wirkliche Leben ist Begegnung

Manuskript
Evangelische Perspektiven
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“
Martin Buber zum 50. Todestag
Autor/in:
Elke Worg
Redaktion:
Friederike Weede / Matthias Morgenroth
Religion und Kirche
Sendedatum:
Pfingstmontag, 25. Mai 2015 / 08.30 - 09.00 Uhr
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Seite 1
MUSIK
ZITATOR 2:
Der Rabbi von Berditschew sah einen auf der Straße eilen, ohne rechts und links zu
schauen. „Warum rennst du so?“ fragte er ihn. „Ich gehe meinem Erwerb nach“,
antwortete der Mann. „Und woher weißt du“, fuhr der Rabbi fort zu fragen, „dein Erwerb
laufe vor dir her, dass du ihm nachjagen musst? Vielleicht ist er im Rücken, und du
brauchst nur innezuhalten, um ihm zu begegnen, du aber fliehst vor ihm.“
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Eine Anekdote aus den „Erzählungen der Chassidim“. Die Chassidim, das sind die
frommen Anhänger des Chassidismus, einer mystisch-jüdischen Bewegung, die Mitte
des 18. Jahrhunderts in Südpolen entstand. Die Gläubigen versuchten, in Gebeten,
Liedern, Tänzen und religiöser Ekstase Gott näher zu kommen. Der chassidische Rabbi,
genannt Zaddik, galt als vollkommen. Durch seine Lehre und sein Vorbild half er seinen
Anhängern, den Weg zu Gott zu finden. In Form von Erzählungen und Gleichnissen gab
er seine Ratschläge an seine Schüler weiter. Außerhalb dieser Kreise interessierte sich
kaum jemand für diese Geschichten. Martin Buber bewahrte sie vor dem Vergessen. Er
hat die heiteren, schrulligen, mitunter auch rätselhaften Weisheitstexte der Ostjuden
über viele Jahrzehnte hinweg gesammelt und bearbeitet.
O-Ton Karl-Josef Kuschel:
Das Ostjudentum galt ja im Westen als ein minderwertiges, heruntergekommenes
Judentum, verachtet, in Ghettos lebend, auf einer ganz primitiven Stufe existierend.
ERZÄHLERIN:
Karl-Josef Kuschel, emeritierter Professor der Katholisch-Theologischen Fakultät der
Universität Tübingen. Zu Bubers fünfzigstem Todestag hat er eine neue Biografie des
großen jüdischen Denkers vorgelegt.
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Seite 2
O-Ton Karl-Josef Kuschel:
Plötzlich entdeckt man auch im Westen, dass da ein Judentum sich bewahrt hat über
Jahrhunderte, das eine eigene Kraft hat, eine eigene spirituelle Tiefe, das die
Armseligkeit der Existenz sozusagen in Kontrast steht zu der großartigen Weisheit und
Tiefe, die diese Tradition zu bieten hat.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
1878 kommt Martin Buber in Wien zur Welt, ein jüdisches Kind im Vielvölkerstaat
Österreich-Ungarn. Seine Mutter verlässt die großbürgerliche Familie, als Martin drei
Jahre alt ist. Ein Trauma, das er nie ganz verwinden wird. Der Junge wächst bei seinen
Großeltern im polnischen Lemberg auf, das heute zur Ukraine gehört. Sein Großvater,
Salomon Buber, ist nicht nur ein wohlhabender Großgrundbesitzer und Bankier, sondern
auch ein berühmter jüdischer Gelehrter, der seinen Enkel im aufgeklärten Geist der
Haskala erzieht. Die buchstabentreue Befolgung des jüdischen Gesetzes – wie sie von
orthodoxen Juden verlangt wird – ist seine Sache nicht. Und auch Martin Buber wird sie
zeitlebens suspekt bleiben. Nicht ohne Stolz wird er im Alter sagen:
ZITATOR 1:
Ich bin ein polnischer Jude aus einer Familie von Aufklärern.
ERZÄHLERIN:
Doch der Chassidismus, den Martin Buber in der Heimat seines Großvaters kennenlernt,
verträgt sich schlecht mit der Aufklärung. Die Bewegung liegt bereits in ihren letzten
Zügen, als Buber – noch ein Kind – den Gläubigen bei der Ausübung ihrer Religion
zusehen kann. Schule und Studium lassen Martin Buber die seltsame Welt der Frommen
zunächst vergessen. Aber der Chassidismus hat – ohne dass ihm dies bewusst ist – in
seiner Seele Wurzeln geschlagen.
