Michel Chossudovsky
GLOBAL
BRUTAL
Der entfesselte Welthandel, die Armut, der
Krieg
Aus dem Englischen von Andreas Simon
Zweitausendeins
Der entfesselte Welthandel,
die Armut,
der Krieg
Michel Chossudovsky, einer der intellektuellen „Aktivisten“ der
Bewegung von Seattle und Genua, macht in diesem Buch eine
entschiedene Gegenrechnung zu den Glücksverheißungen einer
rein marktrationalen Globalisierung auf. Er hat sich in Somalia
ebenso umgesehen wie in Ruanda, die Verhältnisse in Indien und
Vietnam studiert, sich mit Lateinamerika, der Russischen Förderation und den Staaten des ehemaligen Jugoslawien befasst — und
er kommt in seinen Beispielen aus allen Teilen der Welt immer zu
demselben Schluss:
Die weltweite Handelsfreiheit führt mitnichten zur besten aller
Welten, sondern zu Unsicherheit, Armut und Krieg. Die vom Westen beherrschten internationalen Großbanken verdienen an instabilen Finanzmärkten. Die internationalen Konzerne, unter dem
Druck der von ihnen selbstverschuldeten Überproduktion, setzen
auf die Ausweitung der Märkte in den Entwicklungs- oder Transformationsländern — was nur geht, wenn sie deren produktive Basis zerstören. Diese Länder hängen immer mehr an der kurzen
Leine von Weltbank, IWF und WTO, werden rekolonialisiert, also
zu offenen ökonomischen Territorien ohne eigene Regelungskompetenz und ohne Vetomöglichkeiten.
Die Allianz der Reichen forciert die Globalisierung der Armut, der
Umweltzerstörung, der sozialen Apartheid, des Rassismus und der
ethnischen Zwietracht. Nach der Ära des Kalten Krieges rutschen
große Teile der Weltbevölkerung jetzt in eine beispiellose wirtschaftliche und soziale Krise, brutaler als die Weltwirtschaftskrise
der 30er Jahre. Ganze Volkswirtschaften brechen zusammen, ganze Zivilgesellschaften werden zerstört, Arbeitslosigkeit und Elend
nehmen überhand.
http://www.zweitausendeins.de/
Nichts
an
diesen
Entwicklungen
ist
unabwendbar. Die Einsichten, zu denen
Chossudovskys Untersuchungen verhelfen, sind ein bedeutsamer Schritt hin zu
jenem
hingebungsvollen
Kampf,
der
nötig sein wird, diese Entwicklungen
umzukehren.
Noam Chomsky
Deutsche Erstausgabe.
1. Auflage, April 2002.
2. Auflage, Juni 2002. / 3. Auflage, Juni 2002.
4. Auflage, August 2002. / 5. Auflage, August 2002.
6. Auflage, September 2002. / 7. Auflage, September 2002.
8. Auflage, Oktober 2002. / 9. Auflage, Oktober 2002.
10. Auflage, Oktober 2002.1 / 11. Auflage, Oktober 2002.
12. Auflage, November 2002. / 13. Auflage, November 2002.
14. Auflage, November 2002. / 15. Auflage, Dezember 2002.
I)ie Originalausgabe ist 1997 unter dem Titel »The Globalisation of Poverty. Impacts of IMF and World
Bank Reforms« bei Third World Network, Penang, Malaysia, erschienen.
Copyright © 1997, 2001 by Michel Chossudovsky.
Die deutsche Ausgabe basiert auf der 2. erweiterten Auflage der englischsprachigen Originalausgabe und
wurde zusätzlich um Vorwort, Teil VII und Nachwort bereichert.
Alle Rechte für die deutsche Ausgabe und Übersetzung
Copyright © 2002 by Zweitausendeins, Postfach, D-60.381 Frankfurt am Main. www.Zweitausendeins.de
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Lektorat und Glossar: Klaus Gabbert (Büro W, Wiesbaden).
Register der deutschen Ausgabe: Ekkehard Kunze (Büro W, Wiesbaden).
Korrektorat:
Sandra Wulff, Hamburg.
Umschlaggestaltung: Sabine Kauf, Plön.
Satz und Herstellung: Dieter Kohler GmbH, Nördlingen.
Druck und Einband: Freiburger Graphische Betriebe.
Printed in Germany.
Dieses Buch gibt es nur bei Zweitausendeins im Versand, Postfach,
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In der Schweiz über buch 2000, Postfach 89, CH-8910 Affoltern a. A.
ISBN 3-86.150-441-3
Inhalt
Der 11. September. Vorwort zur deutschen Ausgabe
Vorbemerkung
Einleitung
8
14
24
Teil I
Globale Armut und makroökonomische Reform
1. Die Globalisierung der Armut
2. Globale Unwahrheiten
3. Kontrolle durch Kredite
4. Die Weltbank und die Frauenrechte
5. Die globale Niedriglohnökonomie
28
29
38
48
61
64
Teil II
Afrika
6. Somalia: Die wahren Gründe des Hungers
7. Wirtschaftlicher Völkermord in Ruanda
8. Neue Apartheid im südlichen Afrika
9. Äthiopien: Die Zerstörung der Landwirtschaft und
Artenvielfalt
108
Teil III
Süd- und Südostasien
10. Indien: Die indirekte Herrschaft des IWF
11. Bangladesch: Unter Vormundschaft
12. Die Zerstörung Vietnams nach dem Krieg
115
116
124
130
TEIL IV
Lateinamerika
13. Verschuldung und Demokratie in Brasilien
14. Schocktherapie in Peru
15. Verschuldung und Drogen in Bolivien
146
147
158
170
76
77
83
100
TEIL V
Die ehemalige Sowjetunion und die Balkanländer
175
16. Die Russische Föderation: Abstieg in die Dritte Welt.
176
17. Die »Balkanisierung« Jugoslawiens
188
TEIL VI
Die Neue Weltordnung
18. Strukturanpassung in den Industrieländern
19. Die globale Finanzkrise
20. Der Wirtschaftskrieg
202
203
208
216
21. Die Rekolonialisierung Koreas
22. Der brasilianische Finanzbetrug
222
232
TEIL VII
Krieg und Globalisierung
23. Wer stand hinter den Terrorattacken?
24. Staatsterrorismus und US-Außenpolitik
25. Die verborgenen Ziele des Krieges
26. Amerikas Kriegsmaschine
238
239
250
259
267
Nachwort
276
Anmerkungen
Literatur
Glossar
279
294
302
Register (nur in Print-Ausgabe)
Über den Autor
306
Meiner jüngsten Tochter Rosalba
Der 11. September. Vorwort zur deutschen Ausgabe
Nach den tragischen Ereignissen des 11. September haben sich die USA
mit einer gewaltigen Demonstration militärischer Macht in ein kriegerisches Abenteuer gestürzt, das die Zukunft der Menschheit bedroht.
Nur wenige Stunden nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center und das Pentagon wurden Osama Bin Laden und seine al-QaidaOrganisation ohne Beweise als »Hauptverdächtige« identifiziert. Außenminister Colin Powell nannte die Angriffe »einen Akt des Krieges«, Präsident George W. Bush bekräftigte in einer Fernsehansprache an die Nation
am selben Abend, dass er »keinen Unterschied zwischen den Terroristen«
machen würde, »die diese Taten begangen haben, und den ausländischen Regierungen, die ihnen Unterschlupf gewähren«. Der ehemalige
CIA-Direktor James Woolsey wies auf die »staatliche Unterstützung« der
Terroristen durch eine oder mehrere ausländische Regierungen hin. »Ich
glaube«, so sagte der ehemalige nationale Sicherheitsberater Lawrence
Eagleburger, »wir werden, nachdem wir in dieser Weise angegriffen worden sind, unsere ganze Stärke demonstrieren und furchtbare Vergeltung
üben.«1
In der Zwischenzeit plapperten die westlichen Medien die offiziellen
Verlautbarungen nach und stimmten »Strafaktionen« gegen zivile Ziele in
Zentralasien und dem Nahen Osten zu: »Wenn wir die Stützpunkte und
Lager unserer Angreifer hinlänglich aufgeklärt haben, müssen wir sie in
Schutt und Asche legen und das Gastland der Terroristen offen oder verdeckt destabilisieren – unter Minimierung, aber Inkaufnahme von Kollateralschäden.«2 Der Öffentlichkeit als »Kampagne gegen den internationalen Terrorismus« präsentiert, dient der Einsatz der amerikanischen
Kriegsmaschine in Wahrheit jedoch der Ausweitung der amerikanischen
Einflusssphäre nicht nur in Zentralasien und im Nahen Osten, sondern
auch auf dem indischen Subkontinent und in Fernost. Die USA sind zudem darauf aus, eine dauerhafte militärische Präsenz in Afghanistan zu
etablieren, das eine strategische Position an der Grenze zur früheren Sowjetunion, zu China und dem Iran einnimmt. Afghanistan liegt außerdem
in unmittelbarer Nähe von fünf Atommächten: Russland, China, Indien,
Pakistan und Kasachstan.
