ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER AUGUST 2016 Dokumentationsstätte zu Kriegsgeschehen u n d ü b e r Fr i e d e n s a r b e i t S i e v e r s h a u s e n e .V. ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER AUGUST 2016 Antikriegshaus Sievershausen Kirchweg 4A 31275 Lehrte Tel.: 05175-5738 mail: [email protected] Liebe Freundinnen und Freunde des Antikriegshauses Freitag, 5. August, 19.30 Uhr Manch einer mag froh sein darüber, dass inzwischen weniger Flüchtlinge nach Deutschland gelangen, scheint doch so ein innergesellschaftlicher Konflikt entschärft. Aber ist tatsächlich irgendeine Lösung damit gefunden, dass die sog. Balkanroute verschlossen wurde? Inzwischen kommen wieder die meisten Flüchtlinge auf unsicheren Booten übers Mittelmeer nach Italien, das heißt, es ertrinken auch wieder mehr Menschen, ohne dass dies groß registriert wird in der Öffentlichkeit, obwohl das doch ein Ausgangspunkt war für die Empörung vor zwei Jahren. Und wegen des „Deals“ mit der Türkei verschließen wir alle die Augen vor dem Krieg der Türkei gegen die Kurden im eigenen Land. Es ist eben einfacher, den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren zu benennen als sich für die heutigen Opfer von Krieg und Unterdrückung einzusetzen, wenn man den Verursacher in der Flüchtlings-Fernhaltung doch dringend braucht. Dabei machen wir uns etwas vor, wenn wir meinen, die „Flüchtlingsfrage“ sei nun – halbwegs – gelöst. Wir sehen an dem gescheiterten Putsch in der Türkei, dass ganz schnell auch neue Fluchtursachen entstehen können. Zwar wird regelmäßig darauf hingewiesen, dass „Fluchtursachen bekämpft“ werden müssen, aber eine Diskussion darüber, was diese Worthülse bedeutet, wird nicht geführt. Deutschland zahlt immer noch nicht den von der UN geforderten 0,7%igen Beitrag zur Entwicklung der armen Länder, stattdessen wird dieser Beitrag jetzt schöngerechnet durch die Kosten, die die Flüchtlinge bei uns „verursachen“. Dabei liegen die wirklichen Ursachen ganz woanders, und das ist auch bekannt: nicht nur der immer noch nicht überwundene Kolonialismus trägt zur Armut und Unterentwicklung vor allem in Afrika bei, auch der Klimawandel verursacht gerade in Afrika schon heute in der Landwirtschaft erhebliche Schäden, die zur existenziellen Not und damit zur Migration führen. Und die Kriege, die die USA und ihre Verbündeten weltweit führen, schaffen in ganzen Regionen Instabilität und neue Fluchtbewegungen. Inzwischen sind rund 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, wobei Europa wahrlich am wenigsten betroffen ist. Friedensarbeit im Fadenkreuz Der armenische Friedensaktivist Georgi Vanyan zu Gast im Antikriegshaus Doch Europa versucht immer noch, die Flüchtenden an seinen Außengrenzen zu stoppen und investiert Unsummen dafür, diese immer undurchlässiger zu machen. Es wäre sinnvoller, endlich die Realitäten anzuerkennen, statt nur unseren Reichtum sichern zu wollen. Ein Blick auf die Weltkarte der aktuellen Kriege und gewaltsamen Konflikte zeigt, dass die meisten davon in Afrika stattfinden. Europa muss ein fundamentales Interesse daran haben, zusammen mit den Vereinten Nationen und den Völkern Afrikas ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, wie Afrika einen nachhaltigen und friedlichen Entwicklungspfad einschlagen kann. Das bedeutet eben auch, dass Europa freiwillig von seinem Reichtum abgeben muss und nicht nur Almosen zahlt. Wie beim Klimawandel, den wir in seinen Ausmaßen auch noch nicht vollständig begriffen haben, kommt ansonsten eine weitere Katastrophe auf uns zu. Die Änderung der Verhältnisse beginnt in den Köpfen. Daran arbeiten wir. Herzlichst Ihr Berndt Waltje Inhalt Update: Flucht und Migration EU-Abkommen zur Abschottung Kriege weltweit Das sagen die anderen (Guerot im freitag) Pressemitteilung der AGDF zum Weißbuch Einladung zum Stiftungsempfang Die positive seite 1 Besuch aus Kolumbien Neues Buch von Michael Kopatz ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER AUGUST 2016 Flucht und Migration Es kommen deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland, die angespannte Lage in den Kommunen entspannt sich, Erstaufnahmelager werden geschlossen, das BAMF meldet Fortschritte bei der Bearbeitung der Asylanträge, das gereizte Klima in der Bevölkerung hat sich abgekühlt. Alles gut also? Keineswegs. Es mehren sich die Berichte über gesunkene Flüchtlingsboote im Mittelmeer. Zwar scheint die Route von der Türkei auf griechische Inseln kaum noch genutzt zu werden – Erdogan erfüllt das Abkommen mit Europa –, dafür kommen wieder mehr Flüchtlinge von Libyen aus in Richtung Italien. Die Route ist weitaus gefährlicher als die Griechenland-Route, also gibt es auch mehr Tote. Zumindest in den deutschen Medien ist das kaum einer Erwähnung wert, seit Jahresbeginn wurden allerdings schon mehr als 3000 Tote gezählt. Es steht nach wie vor die Abriegelung im Vordergrund – man möchte Flüchtlinge möglichst draußen halten und spricht gern von „illegaler Migration“. Wie Italien mit der Steigerung der Flüchtlingszahlen fertig wird, interessiert erst, wenn diese wieder in großen Zahlen nach Norden wandern. Man verstärkt die EU-Mission „Sophia“ (ausgerechnet Sophia = Weisheit) im Mittelmeer, um gegen die verstärkte Nutzung dieser Route gewappnet zu sein. Die EU einigt sich auf Regeln für zügigere Asylverfahren und schnellere Abschiebungen und versucht, Abkommen über die Rücknahme von Flüchtlingen abzuschließen (siehe extra Seite), Beispiel Türkei. Wenn Länder in Nordafrika nicht kooperieren, sollen sie bestraft werden. Pro Asyl sagt zu dieser Strategie: „Wir können als Europäer nicht die Augen davor schließen, dass wir es in der Welt mit Flucht zu tun haben und die Menschen Schutz brauchen. Jetzt versucht man, sich freizukaufen und andere Staaten aufzurüsten nach dem Motto, aus den Augen aus dem Sinn, sollen doch andere sich mit Flüchtlingen herumschlagen, Hauptsache nicht wir Europäer.“ Das ist schäbig. Europa steht mit diesem Verhalten nicht allein. Die Entwicklungsorganisation Oxfam stellt in einer aktuellen Analyse fest, dass die 6 größten Volkswirtschaften der Welt – die USA, China, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbri- tannien – weniger als 10% der weltweit registrierten Flüchtlinge aufgenommen haben, während 6 deutlich ärmere Länder – Jordanien, Türkei, Pakistan, Libanon, Südafrika und Palästina – mehr als 50% dieser Flüchtlinge Zuflucht gewähren. „Die wirtschaftlich Großen machen sich mehrheitlich ganz klein, wenn es um den Flüchtlingsschutz geht“, so ein Oxfam-Sprecher. Immer wieder wird betont, dass Fluchtursachen bekämpft werden müssen. Das bleibt solange hohle Phrase, bis nicht tatsächlich Entwicklungspolitik und Hilfsfonds mit massiv erhöhten Budgets ausgestattet und die ausbeuterischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen reichen und armen Ländern verändert werden, um armen Ländern nachhaltig zu helfen. Die im September 2015 verabschiedeten UN-NachhaltigkeitsZiele fordern dies zu Recht, die reichen Staaten aber schotten sich ab, auch in einer Situation, die zeigt, dass dies langfristig nicht funktionieren wird. Menschen sind immer migriert, wenn die Lebensbedingungen in der Heimat von großer Not und Gewalt geprägt waren. An der Veränderung solcher Lebensbedingungen gilt es zu arbeiten. Das Auswärtige Amt in Deutschland hat das besser erkannt als das Verteidigungsministerium, das sich inzwischen der „Vorneverteidigung“ in anderen Ländern verschrieben hat. In seiner Eröffnungsrede auf der AA-Konferenz „Krisenprävention weiter denken“ sagte Außenminister Steinmeier am 5.7. zum Engagement für die Beilegung von Krisen: „Wir tun das aus außenpolitischer, aus humanitärer Verantwortung. Aber nicht nur das. Wir tun das auch mit Blick auf unser eigenes Land! Denn mit den Abertausenden, die hier bei uns Schutz suchen vor Krieg und Gewalt, sind die Krisen längst bei uns zu Hause angekommen.