1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 30.09.2015 09.05 Uhr/B2 AUFNAHME: STUDIO: Psych, Eth Ab 9. Schuljahr TITEL: Sublimieren und Kompensieren Grundbegriffe der Psychoanalyse AUTORIN: Justina Schreiber REDAKTION: Susanne Poelchau REGIE: Irene Schuck TECHNIK: Daniela Röder PERSONEN: Sprecherin: Beate Himmelstoß Zitator: Gert Heidenreich O-Töne von: Dipl.-Psych. Albrecht Stadler, München; Dipl.-Med. Katharina Leube-Sonnleitner, München; Walter Kempowski, Schriftsteller. Musik, Atmo ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 2 MUSIK: priv. CD „Mount Saint Helens: i resurgee (march1-may17, 1980)“ aus „neXus I: Cascadia” (01’05’’) SPRECHERIN: Stellen wir uns eine Horde männlicher Urmenschen vor. Gerade eben haben sie ein kleines Feuer in der Steppe entdeckt. Und was tun nun unsere Vor-Vorväter? Wie selbstverständlich urinieren sie hinein. ZITATOR: „Als wäre der Urmensch gewohnt gewesen, wenn er dem Feuer begegnete, eine infantile Lust an ihm zu befriedigen, indem er es durch seinen Harnstrahl auslöschte.“ SPRECHERIN: Schreibt Sigmund Freud in einer Fußnote seiner berühmten Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“. Für den Erfinder der Psychoanalyse gab es keinen Zweifel, dass die Urmenschen in „der züngelnden, sich in die Höhe reckende Flamme“ eine Art Phallus sahen. ZITATOR: „Das Feuerlöschen durch Urinieren war also wie ein sexueller Akt mit einem Mann, ein Genuss der männlichen Potenz im homosexuellen Wettkampf.“ SPRECHERIN: Was für eine Geschichte (MUSIK ENDE)! Wie kam er bloß auf diese Idee? Nach Freud äßen wir heute noch rohes Fleisch, wenn nicht eines Tages Urmenschen ihren libidinösen Drang sublimiert, also verfeinert hätten und damit der Gattung einen großen Dienst erwiesen. MUSIK: priv. CD „Mount Saint Helens: i resurgee (march1-may17, 1980)“ aus „neXus I: Cascadia” (00’35’’) ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 ZITATOR: „Wer zuerst auf diese Lust verzichtete, das Feuer verschonte, konnte es mit sich forttragen und in seinen Dienst zwingen. Dadurch, dass er das Feuer seiner eigenen sexuellen Erregung dämpfte, hatte er die Naturkraft des Feuers gezähmt.“ SPRECHERIN: Sigmund Freud vertrat die Theorie, dass die Entwicklung der menschlichen Kultur (MUSIK ENDE) unter anderem auf Verzichtleistungen beruhte. Der Wiener Arzt reagierte mit seiner Lehre von verdrängten und verleugneten Trieben auf die rigide Sexualmoral seiner Zeit, die damals besonders dem Bürgertum zu schaffen machte. In seinen Augen war es kein Wunder, dass Nervenleiden und Neurosen grassierten. Wer allerdings seine sexuellen Energien sublimieren, also in künstlerische oder kulturelle Produkte und Projekte umwandeln konnte, war – laut Freud – besser dran als der Rest. O-TON Albrecht Stadler: Sublimieren heißt ja: etwas in die Höhe heben. SPRECHERIN: Erklärt der Psychologe Albrecht Stadler. „Sublimieren“ kommt von lateinisch: sublimis, hoch in der Luft befindlich, schwebend. Freud hat den Begriff in der Tat positiv interpretiert, bestätigt die Psychoanalytikerin Katharina Leube-Sonnleitner: O-TON Katharina Leube-Sonnleitner: Freud hat den Begriff ja als eine der wenigen nicht-pathologischen Umformungen der sexuellen Triebenergie konzipiert. SPRECHERIN: Nicht-pathologisch bedeutet nicht-krankhaft. Will also heißen: Im Gegensatz zu anderen Trieb-Umwandlungen oder Unterdrückungen entstehen durch Sublimierung - nach Freud - keine lästigen Symptome, sondern vielmehr zum Beispiel bedeutende Texte, großartige Gemälde und Ähnliches. Der Wiener Mediziner verehrte die ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 4 Künstler und die schönen Künste zu sehr, als dass er kreative Tätigkeiten zu neurotischen Ersatzhandlungen hätte degradieren wollen. Sind Dichter und Denker nicht eigentlich gottähnliche Schöpferfiguren, die von der Welt inspiriert diese mit ihrem geistigen Feuer bereichern? MUSIK: priv. CD „Flying & Flocking“ aus „Zoë Keating: Into the Trees” (00’40’’) ZITATOR: „Und wie im Aug' ein Feuer dem Manne glänzt, Wenn Hohes er entwarf, so ist Von neuem an den Zeichen, den Taten der Welt jetzt Ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter.