RA Dr. Tobias Hermann – Juristisches Repetitorium Hemmer Europarecht: Identitätskontrolle durch das BVerfG I. Ausgangspunkt: „Solange“-Rechtsprechung Die „Solange“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis der Karlsruher Richter zum EuGH gehört zu den „Klassikern“ im Europarecht. Auf nachfolgende Entscheidungen wird beispielhaft verwiesen, die Sie im Examen kennen sollten: 1. Solange I: 1974 2. Solange II: 1986 3. Maastricht: 1993 (BVerfG NJW 1993, 3047) 4. Bananenmarkt: 2001 (L&L 2001, 64 ff.) - Siehe dazu auch Fall 2 Hauptkurs Europarecht - Das BVerfG beschränkt sich auf die „generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards“ und nimmt Verfassungsbeschwerden gegen Unionsrechtsakte (z.B. Verordnungen nach Art. 288 AEUV) ohne nähere Darlegung zum Absinken dieser Grundrechtsstandards auf der europäischen Ebene nicht mehr zur Entscheidung an. Art. 23 I 1 a.E. fordert nur einen „im wesentlichen“ vergleichbaren Grundrechtsschutz auf der europäischen Ebene, den das BVerfG seit der Solange II-Entscheidung bejaht. II. Ausnahmen von dem „Solange II“-Vorbehalt – „Solange III“ Ungeachtet des „Solange II“-Vorbehaltes prüft das Bundesverfassungsgericht auch weiterhin, ob 1. der unantastbare Kerngehalt von Art. 1 und 20 GG verletzt wird, vgl. Art. 23 I 3, 79 III GG (Identitätskontrolle) und 2. ob aus dem Integrationsprogramm „ausbrechende Rechtsakte“ jenseits der Grundlagen der europäischen Verträge vorliegen (ultra-vires-Kontrolle). Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I, II EUV) kann die Union nämlich nur dann tätig werden, wenn ihr zuvor ein entsprechendes Hoheitsrecht übertragen wurde (Art. 23 I 2 GG). 1 RA Dr. Tobias Hermann – Juristisches Repetitorium Hemmer Zu 1.: Das Bundesverfassungsgericht hat mit Datum vom 15.12.2015 erstmalig die sog. Identitätskontrolle aktiviert (2 BvR 2735/14). Dabei ging es um einen Antrag Italiens im Wege eines europäischen Haftbefehls auf Auslieferung eines verurteilten Straftäters, der sich mittlerweile in Deutschland aufhielt, zum Zwecke der Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe. Der Verurteilte ist Amerikaner und wurde 1992 von einem italienischen Gericht zu 30 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er sei Mitglied einer kriminellen Vereinigung und habe Drogen besessen und eingeführt. Das Urteil erging in Abwesenheit des Angeklagten, er wusste nichts davon. Italien hatte einen Europäischen Haftbefehl ausgestellt, auf dessen Grundlage der Verurteilte 2004 in Deutschland festgenommen wurde. Das zuständige Oberlandesgericht Düsseldorf hat das italienische Ersuchen auf Auslieferung für zulässig erklärt. Der Betroffene hat Verfassungsbeschwerde gegen den Auslieferungsbeschluss eingelegt. Das BVerfG hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet. Es hat den Auslieferungsbeschluss daher aufgehoben und die Sache an das OLG Düsseldorf zur erneuten Prüfung zurückverwiesen. Die Zulässigkeitsentscheidung des OLG in Bezug auf das Auslieferungsersuchen Italiens verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Schuldprinzips und ein faires Verfahren aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG. Demnach setzt eine Strafe bzw. die Strafzumessung stets die Feststellung der individuellen Schuld voraus, wofür die Anwesenheit des Beschuldigten unabdingbar ist. Der Schuldgrundsatz ist gefährdet, wenn die Ermittlung des wahren Sachverhaltes vor Ort nicht sichergestellt ist und der Beschuldigte auf Grund der Verhandlung in seiner Abwesenheit nicht die Möglichkeit hat, entlastende