Mittwoch 20.1.2016

Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016
Mittwoch 20.1
$Id: diffgl.tex,v 1.13 2016/01/20 12:10:27 hk Exp $
§7
Gewöhnliche Differentialgleichungen
7.2
Gleichungen zweiter Ordnung
Wir beschäftigen uns momentan mit der allgemeinen autonomen Differentialgleichung
zweiter Ordnung, also y 00 = f (y, y 0 ) mit einer stetigen Funktion f . Unter der Annahme der Umkehrbarkeit einer Lösung y hatten wir die Hilfsfunktion u(t) := y 0 (y −1 (t))
eingeführt und gesehen das diese die Differentialgleichung
u0 =
f (t, u)
u
erster Ordnung erfüllt. Können wir u mit dieser Gleichung berechnen, so ergibt sich
die Umkehrfunktion y −1 als unbestimmtes Integral
Z
ds
−1
y (t) =
u(s)
und durch Umkehren von y −1 kann man, eventuell, schließlich y selbst bestimmen.
Ist die Ausgangsgleichung als Anfangswertproblem
y 00 = f (y, y 0 ), y(a) = b, y 0 (a) = c
formuliert, so ist y −1 (b) = a, also u(b) = y 0 (y −1 (b)) = y 0 (a) = c, und die Differentialgleichung für u wird zum Anfangswertproblem
u0 =
f (t, u)
, u(b) = c.
u
Die Gleichung für y −1 wird dann weiter zu
Z
−1
y (t) = a +
b
t
ds
.
u(s)
Als ein Beispiel für diesen Gleichungstyp wollen wir einmal das Anfangswertproblem
y 00 = y 0 · (y + 1), y(0) = 0, y 0 (0) =
1
2
anschauen. Das Anfangswertproblem für die Funktion u(t) = y 0 (y −1 (t)) wird zu
u0 =
u · (t + 1)
1
= t + 1, u(0) = ,
u
2
20-1
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wir haben hier also nur das Integrationsproblem
Z t
(t + 1)2
1
.
(s + 1) ds =
u(t) = +
2
2
0
Als Umkehrfunktion von y ergibt sich
t
Z t
ds
2
2 2t
−1
y (t) = 2
=2−
=−
=
.
2
s+1 0
t+1
t+1
0 (s + 1)
Zur Bestimmung von y rechnen wir
s=
s
2t
⇐⇒ (s − 2)t + s = 0 ⇐⇒ t =
,
t+1
2−s
und erhalten schließlich die Lösung
y(t) =
t
.
2−t
Wir wollen uns auch noch ein zweites Beispiel anschauen, den sogenannten freien Fall
aus großer Höhe. Im Gegensatz zum ersten Beispiel werden wir hier allerdings nicht zu
einer symbolischen Lösung der Gleichung kommen, was leider der Normalfall ist. Bei
diesem Problem denken wir uns wir hätten einen Körper im Schwerefeld der Erde und
dieser bewege sich auf einer Geraden durch den Erdmittelpunkt. Dann können wir die
Position des Körpers zum Zeitpunkt t durch seine Höhe z(t), also seinen Abstand zum
Erdmittelpunkt, beschreiben. Zum Zeitpunkt t = 0 sei die Höhe z(0) = h und die Startgeschwindigkeit des Körpers sei v = z 0 (0). Bei ausreichend kleinen Höhen kann man
sich die Erdanziehung als konstant denken, wenn wir aber auch große Höhen“ betrach”
ten wollen, so kann man diese Vereinfachung nicht mehr durchführen und muss wirklich
das allgemeine Gravitationsgesetz verwenden. Die Beschleunigung unseres Körpers zur
Zeit t ist dann
γM
z 00 (t) = −
z(t)2
wobei M die Masse der Erde und γ die Gravitationskonstante sind. Wir nehmen dabei
an, dass die Masse unseres Körper ausreichend klein ist und wir die Erde als im Raum
fixiert betrachten können. Definiert ist das alles auch nur für Höhen z > R wobei R der
Erdradius ist, insbesondere soll h > R sein. Wir haben also das Anfangswertproblem
z 00 = −
γM
, z(0) = h, z 0 (0) = v
z2
zweiter Ordnung, also z 00 = f (z, z 0 ) mit der Funktion f : (R, ∞) × R → R; (z, z 0 ) 7→
−γM/z 2 . Wir versuchen unsere Methode über die Umkehrfunktion durchzuführen.