“ SPRECHERIN: Dichtete Friedrich Hölderlin über Seinesgleichen. Die menschliche Kultur - eine sich in die Höhe schraubende Sublimierungsspirale, die sich vom natürlichen Ursprung der Dinge möglicherweise immer weiter entfernt. Das kann man so sehen. Muss man aber nicht. Es handelt sich schließlich um Konstruktionen, um Gedankengebäude (MUSIK ENDE), mahnt Albrecht Stadler, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie. O-TON Albrecht Stadler: Wie wir das wissen, gibt es eben ganz unterschiedliche Erklärungen für die Phänomene und es kommt drauf an, wie ich selbst glaube, die Welt besser verstehen zu können oder die Menschen besser verstehen zu können. Es geht nicht um die Wahrheit. Das Problem ist, ob ich damit was anfangen kann. SPRECHERIN: Mythen, Bilder, Geschichten, Gedichte, Musik, Theorien wie die Psychoanalyse: Die Welt wäre ärmer, wenn sich die Menschen seit der Zähmung des Feuers nicht gegenseitig mit den tollsten Gedanken befeuert hätten. Warum bloß tun sie dies? Wirklich nur, um ihre wilden Triebe zu bändigen? Sigmund Freuds 15 Jahre jüngerer ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 5 Kollege, der Wiener Allgemein-Mediziner Alfred Adler stand sozialistischen Ideen nahe. Er behandelte vor allem die sogenannten kleinen Leute. In seinen Augen trieben Zielvorstellungen die Entwicklung des Menschen (und damit auch der Kultur) voran. O-TON Albrecht Stadler: Für den Adler war immer die Entwicklung nicht wie beim Freud angetrieben durch die Triebe, also die Triebe als Motor, sondern der Motor lag in der Zukunft. Wir fühlen uns angezogen von Zielen und die Ziele, nämlich zum Beispiel groß und erwachsen zu werden, sind unsere Motivationsgrundlage. Die Ziele sind uns aber oft unbewusst. SPRECHERIN: Wer schreibt, malt oder etwas anderes Schönes erschafft, empfindet Lust, konstatierte Freud. Kreative, künstlerische Tätigkeiten beruhten deshalb auf LibidoVerschiebungen. Adler dagegen vermutete, dass es um einen Ausgleich, ein Gegensteuern ging, wenn sich jemand wie der fehlsichtige Vincent van Gogh der Malerei zuwandte. Wo Freud vom Sublimieren der Triebe sprach, sprach Adler vom Kompensieren organischer oder seelischer Mängel. Seine Idee war: O-TON Albrecht Stadler: Kompensationsmechanismen steuern die evolutionären Prozesse. SPRECHERIN: Angeblich verdankte Adler diese Erkenntnis den Zirkusleuten unter seinen Patienten, die trotz körperlicher Schwächen ungeheure akrobatische Leistungen zeigten: kleiner Mann, aber oho! Adlers Theorie verbreitete sich später besonders in den USA, wohin er 1934 emigrierte. Sie passte zur amerikanischen Do-it-yourself-Mentalität. Freud dagegen gewann als europäischer Kulturtheoretiker große Bedeutung, sagt die Psychoanalytikerin Katharina Leube-Sonnleitner: ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 O-TON Katharina Leube-Sonnleitner: Freud, der an die Hälfte seiner Schriften auch der Kultur gewidmet hat und nicht nur der Metapsychologie der menschlichen Seele – also alles dreht sich darum, wie die biologische Natur, die Triebnatur des Menschen und die Entwicklung der