SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE, SWR2 DIE BUCHKRITIK Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte Aus dem Französischen von Doris Heinemann DuMont Buchverlag, Köln 2016 350 Seiten 23 Euro Rezension von Dina Netz Freitag, 30.09.2016 (14:55 – 15:00 Uhr) Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren, lebt dort auch heute und gehört zu den wichtigsten französischen Schriftstellerinnen. Sie hat ihre ersten Romane nachts geschrieben, während sie tagsüber ihr Geld in einem Meinungsforschungsinstitut verdiente. Sie hat zuerst unter dem Pseudonym Lou Delvig veröffentlicht, seit 2005 schreibt sie unter eigenem Namen, und 2007 gelang ihr der literarische Durchbruch mit „No & ich“, worin eine aufgeweckte Dreizehnjährige vom Leben einer jungen Obdachlosen erzählt. Für den Roman wurde de Vigan mehrfach ausgezeichnet. Ihr autobiographischer Roman „Das Lächeln meiner Mutter“ wurde 2011 ein Bestseller. De Vigans neues Buch „Nach einer wahren Geschichte“ ist auch preisgekrönt: mit dem wichtigen französischen Literaturpreis Prix Renaudot. Dina Netz hat den Roman gelesen. Schon in ihrem vorigen Buch hat Delphine de Vigan von ihrer eigenen Mutter erzählt. Der 2011 erschienene, autobiographisch grundierte Roman hieß „Das Lächeln meiner Mutter“. Sie beschrieb darin eine unkonventionelle Frau, die eines Tages Selbstmord beging. Nach Erscheinen dieses Buches wurde de Vigan von ihren Leserinnen und Lesern mit Fragen Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT geradezu gelöchert, was daran Wahrheit und was Fiktion sei. Dieses brennende Interesse am Autobiographischen hat die Autorin offenbar überrascht und verstört, so dass man ihren neuen Roman „Nach einer wahren Geschichte“ auch als Antwort auf die Reaktionen ihrer Leser verstehen kann. Die Erzählerin im neuen Buch ist nämlich eine Schriftstellerin namens Delphine, die gerade einen erfolgreichen Roman über ihre Mutter veröffentlicht hat, zwei Kinder hat, die gerade flügge werden, und mit einem Fernseh-Moderator namens François liiert ist. Alles Informationen, die auch auf die Autorin Delphine de Vigan zutreffen. Aber natürlich ist die Erzählerin im Buch nicht mit der realen Schriftstellerin gleichzusetzen – oder etwa doch? Und damit sind wir schon mitten im Thema des Buches. Es gibt aber nicht nur ein Meta-Thema, sondern auch eine Geschichte: Die Erzählerin Delphine ist vom Erfolg ihres Mutter-Buches überrascht worden, sie ist erschöpft und überfordert von zahllosen Veranstaltungen und Gesprächen mit Lesern. Außerdem erhält sie anonyme Drohbriefe. In dieser angeschlagenen Verfassung lernt sie auf einer Party eine Frau kennen, deren Namen sie mit L. abkürzt. Sie freunden sich an, und bald schon nimmt L. in Delphines Leben eine wichtige Rolle ein. So wichtig, dass L. schließlich sogar eine veritable Schreibblockade auslösen kann, indem sie Delphine ihr nächstes RomanVorhaben ausredet, weil es nicht genug Wahrheit enthalte. Die Leser wollten Wahres, Authentisches, dass man ihnen vom Leben erzählt, sagt L. Delphine entwickelt eine Schreibphobie, die so weit geht, dass sie keine Zeile mehr in den Computer tippen oder zu Papier bringen, schließlich nicht einmal mehr E-Mails schreiben kann. Wie gelegen kommt da L.'s Angebot, ihr zu helfen, ihre Korrespondenz zu übernehmen und sie sogar bei einer Veranstaltung zu vertreten! Bis ihr klar wird, dass L. nicht die Lösung, sondern die Ursache des Problems ist, ist diese schon weit in ihr Leben eingedrungen. Viel weiter, als Delphine zunächst ahnt. Die Beziehung der beiden Frauen endet – vorerst – in Stephen King-Manier in einem Haus ohne Kontakt zur Außenwelt, aus dem Delphine wegen eines verletzten Fußes nicht entkommen kann. Dieser Showdown ist vielleicht ein wenig pompös geraten. Aber wie de Vigan erzählt, wie L. wie eine Spinne ihr Netz immer enger um Delphine herum webt, das hat echte Psychothriller-Qualitäten. Und Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. SWR2 MANUSKRIPT diese Ebene ihres Buches kostet de Vigan auch sichtlich aus, indem sie immer neue irritierende Details einfügt und ihre sich vor unguten Vorahnungen windenden Leser längst ahnen lässt, dass Delphine ein williges Opfer ist, während diese noch an seltsame Zufälle und das Gute in L. glaubt. Delphine lotet in der Retrospektion so genau die Begegnungen mit L. und ihre eigenen Gefühle von damals aus, als rekonstruiere sie ein Verbrechen. Und diese präzisen und zugleich empathischen Beschreibungen von Gefühlszuständen sind eine Stärke de Vigans. Ein Schriftsteller, der im Licht der Öffentlichkeit steht, ist ein gefundenes Fressen für obsessive Charaktere, hat Delphine de Vigan in einem Interview gesagt. Und damit bewusst offengelassen, ob sie tatsächlich selbst Opfer eines solchen Übergriffs geworden ist. Sie hat lediglich durchblicken lassen, dass sie sich von wahren Begebenheiten hat inspirieren lassen, und zitiert immer wieder den Schriftsteller Jules Renard: „Sobald eine Wahrheit länger als fünf Zeilen ist, ist es ein Roman.“ Erzählen bedeutet nämlich immer formen, so de Vigan, und deshalb trägt ihr Buch auch die fünf Buchstaben auf dem Titelblatt, die Fiktion signalisieren: Roman. Doch auch zum Wahrheitsgehalt dieses Buches wird die Autorin ganz sicher wieder viele Fragen beantworten müssen. Diesmal wird sie davon aber nicht überrascht werden, denn sie provoziert es bewusst. Vermutlich wird de Vigan ihren Lesern mit einem Augenzwinkern entgegentreten und wie im Buch vergnügt, spielerisch und raffiniert mit den Ebenen Fiktion und Wahrheit jonglieren, bis den Fragern der Kopf schwirrt. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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