“ Und wichtiger: „Für einen tragfähigen Frieden braucht es mehr [als ein Friedensabkommen]: nämlich ein langfristiges Engagement zugunsten gesellschaftlicher Stabilität. Nahrung, Schutz vor Gewalt, Hilfe bei Krankheit. Und wirtschaftliche Entwicklung, Jobs für die Menschen.“ Unter dem Stichwort „Peacelab 2016“ sollten auf dieser Konferenz die Erwartungen an den zukünftigen Einsatz für Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge mit internationalen ExpertInnen und 2 ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER PraktikerInnen der Zivilgesellschaft diskutiert werden, darunter auch unser Netzwerk „Plattform zivile Konfliktbearbeitung“. Im neuen Weißbuch des Verteidigungsministerium stehen zwar auch gute Sätze, die in ihrer Allgemeinheit jederzeit zu unterschreiben sind, aber Herausforderungen sehen die Militärs z.B. auch in der Gefährdung der Transport- und Handelslinien und der Sicherheit der Rohstoff- und Energieversorgung“ und den daraus resultierenden Auswirkungen auf den „Wohlstand unseres Landes“. Für eine solche Äußerung ist Bundespräsident Köhler noch zurückgetreten. Und wenn das Verteidigungsministerium immer mehr Geld fordert – und bekommt – fehlt dieses Geld in genau den Feldern, wo wirkliche Krisenprävention betrieben wird. Das eklatante Missverhältnis der Budgets für zivile Konfliktbearbeitung und Militäretat zeigt das deutlich. Und obwohl Deutschland zu den Ländern gehört, die eine Menge Hilfsgelder bereitstellen, so ist doch auch wahr, dass die geforderten 0,7% des Bruttosozialprodukts für entwicklungs politische Aufgaben noch nie erreicht wurden, sondern gerade mal die Hälfte davon. Wenn die Länder des Westens es ernst meinen mit der Bekämpfung von Fluchtursachen, dann muss z.B. zur Sprache kommen, dass subventionierte Agrarprodukte in Afrika zu Dumpingpreisen angeboten werden und dort lokale Märkte zerstören, es muss der organisierte Landraub zur Sprache kommen, der den Kleinbauern die Lebensgrundlage nimmt, es muss von der Nutzung von Ackerflächen für Biokraftstoffe oder Tierfutter für die reichen AUGUST 2016 Länder anstatt für Nahrungsmittel für die einheimische Bevölkerung die Rede sein. Es gibt so viele solcher Beispiele, die zur Verarmung der betroffenen Länder führen und damit eben zur Migration. Das ist der Hintergrund von sog. Wirtschaftsflüchtlingen, aber das wird bei uns nicht thematisiert, weil wir die Gewinner der Globalisierung sind. Auch die Rüstungsexporte in Krisenregionen dienen gerade nicht der Bekämpfung von Fluchtursachen, sondern befördern sie noch. Hier wird die Heuchelei unserer Politiker besonders deutlich, die eher die Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie schützen wollen als die Menschen in Kriegsregionen. Aber auch für die geflüchteten Menschen, die es bis nach Deutschland geschafft haben, muss mehr getan werden als in Abschreckungspolitik zu verharren. Ein „Integrationsgesetz“ genanntes Instrument zur Reglementierung und Sanktionierung von Asylsuchenden dient gerade nicht der Integration. Dieses Land hat gezeigt, dass eine enorme Hilfsbereitschaft und Offenheit gegenüber den Flüchtlingen existiert, es mangelt eher an der Flexibilität der Behörden und an dem Umdenken der Politik. Statt das Asylrecht immer weiter auszuhöhlen und die Abschottung voranzutreiben, sollte es eine wirkliche Politik der Hilfe geben. Krieg, Folter und Armut sind die Hauptursachen von Flucht, diese Menschen verdienen unser Mitgefühl und eine Hilfe in Würde. Nichts anderes wollten wir auch für uns, sollten wir uns einmal in dieser Situation finden. Berndt Waltje Die Abkommen der EU z.B. Türkei türkischen Küste nach Griechenland kommen, stark verringert, die Türkei hat das Abkommen bisher eingehalten. Dagegen hat die EU gerade einmal 800 syrische Flüchtlinge aus der Türkei legal einreisen lassen und die Visafreiheit auf die lange Bank geschoben. Am 20.3.16 trat das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft. Es sieht vor, dass in Griechenland