Sublimieren und Kompensieren

1
Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 30.09.2015
09.05 Uhr/B2
AUFNAHME:
STUDIO:
Psych, Eth
Ab 9. Schuljahr
TITEL:
Sublimieren und Kompensieren
Grundbegriffe der Psychoanalyse
AUTORIN:
Justina Schreiber
REDAKTION:
Susanne Poelchau
REGIE:
Irene Schuck
TECHNIK:
Daniela Röder
PERSONEN:
Sprecherin:
Beate Himmelstoß
Zitator:
Gert Heidenreich
O-Töne von:
Dipl.-Psych. Albrecht Stadler, München;
Dipl.-Med. Katharina Leube-Sonnleitner, München;
Walter Kempowski, Schriftsteller.
Musik, Atmo
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2
MUSIK: priv. CD „Mount Saint Helens: i resurgee (march1-may17, 1980)“ aus
„neXus I: Cascadia” (01’05’’)
SPRECHERIN:
Stellen wir uns eine Horde männlicher Urmenschen vor. Gerade eben haben sie ein
kleines Feuer in der Steppe entdeckt. Und was tun nun unsere Vor-Vorväter? Wie
selbstverständlich urinieren sie hinein.
ZITATOR:
„Als wäre der Urmensch gewohnt gewesen, wenn er dem Feuer begegnete, eine
infantile Lust an ihm zu befriedigen, indem er es durch seinen Harnstrahl auslöschte.“
SPRECHERIN:
Schreibt Sigmund Freud in einer Fußnote seiner berühmten Schrift „Das Unbehagen
in der Kultur“. Für den Erfinder der Psychoanalyse gab es keinen Zweifel, dass die
Urmenschen in „der züngelnden, sich in die Höhe reckende Flamme“ eine Art Phallus
sahen.
ZITATOR:
„Das Feuerlöschen durch Urinieren war also wie ein sexueller Akt mit einem Mann,
ein Genuss der männlichen Potenz im homosexuellen Wettkampf.“
SPRECHERIN:
Was für eine Geschichte (MUSIK ENDE)! Wie kam er bloß auf diese Idee? Nach
Freud äßen wir heute noch rohes Fleisch, wenn nicht eines Tages Urmenschen ihren
libidinösen Drang sublimiert, also verfeinert hätten und damit der Gattung einen
großen Dienst erwiesen.
MUSIK: priv. CD „Mount Saint Helens: i resurgee (march1-may17, 1980)“ aus
„neXus I: Cascadia” (00’35’’)
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ZITATOR:
„Wer zuerst auf diese Lust verzichtete, das Feuer verschonte, konnte es mit sich
forttragen und in seinen Dienst zwingen. Dadurch, dass er das Feuer seiner eigenen
sexuellen Erregung dämpfte, hatte er die Naturkraft des Feuers gezähmt.“
SPRECHERIN:
Sigmund Freud vertrat die Theorie, dass die Entwicklung der menschlichen Kultur
(MUSIK ENDE) unter anderem auf Verzichtleistungen beruhte. Der Wiener Arzt
reagierte mit seiner Lehre von verdrängten und verleugneten Trieben auf die rigide
Sexualmoral seiner Zeit, die damals besonders dem Bürgertum zu schaffen machte.
In seinen Augen war es kein Wunder, dass Nervenleiden und Neurosen grassierten.
Wer allerdings seine sexuellen Energien sublimieren, also in künstlerische oder
kulturelle Produkte und Projekte umwandeln konnte, war – laut Freud – besser dran
als der Rest.
O-TON Albrecht Stadler:
Sublimieren heißt ja: etwas in die Höhe heben.
SPRECHERIN:
Erklärt der Psychologe Albrecht Stadler. „Sublimieren“ kommt von lateinisch:
sublimis, hoch in der Luft befindlich, schwebend. Freud hat den Begriff in der Tat
positiv interpretiert, bestätigt die Psychoanalytikerin Katharina Leube-Sonnleitner:
O-TON Katharina Leube-Sonnleitner:
Freud hat den Begriff ja als eine der wenigen nicht-pathologischen Umformungen der
sexuellen Triebenergie konzipiert.