Solange wir tatsächlich fallen“, also z 0 (t) < 0 ist, ist z ja tatsächlich umkehrbar.
”
Die Startgeschwindigkeit v sollte dann v ≤ 0 erfüllen. Gemäß der Methode führen
wir die Hilfsfunktion u(t) := z 0 (z −1 (t)) ein, also insbesondere u(h) = z 0 (z −1 (h)) =
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z 0 (0) = v. In diesem Beispiel können wir u auch eine inhaltliche Bedeutung geben,
die Umkehrfunktion z −1 ordnet jeder Höhe R < r ≤ h den Zeitpunkt t = z −1 (r)
mit z(t) = r zu, also den Zeitpunkt zu dem unser Körper gerade die Höhe r hat, und
u(r) = z 0 (z −1 (r)) = z 0 (t) ist die Geschwindigkeit die der Körper in diesem Moment hat,
d.h. u(r) ist die Geschwindigkeit in der Höhe r. Gemäß unserer allgemeinen Überlegung
löst die Funktion u die gewöhnliche Differentialgleichung
u0 =
f (t, u)
γM
γM 1
= − 2 = − 2 · , u(h) = v.
u
tu
t
u
Damit erfüllt u eine separierte Differentialgleichung erster Ordnung, und die Lösung
dieser Gleichung ist gegeben durch
Z u(t)
Z t
u(t)2 − v 2
1 1
ds
, also
= γM
−
.
s ds = −γM
2
2
t h
v
h s
Dies können wir nach u(t) auflösen, und erhalten
2
2
u(t) = v + 2γM
1 1
−
t h
s
, d.h. u(t) = − v 2 + 2γM
1 1
−
,
t h
da unsere Körper ja wirklich fallen soll“, also negative Geschwindigkeit hat. Für die
”
Umkehrfunktion z −1 ergibt sich
Z t
ds
−1
.
z (t) = −
1 1/2
1
2
h (v + 2γM s − h )
Das Integral auf der rechten Seite kann man elementar berechnen, wir wollen hier
aber darauf verzichten, denn die entstehende Formel ist so kompliziert das sich die
Umkehrung z(t) hieraus nicht mehr vernünftig berechnen läßt. Auch wenn man so
keine geschlossene Formel für z(t) erhält, können die erhaltenen Formeln durchaus
nützlich sein. Beispielsweise ergibt sich die Geschwindigkeit mit der unser Körper auf
die Erdoberfläche trifft als
s
1
1
−
.
u(R) = − v 2 + 2γM
R h
Im Fall v > 0 können wir analog vorgehen, nur ist dann u(t) > 0 da unser Körper
zunächst an Höhe gewinnt. Betrachten wir dann die Formel
s
1 1
2
u(t) = v + 2γM
−
,
t h
so ergeben sich zwei mögliche Fälle. Im Fall
r
2γM
2γM
v≥
, also
− v2 ≤ 0
h
h
20-3
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ist der Term unter der Wurzel stets positiv, der Körper gewinnt also fortwährend an
Höhe, d.h. er entkommt dem Schwerefeld der Erde. Die Geschwindigkeit nähert sich
dabei der Geschwindigkeit im Unendlichen“
”
r
2γM
lim u(t) = v 2 −
t→∞
h
an. Im speziellen Fall
r
2γM
h
haben wir die Fluchtgeschwindigkeit aus der Starthöhe h, dies ist die kleinste Anfangsgeschwindigkeit die unser Körper haben muss um startend in Höhe h die Erdanziehung
überwinden zu können, die Geschwindigkeit im Unendlichen wird dann zu Null. Starten wir insbesondere auf der Erdoberfläche h = R, so erhalten wir die wohlbekannte
Fluchtgeschwindigkeit
r
p
2γM
v=
= 2Rg,
R
2
wobei g = γM/R die Erdbeschleunigung ist. Im zweiten Fall
r
2γM
v<
h
v=
ist die Startgeschwindigkeit zu klein, und der Körper steigt nur bis zur Höhe H gegeben
durch
1
2γM h
1
1
2
v + 2γM
−
= 0, also H = v2
= 2
.
