Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 $Id: diffgl.tex,v 1.13 2016/01/20 12:10:27 hk Exp $ §7 Gewöhnliche Differentialgleichungen 7.2 Gleichungen zweiter Ordnung Wir beschäftigen uns momentan mit der allgemeinen autonomen Differentialgleichung zweiter Ordnung, also y 00 = f (y, y 0 ) mit einer stetigen Funktion f . Unter der Annahme der Umkehrbarkeit einer Lösung y hatten wir die Hilfsfunktion u(t) := y 0 (y −1 (t)) eingeführt und gesehen das diese die Differentialgleichung u0 = f (t, u) u erster Ordnung erfüllt. Können wir u mit dieser Gleichung berechnen, so ergibt sich die Umkehrfunktion y −1 als unbestimmtes Integral Z ds −1 y (t) = u(s) und durch Umkehren von y −1 kann man, eventuell, schließlich y selbst bestimmen. Ist die Ausgangsgleichung als Anfangswertproblem y 00 = f (y, y 0 ), y(a) = b, y 0 (a) = c formuliert, so ist y −1 (b) = a, also u(b) = y 0 (y −1 (b)) = y 0 (a) = c, und die Differentialgleichung für u wird zum Anfangswertproblem u0 = f (t, u) , u(b) = c. u Die Gleichung für y −1 wird dann weiter zu Z −1 y (t) = a + b t ds . u(s) Als ein Beispiel für diesen Gleichungstyp wollen wir einmal das Anfangswertproblem y 00 = y 0 · (y + 1), y(0) = 0, y 0 (0) = 1 2 anschauen. Das Anfangswertproblem für die Funktion u(t) = y 0 (y −1 (t)) wird zu u0 = u · (t + 1) 1 = t + 1, u(0) = , u 2 20-1 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 wir haben hier also nur das Integrationsproblem Z t (t + 1)2 1 . (s + 1) ds = u(t) = + 2 2 0 Als Umkehrfunktion von y ergibt sich t Z t ds 2 2 2t −1 y (t) = 2 =2− =− = . 2 s+1 0 t+1 t+1 0 (s + 1) Zur Bestimmung von y rechnen wir s= s 2t ⇐⇒ (s − 2)t + s = 0 ⇐⇒ t = , t+1 2−s und erhalten schließlich die Lösung y(t) = t . 2−t Wir wollen uns auch noch ein zweites Beispiel anschauen, den sogenannten freien Fall aus großer Höhe. Im Gegensatz zum ersten Beispiel werden wir hier allerdings nicht zu einer symbolischen Lösung der Gleichung kommen, was leider der Normalfall ist. Bei diesem Problem denken wir uns wir hätten einen Körper im Schwerefeld der Erde und dieser bewege sich auf einer Geraden durch den Erdmittelpunkt. Dann können wir die Position des Körpers zum Zeitpunkt t durch seine Höhe z(t), also seinen Abstand zum Erdmittelpunkt, beschreiben. Zum Zeitpunkt t = 0 sei die Höhe z(0) = h und die Startgeschwindigkeit des Körpers sei v = z 0 (0). Bei ausreichend kleinen Höhen kann man sich die Erdanziehung als konstant denken, wenn wir aber auch große Höhen“ betrach” ten wollen, so kann man diese Vereinfachung nicht mehr durchführen und muss wirklich das allgemeine Gravitationsgesetz verwenden. Die Beschleunigung unseres Körpers zur Zeit t ist dann γM z 00 (t) = − z(t)2 wobei M die Masse der Erde und γ die Gravitationskonstante sind. Wir nehmen dabei an, dass die Masse unseres Körper ausreichend klein ist und wir die Erde als im Raum fixiert betrachten können. Definiert ist das alles auch nur für Höhen z > R wobei R der Erdradius ist, insbesondere soll h > R sein. Wir haben also das Anfangswertproblem z 00 = − γM , z(0) = h, z 0 (0) = v z2 zweiter Ordnung, also z 00 = f (z, z 0 ) mit der Funktion f : (R, ∞) × R → R; (z, z 0 ) 7→ −γM/z 2 . Wir versuchen unsere Methode über die Umkehrfunktion durchzuführen. Solange wir tatsächlich fallen“, also z 0 (t) < 0 ist, ist z ja tatsächlich umkehrbar. ” Die Startgeschwindigkeit v sollte dann v ≤ 0 erfüllen. Gemäß der Methode führen wir die Hilfsfunktion u(t) := z 0 (z −1 (t)) ein, also insbesondere u(h) = z 0 (z −1 (h)) = 20-2 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 z 0 (0) = v. In diesem Beispiel können wir u auch eine inhaltliche Bedeutung geben, die Umkehrfunktion z −1 ordnet jeder Höhe R < r ≤ h den Zeitpunkt t = z −1 (r) mit z(t) = r zu, also den Zeitpunkt zu dem unser Körper gerade die Höhe r hat, und u(r) = z 0 (z −1 (r)) = z 0 (t) ist die Geschwindigkeit die der Körper in diesem Moment hat, d.h. u(r) ist die Geschwindigkeit in der Höhe r. Gemäß unserer allgemeinen Überlegung löst die Funktion u die gewöhnliche Differentialgleichung u0 = f (t, u) γM γM 1 = − 2 = − 2 · , u(h) = v. u tu t u Damit erfüllt u eine separierte Differentialgleichung erster Ordnung, und die Lösung dieser Gleichung ist gegeben durch Z u(t) Z t u(t)2 − v 2 1 1 ds , also = γM − . s ds = −γM 2 2 t h v h s Dies können wir nach u(t) auflösen, und erhalten 2 2 u(t) = v + 2γM 1 1 − t h s , d.h. u(t) = − v 2 + 2γM 1 1 − , t h da unsere Körper ja wirklich fallen soll“, also negative Geschwindigkeit hat. Für die ” Umkehrfunktion z −1 ergibt sich Z t ds −1 . z (t) = − 1 1/2 1 2 h (v + 2γM s − h ) Das Integral auf der rechten Seite kann man elementar berechnen, wir wollen hier aber darauf verzichten, denn die entstehende Formel ist so kompliziert das sich die Umkehrung z(t) hieraus nicht mehr vernünftig berechnen läßt. Auch wenn man so keine geschlossene Formel für z(t) erhält, können die erhaltenen Formeln durchaus nützlich sein. Beispielsweise ergibt sich die Geschwindigkeit mit der unser Körper auf die Erdoberfläche trifft als s 1 1 − . u(R) = − v 2 + 2γM R h Im Fall v > 0 können wir analog vorgehen, nur ist dann u(t) > 0 da unser Körper zunächst an Höhe gewinnt. Betrachten wir dann die Formel s 1 1 2 u(t) = v + 2γM − , t h so ergeben sich zwei mögliche Fälle. Im Fall r 2γM 2γM v≥ , also − v2 ≤ 0 h h 20-3 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 ist der Term unter der Wurzel stets positiv, der Körper gewinnt also fortwährend an Höhe, d.h. er entkommt dem Schwerefeld der Erde. Die Geschwindigkeit nähert sich dabei der Geschwindigkeit im Unendlichen“ ” r 2γM lim u(t) = v 2 − t→∞ h an. Im speziellen Fall r 2γM h haben wir die Fluchtgeschwindigkeit aus der Starthöhe h, dies ist die kleinste Anfangsgeschwindigkeit die unser Körper haben muss um startend in Höhe h die Erdanziehung überwinden zu können, die Geschwindigkeit im Unendlichen wird dann zu Null. Starten wir insbesondere auf der Erdoberfläche h = R, so erhalten wir die wohlbekannte Fluchtgeschwindigkeit r p 2γM v= = 2Rg, R 2 wobei g = γM/R die Erdbeschleunigung ist. Im zweiten Fall r 2γM v< h v= ist die Startgeschwindigkeit zu klein, und der Körper steigt nur bis zur Höhe H gegeben durch 1 2γM h 1 1 2 v + 2γM − = 0, also H = v2 = 2 . 