Dieser Krieg findet statt auf der Höhe einer globalen Wirtschaftskrise,
die gekennzeichnet ist vom Niedergang staatlicher Institutionen, von
wachsender Arbeitslosigkeit, dem Zusammenbruch des Lebensstandards
in allen großen Weltregionen einschließlich Westeuropas und Nordamerikas und dem Ausbruch von Hungersnöten in weiten Teilen der Welt. Diese Krise ist weit gravierender als jene der 30er Jahre. Darüber hinaus
führt der Krieg nicht nur zur massiven Verlagerung der Wirtschaftstätig-
keit vom zivilen Sektor in den militärisch-industriellen Komplex, er beschleunigt auch die Beseitigung des Wohlfahrtsstaates in den westlichen
Ländern.
Krieg und Globalisierung stehen in enger Beziehung. Die globale Wirtschaftskrise, die den Ereignissen vom 11. September vorausging, hat
ihre Wurzeln in den »Marktreformen« der Neuen Weltordnung. Seit der
Asienkrise 1997 sind die Finanzmärkte eingebrochen, eine Volkswirtschaft nach der anderen geriet in eine tiefe Wirtschaftskrise, ganze Länder wie Argentinien und die Türkei wurden von ihren internationalen
Gläubigern übernommen, wodurch Millionen von Menschen in elende Armut gestürzt wurden.
Die Krise nach dem 11. September kündigt in vieler Hinsicht das Ende
der westlichen Sozialdemokratie und das Ende einer Ara an. Die Legitimität des globalen Systems »freier« Märkte ist gestärkt und hat einer neuen Welle von Deregulierungen und Privatisierungen Tür und Tor geöffnet.
Das wird schließlich zur privatwirtschaftlichen Übernahme aller öffentlichen Dienstleistungen und der staatlichen Infrastrukturen führen,
einschließlich der Elektrizität, der kommunalen Wasserversorgung und
Kanalisation, der Autobahnen usw.
Darüber hinaus wurde besonders in den USA und in Großbritannien,
aber auch in den meisten Ländern der Europäischen Union (EU) das
Rechtssystem verändert. Der Rechtsstaat wurde außer Kraft gesetzt und
die Fundamente für einen autoritären Staat gelegt, ohne dass die wichtigsten Stützen der Zivilgesellschaft dagegen in nennenswertem Umfang
opponiert hätten. Ohne jede Debatte wird der »Krieg gegen den Terrorismus« gegen die so genannten »Schurkenstaaten« als notwendig erachtet, um die Demokratie zu »schützen« und die innere Sicherheit zu
stärken.
Statt nach den geschichtlichen Gründen des Krieges zu suchen, beschränkt man sich auf bloße Parolen wie den »Kampf gegen das Böse«
und die »Jagd auf Osama Bin Laden«. Solche Verkürzungen und Entstellungen sind Teil einer sorgfältig geplanten Propagandakampagne. Die
Ideologie der »Schurkenstaaten«, die das Pentagon bereits während des
Golfkrieges 1991 entwickelte, dient als Rechtfertigung, um aus »humanitären Gründen« Krieg gegen Länder zu führen, die sich nicht der Neuen
Weltordnung und den Grundannahmen des Systems »freier« Märkte fügen.
Seit dem Amtsantritt von George W Bush haben Militär und Geheimdienste in enger Abstimmung mit der Wall Street erkennbar die Zügel der
Außenpolitik übernommen. Da die Entscheidungen hinter den verschlossenen Türen der CIA und des Pentagons fallen, verkommen die zivilen
politischen Institutionen der USA einschließlich des Kongresses immer
mehr zur Fassade. Während in den Augen der Öffentlichkeit weiter die
Illusion einer funktionierenden Demokratie vorherrscht, ist der USPräsident zu einer bloßen Kühlerfigur geworden.
Noch
im
Herbst
1999,
also
im
Vorfeld
des
Präsidentschaftswahlkampfes, demonstrierte der Gouverneur Bush in außenpolitischen Belangen weitgehende Ahnungslosigkeit:
»In zu vielen politischen Fragen, besonders jenen globalerer Natur; klingt
Bush häufig, als läse er vom Spickzettel ab. Wagt er sich an internationale Themen, ist seine Unvertrautheit mit Händen zu greifen, und selbst
sein unerschütterliches Selbstvertrauen schützt ihn nicht davor, Fehler zu
machen.«3 Und als ihn ein Journalist im Sommer 2000 fragte, was er
über die Taliban denke, »zuckte er nur ratlos die Schultern. Der Journalist musste ein bisschen nachhelfen (>Diskriminierung gegen Frauen in
Afghanistan<), damit Bush wach wurde:
>Die Taliban in Afghanistan! Natürlich. Repressalien. Ich dachte, Sie
sprechen über irgendeine Rockgruppe.< So gut informiert über das Ausland ist also der mögliche künftige US-Präsident.«4
Wer entscheidet in Washington? Angesichts einer großen militärischen
Operation, die Auswirkungen auf unser aller Zukunft und die globale Sicherheit hat – ganz zu schweigen vom Einsatz von Atomwaffen – ‚ ist
diese Frage von höchster Bedeutung. Übt der Präsident, abgesehen von
sorgfältig eingeübten Reden, wirkliche politische Macht aus, oder ist er
nur ein Werkzeug?
Unter der Neuen Weltordnung bestimmen die Militärplaner des Außenministeriums, des Pentagons und der CIA die Außenpolitik der USA.
Sie unterhalten auch Kontakte zu Vertretern des IWF, der Weltbank und
der Welthandelsorganisation (WTO). Die internationale Finanzbürokratie
in Washington wiederum, verantwortlich für die mörderischen Wirtschaftsreformen, die sie der Dritten Welt und den meisten Ländern des
ehemaligen Ostblocks aufzwingt, pflegt enge Beziehungen zum Finanzestablishment der Wall Street.
Die Mächte hinter diesem System sind die globalen Banken und Finanzorganisationen, der militärisch-industrielle Komplex, die Öl- und
Energiegiganten, die Biotech-Konzerne sowie mächtige Medien- und
Kommunikationsunternehmen mit ihren gefälschten Nachrichten und offenkundigen Verzerrungen der Weltereignisse.
Unter der Reagan-Regierung verwandten hochrangige Vertreter des
Außenministeriums Erlöse aus dem illegalen Drogenhandel dazu, Waffenlieferungen an die Contras in Nicaragua zu finanzieren.
Es ist bittere Ironie, dass diese Verantwortlichen für die »lranContragate«-Affäre heute Schlüsselpositionen im engen Führungskreis
um George W Bush bekleiden.
»Bush hat sich Leute aus den zwielichtigsten Teilen der Republikanischen Partei der 80er Jahre auserkoren, jene, die an der IranContra-Affäre beteiligt waren. Seine erste diesbezügliche Ernennung, die
von Richard Armitage als stellvertretender Außenminister; passierte im
März ohne Aufsehen per Akklamation den Senat. Armitage diente in den
Reagan-Jahren als Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, zuständig für internationale Sicherheitsfragen, aber seine erneute Ernennung 1989 durch die Administration von George Bush wurde aufgrund von Kontroversen über die Iran-Contra-Affäre und andere Skandale zurückgezogen. Nach der Ernennung von Armitage berief Bush Junior
Elliot Abrahms, Staatssekretär im Außenministerium unter Reagan, in
den Nationalen Sicherheitsrat, zuständig für Demokratie, Menschenrechte
und internationale Operationen, ein Posten, dessen Besetzung vom Senat
nicht gebilligt werden muss. Abrahms hatte zugegeben, in den Anhörungen über die Iran-Contra-Affäre zweimal den Kongress belogen zu haben,
wurde aber später von George W. Bush begnadigt.«3
Armitage war auch während des Afghanistankrieges der Sowjets und
danach einer der Hauptarchitekten hinter der verdeckten, mithilfe des
Drogenhandels finanzierten Unterstützung der Mudschaheddin und der
militanten Islamisten. Daran hat sich nichts Grundlegendes geändert: Sie
ist immer noch fester Bestandteil der US-Außenpolitik. Darüber hinaus
haben sich, wie ausgiebig dokumentiert, durch den milliardenschweren
Drogenhandel illegale Mittel angehäuft, welche die CIA zur Finanzierung
weiterer Operationen verwendet!