MUSIK
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Seite 3
ERZÄHLERIN:
Als 18-Jähriger schreibt sich Buber zunächst an der Wiener Universität ein. Später setzt
er seine Studien in Leipzig, Zürich und Berlin fort. Sein Interesse gilt der Philosophie, der
Psychologie, der Germanistik und der Kunstgeschichte.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Während des Studiums kommt Buber mit Theodor Herzl in Kontakt. Buber schließt sich
der zionistischen Bewegung an und entdeckt – wie er schreibt – seine „jüdische
Identität“.
O-Ton Hans-Joachim Werner:
Der Begriff ist nicht ganz unproblematisch. Wenn es eine solche jüdische Identität für
Buber gibt, dann besteht sie eigentlich in der Sprengung eines in sich geschlossenen,
etwa nationalen, Bewusstseins. Er spricht dann später immer wieder von einem
hebräischen Humanismus. Damit könnte man vielleicht, das was hier mit "jüdischer
Identität" gemeint sein könnte, am ehesten bezeichnen.
ERZÄHLERIN:
Hans-Joachim Werner ist Vorsitzender der Martin-Buber-Gesellschaft. Bis zu seiner
Emeritierung war er Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in
Karlsruhe.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Mit Feuereifer engagiert sich Buber in der neuen Bewegung. In Leipzig ruft er den Bund
jüdischer Studenten ins Leben. Auf Herzls Bitte wird er Redakteur der zionistischen
Zeitschrift „Die Welt“ und gründet einen jüdischen Verlag. Doch bald schon treten die
Meinungsverschiedenheiten zwischen Buber und Herzl offen zutage. Herzl geht es in
erster Linie darum, einen eigenen Staat für die Juden zu gründen. Dieser muss seiner
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Meinung nach nicht zwangsläufig in Palästina liegen. Herzl kann sich durchaus
vorstellen, die Juden in Ostafrika anzusiedeln. Sein politisch-nationaler Zionismus
widerspricht Bubers Ansichten.
O-Ton Karl-Josef Kuschel:
Dagegen sagt Buber dann: "Nein, wir brauchen so etwas wie eine kulturelle Erneuerung,
eine geistige Erneuerung von innen. Wir müssen wieder Anschluss haben an die
Quellen, aus denen Judentum sich speist. Und das ist vor allen Dingen der Geist der
großen Propheten. Wir brauchen eine neue Lebensordnung, eine neue
Lebensverfassung, die wir als Volk einüben wollen. Also, Zionismus als eine Aufgabe,
ein neues Volk, ein anderes Volk, zu werden, das war sein Ansatz.
ERZÄHLERIN:
Die Auseinandersetzungen zwischen Herzl und Buber finden letztlich durch den frühen
Tod Herzls im Jahr 1904 ein Ende. Doch sie hinterlassen tiefe Spuren bei Buber.
Jahrzehnte später versucht er, sein schwieriges Verhältnis zu Herzl in dem
chassidischen Roman „Gog und Magog“ aufzuarbeiten.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In Herzls Todesjahr promoviert Buber in Philosophie und Kunstgeschichte an der
Universität Wien. Gegenstand seiner Dissertation ist die deutsche Mystik. Noch im
selben Jahr beginnt er, sich intensiv mit dem Chassidismus auseinanderzusetzen – aus
Enttäuschung über die rein politische Dimension der zionistischen Bewegung.
O-Ton Hans-Joachim Werner:
Der Chassidismus war, kann man sagen, eine Konstante in seinem Denken und Leben.
Was ihn daran besonders interessierte und auch faszinierte, das ist die weltliche
Dimension dieser Form von Frömmigkeit, dieser Form von Religiosität, einer Art
Weltfrömmigkeit, die er im Chassidismus, in den chassidischen Geschichten, immer
wieder entdeckte.
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ERZÄHLERIN:
Der Kern der chassidischen Botschaft, so wie Buber sie verstand, lautete: Gott ist
überall. Das Versagen der abendländischen Kultur bestand Bubers Ansicht nach unter
anderem darin, dass sie Gott entrückt und verzweckt hatte. Gotteserfahrung war
gebunden an bestimmte Zeiten, an bestimmte Riten, an sakrale Räume und an
bestimmte religiöse Ausdrucksformen.