1
H h
v h − 2γM
−h
2γM
7.3
Linienelemente und der Satz von Peano
Wir wollen nun eine für qualitative Überlegungen gelegentlich hilfreiche, geometrische Interpretation der allgemeinen, expliziten gewöhnlichen Differentialgleichung y 0 =
f (t, y) erster Ordnung beschreiben.
Angenommen wir haben eine solche Gleiy
chung f : U → R definiert auf einer offenen Men2
ge U ⊆ R gegeben. Eine Lösung y der Gleichung
erfüllt dann die Bedingung y 0 (t) = f (t, y(t)), d.h.
U
y’=f(t,y)
die Steigung der Tangente an den Graphen von y
α
y im Punkt (t, y(t)) ist durch die Funktion f vorgegeben. Wir können uns die Funktion f also so
vorstellen, das an jedem Punkt (t, y) ∈ U von U
eine Steigung vorgegeben wird. Diese vorgegebet
ne Steigung wird dann durch den rechts einget
zeichneten Winkel α ∈ (−π/2, π/2) beschrieben,
die Tangente ist also die Gerade l(s) = y + tan α · (s − t). Das Tripel (t, y, α) wird
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als ein Linienelement, oder Richtungselement, bezeichnet, d.h. eine Linienelement ist
ein Punkt versehen mit einer vorgegebenen Steigung in diesem Punkt, beziehungsweise ein Punkt mit einer vorgegebenen Tangente. Die Funktion f ordnet jedem Punkt
von U ein solches Linienelement zu, und die Gesamtheit dieser Linienelemente bildet
dann das sogenannte Richtungsfeld der expliziten Differentialgleichung y 0 = f (t, y).
Die Lösungen der Differentialgleichung y 0 = f (t, y) sind dann Kurven die den durch
das Richtungsfeld vorgeschriebenen Steigungen folgen. Mit etwas Übung kann man eine solche Differentialgleichung dann auch, zumindest näherungsweise, durch Zeichnen
des Funktionsgraphen lösen indem die Kurve den Tangentenrichtungen folgend gemalt
wird. Derartige Techniken sind aber durch die Verwendung numerischer Methoden auf
Computern eher obsolet geworden.
Wir schauen uns nun einige Beispiele derartiger Richtungsfelder an.
3
3
2
2
y(t)
y(t)
1
–3
–2
1
0
–1
1
2
3
–3
–2
0
–1
1
t
2
t
–1
–1
–2
–2
–3
–3
y 0 = 2y
y 0 = ty
2
3
2
y(t)
y(t)
1
1
–3
–2
0
–1
1
2
–10
3
–5
0
5
10
t
t
–1
–1
–2
–3
0
–2
0
y
y = te
y = 2y + sin t
20-5
3
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Auch für implizite gewöhnliche Differentialgleichungen F (t, y, y 0 ) = 0 erster Ordnung kann man Linienelemente und so etwas Ähnliches wie ein Richtungsfeld definieren. Ist y eine Lösung von F (t, y, y 0 ), so erfüllt jedes Linienelement (t, y(t), y 0 (t)) die
Gleichung F (t, y(t), y 0 (t)) = 0, wir haben also eine Menge
L := {(t, y, α) ∈ U × (−π/2, π/2)|F (t, y, tan α) = 0}
erlaubter Linienelemente und an jedem Punkt (t, y) ∈ U können wir alle Linienelemente
der Form (t, y, α) aus L ankleben. An einigen Punkten sind dann eventuell gar keine
Linienelemente angeheftet und an anderen mehrere, es können sogar unendlich viele
sein. Auch hierfür wollen wir zwei Beispiele hinmalen
3
3
2
2
y(t)
y(t)
1
–3
–2
–1
0
1
1
2
3
–3
–2
–1
0
1
t
2
3
t
–1
–1
–2
–2
–3
–3
yy 0 = t
(y 0 )2 − y 2 = 1
Bei der Gleichung yy 0 = t ist beispielsweise F (t, y, y 0 ) = yy 0 − t. Für Punkte (t, y) =
(t, 0) mit t 6= 0 haben wir dann gar kein Linienelement und an (t, y) = (0, 0) sind
überhaupt alle möglichen Steigungen angeklebt, im Bild sind davon nur zwei gezeigt.
