Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Leon Werth: 33 Tage
Ein Bericht mit einem Vorwort von Antoine de Saint-Exupéry und
mit einem Nachwort von Peter Stamm
S.Fischer Verlag
19,99 Euro
Rezension von Anselm Weidner
Mittwoch, 27.07.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Unter den unbekannten Schriftststellern sei Léon Werth der bekannteste, heißt es.
Denn 'Dem Freund Léon Werth' widmete Saint d'Exupéry sein weltweit bekanntes
Buch Der kleine Prinz. Jetzt ist seine Jahrzehnte verschollene Fluchtchronik '33 Tage'
mit einem kürzlich entdeckten Vorwort von Atoine Saint-Exupéry neu auf Deutsch
erschienen. Der Zeitpunkt hätte kaum passender sein können, meint unser Rezensent
Anselm Weidner.
Sprecher: Als die deutsche Wehrmacht im Sommer 1940 in Frankreich einmarschiert,
fliehen Hunderttausende aus dem Norden und Westen Frankreichs, aus den
Niederlanden und Belgien nach Süden in den unbesetzten Teil Frankreichs, darunter
der Schriftsteller und Kunstkritiker Léon Werth und seine Frau Suzanne. Sie suchen
Zuflucht im Jura in ihrem Ferienhaus in Saint Amour. In Friedenszeiten brauchten sie
im Auto für die Strecke acht Stunden. In den Flüchtlingsstrom geraten, im
Massenexodus auf der Flucht vor den Nazis kommen sie nur mühselig voran, sind sie
33 Tage unterwegs. Gleich nach der Ankunft im rettenden Jura schreibt Werth seinen
Bericht von den Ereignissen der vergangenen 33 Tage nieder.
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Zitator: Sich fortbewegend wie Blinde, wie zerlumpte Schatten. Fremde für die
Bauern mit ihren Karren, für die Städter in ihren Autos, für die militärischen Kolonnen,
sind sie allein – gleich Bettlern, die es aufgegeben haben, um Almosen zu bitten. Es
ist der Anfang der Auflösung. ... Ich bin zum Flüchtling geworden. Und ich habe
keinen Zufluchtsort. Ich bin müde. (S.43)
Sprecher: Was wisssen die, die es nicht selbst erlebt haben, vom Leiden, der
Fremdheit, der Einsamkeit ,den Ängsten von Flüchtenden, von ihrer Verzweiflung,
Mißgunst und Solidarität untereinander, vom Pragmatismus, zuweilen auch
Opportunismus, ihrer Entwürdigung, davon, wie es im Inneren von Menschen auf der
Flucht aussieht? Was es bedeutet auf der Flucht zu sein, davon berichtet Werth mit
erschütternder Ehrlichkeit.
Zitator: Ein jammernder Mann um die fünfzig, Arzt aus der Umgebung von Paris, hat
seinen Wagen mangels Benzin aufgegeben. Er hat weder Koffer noch Brotbeutel noch
Bündel mitgenommen. Es liegt etwas Tröstliches in der Verzeiflung, es besteht darin,
sich von allem zu trennen, ganz auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Der Mann ist
überhaupt nicht bereit, sein eigenes Elend im Elend aller aufgehen zu lassen. (68)
Sprecher: Das auf der Flucht selbst Erlebte, der Alltag, die Begegnungen mit
selbstlosen Helfern, mit Opportunisten, Menschen im Kampf um ihre Würde, die
kleinen Geschichten, in denen sich die große spiegelt, das ist der Stoff aus dem dies
Buch gemacht ist. Nicht umsonst hat der große Historiker Lucien Febvre Léon Werth
hoch geschätzt. Ging es dem Begründer der einflußreichen Annales-Schule doch um
eine Geschichtsschreibung, die den Alltag der Menschen ernst nimmt – um MicroHistoire. Besonders als Chronist der Gefühle Flüchtender gerät Werth zu wahrer, auch
literarischer Größe. Haß und Güte, Gleichgültigkeit und Dankbarkeit, Ablehnung und
Zuneigung kommen in allen Mischungen vor. Aber er vermeidet jede Dramatisierung,
Heroisierung oder Mythisierung der Menschen auf der Flucht, von Flucht und
Überlebenskampf. Selbst in Momenten großer Gefahr, unter Bombenhagel und
Heckenschützenfeuer, in Momenten von Panik, klingt Werth's Fluchtbericht geradezu
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nüchtern bis lakonisch. Allemal geht es ihm nicht um eine politische Eindordnung des
Erlebten.
Zitator: Im Übrigen erhebe ich hier nicht den Anspruch zu erklären – ich erzähle. ...
Ich erzähle, was ich gesehen habe,was ich gefühlt habe. Ich versuche weder eine
historische Rekonstruktion noch einen zusammenhängenden und kritischen
nachträglichen Bericht über militärische Operationen. (60,61)
Sprecher: "33 Tage" ist autobiographisches Tagebuch, Reportage und
sozialpsychologische Studie von Menschen auf der Flucht, all das und viel mehr: eine
große Erzählung, deren poetischer Sprachfluß sonderbar leicht selbst durch die
Schilderung extremer Grenzsituationen trägt. Léon Werth erzählt über Flucht und
Krieg, wie es vor und nach ihm kein anderer getan hat. Angesichts der 60 Milllionen
Flüchtender weltweit und dessen was in Europa Flüchtlingskrise genannt wird, ein
unverändert aktuelles und notwendges Buch – auch 76 Jahre nachdem es geschrieben
wurde.
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