SPRECHERIN:
Nicht-pathologisch bedeutet nicht-krankhaft. Will also heißen: Im Gegensatz zu
anderen Trieb-Umwandlungen oder Unterdrückungen entstehen durch Sublimierung
- nach Freud - keine lästigen Symptome, sondern vielmehr zum Beispiel bedeutende
Texte, großartige Gemälde und Ähnliches. Der Wiener Mediziner verehrte die
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Künstler und die schönen Künste zu sehr, als dass er kreative Tätigkeiten zu
neurotischen Ersatzhandlungen hätte degradieren wollen. Sind Dichter und Denker
nicht eigentlich gottähnliche Schöpferfiguren, die von der Welt inspiriert diese mit
ihrem geistigen Feuer bereichern?
MUSIK: priv. CD „Flying & Flocking“ aus „Zoë Keating: Into the Trees” (00’40’’)
ZITATOR:
„Und wie im Aug' ein Feuer dem Manne glänzt,
Wenn Hohes er entwarf, so ist
Von neuem an den Zeichen, den Taten der Welt jetzt
Ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter.“
SPRECHERIN:
Dichtete Friedrich Hölderlin über Seinesgleichen. Die menschliche Kultur - eine sich
in die Höhe schraubende Sublimierungsspirale, die sich vom natürlichen Ursprung
der Dinge möglicherweise immer weiter entfernt. Das kann man so sehen. Muss man
aber nicht. Es handelt sich schließlich um Konstruktionen, um Gedankengebäude
(MUSIK ENDE), mahnt Albrecht Stadler, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft
für Individualpsychologie.
O-TON Albrecht Stadler:
Wie wir das wissen, gibt es eben ganz unterschiedliche Erklärungen für die
Phänomene und es kommt drauf an, wie ich selbst glaube, die Welt besser verstehen
zu können oder die Menschen besser verstehen zu können. Es geht nicht um die
Wahrheit. Das Problem ist, ob ich damit was anfangen kann.
SPRECHERIN:
Mythen, Bilder, Geschichten, Gedichte, Musik, Theorien wie die Psychoanalyse: Die
Welt wäre ärmer, wenn sich die Menschen seit der Zähmung des Feuers nicht
gegenseitig mit den tollsten Gedanken befeuert hätten. Warum bloß tun sie dies?
Wirklich nur, um ihre wilden Triebe zu bändigen? Sigmund Freuds 15 Jahre jüngerer
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Kollege, der Wiener Allgemein-Mediziner Alfred Adler stand sozialistischen Ideen
nahe. Er behandelte vor allem die sogenannten kleinen Leute. In seinen Augen
trieben Zielvorstellungen die Entwicklung des Menschen (und damit auch der Kultur)
voran.
O-TON Albrecht Stadler:
Für den Adler war immer die Entwicklung nicht wie beim Freud angetrieben durch die
Triebe, also die Triebe als Motor, sondern der Motor lag in der Zukunft. Wir fühlen
uns angezogen von Zielen und die Ziele, nämlich zum Beispiel groß und erwachsen
zu werden, sind unsere Motivationsgrundlage. Die Ziele sind uns aber oft unbewusst.
SPRECHERIN:
Wer schreibt, malt oder etwas anderes Schönes erschafft, empfindet Lust,
konstatierte Freud. Kreative, künstlerische Tätigkeiten beruhten deshalb auf LibidoVerschiebungen. Adler dagegen vermutete, dass es um einen Ausgleich, ein
Gegensteuern ging, wenn sich jemand wie der fehlsichtige Vincent van Gogh der
Malerei zuwandte. Wo Freud vom Sublimieren der Triebe sprach, sprach Adler vom
Kompensieren organischer oder seelischer Mängel. Seine Idee war:
O-TON Albrecht Stadler:
Kompensationsmechanismen steuern die evolutionären Prozesse.
SPRECHERIN:
Angeblich verdankte Adler diese Erkenntnis den Zirkusleuten unter seinen Patienten,
die trotz körperlicher Schwächen ungeheure akrobatische Leistungen zeigten: kleiner
Mann, aber oho! Adlers Theorie verbreitete sich später besonders in den USA, wohin
er 1934 emigrierte. Sie passte zur amerikanischen Do-it-yourself-Mentalität. Freud
dagegen gewann als europäischer Kulturtheoretiker große Bedeutung, sagt die
Psychoanalytikerin Katharina Leube-Sonnleitner:
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O-TON Katharina Leube-Sonnleitner:
Freud, der an die Hälfte seiner Schriften auch der Kultur gewidmet hat und nicht nur
der Metapsychologie der menschlichen Seele – also alles dreht sich darum, wie die
biologische Natur, die Triebnatur des Menschen und die Entwicklung der Kultur, also
auch des menschlichen Umgangs untereinander, des Zusammenlebens der
Gesellschaften und aller ihrer Hervorbringungen, wie das aufeinander eingewirkt hat.