ankommende Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden können. Im Gegenzug werden bis zu 72.000 syrische Flüchtlinge legal aus der Türkei in die EU umgesiedelt. Dafür bekommt die Türkei bis 2018 6 Mrd Euro für syrische Flüchtlinge, neue Versprechungen bzgl. des EU-Beitrittsprozesses und die Aussicht auf Visafreiheit für Reisen ihrer BürgerInnen in die EU. Durch das Abkommen hat sich die Zahl der Flüchtlinge, die von der 3 ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER 4 AUGUST 2016 ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER AUGUST 2016 z.B. Libyen Im Juli 2016 beschlossen die Außenminister der EU, ihre Marine-Mission „Sophia“ vor der libyschen Küste um ein Jahr zu verlängern und bis nach Kreta und Ägypten auszuweiten. Neben dem fortgesetzten Kampf gegen Schlepper sollen nun die libysche Küstenwache und Marine Unterstützung erhalten. Deutschland kündigte an, zu diesem Zweck zehn Millionen Euro in einen „Hilfsfonds“ für Libyen einzuzahlen. Und ähnlich wie beim Deal mit der Türkei und afrikanischen Staaten wie Mauretanien gibt es Überlegungen, das gesamte „Management“ der Flucht- und Migrationsbewegungen zukünftig auf libyschem Territorium abzuwickeln. und Eritrea sollen Grenzpatrouillen ausbilden und Aufnahmelager errichten. Zudem wird Überwachungstechnologie geliefert, um eine biometrische Datenbank zur Kontrolle von Flüchtlingen aufzubauen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Regierungen die Technologie zur Unterdrückung ihrer eigenen Bevölkerung einsetzen. z.B. Mauretanien Mauretanien hat von Spanien und Europa Geldbeträge in Millionenhöhe erhalten, wovon ein Großteil in die Sicherung der Grenzen geflossen ist. Grenzen, die zuvor keine Bedeutung hatten, weil innerhalb Westafrikas Freizügigkeit herrschte, wurden aufgerüstet (vgl. den Artikel „Nachdenken über Grenzen“ im letzten Newsletter). Auch Entwicklung und Entwicklungshilfe werden in den Dienst der Migrationsverhinderung gestellt. Nutznießerin der Zahlungen ist nicht die Bevölkerung, sondern Polizei, Küstenwache, Armee und Verwaltungseinrichtungen. z.B Eritrea und Sudan Auch mit den Regierungen am Horn von Afrika, die sich systematischer Menschenrechts verletzungen schuldig gemacht haben und häufig selbst der Grund sind, warum Menschen fliehen, wird über den Aufbau eines effektiven Migrations- und Grenzmanagements verhandelt. Unter Federführung der staatlichen deutschen Entwicklungshilfeorganisation GIZ setzt die EU das Programm „Better Migration Management“ um. Das Ziel: Sudan Quelle: medico-rundschreiben 2/16 en r e d n a e i d n Das sage Eine Nation am Scheideweg von Ulrike Guérot und Christian Schüle, erschienen im freitag 21.7.2016 Jedes Mal, wenn ein im jeweiligen Land geborener Attentäter seine Landsleute erschießt oder in die Luft sprengt, folgt seitens der verantwortlichen Regierungen die gleiche Reaktion: Man spricht von Krieg, verspricht den kompromisslosen Kampf und denkt zur Sicherung von Sicherheit sofort an Aufrüstung. Polizeiarbeit und Sondereinsatzkommandos mögen unverzichtbare Instrumente eines wehrhaften Staats sein, vor allem aber sind sie eine reaktive Variante. Bei allem Verständnis für Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung nach dem brutalen Angriff von Nizza: Die Anrufung bellizistischer Stärke ist ein Zeichen von Schwäche. Überwachungskameras ver- hindern das nächste Attentat ebenso wenig wie 10.000 neue Reservisten. Die Kriegsrhetorik ist nicht mehr als patriotischer Kitt. Wer zustimmt, dass es eine Tat wie in Nizza nie wieder geben sollte, der muss eher die Defekte und Versäumnisse der französischen Einwanderungspolitik und der fehlgeleiteten Inklusion unter die Lupe nehmen, die die Radikalisierung gefördert haben. Nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass ein Pass-Franzose heute eben noch lange kein ebenbürtiger Franzose ist. Die république hat ihre beurs – junge Franzosen mit Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern – jahrzehntelang alleingelassen. Das führt dazu, dass sich bestimmte Schichten von Bürgern mit Migrationshintergrund nicht 5 ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER bürgerlich anerkannt und politisch vertreten fühlen. 