Nach dem 11. September lenken die USA staatliche Mittel in die Finanzierung des militärisch-industriellen Komplexes um, Sozialprogramme
werden zusammengestrichen, staatliche Budgets umstrukturiert und
Steuergelder in die Aufrüstung des Polizei- und nationalen Sicherheitsapparats kanalisiert. Der Kampf gegen den Terrorismus wird als Legitimationsgrundlage benutzt, um das Rechtssystem zu untergraben und den
Rechtsstaat zu zerstören.
Dabei sollen die neuen Gesetze die Bürger gar nicht in erster Linie vor
dem Terrorismus schützen, sondern vor allem das System des freien
Marktes absichern. In Wirklichkeit geht es darum, die Bürgerrechte zu
unterminieren und nicht zuletzt die Entwicklung einer schlagkräftigen
Protestbewegung gegen den Krieg und auch gegen die Globalisierung von
vornherein zu unterbinden.
In den USA kriminalisiert das im Oktober 2001 verabschiedete Gesetzespaket zur Bekämpfung des Terrorismus (Patriot Act) friedliche Proteste gegen die Globalisierung. Im Sinne dieses Gesetzes sind alle Aktivitäten, die dazu führen könnten, »die Politik einer Regierung durch Einschüchterung und Zwang zu beeinflussen«, als terroristische Verbrechen
interpretierbar, also z.B. auch »eine Protestdemonstration, durch die eine
Straße blockiert und ein Krankenwagen an der Durchfahrt gehindert wird.
Insgesamt stellt das neue Gesetz einen der umfassendsten Angriffe auf
die bürgerlichen Freiheitsrechte in den letzten 50 Jahren dar. Es dürfte
uns kaum mehr Sicherheit bringen, aber es macht uns mit Sicherheit unfreier.«7
Die vom Kongress abgesegneten Antiterrorgesetze stammen direkt
von den Militärs, der Polizei und den Geheimdiensten. Tatsächlich wurden
mehrere Merkmale der Gesetze schon vor den Terrorangriffen vom 11.
September; in Reaktion auf die Protestbewegung gegen die Globalisierung, entworfen.
Im November 2001 unterzeichnete Präsident George W. Bush einen
Erlass zur Einrichtung von Militärtribunalen, vor denen künftige Terrorismusprozesse verhandelt werden sollen: »Mit dieser Direktive liegt es im
Ermessen des Präsidenten, ob Personen aus den USA oder auch aus anderen Ländern, die nicht die US-Staatsbürgerschaft haben und die der
Beihilfe zum Terrorismus beschuldigt werden, vor einem dieser Tribunale
der Prozess gemacht wird. Dies sind keine Kriegsgerichte, die die Rechte
der Angeklagten weit mehr respektieren… Justizminister John Ashcroft
erklärte ausdrücklich, dass Terroristen keinen verfassungsmäßigen
Schutz genössen. Diese Gerichte dienen nicht der Rechtsfindung, es sind
>Aburteilungsgerichte<.« 8
Mit den neuen Gesetzen ist die Macht von FBI und CIA erheblich gestärkt worden. Sie können nun z.B. Nichtregierungsorganisationen
(NGO), Gewerkschaften, Journalisten und Intellektuelle routinemäßig
abhören und überwachen. Die neuen Gesetze ermöglichen es daher der
Polizei, ganz gewöhnliche Bürger auszuspionieren:
»Die neuen Gesetze ermächtigen dieses Geheimgericht, in allen möglichen Strafgerichtsverfahren Abhörungen und geheime Wohnungsdurchsuchungen anzuordnen – und nicht nur auf Geheimdienstinformationen
aus dem Ausland zurückzugreifen. Das FBI darf nun Einzelpersonen und
Organisationen abhören, ohne an die strengen Anforderungen der Verfassung gebunden zu sein… Umfassende Lektüre von E-Mails wird erlaubt, noch bevor der Empfänger sie öffnet. Tausende von Unterhaltungen werden abgehört oder gelesen werden, die nichts mit dem Verdächtigen oder irgendeinem Verbrechen zu tun haben.
Die neuen Gesetze enthalten viele andere Ausweitungen von Befugnissen für Fahndung und Strafverfolgung, darunter den vermehrten Einsatz
von verdeckten Ermittlern, um Organisationen zu infiltrieren, längere
Gefängnisstrafen und die lebenslange Überwachung von manchen Straftätern, die ihre Strafe bereits abgesessen haben. Sie stellen zusätzliche
Tatbestände unter Todesstrafe und verlängern bei anderen die Verjährungsfristen.
Die Gesetze definieren ferner eine Reihe neuer Verbrechen. Am bedrohlichsten für abweichende Meinungen und oppositionelle Haltungen
gegen die Regierungspolitik ist die Erweiterung des Tatbestandes des
Terrorismus. Er wird vage als Akt definiert, der menschliches Leben bedroht, Strafgesetze verletzt und >möglicherweise darauf zielt, die Zivil-
bevölkerung einzuschüchtern oder Zwang auf sie auszuüben<… Damit
hätten auch die Demonstrationen in Seattle gegen die WTO als terroristisch eingestuft werden können. Diese Verschärfung ist ebenso bedrohlich wie überflüssig, denn es gibt bereits zahlreiche Gesetze, die zivilen
Widerstand unter Strafverfolgung stellen, ohne solche altehrwürdigen
Proteste als terroristisch zu qualifizieren und mit strengen Gefängnisstrafen zu belegen
Die US-Regierung versteht den Krieg gegen den Terrorismus als dauerhaften Krieg, ein Krieg ohne Grenzen. Der Terrorismus macht uns allen
Angst, aber es ist ebenso beunruhigend, dass unsere Regierung im Namen der Terrorismusbekämpfung bereit ist, auch die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte dauerhaft aufzuheben.«9
Osama Bin Laden und seine al-Qaida dienen als einzige Begründung
für diesen Krieg. Die Bush-Regierung benutzt die Kampagne gegen den
internationalen Terrorismus nicht nur, um die umfangreiche Bombardierung ziviler Ziele in Afghanistan zu rechtfertigen, sondern auch, um mit
den Maßnahmen gegen den inneren Terrorismus die verfassungsmäßigen
Rechte und den Rechtsstaat in den USA außer Kraft zu setzen.
Von den westlichen Medien entsprechend zurechtfrisiert, ist Osama Bin
Laden der neue Bösewicht. Er ist zugleich der Grund und die Folge von
Krieg und sozialer Verelendung. Er wird zudem für die Toten unter der
afghanischen Zivilbevölkerung verantwortlich gemacht, die doch Opfer
der US-Bombardierungen sind. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld schloss noch vor den Angriffen auf Afghanistan »den eventuellen
Einsatz von Atomwaffen« als Teil der Kampagne gegen Osama Bin Ladens al-Qaida nicht aus.10
Vorbemerkung
Nur wenige Wochen nach dem blutigen Militärputsch in Chile am 11. September 1973, bei dem die gewählte Regierung von Präsident Salvador
Allende gestürzt wurde, ordnete die Militärjunta unter General Augusto
Pinochet die Anhebung des Brotpreises von elf auf 40 Escudos an. Diese
enorme Steigerung von 364 Prozent von einem auf den anderen Tag war
Teil einer wirtschaftlichen Schocktherapie, das Werk einer Gruppe von
Ökonomen, die man die »Chicago Boys« nannte.
Zur Zeit des Militärcoups lehrte ich am Wirtschaftsinstitut der Katholischen Universität von Chile. Dort wimmelte es von Ökonomen, die in Chicago ausgebildet worden waren und der neoliberalen Lehre des Chicagoer
Wirtschaftsprofessors Milton Friedman folgten. Am 11. September, nach
der Bombardierung des Präsidentenpalastes La Moneda, verhängten die
neuen Militärherrscher eine 72-stündige Ausgangssperre. Als die Universität nach einigen Tagen wieder öffnete, jubilierten die Chicago Boys. Nur
wenige Wochen später wurden mehrere meiner Kollegen von der Wirtschaftsfakultät in Schlüsselpositionen der Militärregierung berufen.
Während die Lebensmittelpreise in den Himmel schossen, wurden die
Löhne eingefroren, um »wirtschaftliche Stabilität« zu sichern und den
»Inflationsdruck« abzuwehren. Über Nacht wurde das gesamte Land in
elendigste Armut gestürzt. In weniger als einem Jahr stieg der Brotpreis
in Chile um das 36fache. 85 Prozent der chilenischen Bevölkerung wurden unter die Armutsschwelle getrieben.