MUSIK: priv. CD „Sideways: Swaying“ aus „Alan Bern & Guy Klucevsek:
Notefalls” (00’45’’)
SPRECHERIN:
Vom Philosophen Friedrich Nietzsche beeinflusst, dachte man zu Freuds und Adlers
Zeiten vor allem in Antithesen. Eros und Todestrieb, männlich und weiblich, Wahrheit
und Illusion. Zumindest für sich selbst fand Freud eine Lösung des von ihm
vermuteten Dauerkonflikts zwischen Triebwünschen und Konventionen, zwischen
Wollen und Können, Müssen und Dürfen. Mit seinen Schriften und dem neuartigen
Reden über Sexualität, sublimierte er – gemäß der eigenen Theorie - seine Gelüste
auf respektabelste Weise. Moderne Psychoanalytiker folgen ihm hier allerdings nur
noch bedingt.
MUSIK ENDE
O-TON Katharina Leube-Sonnleitner:
Bei Sublimierung geht es ja in engerem Sinne tatsächlich um künstlerische
Produktion oder um Umwandlung von sexueller Energie in höherwertige Kulturgüter
oder angesehenere oder akzeptiertere Strebungen, ja – und das ist halt ein bisschen
eng, aber dass es gar nicht so sein würde in künstlerischerer Produktion, das kann
niemand behaupten.
ZITATOR:
„Die Befriedigungen solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der
Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von
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Problemen und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität. Die
Schwäche dieser Methode liegt (…) darin, dass sie nicht allgemein verwendbar, nur
wenigen Menschen zugänglich ist.“
SPRECHERIN:
Meinte Sigmund Freud. Mittlerweile herrscht größere sexuelle Freizügigkeit als zu
Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Befreiung der unterdrückten Frauen, die
Gleichstellung homosexueller mit heterosexueller Liebe, allgemeine gesellschaftliche
Lockerungen haben der Kunst jedoch nicht den Garaus gemacht. Im Gegenteil:
Jeder Zweite fühlt sich heute zum Dichter, Maler oder Musiker berufen. Was Freuds
Theorie von der Sublimierung störender sexueller Triebe eindeutig widerlegt. Denn
offenbar führt die moderne Liberalität nicht zu einem kulturellen Stillstand.
O-TON Katharina Leube-Sonnleitner:
Müsste ja dann der Fall sein. Es lässt sich ja auch nicht nachweisen, dass Künstler,
die häufig Angst haben, sich in psychoanalytische Behandlung zu begeben, weil sie
glauben, dass der dunkle Urgrund ihrer Neurose ihre Kreativität befeuert. Das stimmt
nicht. Also bei den meisten wird eher mehr Kreativität frei gesetzt durch eine
analytische Behandlung und durch die Befreiung von – soweit es geht halt – von
Neurosen, also insofern ist es vielleicht doch so ein bisschen so eine laienhafte
Vorstellung auch, ja, dass aus der Sublimierung und aus der Triebunterdrückung
eben die Kreativität entsteht.
MUSIK: priv. CD „Don’t Worry“ aus „Zoë Keating: Into the Trees“ (00’15’’)
ZITATOR:
„Der Dichter
Abends zählt er seine Leiden,
tut sich an dem Vorrat weiden,
wählt eins aus, bedichtet es,
und das Dichten richtet es.“
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SPRECHERIN:
Ulkte der Dichter Robert Gernhardt (MUSIK ENDE). Freud selbst arbeitete den
Begriff des Sublimierens allerdings gar nicht weiter aus. Es war seine Tochter Anna,
die ihn in ihrem 1936 publizierten Standardwerk „Das Ich und die Abwehrvorgänge“
näher definierte. Dort ordnete sie das Sublimieren mit dem Verleugnen, Verdrängen
oder Projizieren störender sexueller und aggressiver Impulse den
Abwehrmechanismen der Seele zu. Wobei es unterm Strich natürlich hübscher klingt,
wenn einer in seiner Not sublimiert, also künstlerisch tätig wird, und nicht etwa
regrediert, also in kindliche Verhaltensweisen zurückfällt. Auch Anna Freuds
Sichtweise ist nicht mehr zeitgemäß.