2005 mussten sie sich vom damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy bei Ausschreitungen in Pariser Vororten sogar als „Gesindel“ beschimpfen lassen. Und wenige wissen wohl, dass – mitten in Europa – in den Vierteln der so Ausgegrenzten ab 19 Uhr Sperrstunde herrscht. Es geht also um Entwürdigung. Aus ihr wachsen gewaltbereite Menschen, die sich als Verlierer begreifen und sich dann „kurzfristig“ religiös radikalisieren. Einheimische Einzeltäter, die sich an der Gesellschaft rächen und ihre Rache heilsgeschichtlich bemänteln. Gelingende Integration bedeutet Pflicht zur Teilnahme, aber auch ein Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft. Auch bei der Tat von Nizza könnte man nach tiefer liegenden Gründen fragen. Man könnte etwa fragen, warum nicht längst Legionen gut entlohnter Sozialarbeiter in den Banlieues eingesetzt werden. Statt Bellizismus wäre Prävention das klügere Programm. Die nachhaltigste Sicherheitsgarantie für eine Gesellschaft sind sozialer Frie- AUGUST 2016 den und soziale Anerkennung. Das ist keineswegs sozialromantisch naiv, sondern durch Studien belegt. Demnach profitieren von frühkindlichen Betreuungsangeboten vor allem Kinder mit Migrationshintergrund – und je früher eine gezielte Förderung ansetzt, desto prägender wird sie. Bildung schafft die Voraussetzungen für weitere Bildung, frühe Motivation ist der effektivste Motor für lebenslange Motivierbarkeit. Man weiß seit langem, dass neben gut ausgebildeten Lehrern die individuelle Förderung jedes einzelnen Schülers nötig ist, um gute Bildungsergebnisse zu erzielen. Langzeitstudien aus den USA zeigen, dass die öffentliche Hand für jeden Dollar, den sie in Kinder aus sozial benachteiligten Familien investiert, später das bis zu Siebenfache zurückerhält. Aber: Mit Sozialarbeitern kann man den Exportüberschuss nicht steigern, und die europäische Sparpolitik hat die öffentlichen Haushalte totgeschrumpft. Für das öffentliche Wohl ist in der EU leider kein Platz. Pressemitteilung der Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) „Veraltete Diagnose und Rezepte“ - AGDF kritisiert neues Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik Bonn, den 14. Juli 2016 Aus Sicht der evangelischen Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) ist der inhaltliche Ansatz des neuen „Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ überholt. „Die Erfahrungen zeigen, dass es illusorisch ist, mehr Sicherheit durch Aufrüstung und Militärinterinventionen erreichen zu wollen. Bereits die Analyse der Bundesregierung greift zu kurz: Als Bedrohungen werden ganz unterschiedliche Phänomene wie Terror, Cyberangriffe, hybride Kriegsführung, fragile Staaten, Aufrüstung, ‚die Bedrohung des freien Welthandels´, Klima oder Migration aufgezählt. Ursachen für eine Unsicherheit seien neue Techniken, Globalisierung und Digitalisierung als Treiber eines gewaltigen Um bruchs“, kritisiert Jan Gildemeister (Bonn). Völlig ausgeklammert würden hingegen im Weißbuch die weltweite wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit, die Konflikte befeuere und Menschen in die Migration treibe, der immense Ressourcenverbrauch der Industrieund Schwellenländer, der den Klimawandel beschleunige, was ebenfalls Fluchtbewegungen verursache, der wachsende Waffenhandel auch in Krisenregionen, von dem deutsche Rüstungskonzerne profitieren würden, und die Gefahr, die von Atomwaffen und deren Modernisierung ausgehe, meint der AGDFGeschäftsführer. Zwar werde im Weißbuch auch die Notwendigkeit ziviler Maßnahmen genannt, aber letztlich 6 ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER gehe es um mehr Soldaten und mehr Geld für eine Aufrüstung der Bundeswehr, betont der evangelische Friedensverband. Dabei werde aber ausgeblendet, dass militärische Interventionen in den letzten Jahrzehnten nie zur Lösung von Konflikten beigetragen, sondern letztlich zu noch größerem Leid geführt hätten. Gildemeister: „Sie tragen nicht zu mehr Sicherheit in Deutschland bei, sondern be fördern vielmehr den islamischen Terror.