Diese Ereignisse haben meine Arbeit als Ökonom tief geprägt. Ich erlebte mit eigenen Augen, wie durch die Manipulation der Preise, der Löhne und Zinssätze das Leben von Menschen zerstört wurde. Eine ganze
Volkswirtschaft wurde destabilisiert. Ich begann zu verstehen, dass die
makroökonomische Reform weder neutral war – wie die Hauptströmung
der Volkswirtschaftslehre behauptet – noch von den breiteren Prozessen
sozialer und politischer Transformation getrennt werden konnte. So konzentrierte ich mich in meinen frühen Arbeiten auf die Funktion, die der so
genannte »freie Markt« als gut organisiertes Instrumentarium wirtschaftlicher Repression in der Wirtschaftspolitik der chilenischen Militärjunta
erfüllte.
Zwei Jahre später kehrte ich als Gastprofessor der Universidad Nacional de Córdoba im industriellen Kernland Argentiniens nach Lateinamerika zurück. Mein Aufenthalt fiel mit dem militärischen Staatsstreich von
1976 zusammen. Zehntausende von Menschen wurden verhaftet, verschleppt und ermordet. Die militärische Machtübernahme in Argentinien
war eine exakte Kopie des von der CIA gelenkten Putsches in Chile. Auch
hier folgten den Massakern und Menschenrechtsverletzungen »marktliberale« Reformen, dieses Mal unter Aufsicht der Gläubiger Argentiniens in
New York.
Die tödlichen Wirtschaftsrezepte des Internationalen Währungsfonds
(IWF) im Rahmen der »Strukturanpassungsprogramme« waren damals
noch nicht zur offiziellen Politik geworden. Aber die wirtschaftlichen Maßnahmen in Chile und Argentinien im Stil der Chicago Boys waren eine
Generalprobe für Dinge, die noch kommen sollten. Bald trafen die Verdikte des freien Marktsystems ein Land nach dem anderen. Seit dem Ausbruch der Schuldenkrise in den 80er Jahren wendete der IWF die gleichen wirtschaftlichen Gesundungsrezepte in mehr als 150 Entwicklungsländern an. Ausgehend von meinen früheren Arbeiten in Chile, Argentinien und Peru begann ich, die globalen Auswirkungen dieser Reformen zu
untersuchen, und kam zu der Überzeugung, dass eine Neue Weltordnung
Gestalt gewann, die sich unerbittlich von Armut und wirtschaftlichen
Verwerfungen nährte.
In der Zwischenzeit wurden die meisten Militärregimes Lateinamerikas
durch parlamentarische »Demokratien« ersetzt, betraut mit der schrecklichen Aufgabe, die Volkswirtschaften ihrer Länder im Rahmen der von
der Weltbank betriebenen Privatisierungsprogramme unter den Hammer
zu bringen.
1990 kehrte ich an die Katholische Universität von Peru zurück, wo ich
nach dem Militärputsch von 1973 in Chile gelehrt hatte. Ich kam in Lima
an, als gerade der Wahlkampf um die Präsidentschaft voll entbrannt war.
Die Wirtschaft des Landes steckte in der Krise. Die scheidende populistische Regierung von Präsident Alan Garcia war vom IWF auf die schwarze
Liste gesetzt worden, hatte also keine Kredite mehr bekommen. Neuer
Präsident von Peru wurde am 28. Juli 1990 Alberto Fujimori. Und nur
wenige Tage darauf schlug die wirtschaftliche Schocktherapie mit voller
Wucht zu. Peru wurde abgestraft, weil es sich nicht den Diktaten des IWF
gebeugt hatte: Der Preis von Benzin stieg um das 31fache, der Brotpreis
um mehr als das Zwölffache an einem einzigen Tag. Der IWF – in enger
Beratung mit dem US-Finanzministerium – zog hinter den Kulissen die
Fäden. Diese Reformen – durchgeführt im Namen der Demokratie – waren noch weit vernichtender als jene, die in Chile und Argentinien unter
der Faust der Militärherrschaft zustande gekommen waren.
In den 80er und 90er Jahren bereiste ich ausgiebig Afrika. Die Feldforschung für die erste Ausgabe dieses Buches begann in Ruanda, das sich
damals trotz des hohen Armutsniveaus noch selbst mit Nahrungsmitteln
versorgen konnte. Aber seit Anfang der 90er Jahre wurde die funktionierende Volkswirtschaft Ruandas zerstört, seine einst blühende Landwirtschaft destabilisiert. Der IWF hatte die Öffnung des heimischen Marktes für billige US-amerikanische und europäische Getreideüberschüsse
verlangt, angeblich mit dem Ziel, die ruandischen Bauern zu größerer
»Wettbewerbsfähigkeit« zu ermutigen (siehe Kapitel 7).
Von 1992 bis 1995 unternahm ich weitere Feldforschungen in Indien,
Bangladesch und Vietnam und kehrte nach Lateinamerika zurück, um
meine Untersuchung über Brasilien abzuschließen. In allen Ländern, die
ich besuchte, einschließlich Kenias, Nigerias, Ägyptens, Marokkos und der
Philippinen, beobachtete ich das gleiche Muster wirtschaftlicher Manipulation und politischer Einmischung durch die internationalen Finanzorganisationen in Washington. In Indien wurden als direkte Folge der
IWF-Reformen Millionen von Menschen in den Hunger getrieben. In Vietnam, einer der prosperierendsten Reiswirtschaften, brachen lokale Hungersnöte aus, die eine direkte Konsequenz der Aufhebung der Preiskontrollen und Deregulierung des Getreidemarktes waren.
Nach dem Kalten Krieg, auf der Höhe der Wirtschaftskrise, reiste ich in
mehrere Städte und ländliche Gebiete Russlands. Die vom IWF geförderten Reformen waren in eine neue Phase getreten und machten nun auch
den Ländern des ehemaligen Ostblocks schwer zu schaffen. Ab dem Jahr
1992 sind weite Teile der ehemaligen Sowjetunion vom Baltikum bis Ostsibirien in bitterste Armut gestürzt worden.
Die Arbeiten an der ersten Auflage dieses Buches waren Anfang 1996
beendet, mit Ausnahme einer detaillierten Studie über den wirtschaftlichen Zerfall Jugoslawiens (s. Kapitel 17). Dort wurde von den Weltbankökonomen ein »Bankrottprogramm« auf den Weg gebracht, dem
1989/90 etwa 1100 Industrieunternehmen zum Opfer fielen. Über
614.000 Arbeitnehmer verloren ihren Job. Aber das war erst der Anfang
einer viel durchgreifenderen wirtschaftlichen Zerstückelung des jugoslawischen Bundesstaates.
Seit der Veröffentlichung der ersten Auflage hat sich die Welt dramatisch verändert. Die Globalisierung der Armut hat mittlerweile alle großen
Regionen der Erde einschließlich Westeuropas und Nordamerikas erfasst.
Eine Neue Weltordnung wurde errichtet, die die nationale Souveränität
und die Rechte der Bürger untergräbt. Die neuen Regeln der 1994 gegründeten Welthandelsorganisation (WTO) sichern den weltgrößten Banken und multinationalen Konzernen verbriefte Rechte zu. Die öffentlichen
Schulden sind explodiert und die staatlichen Institutionen zusammengebrochen, während die Anhäufung privaten Reichtums unerbittlich voranschreitet.
Die neuen Kapitel dieser zweiten Ausgabe wenden sich einigen der
Schlüsselfragen des 21. Jahrhunderts zu: der Fusionswelle und der Konzentration von wirtschaftlicher Macht in der Hand der Konzerne, dem
Zusammenbruch der Volks- und Lokalwirtschaften, der Krise der Finanzmärkte, dem Ausbruch von Hunger und Bürgerkrieg sowie dem Abbau
des Wohlfahrtsstaates in den meisten westlichen Ländern.
Ich bin vielen Menschen in vielen Ländern zu Dank verpflichtet, die mir
Einsicht in die Wirtschaftsreformen in ihren Ländern gaben und mir bei
den Untersuchungen vor Ort behilflich waren, im Verlauf meiner Arbeit
kam ich in Kontakt mit Bauern, Industriearbeitern, Lehrern, Beschäftigten im Gesundheitswesen, Staatsbediensteten, Mitgliedern von Forschungsinstitutionen, Universitätsprofessoren und Mitgliedern von Nichtregierungsorganisationen, mit denen ich Bande der Freundschaft und
Solidarität geschlossen habe. Dieses Buch ist ihrem Kampf gewidmet.
Ich danke dem Social Sciences and Humanities’ Research Council of
Canada und dem Faculty of Social Sciences’ Research Committee der
Universität von Ottawa für ihre Unterstützung. Die in diesem Buch vertretenen Ansichten sind meine eigenen.