O-TON Katharina Leube-Sonnleitner:
Weil man halt gemerkt hat auch, dass so eine starke Wertung in den niederen
Trieben und in den höheren Strebungen drin war und davon wegkommen wollte, also
der Begriff ist auch weiter entwickelt worden, aber es wird sich nie auf die Frage
reduzieren lassen: Ist nun Kunstproduktion oder Kulturproduktion nur oder
hauptsächlich Ausfluss der sexuellen Triebenergie. So eng formuliert müsste man
das vermutlich einfach ablehnen, weil für Kreativität und Kulturproduktion im
weitesten Sinn, was jetzt nicht nur Kunst ist, andere Konzepte entwickelt wurden und
für wichtiger erachtet werden als das der sexuellen Triebenergie.
SPRECHERIN:
Zum Beispiel - um auf Alfred Adler zurückzukommen - die Vorstellung, dass die
Angst vor der Unausweichlichkeit des Todes eine starke Triebfeder künstlerischer
Tätigkeit sein könnte. Gelingt es dem Menschen doch immer wieder, seine eigene
Sterblichkeit zu kompensieren, indem er Werke schafft, die die Zeiten überdauern.
MUSIK: Z8005259 103 (00‘05‘‘)
O-TON Albrecht Stadler:
Compensare aus dem Lateinischen heißt, etwas ersetzen, heißt etwas
wiederherstellen möglicherweise und im psychologischen Sinne heißt es, dass ich
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einen Mangel, den ich empfinde, an irgendeiner Stelle, entweder an der, wo er
entsteht, oder einer anderen Stelle, ausgleiche.
MUSIK: Z8005259 103 (00‘05‘‘)
SPRECHERIN:
Der Begriff des Kompensierens ist – wie der des Sublimierens - kein originär
psychologischer Begriff; er ist allgemein verbreitet. Man kann die Bitterkeit seines
Kaffees durch Zucker kompensieren, die Hanglage eines Hauses mit einer Treppe,
Kurzsichtigkeit mit einer Brille. Jedes Defizit schreit nach einer Kompensation, jeder
Mangel, jede körperliche oder seelische Schwäche, sei sie nun real oder eingebildet.
Es genügt, wie Alfred Adler aus eigener Erfahrung wusste, einen älteren Bruder zu
haben, um ein starkes Geltungsstreben zu entwickeln, das das eigene
Unterlegenheitsgefühl kompensieren soll.
MUSIK: Z8005259 103 (00‘05‘‘)
O-TON Albrecht Stadler:
Berühmtes Beispiel ist der Redner Demosthenes, der einen offenbar schweren
Sprachfehler hatte und sich dann mit Kieselsteinen in die Brandung gestellt hat und
laut deklamiert hat mit den Kieselsteinen im Mund. Heute machen die Schauspieler
immer noch Sprechen mit dem Korken im Mund, damit die Artikulation sich
verbessert und Schauspieler sind z. B. Leute, die ganz oft einen Sprachfehler haben.
Das finde ich schon ne tolle Sache.
SPRECHERIN:
Albrecht Stadler leitet die Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie, die sich
Alfred Adlers therapeutischen Konzepten widmet. Der 1937 verstorbene Wiener Arzt
vertrat die Ansicht, dass sich der Mensch von Geburt an als Mängelwesen erlebt und
deshalb zeitlebens bemüht ist, sein „Persönlichkeitsgefühl“ zu erhöhen. Das Kind,
dieser zu klein geratene Erwachsene, gleiche seine Minderwertigkeit aus, indem es
etwa ständig neue Berufswünsche oder Lebenspläne entwickelt. Aber auch der
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Erwachsene – so Alfred Adler - bleibt dem Streben nach imaginären Zielen verhaftet.
„Höher, besser, mehr“ lautet die Maxime. Es gilt, dem Tod als letzter schwerer
Kränkung etwas entgegenzuhalten.