Kultur, also auch des menschlichen Umgangs untereinander, des Zusammenlebens der Gesellschaften und aller ihrer Hervorbringungen, wie das aufeinander eingewirkt hat. MUSIK: priv. CD „Sideways: Swaying“ aus „Alan Bern & Guy Klucevsek: Notefalls” (00’45’’) SPRECHERIN: Vom Philosophen Friedrich Nietzsche beeinflusst, dachte man zu Freuds und Adlers Zeiten vor allem in Antithesen. Eros und Todestrieb, männlich und weiblich, Wahrheit und Illusion. Zumindest für sich selbst fand Freud eine Lösung des von ihm vermuteten Dauerkonflikts zwischen Triebwünschen und Konventionen, zwischen Wollen und Können, Müssen und Dürfen. Mit seinen Schriften und dem neuartigen Reden über Sexualität, sublimierte er – gemäß der eigenen Theorie - seine Gelüste auf respektabelste Weise. Moderne Psychoanalytiker folgen ihm hier allerdings nur noch bedingt. MUSIK ENDE O-TON Katharina Leube-Sonnleitner: Bei Sublimierung geht es ja in engerem Sinne tatsächlich um künstlerische Produktion oder um Umwandlung von sexueller Energie in höherwertige Kulturgüter oder angesehenere oder akzeptiertere Strebungen, ja – und das ist halt ein bisschen eng, aber dass es gar nicht so sein würde in künstlerischerer Produktion, das kann niemand behaupten. ZITATOR: „Die Befriedigungen solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 7 Problemen und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität. Die Schwäche dieser Methode liegt (…) darin, dass sie nicht allgemein verwendbar, nur wenigen Menschen zugänglich ist.“ SPRECHERIN: Meinte Sigmund Freud. Mittlerweile herrscht größere sexuelle Freizügigkeit als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Befreiung der unterdrückten Frauen, die Gleichstellung homosexueller mit heterosexueller Liebe, allgemeine gesellschaftliche Lockerungen haben der Kunst jedoch nicht den Garaus gemacht. Im Gegenteil: Jeder Zweite fühlt sich heute zum Dichter, Maler oder Musiker berufen. Was Freuds Theorie von der Sublimierung störender sexueller Triebe eindeutig widerlegt. Denn offenbar führt die moderne Liberalität nicht zu einem kulturellen Stillstand. O-TON Katharina Leube-Sonnleitner: Müsste ja dann der Fall sein. Es lässt sich ja auch nicht nachweisen, dass Künstler, die häufig Angst haben, sich in psychoanalytische Behandlung zu begeben, weil sie glauben, dass der dunkle Urgrund ihrer Neurose ihre Kreativität befeuert. Das stimmt nicht. Also bei den meisten wird eher mehr Kreativität frei gesetzt durch eine analytische Behandlung und durch die Befreiung von – soweit es geht halt – von Neurosen, also insofern ist es vielleicht doch so ein bisschen so eine laienhafte Vorstellung auch, ja, dass aus der Sublimierung und aus der Triebunterdrückung eben die Kreativität entsteht. MUSIK: priv. CD „Don’t Worry“ aus „Zoë Keating: Into the Trees“ (00’15’’) ZITATOR: „Der Dichter Abends zählt er seine Leiden, tut sich an dem Vorrat weiden, wählt eins aus, bedichtet es, und das Dichten richtet es.“ ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 8 SPRECHERIN: Ulkte der Dichter Robert Gernhardt (MUSIK ENDE). Freud selbst arbeitete den Begriff des Sublimierens allerdings gar nicht weiter aus. Es war seine Tochter Anna, die ihn in ihrem 1936 publizierten Standardwerk „Das Ich und die Abwehrvorgänge“ näher definierte. Dort ordnete sie das Sublimieren mit dem Verleugnen, Verdrängen oder Projizieren störender sexueller und aggressiver Impulse den Abwehrmechanismen der Seele zu. Wobei es unterm Strich natürlich hübscher klingt, wenn einer in seiner Not sublimiert, also künstlerisch tätig wird, und nicht etwa regrediert, also in kindliche Verhaltensweisen