1 H h v h − 2γM −h 2γM 7.3 Linienelemente und der Satz von Peano Wir wollen nun eine für qualitative Überlegungen gelegentlich hilfreiche, geometrische Interpretation der allgemeinen, expliziten gewöhnlichen Differentialgleichung y 0 = f (t, y) erster Ordnung beschreiben. Angenommen wir haben eine solche Gleiy chung f : U → R definiert auf einer offenen Men2 ge U ⊆ R gegeben. Eine Lösung y der Gleichung erfüllt dann die Bedingung y 0 (t) = f (t, y(t)), d.h. U y’=f(t,y) die Steigung der Tangente an den Graphen von y α y im Punkt (t, y(t)) ist durch die Funktion f vorgegeben. Wir können uns die Funktion f also so vorstellen, das an jedem Punkt (t, y) ∈ U von U eine Steigung vorgegeben wird. Diese vorgegebet ne Steigung wird dann durch den rechts einget zeichneten Winkel α ∈ (−π/2, π/2) beschrieben, die Tangente ist also die Gerade l(s) = y + tan α · (s − t). Das Tripel (t, y, α) wird 20-4 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 als ein Linienelement, oder Richtungselement, bezeichnet, d.h. eine Linienelement ist ein Punkt versehen mit einer vorgegebenen Steigung in diesem Punkt, beziehungsweise ein Punkt mit einer vorgegebenen Tangente. Die Funktion f ordnet jedem Punkt von U ein solches Linienelement zu, und die Gesamtheit dieser Linienelemente bildet dann das sogenannte Richtungsfeld der expliziten Differentialgleichung y 0 = f (t, y). Die Lösungen der Differentialgleichung y 0 = f (t, y) sind dann Kurven die den durch das Richtungsfeld vorgeschriebenen Steigungen folgen. Mit etwas Übung kann man eine solche Differentialgleichung dann auch, zumindest näherungsweise, durch Zeichnen des Funktionsgraphen lösen indem die Kurve den Tangentenrichtungen folgend gemalt wird. Derartige Techniken sind aber durch die Verwendung numerischer Methoden auf Computern eher obsolet geworden. Wir schauen uns nun einige Beispiele derartiger Richtungsfelder an. 3 3 2 2 y(t) y(t) 1 –3 –2 1 0 –1 1 2 3 –3 –2 0 –1 1 t 2 t –1 –1 –2 –2 –3 –3 y 0 = 2y y 0 = ty 2 3 2 y(t) y(t) 1 1 –3 –2 0 –1 1 2 –10 3 –5 0 5 10 t t –1 –1 –2 –3 0 –2 0 y y = te y = 2y + sin t 20-5 3 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 Auch für implizite gewöhnliche Differentialgleichungen F (t, y, y 0 ) = 0 erster Ordnung kann man Linienelemente und so etwas Ähnliches wie ein Richtungsfeld definieren. Ist y eine Lösung von F (t, y, y 0 ), so erfüllt jedes Linienelement (t, y(t), y 0 (t)) die Gleichung F (t, y(t), y 0 (t)) = 0, wir haben also eine Menge L := {(t, y, α) ∈ U × (−π/2, π/2)|F (t, y, tan α) = 0} erlaubter Linienelemente und an jedem Punkt (t, y) ∈ U können wir alle Linienelemente der Form (t, y, α) aus L ankleben. An einigen Punkten sind dann eventuell gar keine Linienelemente angeheftet und an anderen mehrere, es können sogar unendlich viele sein. Auch hierfür wollen wir zwei Beispiele hinmalen 3 3 2 2 y(t) y(t) 1 –3 –2 –1 0 1 1 2 3 –3 –2 –1 