SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
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SWR2 DIE BUCHKRITIK
Antonie Rietzschel: Dreamland Deutschland?
Das erste Jahr nach der Flucht
Zwei Brüder aus Syrien erzählen
Hanser Verlag 2016
16,90 Euro
Rezension von Conrad Lay
Mittwoch, 29. Juni 2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Über die dramatischen Reisewege von Flüchtlingen ist viel berichtet worden. Aber wie
geht es weiter, wenn sie erst einmal in Deutschland sind? Die mehrfach ausgezeichnete
Journalistin Antonie Rietzschel, die in den vergangenen Monaten in der Politikredaktion
der Süddeutschen Zeitung die Berichterstattung über Flüchtlinge mitkoordinierte, erzählt in
ihrem Buch „Dreamland Deutschland? Das erste Jahr nach der Flucht“ von zwei Brüdern
aus Syrien, die in der westfälischen Provinz gelandet sind. Conrad Lay stellt das Buch vor.
Mit welchen Erwartungen kommen Flüchtlinge nach Deutschland? Und was wird aus
diesen Erwartungen, wenn sie auf die Wirklichkeit eines Erstaufnahmelagers, eines
Flüchtlingsheims, einer Existenz als Sozialhilfeempfänger stoßen? Die Autorin Antonie
Rietzschel hat ein syrisches Brüderpaar ein Jahr lang begleitet: ihre Reise beginnt im
November 2014 auf dem Mailänder Hauptbahnhof, wo eine italienische Flüchtlingshelferin
sie mit Yousef und Mohanad in Kontakt bringt. Die drei steigen in den Zug, doch am
Brenner ist die gemeinsame Fahrt jäh zu Ende, die Grenzpolizei holt die Brüder aus dem
Zug , Antonie Rietzschel verliert den Kontakt zu ihnen. Erst später gelingt es ihr, via
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Facebook erneut mit ihnen in Verbindung zu treten; zu diesem Zeitpunkt sind Yousef und
Mohanad bereits in Dortmund gelandet.
Deutschland war für den Ingenieur Mohanad schon lange sein Traumland; in Syrien
arbeitete er an deutschen Maschinen und war davon begeistert, dass sie wirklich so
funktionieren, wie es in der Bedienungsanleitung steht. Sein Bruder Jousef war von der
syrischen Armee desertiert, hatte sich eineinhalb Jahre versteckt: er wollte vor allem weg
aus Syrien, egal wohin.
Antonie Rietzschel beschreibt mit Feingefühl, was den beiden Brüdern in Deutschland
widerfährt: dass einer von ihnen angesichts der drohenden Gefahr, Deutschland wieder
verlassen zu müssen, einen Selbstmordversuch unternimmt, wie die beiden das
Flüchtlingsheim verlassen und in eine eigene Wohnung ziehen, welche positiven
Erfahrungen sie mit ihrer marokkanischen Deutsch-Lehrerin machen. Sie verschweigt
auch kritische Untertöne nicht, so erzählt sie von einer Nachbarin, die durch die Wohnung
der beiden Syrer geht , um das Licht zu löschen: „In Deutschland müsst ihr sparsam mit
Strom und Wasser umgehen“, lautet die Begründung. Yousef und Mohanad haben oft das
Gefühl, von den Helfern als kleine Kinder betrachtet zu werden. Sie fragen sich: Wann
wird die deutsche Umgebung sie nicht mehr in erster Linie als Flüchtlinge ansehen,
sondern als junge Männer, die in der Lage sind, ihr Leben selbst zu bestreiten? Und bei all
dem sind sie immer auch junge Leute, die sehr viel durchgemacht haben und bei denen
posttraumatische Störungen zurückgeblieben sind.
Detailliert beschreibt Antonie Rietzschel, wie das syrische Bruderpaar zügig und mit
großem Eifer die ersten Schritte der beruflichen Integration bewältigt und welche
Wandlungen dabei in ihnen vor sich gehen. Ausgerechnet der Ingenieur Mohanad, der
immer in sein „dreamland Deutschland“ wollte, möchte nun, sobald wie möglich, wieder
zurück zu seiner Familie nach Syrien, um dort tatkräftig beim Wiederaufbau zu helfen.
Sein Bruder Yousef dagegen, dessen berufliche Perspektive nicht so eindeutig war, würde
gerne in Deutschland bleiben. Er hat inzwischen eine Stelle als Sozialarbeiter im örtlichen
Rathaus gefunden, wo er zwischen Flüchtlingen und den Behörden vermitteln kann. Die
Integration der beiden ist ein gutes Stück vorangekommen, auch weil sie gehörige
Abstriche an ihren hohen Erwartungen gemacht haben. Den alten sozialen Status, den sie
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als Angehörige des wohlhabenden, syrischen Mittelstandes hatten, werden sie so schnell
nicht wieder erreichen.
Um den Horizont zu erweitern, reichert Antonie Rietzschel die persönliche Geschichte der
beiden Brüder mit allgemeinen Sachinformationen zu den jeweiligen Kapiteln an, also
etwa über das Dublin-Verfahren und die Anerkennung als Asylbewerber, über
posttraumatische Belastungsstörungen, über die Unterschiede der Integration in einer
kleinstädtischen Umgebung oder einer anonymen Großstadt. Auf geschickte Weise
arbeitet die Autorin nicht nur Wandlungsprozesse unter den Flüchtlingen, sondern auch in
der deutschen Bevölkerung heraus. Als Beispiel dient ihr die eigene Mutter. Zunächst
ziemlich fremdenfeindlich eingestellt, lädt diese ein Jahr später eine syrische Familie in
ihre Dresdner Wohnung zum Weihnachtsfest ein. So ist das Buch insgesamt eine
berührende Momentaufnahme des Einwanderungslandes Deutschland – zu empfehlen
sowohl den Optimisten wie den Zweiflern.
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