässt, dass Delphine ein williges Opfer ist, während diese noch an seltsame Zufälle
und das Gute in L. glaubt. Delphine lotet in der Retrospektion so genau die Begegnungen
mit L. und ihre eigenen Gefühle von damals aus, als rekonstruiere sie ein Verbrechen.
Und diese präzisen und zugleich empathischen Beschreibungen von Gefühlszuständen
sind eine Stärke de Vigans.
Ein Schriftsteller, der im Licht der Öffentlichkeit steht, ist ein gefundenes Fressen für
obsessive Charaktere, hat Delphine de Vigan in einem Interview gesagt. Und damit
bewusst offengelassen, ob sie tatsächlich selbst Opfer eines solchen Übergriffs geworden
ist. Sie hat lediglich durchblicken lassen, dass sie sich von wahren Begebenheiten hat
inspirieren lassen, und zitiert immer wieder den Schriftsteller Jules Renard: „Sobald eine
Wahrheit länger als fünf Zeilen ist, ist es ein Roman.“ Erzählen bedeutet nämlich immer
formen, so de Vigan, und deshalb trägt ihr Buch auch die fünf Buchstaben auf dem
Titelblatt, die Fiktion signalisieren: Roman. Doch auch zum Wahrheitsgehalt dieses
Buches wird die Autorin ganz sicher wieder viele Fragen beantworten müssen. Diesmal
wird sie davon aber nicht überrascht werden, denn sie provoziert es bewusst. Vermutlich
wird de Vigan ihren Lesern mit einem Augenzwinkern entgegentreten und wie im Buch
vergnügt, spielerisch und raffiniert mit den Ebenen Fiktion und Wahrheit jonglieren, bis den
Fragern der Kopf schwirrt.
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