O-Ton Karl-Josef Kuschel:
Das sprengt Buber auf. Und das bleibt auch bis heute seine Herausforderung. Er sagt
einmal in einem ganz späten Text: „Nichts ist so geeignet, den Menschen das Antlitz
Gottes zu verstellen als eine Religion.“ Er hat ein Leben lang dafür gekämpft, dass
Religion etwas Lebendiges bleibt, die Gottesbeziehung offen bleibt für Überraschendes,
dass Gott dort zu finden ist, wo man ihn eben nicht erwartet oder wo die traditionellen
Religionen ihn ausgeschlossen haben.
ZITATOR 1:
Was die Größe des Chassidismus ausmacht, ist nicht seine Lehre, sondern eine
Lebenshaltung, und zwar eine gemeindebildende und ihrem Wesen nach
gemeindemäßige Lebenshaltung.
ERZÄHLERIN:
Bubers Ansicht nach ging es im Chassidismus im Innersten um Begegnung und
Beziehung. Beziehung – das wird Buber mehr und mehr klar – entsteht durch Gespräch,
vorausgesetzt es handelt sich um ein echtes Gespräch. So hat es Buber selbst gesagt:
O-Ton Buber:
Das weitaus meiste von allem, was sich heute unter Menschen "Gespräch" nennt, wäre
richtiger, in einem genauen Sinn als "Gerede" zu bezeichnen. Im Allgemeinen sprechen
die Leute nicht wirklich zueinander, sondern jeder ist zwar dem andern zugewandt, redet
aber in Wahrheit zu einer fiktiven Instanz, deren Dasein sich darin erschöpft, ihn
anzuhören.
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ERZÄHLERIN:
Angeregt durch die chassidischen Geschichten entdeckt Buber das „dialogische Prinzip“
als sein endgültiges Lebensthema, das er in seinem Hauptwerk „Ich und Du“ verarbeitet.
Die Quintessenz des Buches liegt in der Formel:
ZITATOR 1:
Alles wirkliche Leben ist Begegnung.
ERZÄHLERIN:
Vor dem Hintergrund moderner Kommunikationsmittel scheint Bubers dialogisches
Prinzip nötiger denn je zu sein. Chat, E-Mail oder SMS können den persönlichen Kontakt
zweier Menschen nicht ersetzen. Denn das echte Gespräch – so Buber – besteht aus
Anreden und Angeredetsein. Noch einmal Buber im Original:
O-Ton Buber:
Die Hauptvoraussetzung zur Entstehung eines echten Gesprächs ist, den Partner als
diesen, eben diesen anderen Menschen zu meinen. Ich werde seiner inne.
ERZÄHLERIN:
Um des Anderen „inne zu werden“, muss man ihn ansehen. Deswegen legte Martin
Buber großen Wert darauf, seinem Gegenüber während des Gesprächs in die Augen
blicken zu können. Eine wichtige Rolle spielten für ihn auch die beiden Wortpaare Ich-Du
und Ich-Es.
O-Ton Hans-Joachim Werner:
Gemeint sind eigentlich Welthaltungen, also grundsätzliche Einstellungen zur Welt, eine
in der Ich-Du-Beziehung auch grundsätzlich alternative Gesamtansicht der Wirklichkeit.
Das ist der Durchblick auf eine primäre Erfahrungswirklichkeit, eben die des Ich-Du,
während die Gegenwart, also seine Zeit, zunehmend durch das andere Grundwort, die
Haltung Ich-Es, geprägt ist. Mit Ich-Es ist gemeint das, was wir alle kennen, also ein
nutzender, gebrauchender, vereinnahmender, verallgemeinernder Umgang mit der Welt,
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eben nicht, so wie die Ich-Du-Beziehung konzentriert auf die Einzigkeit, die einzigartige
Person, die mir eben begegnet.
ERZÄHLERIN:
Das ganze Wesen des Menschen definiert Buber als „dialogisch“, da sich der Mensch
erst in der Begegnung mit dem anderen verwirklichen kann.
ZITATOR 1:
Der Mensch wird am Du zum Ich.
ERZÄHLERIN:
Die Ich-Du-Beziehung gilt allerdings nicht nur für Menschen. Sie schließt auch andere
Sphären mit ein:
O-Ton Hans-Joachim Werner:
Es gibt eine Ich-Du-Beziehung zu den so genannten geistigen Wesenheiten, das sind
also geistige Hervorbringungen des Menschen. Es gibt auch eine Ich-Du-Beziehung zur
Natur, also die gesamte Schöpfung, wenn wir auf diese religiöse Dimensionen zu
sprechen kommen. Die religiöse Dimension durchzieht im Grunde alles. Jede
innerweltliche Begegnung ist zugleich eine Begegnung mit Gott.