ZITATOR:
„Mythen, das Volk, Dichter, Philosophen und Religionsstifter haben aus ihrer Zeit das
Material (…) entnommen, so dass als Endziele körperliche oder geistige Kraft,
Unsterblichkeit, Tugend, Frömmigkeit, Reichtum, Wissen, Herrenmoral, soziales
Empfinden oder Selbstherrlichkeit zur Verfügung stehen, und je nach der
rezeptorischen Eigenart des nach Vollwertigkeit lüsternen Individuums ergriffen
werden.“
SPRECHERIN:
Schreibt Alfred Adler 1912 in seinem Hauptwerk „Über den nervösen Charakter“,
kurz nachdem er aus Freuds exklusiver Mittwochsgesellschaft wegen
unüberbrückbarer Gegensätze hinausgeflogen war.
O-TON Albrecht Stadler:
Der Freud hat gesagt, es geht um die Sexualität und die Triebschicksale, der Adler
hat gesagt, es geht ums Selbstwertgefühl.
MUSIK: priv. CD „Mount Saint Helens: i resurgee (march1-may17, 1980)“ aus
„neXus I: Cascadia” (00’25’’)
SPRECHERIN:
Das Feuer zu bändigen anstatt hineinzupinkeln, könnte also auch dem Wunsch eines
Urmenschen entsprungen sein, trotz fehlenden Fells im Winter nicht frieren zu
müssen. Oder einer, der kleiner war als die anderen, wollte beweisen, dass er im
Grunde mutiger, klüger und stärker ist. Aber dies nur nebenbei.
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O-TON Albrecht Stadler:
Problematisch wird es da (MUSIK ENDE), wo es in eine Überkompensation gerät,
also es könnte sein, dass der Schauspieler, der einen schweren S-Fehler hat, an
dem Wunsch, dieses Minderwertigkeitsgefühl auszugleichen, auch scheitert, weil er
es übertreibt.
SPRECHERIN:
Der kleine Mann mit dem starken Selbstdarstellungsdrang, der bindungsunfähige
Popstar. Der verkannte Künstler, der sich die ganze Welt unterwerfen will. Ohne
Bewusstsein vom Schicksal allen menschlichen Lebens, ohne Sorge für andere, kurz
gesagt: Ohne korrigierendes Gemeinschaftsgefühl muss - nach Adler - das von Natur
aus starke menschliche Geltungsstreben übers Ziel hinausschießen.
ZITATOR:
„Das Minderwertigkeitsgefühl bedarf der Kompensation durch Hinwendung zur
Gemeinschaft.“
SPRECHERIN:
Sonst dominiert – so Adler in zeittypischer Ausdrucksweise – der „männliche
Protest“, der aggressive und neurotische Drang, anderen überlegen sein zu wollen.
Diese Form des Kompensierens spielt auch in der modernen Psychologie eine Rolle.
Narzisstisch gestörte Persönlichkeiten, Menschen, die Größenphantasien
produzieren und sich für bedeutender halten als sie sind oder die meinen, immer im
Recht zu sein, überschätzen ihre Fähigkeiten, weil sie bemüht sind, so die
Psychoanalytikerin Katharina Leube-Sonnleitner:
O-TON Katharina Leube-Sonnleitner:
Tiefe Selbstwertzweifel und tiefe Unsicherheit, Selbstunsicherheit letztlich mit den
narzisstischen Größen selbst zu kompensieren. Also weil viele Leute nicht wissen,
dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung eigentlich eine
Selbstwertregulationsstörung ist, in deren Kern ein sehr fragiles Selbst steht, also ein
schwaches Selbstwertgefühl und die Größenphantasien, die narzisstischen, eben die
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Kompensation darstellen, das würde mir hauptsächlich zu dem Begriff einfallen und
ansonsten verwendet man ihn wenig spezifisch, würde ich sagen. Natürlich wird alles
Mögliche kompensiert, Verluste und Ängste und so was, aber da ist es ein bisschen
allgemeiner und unspezifisch.
MUSIK: Z8005259 103 (00‘05‘‘)
SPRECHERIN:
Nehmen wir zum Beispiel den Schriftsteller Walter Kempowski und den an
Besessenheit grenzenden Fleiß, mit dem er seine neunbändige Deutsche Chronik
schuf. Warum nahm er noch dazu die Sisyphosarbeit des „Echolots“, eines
kollektiven Tagebuchs des Zweiten Weltkriegs auf sich? Der 2007 verstorbene
Schriftsteller bekannte in einem Interview.