0 1 t 2 3 t –1 –1 –2 –2 –3 –3 yy 0 = t (y 0 )2 − y 2 = 1 Bei der Gleichung yy 0 = t ist beispielsweise F (t, y, y 0 ) = yy 0 − t. Für Punkte (t, y) = (t, 0) mit t 6= 0 haben wir dann gar kein Linienelement und an (t, y) = (0, 0) sind überhaupt alle möglichen Steigungen angeklebt, im Bild sind davon nur zwei gezeigt. Wie sich dies auf die Lösungen von Anfangswertproblemen zu yy 0 = t auswirkt wird in Aufgabe (42) untersucht. Wie schon erwähnt läßt die Interpretation der Lösungen einer gewöhnlichen Differentialgleichung als Kurven die dem Richtungsfeld folgen die Existenz von Lösungen zumindest plausibel erscheinen. Verwendet man höherdimensionale Richtungsfelder so ergibt sich dies entsprechend auch für Systeme gewöhnlicher Differentialgleichungen erster Ordnung. Für Differentialgleichungen zweiter und höherer Ordnung hat man zunächst kein so einfaches Argument, aber diese lassen sich durch eine kleine Hilfskonstruktion als Systeme von Gleichungen erster Ordnung interpretieren indem die höheren Ableitungen künstlich als Variablen aufgefasst werden. Zum 20-6 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 Beispiel ist die Gleichung zweiter Ordnung y 00 = ty(t)y 0 (t) gleichwertig zum System y 0 = z, z 0 = tyz zweier Gleichungen erster Ordnung. Diese Überlegungen kann man exakt durchführen und erhält schließlich einen allgemeinen Lösbarkeitssatz. Satz 7.2 (Existenzsatz von Peano) Seien n, m ∈ N, U ⊆ Rnm+1 offen und f : U → Rm eine stetige Funktion. Dann hat das Anfangswertproblem y (n) = f (t, y, . . . , y (n−1) ), y(a) = b0 , . . . , y (n−1) (a) = bn−1 für alle (a, b0 , . . . , bn−1 ) ∈ U eine maximale Lösung die bis zum Rand von U läuft, d.h. ist a ∈ R ein Randpunkt von I, so existiert eine gegen a konvergente Folge (tk )k∈N in I mit lim |y (i) (tk )| = ∞ k→∞ für ein 0 ≤ i < n oder lim d(∂U, (tk , y(tk ), . . . , y (n−1) (tk ))) = 0. k→∞ Im Vergleich zu Satz 1 haben wir beim Satz von Peano eine etwas schwächere Voraussetzung, es wird nur angenommen das die rechte Seite der Gleichung stetig ist, aber andererseits auch eine etwas schwächere Aussage, die Lösungen von Anfangswertproblemen müssen nicht mehr eindeutig sein. Das letzteres ptatsächlich vorkommt hatten 0 wir bereits am Beispiel der Differentialgleichung y = 2 |y| gesehen. Die Überlegungen zum Satz von Peano liefern uns auch ein Näherungsverfahren zur Lösung von Anfangswertproblemen y 0 = f (t, y), y(a) = b. Angenommen wir wollen eine Lösung auf einem Intervall [a, a0 ] näherungsweise berechnen. Hierzu geben wir uns eine Zerlegung α = (t0 , . . . , tr ) des Intervalls [a, a0 ] vor, d.h. wir unterteilen das Intervall in a = t0 < t1 < · · · < tr = a0 . Auf dem ersten Teilintervall [t0 , t1 ] nähern wir die Lösung durch eine Gerade an, die in t = a den richtigen Wert y(a) = b und die gewünschte Steigung y 0 (a) = f (a, y(a)) = f (a, b) hat, es ist also yα (t) = b + f (a, b) · (t − a) für a = t0 ≤ t ≤ t1 . Am rechten Endpunkt t1 des Teilintervalls haben wir dann die Näherung yα (t1 ) an y(t1 ) und wir nähern y