Einleitung
Die Menschheit ist nach der Ara des Kalten Krieges in eine wirtschaftliche
und soziale Krise beispiellos rascher Verarmung großer Teile der Weltbevölkerung gestürzt. Ganze Volkswirtschaften brechen zusammen, Arbeitslosigkeit nimmt überhand. In den afrikanischen Ländern südlich der
Sahara, in Asien und Lateinamerika sind regionale Hungersnöte ausgebrochen. Diese Globalisierung der Armut – die die Errungenschaften der
Entkolonialisierung nach dem Krieg weitgehend umgekehrt hat – begann
in der Dritten Welt zusammen mit der Schuldenkrise der frühen 80er
Jahre und der Durchsetzung der mörderischen Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Die Neue Weltordnung nährt sich von menschlicher Armut und der
Zerstörung der natürlichen Umwelt. Sie schafft soziale Apartheid, schürt
Rassismus und ethnische Kämpfe, sie höhlt die Rechte von Frauen aus
und stürzt häufig Länder in zerstörerische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volksgruppen. Seit den 90er Jahren hat sie ihren
Zugriff auf alle großen Weltregionen ausgedehnt, einschließlich Nordamerikas, Westeuropas, der Länder des ehemaligen Ostblocks sowie der neuen Industrienationen Südostasiens und des Fernen Ostens.
Diese weltweite Krise ist vernichtender als die Weltwirtschaftskrise der
30er Jahre. Sie hat weit reichende geopolitische Auswirkungen: Die wirtschaftlichen Verwerfungen werden begleitet von regionalen Kriegen, dem
Auseinanderbrechen von Nationalstaaten und in einigen Fällen der Zerstörung ganzer Länder. Es ist bei weitem die schwerste Wirtschaftskrise
in der modernen Geschichte.
Die Rezession nach dem Kalten Krieg. In der ehemaligen Sowjetunion war der wirtschaftliche Niedergang seit 1992 gravierender als
der, den das Land im Zweiten Weltkrieg erlitten hatte – direkte Folge der
tödlichen »Medizin« des IWF. Nach der Vollbeschäftigung und relativen
Preisstabilität der 70er und 80er Jahre schoss die Inflation in die Höhe,
Realeinkommen wie Beschäftigung brachen zusammen und die Gesundheitsversorgung wurde drastisch zurückgefahren. Als Folge haben sich
Cholera und Tuberkulose mit alarmierender Geschwindigkeit über weite
Regionen der ehemaligen Sowjetunion ausgebreitet.
Dieses Muster in der ehemaligen Sowjetunion wiederholte sich in ganz
Osteuropa und auf dem Balkan. Eine Volkswirtschaft nach der anderen
brach zusammen. In den baltischen Ländern (Litauen, Lettland und Estland) ging die Industrieproduktion ebenso wie in den Kaukasusrepubliken
Armenien und Aserbaidschan um bis zu 65 Prozent zurück. In Bulgarien
waren die Renten 1997 auf zwei Dollar im Monat gesunken.1 Die Welt-
bank räumte ein, dass 90 Prozent der Bulgaren unterhalb der von ihr
definierten Armutsschwelle von vier Dollar am Tag lebten.2 Teile der Bevölkerung in ganz Osteuropa und auf dem Balkan, die kein Geld mehr für
Elektrizität, Wasser und Transportmittel hatten, wurden brutal marginalisiert.
In Ostasien war die Finanzkrise von 1997 – gekennzeichnet von spekulativen Angriffen gegen nationale Währungen – in hohem Maße für den
Niedergang der asiatischen »Tigerstaaten« Indonesien, Thailand und Korea verantwortlich. Die Stützungsvereinbarungen mit dem IWF unmittelbar nach dem Finanz-Crash führten praktisch über Nacht zu einem
abrupten Sinken des Lebensstandards. In Korea (s. Kapitel 21) wurden
nach der »Vermittlung« des IWF – erreicht nach hochrangigen Konsultationen mit den weltgrößten Geschäfts- und Handelsbanken – »jeden Tag
im Durchschnitt mehr als 200 Firmen geschlossen… 4000 Arbeitnehmer
wurden jeden Tag auf die Straße gesetzt.«3 Zur gleichen Zeit stürzten die
Löhne in Indonesien inmitten gewalttätiger Straßenkämpfe von 40 auf 20
Dollar im Monat; und der IWF bestand auf der Abkoppelung der Löhne
vom Preisindex als Mittel, um den Inflationsdruck abzuschwächen.
In China droht durch die Privatisierung oder den erzwungenen Bankrott von Tausenden von Staatsunternehmen 35 Millionen Arbeitnehmern
die Entlassung. Nach einer jüngsten Schätzung gibt es in Chinas ländlichen Gegenden 130 Millionen überschüssige Arbeitskräfte.4 Die Vorhersage der Weltbank von 1990, dass in China mit der Durchführung von
»Marktreformen« die Armut im Jahr 2000 auf 2,7 Prozent fallen würde,
klingt heute wie bittere Ironie.5
In Großbritannien führten bereits während der Thatcher-Ära strenge
Sparmaßnahmen zur langsamen Auflösung des Sozialstaates. Die Maßnahmen zur wirtschaftlichen »Stabilisierung«, die der Inflationsbekämpfung dienen sollen, drückten das Einkommen der arbeitenden Bevölkerung und schwächten die Rolle des Staates. Seit den 90er Jahren enthalten die Rezepte, die in vielen Industrieländern der Genesung der Wirtschaft dienen sollen, viele der wesentlichen Zutaten der strukturellen
Anpassungsprogramme, die IWF und Weltbank den Ländern in der Dritten Welt und Osteuropa aufzwingen.
Im Gegensatz zu den Entwicklungsländern werden die Reformen in Europa und Nordamerika jedoch ohne die Vermittlung des IWF durchgesetzt. Die Anhäufung großer öffentlicher Schuldenberge in den westlichen
Ländern hat den Finanzeliten einen politischen Hebel an die Hand gegeben und sie mit der Macht ausgestattet, die Wirtschafts- und Sozialpolitik
der Regierungen zu diktieren. Unter dem Einfluss des Neoliberalismus
sind überall die öffentlichen Ausgaben gestutzt und Sozialprogramme
gestrichen worden. Die staatliche Politik betreibt die Deregulierung des
Arbeitsmarktes; auf dem Programm stehen die Abkoppelung der Ein-
kommen vom Preisindex, Teilzeitbeschäftigung, Frühpensionierung und
die Erzwingung »freiwilligen « Lohnverzichts.
Gleichzeitig werden frei werdende Arbeitsplätze nicht neu besetzt, d.h.
die Last der Arbeitslosigkeit wird auf die jüngeren Altersgruppen abgewälzt und mithin einer ganzen Generation der Weg in den Arbeitsmarkt
verbaut. Die Regeln des Personalmanagements in den USA lauten:
»>Zerschlagt die Gewerkschaften<, >Bringt die alten gegen die jüngeren
Arbeitnehmer auf<, >Ruft Streikbrecher<, >Kürzt die Löhne und die betriebliche Krankenversicherung«<.6
Seit den 80er Jahren ist ein großer Teil der Arbeitnehmer in den USA
aus gewerkschaftlich abgesicherten, gut bezahlten Arbeitsstellen in Niedriglohnjobs abgedrängt worden. Westliche Städte verelenden; die Lebensverhältnisse in den amerikanischen Ghettos und Slums sind in vieler
Hinsicht auf das Niveau der Dritten Welt gesunken. Während die offizielle
Arbeitslosenrate in den USA in den 90er Jahren sank, stieg die Anzahl
der Menschen in niedrig bezahlten Teilzeitjobs sprunghaft an. Sinkt die
Mindestlohnbeschäftigung weiter, werden große Teile der arbeitenden
Bevölkerung völlig aus dem Arbeitsmarkt verdrängt: »Die wirklich brutale
Seite der Rezession trifft im Wesentlichen die Gemeinschaften der neuen
Einwanderer in Los Angeles, wo sich die Arbeitslosenzahlen verdreifacht
haben und es kein soziales Netz gibt. Die Menschen befinden sich im
freien Fall, ihr Leben fällt buchstäblich auseinander wenn sie ihre Niedriglohnjobs verlieren.«7
Währenddessen reißt die wirtschaftliche Umstrukturierung tiefe Gräben
zwischen den sozialen Klassen und ethnischen Gruppen auf. Das Klima in
den großen Metropolen ist von sozialer Apartheid gekennzeichnet und
durch die Stadtlandschaften ziehen sich ebenso unsichtbare wie scharfe
Trennlinien. Der Staat reagiert mit zunehmender Repression, um die soziale Unzufriedenheit in den Griff zu bekommen und den zivilen Aufruhr
zu bändigen.