ERZÄHLERIN:
Theorie und Praxis klafften allerdings bei Martin Buber etwas auseinander. Innerhalb
seiner eigenen Familie wollte es mit dem „echten Gespräch“ nicht so recht klappen.
Während des Studiums hatte Buber in Zürich seine spätere Frau Paula Winkler
kennengelernt. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, die ihren Vater eher autoritär
erlebten. Über Probleme wurde mit den Kindern nicht viel diskutiert. Bubers Tochter Eva
durfte nicht mitreden, als ihre Eltern beschlossen, sie nie auf eine Schule zu schicken,
sondern von Privatlehrern zu Hause unterrichten zu lassen. Später, als sie in Stuttgart
Gartenbau studieren wollte, wurde ihr dies von dem übermächtigen Vater verboten. Er
verlangte von ihr, dass sie zu Hause blieb. Auch zu seinem Sohn Rafael hatte Martin
Buber zeitlebens ein angespanntes Verhältnis.
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Seite 8
O-Ton Karl-Josef Kuschel:
Das ist ja ein Muster, das wir bei vielen Menschen kennen. Und dennoch hat er
Prinzipien aufgestellt, die für ungezählte Menschen eine wichtige Botschaft sind. Dass er
im persönlichen Leben auch dahinter zurückgeblieben ist, macht ihn meiner Meinung
nach nur menschlicher.
ERZÄHLERIN:
Anfänglich wohnt die Familie Buber in Berlin. Dort erlebt Martin Buber begeistert den
Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er lässt sich zu nationalistischen Äußerungen
hinreißen, die sein pazifistisch gesinnter Freund, der Sozialist Gustav Landauer, als
„widerwärtig“ und unbegreiflich empfindet. 1916 kommt Buber allerdings zur Besinnung
und ändert seine Haltung. In diesem Jahr erwirbt er ein Haus in Heppenheim an der
Bergstraße. Hier findet er die nötige Ruhe, um seine Dialogphilosophie auszuarbeiten.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Das dialogische Prinzip lässt Buber auch in sein Konzept der Erwachsenenbildung
einfließen, das er zusammen mit Franz Rosenzweig umsetzt. Rosenzweig, ein jüdischer
Philosoph und Theologe, hat in Frankfurt eine Bildungsakademie für jüdische
Erwachsene aufgebaut. Es gelingt ihm, Buber als Dozenten für das „Freie
Jüdische Lehrhaus“ zu gewinnen. Außerdem übernimmt Buber einen Lehrauftrag für
Religionswissenschaft und jüdische Ethik an der Universität Frankfurt. Zusammen mit
Rosenzweig macht sich Buber auch an einen neue deutsche Übersetzung des Alten
Testaments. Sie soll den hebräischen Urtext so getreu wie möglich wiedergeben und
den Juden helfen, sich mit ihrer eigenen Geschichte und Kultur neu zu identifizieren.
MUSIK
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Seite 9
ERZÄHLERIN:
Nach der Machtergreifung der Nazis legt Buber seine Professur an der Universität
Frankfurt nieder. 1938 emigriert er nach Jerusalem. An der Hebräischen Universität
übernimmt Buber einen Lehrauftrag für Sozialpsychologie. Und natürlich versucht er,
sein Dialog-Konzept auch auf die besondere Situation Palästinas anzuwenden. Ihm
schwebt ein bi-nationaler Staat vor, in dem Juden und Araber völlig gleichberechtigt
nebeneinander leben sollen. Noch kurz vor seinem Tod im Juni 1965 mahnt er in einem
Aufsatz:
ZITATOR 1:
Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass es die Schicksalsfrage des Nahen Osten
ist, ob eine Verständigung zwischen Israel und den arabischen Völkern zustande kommt,
solange noch die Möglichkeit dazu besteht. Damit ein so großes, fast präzedenzloses
Werk gelingt, ist unerlässliche Voraussetzung, dass geistige Vertreter der beiden Völker
miteinander in ein echtes Gespräch kommen, in dem sich gegenseitige Aufrichtigkeit und
gegenseitige Anerkennung verbinden.