auf dem zweiten Teilintervall [t1 , t2 ] durch eine weitere Gerade an, die an die bereits konstruierte Gerade anschließt, also in t = t1 den Wert yα (t1 ) hat und zusätzlich die durch die Differentialgleichung vorgeschtriebene Steigung f (t1 , yα (t1 )) an, d.h. yα (t) = yα (t1 ) + f (t1 , yα (t1 )) · (t − t1 ) für t1 ≤ t ≤ t2 . So fahren wir fort bis ganz [a, a0 ] abgedeckt ist, d.h. ist yα bereits auf [a, tk ] für ein 1 ≤ k < r definiert, so setzen wir im nächsten Teilintervall yα (t) = yα (tk ) + f (tk , yα (tk )) · (t − tk ) für tk ≤ t ≤ tk+1 . 20-7 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 Auf diese Weise erhalten wir eine Näherungslösung yα : [a, a0 ] → R zum Anfangswertproblem y 0 = f (t, y), y(a) = b, den sogenannten Cauchyschen Polygonzug zur Zerlegung α von [a, a0 ]. Bilden wir Grenzwert δ(α) −→ 0, lassen also die Feinheit der Zerlegung gegen 0 gehen, so sollte“ die entsprechende Folge yα der Cauchyschen Po” lygonzüge gegen eine Lösung des Anfangswertproblems konvergieren. Leider ist dies bei einer nur als stetig vorausgesetzten rechten Seite f falsch, man kann nur zeigen das es geeignete Folgen von Zerlegungen gibt bei denen Konvergenz gegen eine Lösung vorliegt. Ist das Problem allerdings eindeutig lösbar, so konvergiert tatsächlich jede Folge Cauchyscher Polygonzüge deren Feinheit eine Nullfolge bildet gleichmäßig gegen die Lösung des Anfangswertproblems. Ein Beispiel hiezu wird in den Übungsaufgaben behandelt. 7.4 Taylorpolynome und Potenzreihen Wie bereits bemerkt lassen sich auch recht einfach erscheinende Gleichungen oft nicht durch explizite Formeln lösen. Als ein Beispiel einer solchen Gleiφ(t) l chung wollen wir das mathematische Pendel behandeln. Dieses erfüllt die Differentialgleichung (x(t), y(t)) g φ00 = − sin φ, F l wie wir zum Beispiel in II.§1.1 im letzten Semester hergeleitet haben. Eine direkte Lösung ist nicht möglich. Eine Möglichkeit dieses Problem zu umgehen, ist es sich auf den sogenannten Fall kleiner Ausschläge“ zu beschränken. Dies meint das die Winkel |φ(t)| nicht zu gross ” werden sollen. Für solche kleinen Winkel φ konnte man den Sinus sin φ ≈ φ annähern, und die Pendelgleichung ging in die approximierte Pendelgleichung g φe00 = − φe l über. Wie wir ebenfalls schon in II.§1.1 des letzten Semesters festgehalten haben, ist die allgemeine Lösung dieser vereinfachten Pendelgleichung durch r r g g e = A sin φ(t) t + B cos t l l e gegeben. Betrachten wir also das Anfangswertproblem φ(0) = 0 und φe0 (0) = v/l, so erhalten wir wegen r 0 e = B und φe (0) = A g φ(0) l √ für die Koeffizienten A = v/ gl und B = 0, also r X ∞ v g (−1)n vg n 2n+1 v gv 3 g2v 5 e = √ sin φ(t) t = t t − t t + ··· = + n+1 2 3 l (2n + 1)! l l 6l 120l gl n=0 20-8 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 Wir wollen jetzt möglichst genau bestimmen, wie gut die Funktion φe die korrekte Lösung φ in der Nähe von t = 0 approximiert. Zu diesem Zweck werden wir die ersten Taylorpolynome von φ im Nullpunkt ausrechnen. Dies können wir tun, auch wenn wir