zurückfällt. Auch Anna Freuds Sichtweise ist nicht mehr zeitgemäß. O-TON Katharina Leube-Sonnleitner: Weil man halt gemerkt hat auch, dass so eine starke Wertung in den niederen Trieben und in den höheren Strebungen drin war und davon wegkommen wollte, also der Begriff ist auch weiter entwickelt worden, aber es wird sich nie auf die Frage reduzieren lassen: Ist nun Kunstproduktion oder Kulturproduktion nur oder hauptsächlich Ausfluss der sexuellen Triebenergie. So eng formuliert müsste man das vermutlich einfach ablehnen, weil für Kreativität und Kulturproduktion im weitesten Sinn, was jetzt nicht nur Kunst ist, andere Konzepte entwickelt wurden und für wichtiger erachtet werden als das der sexuellen Triebenergie. SPRECHERIN: Zum Beispiel - um auf Alfred Adler zurückzukommen - die Vorstellung, dass die Angst vor der Unausweichlichkeit des Todes eine starke Triebfeder künstlerischer Tätigkeit sein könnte. Gelingt es dem Menschen doch immer wieder, seine eigene Sterblichkeit zu kompensieren, indem er Werke schafft, die die Zeiten überdauern. MUSIK: Z8005259 103 (00‘05‘‘) O-TON Albrecht Stadler: Compensare aus dem Lateinischen heißt, etwas ersetzen, heißt etwas wiederherstellen möglicherweise und im psychologischen Sinne heißt es, dass ich ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 9 einen Mangel, den ich empfinde, an irgendeiner Stelle, entweder an der, wo er entsteht, oder einer anderen Stelle, ausgleiche. MUSIK: Z8005259 103 (00‘05‘‘) SPRECHERIN: Der Begriff des Kompensierens ist – wie der des Sublimierens - kein originär psychologischer Begriff; er ist allgemein verbreitet. Man kann die Bitterkeit seines Kaffees durch Zucker kompensieren, die Hanglage eines Hauses mit einer Treppe, Kurzsichtigkeit mit einer Brille. Jedes Defizit schreit nach einer Kompensation, jeder Mangel, jede körperliche oder seelische Schwäche, sei sie nun real oder eingebildet. Es genügt, wie Alfred Adler aus eigener Erfahrung wusste, einen älteren Bruder zu haben, um ein starkes Geltungsstreben zu entwickeln, das das eigene Unterlegenheitsgefühl kompensieren soll. MUSIK: Z8005259 103 (00‘05‘‘) O-TON Albrecht Stadler: Berühmtes Beispiel ist der Redner Demosthenes, der einen offenbar schweren Sprachfehler hatte und sich dann mit Kieselsteinen in die Brandung gestellt hat und laut deklamiert hat mit den Kieselsteinen im Mund. Heute machen die Schauspieler immer noch Sprechen mit dem Korken im Mund, damit die Artikulation sich verbessert und Schauspieler sind z. B. Leute, die ganz oft einen Sprachfehler haben. Das finde ich schon ne tolle Sache. SPRECHERIN: Albrecht Stadler leitet die Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie, die sich Alfred Adlers therapeutischen Konzepten widmet. Der 1937 verstorbene Wiener Arzt vertrat die Ansicht, dass sich der Mensch von Geburt an als Mängelwesen erlebt und deshalb zeitlebens bemüht ist, sein „Persönlichkeitsgefühl“ zu erhöhen. Das Kind, dieser zu klein geratene Erwachsene, gleiche seine Minderwertigkeit aus, indem es etwa ständig neue Berufswünsche oder Lebenspläne entwickelt. Aber auch der ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 10 Erwachsene – so Alfred Adler - bleibt dem Streben nach imaginären Zielen verhaftet. „Höher, besser, mehr“ lautet die Maxime. Es gilt, dem Tod als letzter schwerer Kränkung etwas entgegenzuhalten. ZITATOR: „Mythen, das Volk, Dichter, Philosophen und Religionsstifter haben aus ihrer Zeit das Material (…) entnommen, so dass als Endziele körperliche oder geistige Kraft, Unsterblichkeit, Tugend, Frömmigkeit, Reichtum, Wissen, Herrenmoral, soziales Empfinden oder Selbstherrlichkeit zur Verfügung stehen, und je nach der rezeptorischen Eigenart des nach Vollwertigkeit lüsternen Individuums ergriffen werden.