O-TON Walter Kempowski:
Das Gefühl des Versagens, Schuld, natürlich Schuldgefühle, als Deutscher ganz
allgemein und ganz persönlich, die Frage, ob man auch immer das Richtige getan
hat, ob man sich nicht furchtbar selbst mitschuldig gemacht hat. Und das mit einer so
großen Arbeit zu sublimieren, ist natürlich ein guter Einfall.
SPRECHERIN:
Anders als andere verdrängte Walter Kempowski seine Schuldgefühle nicht. Das ist
die Botschaft. Ob sie sich durch seine schriftstellerische Arbeit allerdings tatsächlich
sublimieren und nicht nur kompensieren ließen, steht in den Sternen.
MUSIK: priv. CD „Manu et Roland“ aus „Le Samourai/Les Aventuriers
(Soundtrack)“ (00’25’’)
ZITATOR:
„Deine Arbeit wärmt dich langsam auf. (…) Du schreibst, bis zu dem Punkt kurz vor
der Erschöpfung, wenn du noch weißt, was als Nächstes passieren wird, und wenn
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du aufhörst, bist du genauso leer und gleichzeitig erfüllt, wie wenn du mit jemanden
geschlafen hast, den du liebst.“
SPRECHERIN:
Protzte der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway (MUSIK ENDE). Freud
hätte sich gefreut. Sublimierung, Überkompensation, Kompensation. Die Begriffe
verschwimmen heute. Aber immer geht es um das innere Gleichgewicht, darum, wie
sich Konflikte scheinbar oder real lösen lassen. Und zwar, je nach Perspektive, durch
Handlungen oder Ersatzhandlungen - oder auch durch neurotische
Fehlkompensationen.
O-TON Albrecht Stadler:
Es gibt eben auch unglaublich viele, die sich mit der Frage übermäßig beschäftigen,
und das kenne ich von jungen Leuten, die hier in die Praxis kommen, wieviel Likes
sie bekommen, wenn sie irgendetwas posten. Und davon sozusagen hr
Selbstwertgefühl abhängig machen und in einer fiktiven Vorstellung von Beziehung,
von Freundschaft leben, die es in der Realität überhaupt nicht gibt und das ist auch
ein Versuch der Kompensation, aber da würde ich sagen, das ist wirklich neurotisch
und da bietet unsere zivilisatorische Entwicklung, unsere Gesellschaft jede Menge
Sachen an, die sozusagen diese neurotischen Mechanismen unterstützt, da lässt
sich auch irgendwie wahnsinnig viel Geld machen damit.
SPRECHERIN:
Wer seine seelische Bedürftigkeit nicht mehr kompensieren, also nicht mehr mit
Drogen-, Alkohol- oder anderem -Konsum, mit Sport oder auch Sex, mit
Computerspielen und Urlaubsreisen ausgleichen kann, bricht innerlich zusammen; er
dekompensiert. Depressionen sind meist die Folge. Der Modebegriff Burnout legt
nahe, dass das innere (Lebens-)Feuer zu wenig echte, gehaltvolle Nahrung
bekommen hat. Ganz vom Tisch wischen lassen sich Freuds Idee von der
Sublimierung und Adlers Begriff der Kompensation also nicht:
MUSIK: priv. CD „Flying & Flocking“ aus „Zoë Keaton: Into the Trees“ (01’00’’)
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O-TON Katharina Leube-Sonnleitner:
Irgendwas dran ist mit Sicherheit bei allen Strebungen, in denen die Menschen
versuchen, mit ihren inneren, mehr oder weniger unlösbaren Widersprüchen, die
nicht nur individuell sind, sondern die natürlich ganz allgemein den Menschen
prägen, zurechtzukommen. Und das bedeutet, dass natürlich alles, was Menschen
tun, um mit der Unausweichlichkeit des Todes zurechtzukommen oder mit der
Nichtlebbarkeit von sexuellen Wünschen oder mit dem Bedürfnis in die ideale
Zweisamkeitswelt zurückzukehren, die sie mit ihrer Mutter im Idealfall hatten oder
eben gerade nicht hatten und sich deswegen ihr Leben danach sehnen und dafür
natürlich Kompensationsmechanismen, Pseudolösungen, die auch als Neurosen
oder psychosomatische Erkrankungen auftreten können, sozusagen zu entwickeln.
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