“ Erforderlich ist nach Auffassung der AGDF vielmehr, dass Deutschland einen entschiedenen Beitrag dazu leiste, die weltweite Ungerechtigkeit abzubauen, den Klimawandel zu verlangsamen und Instrumente der Krisenprävention und der zivilen Konfliktbearbeitung auszubauen. So werde mittel- und langfristig der Nähr- AUGUST 2016 boden für Flucht und Terror entzogen, könnten fragile Staaten an Stabilität gewinnen. „Terroristische Verbrechen müssen mit polizeilichen und juristischen Mitteln bekämpft werden. Eine Politik der gemeinsamen Sicherheit ist nicht nur gegenüber Russland das Mittel der Wahl, dazu gehören auch einseitige Schritte, um Abrüstungsprozesse in Gang zu setzen. Zugleich muss die Bundesregierung auf eine aktive Friedenspolitik der EU, eine Stärkung der OSZE und des Europarates sowie der zivilen Aktivitäten der UN drängen - anstatt die NATOBündnispolitik hoch zu halten“, macht Jan Gildemeister nachdrücklich deutlich. Stiftung Frieden ist ein Menschenrecht Stiftungsempfang am 26. August 2016 um 18 Uhr Seit 2014 existiert die Stiftung Frieden ist ein Menschenrecht und sie hat sich in diesen zwei Jahren gut entwickelt. Es ist darum an der Zeit, einmal öffentlich Bilanz zu ziehen und Danke zu sagen. Für eine Gesprächsrunde ‚Frieden ist ein Menschenrecht - zwischen Utopie und Aufgabe‘ zu grundsätzlichen und aktuellen Fragen und Herausforderungen zum Thema der Stiftung haben wir die StiftungsbotschafterInnen Maria Flachsbarth, Matthias Miersch und Martin Schindehütte eingeladen. Im Anschluss gibt es Gelegenheit zu persönlichen Gesprächen bei einem kleinen Imbiss. . Beginnen möchten wir mit einer Nagelkreuzandacht um 18.00 Uhr in der St. Martinskirche gleich nebenan, ab 18.30 Uhr sind wir in den Räumen des Antikriegshauses. 18.00 Uhr Nagelkreuzandacht in der St. Martinskirche Sievershausen 18.30 Uhr Begrüßung im Antikriegshaus 19.00 Uhr Gesprächsrunde ‚Frieden ist ein Menschenrecht - zwischen Utopie und Aufgabe‘ mit Martin Schindehütte (ehem. Auslandsbischof der EKD), Dr. Maria Flachsbarth (MdB u. Staatssekretärin/ CDU) und Dr. Matthias Miersch (MdB/SPD), (Moderation: Elvin Hülser) ; danach informelles Beisammensein bei kleinem Imbiss 7 ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER AUGUST 2016 Seite Die positive Andor Izsák, Musikprofessor und Botschafter unserer Stiftung Frieden ist ein Menschenrecht, hat die Stadtplakette Hannovers erhalten – nach der Ehrenbürgerschaft die höchste Auszeichnung, die Hannover zu vergeben hat. Gewürdigt wurde Izsák als „musikalischer Brückenbauer“, der sich um den interreligiösen Dialog verdient gemacht hat. Er widmet sich in der Villa Seligmann dem Erhalt der jüdischen Musik, die einst in den Synagogen Europas erklang. Wir gratulieren ganz herzlich! Naoto Kan, ehemaliger Premierminister Japans, erhielt den Preis „Courage beim Atomausstieg“, gestiftet von den „Stromrebellen“ der Elektrizitätswerke Schönau. Naoto Kan war im März 2011 im Amt, als sich die Atomkatastrophe in der Präfektur Fukushima ereignete. Durch sein entschlossenes Handeln konnte er Schlimmeres verhindern. Infolge dieser Erfahrungen wurde Kan zum entschiedenen Gegner der Atomenergie, er ließ sämtliche AKWs abschalten und begann, eine Energiewende in Japan einzuleiten. Kan wurde geehrt für sein radikales Umdenken in der Atompolitik und sein entschiedenes Eintreten für erneuerbare Energien. s riegshau ik t n A im n e Aktivität Besuch aus Kolumbien Am 14. Juni besuchte Silvia Hesse, die frühere Leiterin des Agenda 21-Büros der Stadt Hannover, zusammen mit Raúl Sotelo Díaz aus Kolumbien und José aus Nürnberg, der als Übersetzer dabei war, das Antikriegshaus Sievershausen. Raúl Sotelo Díaz vertritt die