Die Welle von Firmenzusammenschlüssen, Rationalisierungen und Fabrikschließungen betrifft alle Segmente der Arbeitnehmerschaft, denn die
Rezession schlägt auch auf die
Haushalte der Mittelklasse und die oberen Einkommensschichten durch.
Forschungsbudgets werden beschnitten, Wissenschaftler, Ingenieure und
Akademiker werden entlassen, und hoch bezahlte Beamte und Manager
der mittleren Ebene werden zwangsweise in den Ruhestand geschickt.
Mittlerweile haben sich die Errungenschaften der frühen Nachkriegszeit
durch die Verschlechterung der Arbeitslosenversicherung und die Privatisierung der Pensionsfonds weitgehend ins Gegenteil verkehrt. Schulen
und Krankenhäuser werden geschlossen und damit die Bedingungen für
eine umfassende Privatisierung der sozialen Dienste geschaffen.
Das Elend der Billiglohnökonomie. Die Globalisierung der Armut vollzieht sich in einer Phase schneller technologischer und wissenschaftlicher
Fortschritte. Obwohl diese die potentielle Fähigkeit des Wirtschaftssystems enorm erhöhen, notwendige Güter und Dienstleistungen zu produzieren, hat der Produktivitätsschub nicht dazu geführt, die globale Armut
zu vermindern. Das weltweite Absinken des Lebensstandards zu Beginn
des neuen Jahrtausends ist nicht das Ergebnis einer Knappheit produktiver Ressourcen.
Im Gegenteil: Es sind gerade die Rationalisierung, die Umstrukturierung der Unternehmen und die Auslagerung der Produktion in
Billiglohnländer in der Dritten Welt, die zu vermehrter Arbeitslosigkeit
und beträchtlich niedrigeren Einkommen der städtischen Arbeitnehmer
und der Bauern geführt haben. Diese neue internationale Wirtschaftsordnung nährt sich von Armut und billiger Arbeit. Die hohe Arbeitslosigkeit
in den Industrienationen und Entwicklungsländern dient dazu, die Reallöhne zu drücken. Arbeitslosigkeit wird internationalisiert, wobei das Kapital auf der ständigen Suche nach billigerer Arbeit von einem Land zum
anderen wandert. Der International Labor Organization (ILO) zufolge sind
weltweit eine Milliarde Menschen, fast ein Drittel der globalen Erwerbsbevölkerung, von Arbeitslosigkeit betroffen.8
Die Weltarbeitslosigkeit dient als Hebel, um weltweit die Lohnkosten zu
regulieren: Weil in der Dritten Welt und dem ehemaligen Ostblock überschüssige Billigarbeitskräfte die Arbeit erledigen können, lassen sich auch
die Löhne in den Industrieländern drücken. Die Reallöhne in der Dritten
Welt und in Osteuropa sind bis zu 70-mal niedriger als in den USA, Westeuropa und Japan. Praktisch alle Berufsgruppen, auch hoch qualifizierte
und wissenschaftliche Berufe, sind davon betroffen.
Während die herrschende ökonomische Lehre die »effiziente Verteilung
knapper Ressourcen« einer Gesellschaft betont, dementieren die bitteren
sozialen Realitäten die Konsequenzen dieser Verteilungslogik. Fabriken
werden geschlossen, kleine und mittlere Unternehmen werden in den
Bankrott getrieben, qualifizierte Arbeitnehmer und Staatsbedienstete
entlassen. Im Namen der »Effizienz« liegen Humankapital und Produktionsstätten brach. Der unerbittliche Druck zur »effizienten« Nutzung der
gesellschaftlichen Ressourcen auf mikroökonomischer Ebene führt zur
genau entgegengesetzten Situation auf der makroökonomischen Ebene.
Der moderne Kapitalismus scheint völlig unfähig zu sein, diese ungenutzten menschlichen und materiellen Ressourcen zu mobilisieren.
Reichtum durch spekulative und kriminelle Geschäfte. Diese globale wirtschaftliche Umstrukturierung fördert die Stagnation des Angebots
notwendiger Güter und Dienstleistungen, während sie Investitionen in die
lukrative Luxusgüterindustrie umlenkt. Statt auf produktive Wirtschaftstätigkeit konzentriert sich die Kapitalbildung zunehmend auf spekulative
und betrügerische Transaktionen, die wiederum Störungen auf den großen Finanzmärkten der Welt verursachen.
Eine privilegierte Minderheit hat große Reichtümer auf Kosten der großen Mehrheit der Weltbevölkerung angehäuft. Die Zahl der Milliardäre
allein in den USA stieg von 13 im Jahr 1982 über 149 im Jahr 1996 auf
über 300 im Jahr 2000. Der globale Club der Milliardäre – mit etwa 450
Mitgliedern – verfügt über ein weltweites Gesamtvermögen, das deutlich
über dem Bruttosozialprodukt der Gruppe der einkommensschwächsten
Länder liegt, wo 59 Prozent der Weltbevölkerung leben.9 Der private
Reichtum der Familie Walton aus Arkansas etwa, der die Einzelhandelskette Wal-Mart gehört (85 Mrd. Dollar) – einschließlich der Erbin Alice
Walton und der Brüder Robson, John, Jim und Mutter Helen – ‚ ist mehr
als doppelt so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt von Bangladesch (33,4
Mrd. Dollar) mit einer Bevölkerung von 127 Millionen Menschen und einem Pro-Kopf-Einkommen von 260 Dollar im Jahr.
Darüber hinaus vollzieht sich die Kapitalakkumulation zunehmend außerhalb der realen Ökonomie, nicht durch produktive und kommerzielle
Wirtschaftstätigkeit: »Erfolge am Aktienmarkt der Wall Street (also Spekulationsgewinne durch Aktienhandel) waren für den größten Teil der Zunahme von Milliardären im letzten Jahr (1996) verantwortlich.«10 Zugleich fließen Milliarden von Dollar aus spekulativen Transaktionen auf
geheime Nummernkonten in den mehr als 50 Steueroasen auf der ganzen Welt. Nach einer konservativen Schätzung der US-Investmentbank
Merrill Lynch beträgt der Reichtum von Privatpersonen auf privaten
Bankkonten in Steueroasen 3,3 Billionen Dollar.11 Der IWF beziffert das
Vermögen von Konzernen und Privatpersonen in Steueroasen auf schätzungsweise 5,5 Billionen Dollar, eine Summe, die sich auf 25 Prozent des
gesamten Welteinkommens beläuft.12 Die weitgehend illegal erworbenen
Reichtümer der Eliten der Dritten Welt auf Nummernkonten wurden in
den 90er Jahren auf 600 Mrd. Dollar geschätzt, davon ein Drittel in der
Schweiz.13
Die »Marktreformen« begünstigen die Zunahme illegaler Aktivitäten
und die Internationalisierung der Verbrechenswirtschaft. In Lateinamerika und Osteuropa konnten kriminelle Syndikate durch die von der Weltbank geförderten Privatisierungsprogramme illegale Mittel in den Erwerb
von Staatseigentum investieren. Den Vereinten Nationen (UN) zufolge
betragen die Einkünfte transnationaler Verbrecherorganisationen weltweit
etwa eine Billion Dollar, das entspricht dem Bruttosozialprodukt der
Gruppe der ärmsten Länder mit einer Bevölkerung von drei Milliarden
Menschen.14 Diese UN-Schätzung schließt den Drogen- und Waffenhandel
und den Schmuggel von Nuklearmaterial ein, ebenso wie die Gewinne
aus der von der Mafia kontrollierten Dienstleistungsökonomie (z.B.
Prostitution, Glücksspiel, Wechselstuben usw.). Was diese Zahlen nicht
angemessen vermitteln, ist die Größenordnung der Investitionen
krimineller Organisationen in die legale Wirtschaft und die beträchtliche
Organisationen in die legale Wirtschaft und die beträchtliche Kontrolle,
die sie über reguläre Unternehmen gewonnen haben.