Wie sich dies auf die Lösungen von Anfangswertproblemen zu yy 0 = t auswirkt wird
in Aufgabe (42) untersucht. Wie schon erwähnt läßt die Interpretation der Lösungen
einer gewöhnlichen Differentialgleichung als Kurven die dem Richtungsfeld folgen die
Existenz von Lösungen zumindest plausibel erscheinen. Verwendet man höherdimensionale Richtungsfelder so ergibt sich dies entsprechend auch für Systeme gewöhnlicher
Differentialgleichungen erster Ordnung. Für Differentialgleichungen zweiter und höherer Ordnung hat man zunächst kein so einfaches Argument, aber diese lassen sich durch
eine kleine Hilfskonstruktion als Systeme von Gleichungen erster Ordnung interpretieren indem die höheren Ableitungen künstlich als Variablen aufgefasst werden. Zum
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Beispiel ist die Gleichung zweiter Ordnung y 00 = ty(t)y 0 (t) gleichwertig zum System
y 0 = z, z 0 = tyz
zweier Gleichungen erster Ordnung. Diese Überlegungen kann man exakt durchführen
und erhält schließlich einen allgemeinen Lösbarkeitssatz.
Satz 7.2 (Existenzsatz von Peano)
Seien n, m ∈ N, U ⊆ Rnm+1 offen und f : U → Rm eine stetige Funktion. Dann hat
das Anfangswertproblem
y (n) = f (t, y, . . . , y (n−1) ), y(a) = b0 , . . . , y (n−1) (a) = bn−1
für alle (a, b0 , . . . , bn−1 ) ∈ U eine maximale Lösung die bis zum Rand von U läuft, d.h.
ist a ∈ R ein Randpunkt von I, so existiert eine gegen a konvergente Folge (tk )k∈N in
I mit
lim |y (i) (tk )| = ∞
k→∞
für ein 0 ≤ i < n oder
lim d(∂U, (tk , y(tk ), . . . , y (n−1) (tk ))) = 0.
k→∞
Im Vergleich zu Satz 1 haben wir beim Satz von Peano eine etwas schwächere Voraussetzung, es wird nur angenommen das die rechte Seite der Gleichung stetig ist, aber
andererseits auch eine etwas schwächere Aussage, die Lösungen von Anfangswertproblemen müssen nicht mehr eindeutig sein. Das letzteres
ptatsächlich vorkommt hatten
0
wir bereits am Beispiel der Differentialgleichung y = 2 |y| gesehen.
Die Überlegungen zum Satz von Peano liefern uns auch ein Näherungsverfahren zur
Lösung von Anfangswertproblemen y 0 = f (t, y), y(a) = b. Angenommen wir wollen eine
Lösung auf einem Intervall [a, a0 ] näherungsweise berechnen. Hierzu geben wir uns eine
Zerlegung α = (t0 , . . . , tr ) des Intervalls [a, a0 ] vor, d.h. wir unterteilen das Intervall in
a = t0 < t1 < · · · < tr = a0 . Auf dem ersten Teilintervall [t0 , t1 ] nähern wir die Lösung
durch eine Gerade an, die in t = a den richtigen Wert y(a) = b und die gewünschte
Steigung y 0 (a) = f (a, y(a)) = f (a, b) hat, es ist also
yα (t) = b + f (a, b) · (t − a) für a = t0 ≤ t ≤ t1 .