Nichtregierungsorganisation CORPOMANIGUA, die ihren Sitz in Florencia, der Hauptstadt der südlichen Provinz Caquetá hat. Caquetá gehört zu den drei Schwerpunktregionen, die bei der Umsetzung friedensschaffender Maßnahmen und der Gestaltung lokaler Friedensordnungen in den Regionen von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ausgewählt wurde. Eine Provinz, die vom Konflikt gezeichnet ist und in denen die Rebellenorganisationen FARC und ELN operieren, wo also der Frieden entscheidende Veränderungen bringen könnte. Raúl suchte während seines Aufenthaltes in Deutschland den Kontakt zu Friedens organisationen wie dem Antikriegshaus, um über die aktuelle Situation in Kolumbien zu sprechen, wo nach Abschluss der Friedensverhandlungen zwischen Regierung und der FARC jetzt enorme Post-Konflikt-Aufgaben angegangen werden müssen, um wirklichen Frieden zu erreichen. In dem zweistündigen Austausch, an dem auf Seiten des Antikriegshauses unsere Präsidentin Gisela Fähndrich und Berndt Waltje teilnahmen, beschrieb Raúl, dass in den nunmehr 50-jährigen kriegsähnlichen Auseinanderset- 8 ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER zungen das Vertrauen der Bevölkerung in eine friedliche Zukunft weitgehend verloren gegangen ist. Kolumbien ist nach Syrien das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen. Florencia z.B. besteht inzwischen zur Hälfte aus Flüchtlingen, die am Rande der Stadt in z.T. armseligen Behausungen leben. Die Menschen der abgelegenen Regionen, wie Caquetá eine ist, haben am meisten die Grausamkeiten des bewaffneten Kampfes ertragen müssen – sowohl von Seiten der Rebellenorganisationen FARC und ELN als auch von Seiten des Militärs und Paramilitärs. Sie sind geprägt von Gewalt und Verzweiflung. Deshalb geht nach dem Friedensabkommen die Arbeit von CORPOMANIGUA erst richtig los. Es ist eine Menge Arbeit zu leisten: Nach Jahrzehnten bewaffneten Konflikts brauchen die Menschen Entschädigung und Rat und Begleitung, um die Prozesse von Rückkehr, Umsiedlung, Wiedereingliederung und Existenzsicherung zu bewältigen. Sie brauchen einen Zugang zur Wahrheit und Aufarbeitung des Geschehens, und möglichst Garantien, dass so etwas nie wieder passiert. Und sie brauchen Versöhnung. Lokale Organisationen wie CORPOMANIGUA sind für den Friedensprozess, der ja mit der Aushandlung des Friedensabkommens zwischen Regierung und FARC erst beginnt, enorm wichtig. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in der Unterstützung solidarischen Wirtschaftens, in Bildungsarbeit, in der Stärkung der Rolle der Frauen im Friedensprozess und in der Verbesserung der Lebensverhältnisse aller. Sie wollen nicht auf die Regierung bauen – hier ist durch die Gewalt viel Vertrauen AUGUST 2016 zerstört worden – sondern wollen, dass neue Ideen und Vorschläge von den Frauen und der Jugend in den Friedensprozess einfließen, denn diese sind die Bevölkerungsgruppen, die am härtesten von dem Konflikt betroffen sind. Damit Friedensvereinbarungen nachhaltig umgesetzt werden, muss im ganzen Land die Er kenntnis wachsen, dass Gewalt – egal von welcher Seite – gesellschaftliche Probleme nicht löst, sondern verschärft. Um diese Erkenntnis in den Köpfen zu verankern, braucht es Fachleute. Wir verwiesen in dem Gespräch auf das Forum Ziviler Friedensdienst, die in ihrer Akademie für Konflikttransformation in Köln Fachkräfte in ziviler Konfliktbearbeitung ausbildet. Dafür gibt es teilweise auch Stipendien des Landes Nordrhein-Westfalen. Dieser Hinweis wurde dankbar aufgegriffen, hier sollen Kontakte geknüpft werden. Auch haben wir angeboten, junge AktivistInnen aus Kolumbien in unser Internationales Workcamp einzubeziehen, denn auch hier geht es um Methoden der friedlichen Auseinandersetzung. Vielleicht gelingt es uns ja, die Entwicklung in Kolumbien durch Raúl Sotelo Díaz und CORPOMANIGUA weiter zu verfolgen und ab und zu darüber zu berichten. Hintergrundberichte zum Konflikt in Kolumbien finden Sie im Dossier von Caritas