ERZÄHLERIN:
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Martin Buber einer der ersten Juden, die
den Deutschen die Hand zur Versöhnung reichten. 1953 wurde ihm in der Frankfurter
Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In seiner viel
beachteten Rede sagte er:
O-Ton Buber:
Der Krieg hat von je einen Widerpart, der fast nie als solcher hervortritt, aber in der Stille
sein Werk tut - die Sprache. Die erfüllte Sprache! Die Sprache des echten Gesprächs, in
der Menschen einander verstehen und sich eben deshalb auch miteinander
verständigen können.
ERZÄHLERIN:
Wichtige Impulse setzte Buber auch im jüdisch-christlichen Dialog. Er machte den
christlichen Kirchen deutlich, dass Gott seinen Bund mit Israel keineswegs gekündigt
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Seite 10
habe. Folglich sei das Judentum keine überholte Größe, die durch das Christentum
abgelöst worden sei. Die unterschiedlichen Ansichten in dieser Frage sind zumindest
zwischen Katholiken und Juden noch immer nicht ganz beseitigt, gibt Karl-Josef Kuschel
zu bedenken. Der emeritierte Professor für Theologie der Kultur und des interreligiösen
Dialogs an der Universität Tübingen war zugleich Ko-Direktor des Instituts für
ökumenische und interreligiöse Forschung.
O-Ton Karl-Josef Kuschel:
Es geht also nicht darum, dass Juden Christen werden und Christen Juden, sondern
dass sich beide neu auf Gott einlassen, auf Gottes Geheimnis, auf Gottes Transzendenz
und Unverfügbarkeit.
ERZÄHLERIN:
Heute geht es nicht nur um den Dialog zwischen Juden und Christen, sondern auch um
den Dialog mit anderen Religionen. Umso aktueller Ist Bubers Forderung, den Anderen
in seiner Andersartigkeit gelten zu lassen und ihn wertzuschätzen.
MUSIKAKZENT
ZITATOR 1:
Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit.
ERZÄHLERIN:
… antwortete Martin Buber einmal seinen Kritikern, als sie ihm vorwarfen, sich nicht an
wissenschaftliche Spielregeln zu halten. Aber welche Wissenschaft hätte das sein
sollen? Die meisten Nachschlagewerke bezeichnen Martin Buber als
Religionsphilosoph. Doch diese Etikettierung wird ihm nicht ganz gerecht und sie wäre
ihm auch nicht recht gewesen. Er sei ein „atypischer Mensch“, behauptete er von sich
selbst. Schon zu seinen Lebzeiten machten sich seine Zeitgenossen Gedanken darüber,
welcher Disziplin Buber zuzuordnen sei. War er nun Philosoph, Theologe, Pädagoge,
Soziologe? War er Literaturwissenschaftler, Bibelwissenschaftler oder gar
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Seite 11
Kulturhistoriker? Nichts von alledem und doch von allem etwas, meint Karl-Josef
Kuschel 50 Jahre nach Bubers Tod. .
O-Ton Karl-Josef Kuschel:
Wenn man ihn charakterisieren möchte, dann würde ich sagen, er ist ein religiöser
Denker aus jüdischen Quellen mit Wirkungen bis in den Bereich der Philosophie, der
Pädagogik, der Erwachsenenbildung, ja sogar der Sozialphilosophie und den
Sozialwissenschaften. Buber ist in diesem Sinne nicht einfach greifbar, man muss sich
schon auf ihn einlassen und erlebt dann den ganzen Reichtum und Lebendigkeit seines
Denkens.
ERZÄHLERIN:
In der Pädagogik konnte Bubers dialogisches Prinzip besonders gut Fuß fassen. Hier
setzte sich seine Idee durch, dass nicht autoritäre Dogmen, sondern Verantwortung und
Vertrauen das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler kennzeichnen sollten. Ohne
persönliche Beziehung gibt es keine Erziehung, so Buber. Buber sah in den Erziehern
„Brückenbauer“, die jedem Kind offen und unvoreingenommen begegnen, es mit all
seinen Eigenarten akzeptieren und entsprechend seinen Fähigkeiten fördern sollen.
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN:
Unverkennbar ist Bubers Einfluss auf die Psychotherapie. Carl Rogers und seine
Gesprächstherapie und die Logotherapie Viktor E. Frankls zeigen deutliche
Übereinstimmungen mit den Vorstellungen Martin Bubers.
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN:
Auch in den Sozialwissenschaften wurden und werden Bubers Ideen immer wieder neu
diskutiert. Buber war der Ansicht, dass sich echte soziale Beziehungen nur in
Gemeinschaften gleicher und freier Menschen verwirklichen lassen. Zusammen mit
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Seite 12
Gustav Landauer plädierte er dafür, dem Staat und Kapitalismus den Rücken zu kehren.