Kriminelle Gruppen arbeiten regelmäßig mit solchen Unternehmen zusammen und investieren in eine Vielzahl legaler Aktivitäten, die nicht nur
einen Deckmantel für Geldwäsche bieten, sondern auch einen bequemen
Weg darstellen, Reichtum außerhalb der kriminellen Ökonomie anzuhäufen. Einem Beobachter zufolge »erzielen organisierte Verbrechergruppen
bessere Ergebnisse als die meisten Fortune 500-Unternehmen… mit Organisationen, die eher General Motors ähneln als der traditionellen sizilianischen Mafia«.15 Vor einem Unterausschuss des US-Kongresses erklärte FBI-Direktor Jim Moody, dass kriminelle Organisationen in Russland »mit ausländischen Verbrechergruppen zusammenarbeiten, darunter
italienischen und kolumbianischen… Der Übergang zum Kapitalismus (in
der ehemaligen Sowjetunion) bot neue Gelegenheiten, die rasch von kriminellen Organisationen ausgenutzt wurden.«16
Die Krise der Überproduktion und die Verdrängung der Kleinproduzenten. Die Expansion der Produktion im globalen Kapitalismus verdankt sich der Minimierung der Beschäftigung und Löhne. Dadurch sinkt
allerdings die Verbrauchernachfrage nach notwendigen Waren und
Dienstleistungen. Einer unbegrenzten Produktionskapazität steht eine begrenzte Konsumkapazität gegenüber. Die Folge dieses Missverhältnisses
ist Überproduktion in nie gekanntem Ausmaß. Die Unternehmen können
in diesem System also nur expandieren, wenn gleichzeitig Produktionskapazität beseitigt wird, d.h. »überschüssige« Unternehmen Bankrott
gehen und liquidiert werden. Wenn aber ganze Industriezweige brach
fallen, erwirtschaften die davon betroffenen direkten Erzeuger kein Einkommen mehr, mit dem sie am Warenreichtum partizipieren könnten.
Entgegen dem von der herrschenden ökonomischen Lehre verkündeten
Theorem Jean Baptiste Says schafft Angebot nicht seine eigene Nachfrage. Seit den frühen 80er Jahren hat die Überproduktion von Gütern zu
einem starken Verfall der (realen) Preise geführt, mit vernichtenden Konsequenzen besonders für die Rohstoffproduzenten, aber auch den Fertigungssektor in der Dritten Welt.
In den Entwicklungsländern werden ganze Industriezweige, die für den
Binnenmarkt produzieren, auf Anordnung der Weltbank und des IWF in
den Bankrott getrieben. Der informelle urbane Sektor – der historisch
eine wichtige Rolle bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze spielte – wird
als Folge von Währungsabwertungen, der Liberalisierung von Importen
und der Überschwemmung der heimischen Märkte durch – zum Teil hoch
subventionierte – Erzeugnisse aus den Industrieländern unterhöhlt.
Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Stagnation bzw. eines Minuswachstums in Osteuropa, der ehemaligen Sowjetunion und den Subsaharaländern verzeichnen die größten Konzerne der Welt ein beispielloses
Wachstum und konnten ihren Anteil am Weltmarkt in nie gekannter Weise ausdehnen. Dieser Prozess vollzieht sich jedoch weitgehend durch die
Verdrängung vorhandener Produktionskapazitäten, d.h. auf Kosten lokaler regionaler und nationaler Produzenten.
Sofern kleine und mittelgroße Unternehmen »vor Ort« in den Bankrott
getrieben werden, sind sie gezwungen, für globale Großhändler zu produzieren, während große multinationale Konzerne durch das System der
Lizenzvergabe die Kontrolle über die lokalen Märkte erlangen. Kapitalkräftige Großunternehmen (die Lizenzgeber) gewinnen auf diese Weise
die Kontrolle über menschliche Ressourcen, billige Arbeitskräfte und das
örtliche Unternehmertum und eignen sich so einen großen Teil des Einkommens kleiner lokaler Firmen und/oder Einzelhändler an, während der
unabhängige Produzent (der Lizenznehmer) einen Großteil der Investitionen tragen muss.
Ein paralleler Prozess lässt sich auch in Westeuropa beobachten. Die
politische Umgestaltung der Europäischen Union (EU) im Rahmen des
Maastrichter Vertrags begünstigt zunehmend die herrschenden Finanzinteressen auf Kosten der Einheit der europäischen Gesellschaften. Die
Staaten fördern bewusst die Bildung privater Monopole; das Großkapital
zerstört das Kleinkapital in allen seinen Formen. Durch den Druck zur
Bildung einheitlicher Wirtschaftsblöcke in Europa und Nordamerika werden regionale und lokale Unternehmer an die Wand gedrückt, das Wirtschaftsleben in den Städten verändert sich grundlegend, weil das Kleinunternehmertum verdrängt wird. Der »freie Handel« und die wirtschaftliche Integration verschaffen globalen Unternehmen größere Mobilität,
während beides zugleich durch institutionelle Barrieren die Bewegung des
kleinen, lokalen Kapitals verhindert. Die von Großunternehmen dominierte wirtschaftliche Integration fördert unter dem Anstrich politischer Einheit häufig soziale Gegensätze und Auseinandersetzungen zwischen und
innerhalb nationaler Gesellschaften.
Konsens und Krieg. Diese hier nur angedeuteten Prozesse werden getragen von einem Konsens, der in wahrhaft überwältigender Weise hegemonial geworden ist und dem die Regierungen auf der ganzen Welt
vorbehaltlos verpflichtet sind: dem Neoliberalismus. Allüberall werden
die gleichen ökonomischen Rezepte befolgt. Unter der Schirmherrschaft
von IWF, Weltbank und WTO schaffen die marktliberalen Reformen günstige Bedingungen für global operierende Banken und multinationale
Konzerne. Tatsächlich jedoch handelt es sich gar nicht um eine System
»freier« Märkte: Trotz der neoliberalen Rhetorik nämlich stellen die von
IWF und Weltbank eingeforderten »strukturellen Anpassungsprogramme«
nur einen neuen interventionistischen Rahmen dar.
Denn die 1944 in Bretton Woods geschaffenen Institutionen des IWF
und der Weltbank sowie die 1995 gegründete WTO sind Bürokratien, Re-
gulierungsinstitutionen, die unter einem zwischenstaatlichen Schirm zugunsten mächtiger wirtschaftlicher und finanzieller Interessen operieren.
Hinter diesen globalen Institutionen stehen Wall-Street-Banker und die
Chefs der weltgrößten Wirtschaftskonzerne. An ihren Treffen und Konsultationen hinter verschlossenen Türen nehmen außerdem die Repräsentanten mächtiger globaler Wirtschaftslobbys teil, darunter der Internationalen Handelskammer (ICC), des Trans Atlantic Business Dialogue
(TABD) – die bei ihren jährlichen Zusammenkünften die größten westlichen Konzerne mit Politikern und WTO-Vertretern zusammenbringen –
‚ des United States Council for International Business (USCIB), des Internationalen Wirtschaftsforums in Davos (bzw. im Januar 2002 erstmals
in New York), des in Washington beheimateten Institute of International
Finance (IIF), das die größten Banken und Finanzorganisationen der Welt
repräsentiert, sowie anderer Organisationen. Weitere, halb verdeckt arbeitende Organisationen, die eine wichtige Rolle bei der Formung der
Institutionen der Neuen Weltordnung spielen, sind z.B. die Trilaterale
Kommission, die Bilderberg-Gruppe und der Council on Foreign Relations
(CFR).
Die makroökonomischen Reformen und die fortwährend radikalisierte
Handelsliberalisierung, die dieses mächtige Konglomerat der Globalisierungsagenten erzwingt, fördern die »friedliche« Rekolonialisierung von
Ländern durch bewusste Manipulation der Marktkräfte. Obwohl dazu kein
offener Einsatz von Gewalt erforderlich ist, stellt die rücksichtslose
Durchsetzung dieser Wirtschaftsreformen dennoch eine Form der Kriegführung dar. In diesem allgemeineren Sinne sind Krieg und Globalisierung keine getrennten Probleme.
Was geschieht mit Ländern, die sich weigern, sich den westlichen Banken und multinationalen Konzernen zu öffnen, wie es die WTO verlangt?
Militär und Geheimdienste des Westens pflegen den Kontakt zum Finanzestablishment. Die internationalen Finanzinstitutionen arbeiten auch mit
der NATO und ihren verschiedenen »Friedens«-Missionen zusammen,
ganz zu schweigen von der Finanzierung des dann fälligen Wiederaufbaus.