international und Diakonie Katastrophenhilfe „Basta ya! - Kolumbiens Krieg und die Hoffnung der Menschen auf ein Ende der Gewalt“ unter www.welt-sichten.org/dossiers/2016. Impressum: Newsletter August 2016 Antikriegshaus Sievershausen Kirchweg 4A 31275 Lehrte-Sievershausen [email protected] Tel: 05175-5738 Öffnungszeiten: di, fr 10-17 Uhr, sa 15-17 Uhr www.antikriegshaus.de Konto bei der Evangelischen Bank eG IBAN DE13520604100000006076 BIC GENODEF1EK1 Inhaber: Kirchenkreisamt Burgdorfer Land 9 ANTIKRIEGSHAUS NEWSLETTER AUGUST 2016 Buchneuerscheinung von Michael Kopatz: »Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten« Macht »Öko« zur Routine! eine Vielzahl derartiger, konzeptionell leicht umsetzbarer, Standards und Limits. Viele davon sind gelebter Verbraucheroder Tierschutz, etwa eine verlängerte Garantiezeit für Elektrogeräte oder das schrittweise Aus für die Käfighaltung von Hühnern. Andere wiederum wirken radikal, beispielsweise die Forderung nach Obergrenzen für Flughäfen, Straßenbau und Wohnflächen. »Ökoroutine« trägt dem wachsenden Umweltbewusstsein unserer Gesellschaft Rechnung. Was wir zur Durchsetzung brauchen, sind mutige und entschlossene Entscheidungsträger sowie aktive Bürger, die dabei helfen, unser Leben und Wirtschaften insgesamt umweltfreundlicher zu gestalten. Damit unser Alltag einfacher und lebenswerter wird. Michael Kopatz, »Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten«, 416 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-86581-806-5, 24,95 Euro / 25,70 (A). Auch als E-Book erhältlich. Über 90 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger wünschen sich mehr Klimaschutz, doch im Alltag fällt es uns enorm schwer umzusetzen, was wir für richtig halten. Moralische Appelle haben bewirkt, dass wir mit schlechtem Gewissen fliegen und Auto fahren. Auf der anderen Seite fühlen sich Menschen benachteiligt, wenn »nur sie allein« auf den Flug verzichten oder weniger Auto fahren. Dies lässt sich mit dem Konzept der »Ökoroutine« ändern. Die gleichnamige Neuerscheinung von Michael Kopatz hält die dafür notwendigen politischen Vorschläge bereit. In der Umweltbewegung wird über das »richtige« Verhalten so viel geredet wie über das Wetter. Auch die Politik wird nicht müde, die Menschen immer wieder an ihre Umweltverantwortung zu erinnern. Ob es um Klimawandel, Ressourcenverbrauch oder andere zentrale Zukunftsfragen geht, stets ist man mit demselben Sachverhalt konfrontiert: Wir alle wissen, was zu tun wäre – aber nur wenige handeln danach. Doch wie entkommen wir diesem Dilemma? »Ganz einfach«, sagt der Sozial- und Umweltwissenschaftler Michael Kopatz, »wir machen ‚Öko‘ zur Routine!« In seinem am 25. Juli erscheinenden Buch »Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten« > zeigt er, wie sich der Wandel hin zu einem nachhaltigen Lebensstil so gestalten lässt, dass er nicht als Bevormundung, sondern als Selbstverständlichkeit empfunden wird. Es gehört zu den Kennzeichen demokratischer Gemeinschaften, sich zu steuern und immer wieder nachzubessern. Dafür gibt es in der jüngeren Vergangenheit unzählige Erfolgsgeschichten: ob es die Anschnallpflicht in den 1970ern war, die Einführung des Katalysators oder das Rauchverbot in öffentlichen Räumen – kaum jemand echauffiert sich heute noch ernsthaft über derartige »Einschränkungen« oder »Verpflichtungen«. »Ökoroutine« präsentiert Michael Kopatz ist wissenschaftlicher Projektleiter im Wuppertal Institut und war dort maßgeblich an der Erstelllung des Standardwerks »Zukunftsfähiges Deutschland« beteiligt. Gegenwärtig beschäftigt er sich mit Konzepten zur systematischen Stärkung der Regional- und Gemeinwohlwirtschaft in Kommunen. Diesen Ansatz nennt er »Wirtschaftsförderung 4.0«. Darüber hinaus interessiert den promovierten Sozialwissenschaftler, wie sich eine umfassende Lebensstilwende realisieren lässt. Der Autor steht für Interviews zur Verfügung. 10
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