Am rechten Endpunkt t1 des Teilintervalls haben wir dann die Näherung yα (t1 ) an y(t1 )
und wir nähern y auf dem zweiten Teilintervall [t1 , t2 ] durch eine weitere Gerade an, die
an die bereits konstruierte Gerade anschließt, also in t = t1 den Wert yα (t1 ) hat und
zusätzlich die durch die Differentialgleichung vorgeschtriebene Steigung f (t1 , yα (t1 ))
an, d.h.
yα (t) = yα (t1 ) + f (t1 , yα (t1 )) · (t − t1 ) für t1 ≤ t ≤ t2 .
So fahren wir fort bis ganz [a, a0 ] abgedeckt ist, d.h. ist yα bereits auf [a, tk ] für ein
1 ≤ k < r definiert, so setzen wir im nächsten Teilintervall
yα (t) = yα (tk ) + f (tk , yα (tk )) · (t − tk ) für tk ≤ t ≤ tk+1 .
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Auf diese Weise erhalten wir eine Näherungslösung yα : [a, a0 ] → R zum Anfangswertproblem y 0 = f (t, y), y(a) = b, den sogenannten Cauchyschen Polygonzug zur
Zerlegung α von [a, a0 ]. Bilden wir Grenzwert δ(α) −→ 0, lassen also die Feinheit der
Zerlegung gegen 0 gehen, so sollte“ die entsprechende Folge yα der Cauchyschen Po”
lygonzüge gegen eine Lösung des Anfangswertproblems konvergieren. Leider ist dies
bei einer nur als stetig vorausgesetzten rechten Seite f falsch, man kann nur zeigen
das es geeignete Folgen von Zerlegungen gibt bei denen Konvergenz gegen eine Lösung
vorliegt. Ist das Problem allerdings eindeutig lösbar, so konvergiert tatsächlich jede
Folge Cauchyscher Polygonzüge deren Feinheit eine Nullfolge bildet gleichmäßig gegen
die Lösung des Anfangswertproblems. Ein Beispiel hiezu wird in den Übungsaufgaben
behandelt.
7.4
Taylorpolynome und Potenzreihen
Wie bereits bemerkt lassen sich auch recht einfach
erscheinende Gleichungen oft nicht durch explizite
Formeln lösen. Als ein Beispiel einer solchen Gleiφ(t)
l
chung wollen wir das mathematische Pendel behandeln. Dieses erfüllt die Differentialgleichung
(x(t), y(t))
g
φ00 = − sin φ,
F
l
wie wir zum Beispiel in II.§1.1 im letzten Semester hergeleitet haben. Eine direkte Lösung ist nicht
möglich.
Eine Möglichkeit dieses Problem zu umgehen, ist es sich auf den sogenannten Fall
kleiner Ausschläge“ zu beschränken. Dies meint das die Winkel |φ(t)| nicht zu gross
”
werden sollen. Für solche kleinen Winkel φ konnte man den Sinus sin φ ≈ φ annähern,
und die Pendelgleichung ging in die approximierte Pendelgleichung
g
φe00 = − φe
l
über. Wie wir ebenfalls schon in II.§1.1 des letzten Semesters festgehalten haben, ist
die allgemeine Lösung dieser vereinfachten Pendelgleichung durch
r r g
g
e = A sin
φ(t)
t + B cos
t
l
l
e
gegeben. Betrachten wir also das Anfangswertproblem φ(0)
= 0 und φe0 (0) = v/l, so
erhalten wir wegen
r
0
e = B und φe (0) = A g
φ(0)
l
√
für die Koeffizienten A = v/ gl und B = 0, also
r X
∞
v
g
(−1)n vg n 2n+1 v
gv 3
g2v 5
e = √ sin
φ(t)
t =
t
t
−
t
t + ···
=
+
n+1
2
3
l
(2n
+
1)!
l
l
6l
120l
gl
n=0
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Wir wollen jetzt möglichst genau bestimmen, wie gut die Funktion φe die korrekte
Lösung φ in der Nähe von t = 0 approximiert. Zu diesem Zweck werden wir die ersten
Taylorpolynome von φ im Nullpunkt ausrechnen. Dies können wir tun, auch wenn wir
die Funktion φ selbst nicht berechnen können. Betrachte wieder eine Lösung φ des
Anfangswertproblems
g
v
φ00 = − sin φ, φ(0) = 0, φ0 (0) = .
l
l
Nach Satz 1 ist dieses Anfangswertproblem eindeutig lösbar, die Funktion φ ist also vollständig festgelegt. Zunächst behaupten wir das φ eine ungerade Funktion ist.