“ SPRECHERIN: Schreibt Alfred Adler 1912 in seinem Hauptwerk „Über den nervösen Charakter“, kurz nachdem er aus Freuds exklusiver Mittwochsgesellschaft wegen unüberbrückbarer Gegensätze hinausgeflogen war. O-TON Albrecht Stadler: Der Freud hat gesagt, es geht um die Sexualität und die Triebschicksale, der Adler hat gesagt, es geht ums Selbstwertgefühl. MUSIK: priv. CD „Mount Saint Helens: i resurgee (march1-may17, 1980)“ aus „neXus I: Cascadia” (00’25’’) SPRECHERIN: Das Feuer zu bändigen anstatt hineinzupinkeln, könnte also auch dem Wunsch eines Urmenschen entsprungen sein, trotz fehlenden Fells im Winter nicht frieren zu müssen. Oder einer, der kleiner war als die anderen, wollte beweisen, dass er im Grunde mutiger, klüger und stärker ist. Aber dies nur nebenbei. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 11 O-TON Albrecht Stadler: Problematisch wird es da (MUSIK ENDE), wo es in eine Überkompensation gerät, also es könnte sein, dass der Schauspieler, der einen schweren S-Fehler hat, an dem Wunsch, dieses Minderwertigkeitsgefühl auszugleichen, auch scheitert, weil er es übertreibt. SPRECHERIN: Der kleine Mann mit dem starken Selbstdarstellungsdrang, der bindungsunfähige Popstar. Der verkannte Künstler, der sich die ganze Welt unterwerfen will. Ohne Bewusstsein vom Schicksal allen menschlichen Lebens, ohne Sorge für andere, kurz gesagt: Ohne korrigierendes Gemeinschaftsgefühl muss - nach Adler - das von Natur aus starke menschliche Geltungsstreben übers Ziel hinausschießen. ZITATOR: „Das Minderwertigkeitsgefühl bedarf der Kompensation durch Hinwendung zur Gemeinschaft.“ SPRECHERIN: Sonst dominiert – so Adler in zeittypischer Ausdrucksweise – der „männliche Protest“, der aggressive und neurotische Drang, anderen überlegen sein zu wollen. Diese Form des Kompensierens spielt auch in der modernen Psychologie eine Rolle. Narzisstisch gestörte Persönlichkeiten, Menschen, die Größenphantasien produzieren und sich für bedeutender halten als sie sind oder die meinen, immer im Recht zu sein, überschätzen ihre Fähigkeiten, weil sie bemüht sind, so die Psychoanalytikerin Katharina Leube-Sonnleitner: O-TON Katharina Leube-Sonnleitner: Tiefe Selbstwertzweifel und tiefe Unsicherheit, Selbstunsicherheit letztlich mit den narzisstischen Größen selbst zu kompensieren. Also weil viele Leute nicht wissen, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung eigentlich eine Selbstwertregulationsstörung ist, in deren Kern ein sehr fragiles Selbst steht, also ein schwaches Selbstwertgefühl und die Größenphantasien, die narzisstischen, eben die ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 12 Kompensation darstellen, das würde mir hauptsächlich zu dem Begriff einfallen und ansonsten verwendet man ihn wenig spezifisch, würde ich sagen. Natürlich wird alles Mögliche kompensiert, Verluste und Ängste und so was, aber da ist es ein bisschen allgemeiner und unspezifisch. MUSIK: Z8005259 103 (00‘05‘‘) SPRECHERIN: Nehmen wir zum Beispiel den Schriftsteller Walter Kempowski und den an Besessenheit grenzenden Fleiß, mit dem er seine neunbändige Deutsche Chronik schuf. Warum nahm er noch dazu die Sisyphosarbeit des „Echolots“, eines kollektiven Tagebuchs des Zweiten Weltkriegs auf sich? Der 2007 verstorbene Schriftsteller bekannte in einem Interview. O-TON Walter Kempowski: Das Gefühl des Versagens, Schuld, natürlich Schuldgefühle, als Deutscher ganz allgemein und ganz persönlich, die Frage, ob man auch immer das Richtige getan hat, ob man sich nicht