SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Raul Hilberg: Anatomie des Holocaust
Verlag S.Fischer Verlag
24,99 Euro
Rezension von Rudolf Walther
Donnerstag, 07. Juli 2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Der Politikwissenschaftler und Holocaustforscher Raul Hilberg, der im August 2007
verstorben ist, wäre am 2. Juni 90 Jahre alt geworden. Pünktlich zu diesem Tag hat der
Fischer Verlag nun ein ein Buch herausgegeben, das unter dem Titel „Die Anatomie des
Holocaust“ 13 Aufsätze und Vorträge enthält, die bisher nur an entlegenen
Publikationsorten auf Englisch zugänglich waren. Rudolf Walther hat das Buch gelesen.
Die Herausgeber des Buches sind Walter H. Pehle, langjähriger Lektor für Geschichte
beim Verlag S. Fischer, und der Zeithistoriker René Schott. Die 13 Arbeiten gliedern sich
in die drei Abschnitte Forschungen, Kontroversen und Erinnerungen. Der älteste Text
stammt aus dem Jahr 1965, der jüngste aus Hilbergs Todesjahr 2007. So bieten die
Beiträge einen Querschnitt durch die Forschungsarbeiten und das Forscherleben des
Historikers. Den ersten Vortrag über „Die Anatomie des Holocaust“, der dem Buch als Titel
dient und den Hilberg 1980 vor deutschem Publikum hielt, bezeichnete Hilberg
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selbstkritisch als „den harmlosesten Vortrag, den ich je gehalten habe.“ Das ist keine
Koketterie, denn der mit seinen Eltern ins Exil vertriebene Hilberg zögerte, im
Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ öffentlich aufzutreten – aus Angst vor
antisemitischen Reaktionen. Und er bezeichnete den Vortrag deshalb als „harmlos“, weil
er sich darin vor allem vor seinem akademischen Lehrer verneigte, dem Emigranten Franz
Neumann. Der hatte 1942/44 unter dem Titel „Behemoth“ die erste Studie über die
Struktur und Praxis des Nazi-Regimes herausgebracht. Dieses Buch, das von den vier
konkurrierenden Akteuren Beamtentum, Militär, Wirtschaft und NSDAP ausgeht, war
maßgebend für Hilbergs 1955 eingereichte Dissertation „Die Vernichtung der
europäischen Juden“ – ein Buch, das in den USA 1961 einen Verleger fand und erst 1982
in einem sehr kleinen Verlag auf Deutsch erschien, bevor es 1990 in großer Auflage im
Verlag S.Fischer einen angemessenen Platz fand.
Hilbergs Grundlagenarbeit fand erst mit erheblicher Verzögerung die verdiente Resonanz
in den USA, in der Bundesrepublik und in Israel. Wie kein anderer Historiker betonte
Hilberg in allen seinen Arbeiten die herausragende Bedeutung staatlicher und
parastaatlicher Bürokratien für die Vorbereitung und Durchsetzung der Vernichtung der
europäischen Juden. Diese institutionalisierten Prozesse hielt er für wichtiger bei der
Analyse von Tätern, Opfern und Zuschauern als die Berufung auf ideologische Faktoren
oder psychologische Dispositionen, weil es – wörtlich – „kein organisiertes Element der
deutschen Gesellschaft“ gab, „das nicht auf irgendeine Weise in den Vernichtungsprozess
eingebunden“ war. Hilbergs bahnbrechende Studien zur Rolle der Reichsbahn und
verschiedener Polizeiorgane belegen, wie diese bürokratisch durchorganisierten
Institutionen zu Teilen der „Vernichtungsmaschine“ wurden. Alltägliche
Verwaltungsfunktionen und wirtschaftliche Rationalitäts- und Effizienzkalküle
unterschieden sich nicht von der „Umsetzung der Endlösung“. Exemplarisch untersucht
Hilberg in einem Beitrag die Vernichtung „als bürokratisches Phänomen“ anhand
ausgedehnter Archivstudien zur Arbeitsweise der Reichsbahn bei der logistisch sehr
schwierigen Aufgabe, Juden in Güterwagen kreuz und quer durch Europa zu
transportieren.
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Vier Beiträge drehen sich um kontroverse Deutungen der Ghettos in Polen und deren
administrative Mitverwaltung durch Judenräte, aber auch um den gemeinsamen Besuch
des Soldatenfriedhofs in Bitburg durch Präsident Ronald Reagan und Kanzler Helmut
Kohl. Der „Strategie der Rettung durch Arbeit“, die viele Judenräte verfolgten, entzog
Hilberg mit seinen Forschungen ihre oberflächliche Plausibilität, denn, so sein Urteil „auf
diese Art opferte das Judentum mehr und mehr für weniger und weniger, bis es vernichtet
war.“
Eine Debatte löste Hilberg nicht nur mit dieser These aus, sondern auch mit seiner
Skepsis gegenüber dem Quellenwert der Aussagen von Zeitzeugen. Deren
Unzuverlässigkeit wird seiner Ansicht nach nicht verringert durch die hohe Zahl von
Berichten Überlebender. Außer strenger empirischer Überprüfbarkeit anhand von Quellen
fühlte sich der Historiker Hilberg einem methodischen Minimalismus bei der Darstellung
verpflichtet: „Mit möglichst wenigen Worten viel sagen“. Er berief sich dabei ausdrücklich
auf Elie Wiesel, der sagte: „Wenn es ein Roman ist, kann er nicht von Auschwitz handeln,
und wenn es um Auschwitz geht, ist es kein Roman.“
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