Betrachten wir nämlich die Funktion ψ(t) := −φ(−t), so ist ψ(0) = 0,
ψ 0 (t) = φ0 (−t), ψ 0 (0) = φ0 (0) =
v
l
und
g
g
g
sin φ(−t) = − sin(−φ(−t)) = − sin ψ(t).
l
l
l
Damit erfüllt auch ψ das Anfangswertproblem, also ist ψ = φ und somit φ(−t) = −φ(t),
d.h. φ ist eine ungerade Funktion. Insbesondere kommen in unseren Taylorpolynomen
nur ungerade Potenzen von t vor, was die folgenden Rechnungen etwas erleichtert. Das
n-te Taylorpolynom der Funktion φ ist gegeben als
ψ 00 (t) = −φ00 (−t) =
Tn (t) =
n
X
φ(k) (0)
k=0
k!
tk
und wie gesagt kommen nur Terme ungerader Ordnung vor. Daraus und aus den Anfangsbedingungen φ(0) = 0, φ0 (0) = v/l ergeben sich die ersten Taylorpolynome als
T0 (t) = 0, T1 (t) =
v
v
t, T2 (t) = T1 (t) = t.
l
l
Was ist nun das Taylorpolynom T3 ? Hierzu brauchen wir den Wert der dritten Ableitung φ000 (0), was zunächst problematisch aussieht da wir ja weder φ noch φ000 konkret
kennen. Wir können aber aus der Gleichung φ00 = −(g/l) sin φ eine Gleichung für φ000
herleiten, indem wir beide Seiten unserer Differentialgleichung differenzieren, also
g
0
g
000
φ = − sin φ = − φ0 cos φ
l
l
und insbesondere
g
gv
v
gv
φ000 (0) = − φ0 (0) cos φ(0) = − 2 sowie T3 (t) = t − 2 t3 .
l
l
l
6l
Dies stimmt mit dem dritten Taylorpolynom der Lösung φe für kleine Ausschläge überein. Wir wollen diese Rechnung noch ein wenig weiterführen und auch das fünfte
Taylorpolynom berechnen. Hierzu bestimmen wir Formeln für die vierte und fünfte
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Ableitung der Funktion φ indem wir unsere Differentialgleichung weiter ableiten und
bei jedem Auftreten von φ00 die Formel φ00 = −(g/l) sin φ einsetzen
g 2
g2
g 2
g
φ(4) = − φ00 cos φ + φ0 sin φ = 2 sin(2φ) + φ0 sin φ,
l
l
2l
l
2
g
2g
g
3
φ(5) = 2 φ0 cos(2φ) + φ0 φ00 sin φ + φ0 cos φ
l
l
l
2g 2 0 2
g 3
g2 0
= 2 φ cos(2φ) − 2 φ sin φ + φ0 cos φ.
l
l
l
2
Insbesondere sind damit φ(4) (0) = 0 und φ(5) (0) = gl3 v + lg4 v 3 also T4 = T3 und
2
gv 3
g v
gv 3
v
+
t5 .
T5 (t) = t − 2 t +
3
4
l
6l
120l
120l
Vergleichen wir dies mit der Näherungslösung φe für kleine Ausschläge so ergibt sich
3
e = gv t5 + · · ·
φ(t) − φ(t)
120l4
Der Unterschied zwischen φ und φe ist also von Ordnung t5 und wird mit der dritten
Potenz der Startgeschwindigkeit kleiner.
Die hier verwendete Methode zur Berechnung der Taylorpolynome ist immer anwendbar, durch fortgesetztes Ableiten der Differentialgleichung erhält man Formeln
für die höheren Ableitungen einer Lösung und durch Einsetzen der Anfangswerte beim
Startwert t = a ergeben sich die Werte aller Ableitungen bei t = a und wir können die
Taylorpolynome zum Entwicklungspunkt t = a berechnen.
20-10