Umstände vorzutragen. Nach dem EURahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl kann die Auslieferung u.a. dann verweigert werden, wenn dem Betroffenen in dem Land, in das er ausgeliefert werden soll, kein Rechtsmittel zur Verfügung steht, in dessen Rahmen der Sachverhalt und neue Beweismittel nochmals geprüft werden können. Das italienische Prozessrecht eröffnet dem Beschwerdeführer jedoch gerade nicht die Möglichkeit, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken. Dazu heißt es im Leitsatz des Urteils: „Die deutsche Hoheitsgewalt darf die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen.“ Das BVerfG prüft hier also ausnahmsweise die Zulässigkeit eines europäischen Rechtsaktes, nämlich des EU-Haftbefehls, am Maßstab des deutschen GG. Eine Auslieferung auf der Grundlage des EU-Haftbefehls ist ausgeschlossen, wenn ein Verstoß gegen die nationale Verfassungsidentität, nämlich die Menschenwürde oder rechtsstaatliche Grundsätze, zu befürchten ist. 2 RA Dr. Tobias Hermann – Juristisches Repetitorium Hemmer III. Fazit und Ausblick Die Identitätskontrolle wurde hier erstmals vom BVerfG angewandt und kann – genau wie die „ultra-vires“-Kontrolle - dazu führen, dass Unionsrecht in eng begrenzten Ausnahmefällen in Deutschland für unanwendbar erklärt werden muss. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts findet damit zwei wichtige Einschränkungen, die sich aus Art. 23 I 2 GG, Art. 5 I, II EUV bzw. Art. 23 I 3, 79 III, Art. 1 und 20 GG ergeben. Klausurtipp: In der Klausur ist direkt in der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bei der Beschwerdebefugnis darauf einzugehen, ob eine Grundrechtsverletzung im Hinblick auf den „Solange II“-Vorbehalt überhaupt noch möglich ist. Dabei ist zwischen „einfachen“ und „qualifizierten“ Grundrechtsverletzungen zu differenzieren. Für „einfache“ Grundrechtsverletzungen ohne jeglichen Bezug zu Art. 1 und/oder Art. 20 GG bleibt es beim „Solange II“-Vorbehalt – eine Kontrolle durch das BVerfG findet hier seit 1986 nicht mehr statt. Demgegenüber müssen Sie bei qualifizierten Grundrechtsverletzungen, die sich aus einem Verstoß gegen Art. 1 und/oder 20 GG ergeben, eine Identitätskontrolle vornehmen (siehe dazu Fall 2 Hauptkurs EuropaR). Unabhängig von der Art der Grundrechtsverletzung ist stets eine „ultra-vires“-Kontrolle vorzunehmen, wobei sich für die Kompetenzverstöße der EU Anhaltspunkte im Sachverhalt finden werden. Der Senatsbeschluss vom 15.12.2015 wird sich mit der offiziellen Bezeichnung „Solange III“ in die Reihe der o.g. Leitentscheidungen aus den Jahren 1974 und 1986 einreihen. Das BVerfG hat hier - im Gegensatz zum o.g. EZB-Fall - eine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV nicht für notwendig gehalten, obwohl dem EuGH das Auslegungsmonopol für Unionsrecht zusteht. Sofern die Auslegung des Europarechts jedoch offenkundig sei und für vernünftige Zweifel an der richtigen Auslegung kein Raum bleibe („acte clair“), sieht sich das BVerfG nicht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet. Eine Gefahr der Aushöhlung der europäischen Regelungen bestand hier nicht, weil die EUGrCh, die EMRK und dass GG insoweit kongruent sind. Im Zusammenhang mit der „ultra-vires“-Kontrolle sollten Sie das auf die mündliche Verhandlung vom 16.02.2016 folgende Urteil des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank verfolgen (siehe dazu: BVerfG L&L 2014, 288 ff.; EuGH NJW 2015, 2013 ff. mit Anm. Ruffert, JuS 2015, 758 ff.). 3
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