furchtbar selbst mitschuldig gemacht hat. Und das mit einer so großen Arbeit zu sublimieren, ist natürlich ein guter Einfall. SPRECHERIN: Anders als andere verdrängte Walter Kempowski seine Schuldgefühle nicht. Das ist die Botschaft. Ob sie sich durch seine schriftstellerische Arbeit allerdings tatsächlich sublimieren und nicht nur kompensieren ließen, steht in den Sternen. MUSIK: priv. CD „Manu et Roland“ aus „Le Samourai/Les Aventuriers (Soundtrack)“ (00’25’’) ZITATOR: „Deine Arbeit wärmt dich langsam auf. (…) Du schreibst, bis zu dem Punkt kurz vor der Erschöpfung, wenn du noch weißt, was als Nächstes passieren wird, und wenn ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 13 du aufhörst, bist du genauso leer und gleichzeitig erfüllt, wie wenn du mit jemanden geschlafen hast, den du liebst.“ SPRECHERIN: Protzte der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway (MUSIK ENDE). Freud hätte sich gefreut. Sublimierung, Überkompensation, Kompensation. Die Begriffe verschwimmen heute. Aber immer geht es um das innere Gleichgewicht, darum, wie sich Konflikte scheinbar oder real lösen lassen. Und zwar, je nach Perspektive, durch Handlungen oder Ersatzhandlungen - oder auch durch neurotische Fehlkompensationen. O-TON Albrecht Stadler: Es gibt eben auch unglaublich viele, die sich mit der Frage übermäßig beschäftigen, und das kenne ich von jungen Leuten, die hier in die Praxis kommen, wieviel Likes sie bekommen, wenn sie irgendetwas posten. Und davon sozusagen hr Selbstwertgefühl abhängig machen und in einer fiktiven Vorstellung von Beziehung, von Freundschaft leben, die es in der Realität überhaupt nicht gibt und das ist auch ein Versuch der Kompensation, aber da würde ich sagen, das ist wirklich neurotisch und da bietet unsere zivilisatorische Entwicklung, unsere Gesellschaft jede Menge Sachen an, die sozusagen diese neurotischen Mechanismen unterstützt, da lässt sich auch irgendwie wahnsinnig viel Geld machen damit. SPRECHERIN: Wer seine seelische Bedürftigkeit nicht mehr kompensieren, also nicht mehr mit Drogen-, Alkohol- oder anderem -Konsum, mit Sport oder auch Sex, mit Computerspielen und Urlaubsreisen ausgleichen kann, bricht innerlich zusammen; er dekompensiert. Depressionen sind meist die Folge. Der Modebegriff Burnout legt nahe, dass das innere (Lebens-)Feuer zu wenig echte, gehaltvolle Nahrung bekommen hat. Ganz vom Tisch wischen lassen sich Freuds Idee von der Sublimierung und Adlers Begriff der Kompensation also nicht: MUSIK: priv. CD „Flying & Flocking“ aus „Zoë Keaton: Into the Trees“ (01’00’’) ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 14 O-TON Katharina Leube-Sonnleitner: Irgendwas dran ist mit Sicherheit bei allen Strebungen, in denen die Menschen versuchen, mit ihren inneren, mehr oder weniger unlösbaren Widersprüchen, die nicht nur individuell sind, sondern die natürlich ganz allgemein den Menschen prägen, zurechtzukommen. Und das bedeutet, dass natürlich alles, was Menschen tun, um mit der Unausweichlichkeit des Todes zurechtzukommen oder mit der Nichtlebbarkeit von sexuellen Wünschen oder mit dem Bedürfnis in die ideale Zweisamkeitswelt zurückzukehren, die sie mit ihrer Mutter im Idealfall hatten oder eben gerade nicht hatten und sich deswegen ihr Leben danach sehnen und dafür natürlich Kompensationsmechanismen, Pseudolösungen, die auch als Neurosen oder psychosomatische Erkrankungen auftreten können, sozusagen zu entwickeln. ________________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz/Mobilfunk max. 42 Cent pro Minute) Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de
© Copyright 2024 ExpyDoc