die Funktion φ selbst nicht berechnen können. Betrachte wieder eine Lösung φ des Anfangswertproblems g v φ00 = − sin φ, φ(0) = 0, φ0 (0) = . l l Nach Satz 1 ist dieses Anfangswertproblem eindeutig lösbar, die Funktion φ ist also vollständig festgelegt. Zunächst behaupten wir das φ eine ungerade Funktion ist. Betrachten wir nämlich die Funktion ψ(t) := −φ(−t), so ist ψ(0) = 0, ψ 0 (t) = φ0 (−t), ψ 0 (0) = φ0 (0) = v l und g g g sin φ(−t) = − sin(−φ(−t)) = − sin ψ(t). l l l Damit erfüllt auch ψ das Anfangswertproblem, also ist ψ = φ und somit φ(−t) = −φ(t), d.h. φ ist eine ungerade Funktion. Insbesondere kommen in unseren Taylorpolynomen nur ungerade Potenzen von t vor, was die folgenden Rechnungen etwas erleichtert. Das n-te Taylorpolynom der Funktion φ ist gegeben als ψ 00 (t) = −φ00 (−t) = Tn (t) = n X φ(k) (0) k=0 k! tk und wie gesagt kommen nur Terme ungerader Ordnung vor. Daraus und aus den Anfangsbedingungen φ(0) = 0, φ0 (0) = v/l ergeben sich die ersten Taylorpolynome als T0 (t) = 0, T1 (t) = v v t, T2 (t) = T1 (t) = t. l l Was ist nun das Taylorpolynom T3 ? Hierzu brauchen wir den Wert der dritten Ableitung φ000 (0), was zunächst problematisch aussieht da wir ja weder φ noch φ000 konkret kennen. Wir können aber aus der Gleichung φ00 = −(g/l) sin φ eine Gleichung für φ000 herleiten, indem wir beide Seiten unserer Differentialgleichung differenzieren, also g 0 g 000 φ = − sin φ = − φ0 cos φ l l und insbesondere g gv v gv φ000 (0) = − φ0 (0) cos φ(0) = − 2 sowie T3 (t) = t − 2 t3 . l l l 6l Dies stimmt mit dem dritten Taylorpolynom der Lösung φe für kleine Ausschläge überein. Wir wollen diese Rechnung noch ein wenig weiterführen und auch das fünfte Taylorpolynom berechnen. Hierzu bestimmen wir Formeln für die vierte und fünfte 20-9 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Mittwoch 20.1 Ableitung der Funktion φ indem wir unsere Differentialgleichung weiter ableiten und bei jedem Auftreten von φ00 die Formel φ00 = −(g/l) sin φ einsetzen g 2 g2 g 2 g φ(4) = − φ00 cos φ + φ0 sin φ = 2 sin(2φ) + φ0 sin φ, l l 2l l 2 g 2g g 3 φ(5) = 2 φ0 cos(2φ) + φ0 φ00 sin φ + φ0 cos φ l l l 2g 2 0 2 g 3 g2 0 = 2 φ cos(2φ) − 2 φ sin φ + φ0 cos φ. l l l 2 Insbesondere sind damit φ(4) (0) = 0 und φ(5) (0) = gl3 v + lg4 v 3 also T4 = T3 und 2 gv 3 g v gv 3 v + t5 . T5 (t) = t − 2 t + 3 4 l 6l 120l 120l Vergleichen wir dies mit der Näherungslösung φe für kleine Ausschläge so ergibt sich 3 e = gv t5 + · · · φ(t) − φ(t) 120l4 Der Unterschied zwischen φ und φe ist also von Ordnung t5 und wird mit der dritten Potenz der Startgeschwindigkeit kleiner. Die hier verwendete Methode zur Berechnung der Taylorpolynome ist immer anwendbar, durch fortgesetztes Ableiten der Differentialgleichung erhält man Formeln für die höheren Ableitungen einer Lösung und durch Einsetzen der Anfangswerte beim Startwert t = a ergeben sich die Werte aller Ableitungen bei t = a und wir können die Taylorpolynome zum Entwicklungspunkt t = a berechnen. 20-10
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