Die Lehren von Marx und Engels waren für Buber allerdings keine brauchbare
Alternative. Sein Anliegen war es, die Gesellschaft von innen heraus zu erneuern. Alles
was anstelle öffentlicher Gewalt den Dialog und das konstruktive Miteinander fördert,
kam Bubers Gemeinschaftsideal entgegen. Dazu zählten Genossenschaften,
Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und Selbsthilfeorganisationen. Alternative Lebens-und
Arbeitsformen, die auf Bubersches Denken zurückgehen, finden sich immer wieder.
Dazu gehören zum Beispiel Betriebe ohne Führungskräfte oder Wohngemeinschaften, in
denen Junge, Alte und Hilfsbedürftige miteinander leben und füreinander da sind.
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN:
Bubers Philosophie des Gesprächs lieferte namhaften Philosophen wie Gadamer,
Habermas und Lévinas entscheidende Anregungen. Vor allem Emmanuel Lévinas zeigt
deutliche Anklänge an Bubers Denken. Manche sahen in ihm sogar einen Nachfolger
Bubers und bezeichneten Lévinas‘ Lehre gar als „Philosophie der Begegnung“. HansJoachim Werner, Philosoph und Buber-Experte, hält beides für unzutreffend. Ähnlich wie
Buber war auch Lévinas davon überzeugt, dass sich Gott in der unmittelbaren
Begegnung von Mensch zu Mensch offenbart. Lévinas fühlte sich vor allem den Opfern
des Holocaust verpflichtet. „Wenn Gott ins Denken einfällt“, so Lévinas, wird uns im
Antlitz des Anderen dessen Schutzlosigkeit und unsere Verantwortung ihm gegenüber
bewusst.
ZITATOR 2:
Das Andere des Anderen ist nicht eine verstehbare Form, die im Prozess des
intentionalen 'Enthüllens' an andere Formen gebunden ist, sondern ein Antlitz, die
proletarische Nacktheit, die Mittellosigkeit; das Andere ist der Andere; das Herausgehen
aus sich selbst ist die Annäherung an den Nächsten; die Transzendenz ist Nähe, die
Nähe ist Verantwortung für den Anderen.
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Seite 13
ERZÄHLERIN:
Martin Buber stand auch mit zahlreichen Theologen in Verbindung. Dazu gehörten auf
evangelischer Seite Rudolf Bultmann, Emil Brunner, Albert Schweitzer, Leonhard Ragaz
– um nur einige zu nennen. Auf katholischer Seite sind vor allem Romano Guardini und
Hans Urs von Balthasar von Buber inspiriert worden. Bis in die heutige Zeit liefert Buber
wertvolle Denkanstöße für die so genannte dialogische Theologie. Viele Versuche,
innerhalb der Kirche Gott neu zu denken, gehen auf Bubers Überlegungen zurück. Der
Glaube an Jesus Christus als Erlöser und die „Vergottung“ Jesu wurden von Buber
deutlich kritisiert genauso wie die institutionalisierte Religion, die Buber als „Urgefahr des
Menschen“ betrachtete. Für die Theologie heißt das, die Bedeutung menschlicher IchDu-Begegnungen zu erkennen und unermüdlich darauf hinzuweisen, dass in lebendigen
Beziehungen immer auch Gott selbst zu erfahren ist. Gottes- und Menschenliebe sind
nach Bubers Auffassung eng miteinander verbunden. Martin Bubers Denken bleibt auch
50 Jahre nach seinem Tod erstaunlich aktuell. Karl-Josef Kuschel, sein Biograph:
MUSIK
O-Ton Karl-Josef Kuschel:
Er ist einer der religiösen Denker im 20. Jahrhundert, der alle Probleme im Blick auf die
Religionen kennt, der alle Abgründe erlebt hat, alle Zeitumbrüche am eigenen Leibe
erfahren und der dennoch aus seinem tiefen Gottvertrauen, das er aus der jüdischen
Überlieferung und aus der biblischen Überlieferung kennt, an Gott festhält. In einer Zeit,
die er selber als Gottesfinsternis diagnostiziert hat, gelingt es Buber, auf eine
glaubwürdige, ja manchmal ergreifende Weise, ein Ja, ein Vertrauen zu Gott,
durchzuhalten. Ich denke, das ist seine große Bedeutung, die er nach wie vor in einer
Zeit ungeheurer Krisen, die auch wir durchmachen, behalten hat.
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