Zu Beginn des dritten Jahrtausends gehen Krieg und »freie Märkte«
Hand in Hand. Der Krieg ist gewissermaßen das multilaterale Investitionsabkommen der letzten Instanz. Er zerstört physisch, was durch Deregulierung, Privatisierung und die Erzwingung von »Marktreformen« noch
nicht vernichtet wurde. Direkte kriegerische Kolonialisierung und die Errichtung westlicher Protektorate erfüllen de facto den Zweck, westlichen
Banken und multinationalen Konzernen ungehinderten Zugang zu den
betreffenden Märkten zu verschaffen, so dass sie – wie in den Bestimmungen der WTO verlangt – global wie auf einem nationalen Markt agieren können. Die »Raketendiplomatie« von heute wiederholt die Kanonenbootdiplomatie, die im 19. Jahrhundert zur Durchsetzung des »Freihan-
dels« diente. Nach den Opiumkriegen warnte Caleb Cushing, der 1844
von den USA nach China entsandt worden war, um die Öffnung der chinesischen Häfen auszuhandeln, die kaiserliche Regierung Chinas, dass
»die Weigerung, den amerikanischen Forderungen nachzukommen, als
Einladung zum Krieg aufgefasst werden könnte«.17
Entwaffnet die Neue Weltordnung! Die Ideologie des freien Marktes stützt
neue und brutale Formen staatlicher und suprastaatlicher Intervention,
die auf der bewussten Manipulation von Marktkräften beruhen. Die Bedingungen des WTO-Abkommens zur Sicherung des freien Handels sichern tatsächlich die Rechte der weltgrößten Banken und multinationalen
Konzerne. Dagegen verlieren die Bürger in den einzelnen Ländern das
Recht auf politische Beteiligung, weil die Durchsetzung internationaler
Handelsabkommen durch die WTO auf nationaler und internationaler
Ebene in keiner Weise demokratisch legitimiert ist. So drohen die Vereinbarungen der WTO die nationalen Gesellschaften zu entmachten, während sie das internationale Finanzestablishment mit ausgedehnten Befugnissen ausstatten. Der Neoliberalismus mit seiner Rhetorik der »guten
Regierungsführung« (good governance) und des freien Marktes bietet
den Herrschenden eine nur fadenscheinige Rechtfertigung.
Die Neue Weltordnung basiert auf dem »falschen Konsens« von Washington und Wall Street, der das System freier Märkte als einzige mögliche Wahl auf dem schicksalhaften Weg zu globalem Wohlstand verordnet. Alle politischen Parteien, einschließlich der Grünen, der Sozialdemokraten und der ehemaligen Kommunisten, heulen heute mit im Rudel
derjenigen, die diese Neue Weltordnung beschwören.
Auf die Globalisierungsskeptiker die sich in den letzten Jahren immer
vernehmlicher zu Wort gemeldet haben und nun anfangen, die Festung
des G8-Kartells zu bestürmen, kommen in Zukunft schier unlösbare Aufgaben zu. Sie müssen die hinterhältigen Verbindungen von Politikern und
Vertretern der internationalen Finanzorganisationen aufdecken. Sie müssen alles daransetzen, staatliche Institutionen und zwischenstaatliche
Organisationen aus der Umklammerung des Finanzestablishments zu
befreien. Sie müssen der eklatanten Konzentration von Eigentum und
privatem Reichtum entgegentreten, dem spekulativen Handel und der
Geldwäsche Hindernisse in den Weg legen, Steueroasen austrocknen, für
den Wiederaufbau des Wohlfahrtsstaats kämpfen. Sie müssen eine breite
Koalition mit der Friedensbewegung eingehen, da das Militär, die Aufrüstung und die Sicherheitsdienste des Westens nicht nur unmittelbar den
Weltfrieden bedrohen, sondern grundsätzlich auch die herrschenden
Wirtschafts- und Finanzinteressen stützen. Sie müssen den globalen Medien und den von ihnen fabrizierten Nachrichten, mit denen die Weltereignisse verzerrt dargestellt werden, eine eigene Öffentlichkeit entgegenstellen, um das »falsche Bewusstsein«, das unsere Gesellschaften durch-
dringt und kritische Debatten im Ansatz erstickt, aus den Köpfen zu vertreiben.
Wir müssen diesen Kampf auf breiter Linie führen – in allen Ländern
und in allen Gesellschaftsbereichen. Wir müssen uns über nationale, ethnische und soziale Grenzen hinweg verständigen, vernetzen und vereinigen. Wir müssen auf beispiellose Weise solidarisch und international
handeln und der Wall-Street-Globalisierung die Globalisierung unseres
Widerstandes entgegensetzen. Um die Armut zu beseitigen und einen
dauerhaften Weltfrieden zu sichern, müssen wir die Neue Weltordnung
entwaffnen.
TEIL 1
Globale Armut
und makroökonomische Reform
1. Die Globalisierung der Armut
Seit den frühen 80er Jahren zwingen IWF und Weltbank den Entwicklungsländern als Bedingung für Umschuldungsverhandlungen und neue
Kredite Programme zur »makroökonomischen Stabilisierung« und
»Strukturanpassung« auf. Diese Programme haben zur Verarmung Hunderter Millionen von Menschen geführt. Entgegen dem Geist der Vereinbarungen von Bretton Woods, wo IWF und Weltbank 1944 aus der Taufe
gehoben wurden, zielen diese Strukturanpassungsprogramme nicht auf
wirtschaftlichen Wiederaufbau und stabile Wechselkurse; sie sind vielmehr zu einem großen Teil dafür verantwortlich, nationale Währungen zu
destabilisieren und die Wirtschaften von Entwicklungsländern zu ruinieren.
In den betreffenden Ländern kollabiert die Binnenkaufkraft, brechen
Hungersnöte aus, müssen Krankenhäuser und Schulen geschlossen werden, bleibt nunmehr Hunderten Millionen von Kindern das Recht auf elementare Bildung versagt. In mehreren Regionen der unterentwickelten
Welt haben die Reformen zu einem Wiederaufleben von Infektionskrankheiten geführt, darunter Tuberkulose, Malaria und Cholera. Obwohl
es der Weltbank offiziell obliegt, die Armut zu bekämpfen und zum Umweltschutz beizutragen, hat sie mit ihrer Unterstützung für große Wasserkraftwerke und agrarindustrielle Projekte tatsächlich den Prozess der
Entwaldung und der Zerstörung der natürlichen Umwelt beschleunigt und
Beihilfe zur erzwungenen Umsiedlung und Vertreibung von mehreren
Millionen Menschen geleistet.
Die globale Geopolitik des Internationalen Währungsfonds. Die
makroökonomische Umstrukturierung von Volkswirtschaften nach dem
Kalten Krieg diente den geopolitischen Interessen des Westens. Strukturanpassung wurde zu einem Mittel, um die Wirtschaften des ehemaligen
Ostblocks zu unterminieren und das System der Staatsbetriebe zu zerstören. Seit den späten 80er Jahren verabreichten IWF und Weltbank
ihre »bittere Medizin« zur vermeintlichen Gesundung der Wirtschaft ganz
Osteuropa, Jugoslawien und der ehemaligen Sowjetunion – mit vernichtenden wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen (siehe Kapitel16 und
17).
Strukturanpassungsprogramme werden seit den 90er Jahren auch in
den Industrieländern durchgeführt, wenngleich die Mechanismen, mit
denen sie durchgesetzt werden, hier anders sind. Obwohl die makroökonomischen Therapien der westlichen Regierungen meist weniger brutal
ausfallen als jene, die den Ländern des Südens und Ostens zugemutet
werden, sind die theoretischen und ideologischen Konzepte weitgehend
ähnlich. Auch hier dienen die Reformen denselben globalen Finanzinteressen. Der Monetarismus ist im weltweiten Maßstab das Zaubermittel
schlechthin, und der Prozess der globalen wirtschaftlichen Umstrukturierung trifft auch die reichen Länder ins Herz. Die Konsequenzen sind Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und die Marginalisierung großer Teile der
Bevölkerung. Sozialausgaben werden gekürzt, viele Leistungen des Wohlfahrtsstaates zurückgenommen, die Zerstörung von kleinen und mittleren Betrieben begünstigt. Mangel- und Unterernährung treffen heute
auch die Armen in den Städten des reichen Westens. Einer jüngsten Studie zufolge werden 30 Millionen Menschen in den USA als »hungrig« klassifiziert.1
Die Auswirkungen der Strukturanpassungen, wozu auch die Schwächung der sozialen Rechte von Frauen und umweltschädliche Konsequenzen der Wirtschaftsreformen zählen, sind hinlänglich dokumentiert. Obwohl die Institutionen von Bretton Woods die sozialen Härten der Anpassungsprogramme einräumen, ist keine Änderung ihrer Politik in Sicht.
Tatsächlich werden seit Anfang der 90er Jahre die Auflagen des IWF und
der Weltbank mit dem Zusammenbruch des Ostblocks – heute im Namen
der »Bekämpfung der Armut« – immer härter und unerbittlicher.
In über 150 verschuldeten Ländern gleichzeitig setzt der IWF die gleiche »Tagesordnung« von strenger Haushaltsdisziplin, Währungsabwertung, Handelsliberalisierung und Privatisierung durch. Schuldnernationen
verlieren ihre wirtschaftliche Souveränität und Kontrolle über die Steuerund Geldpolitik. Sie geraten unter wirtschaftliche Vormundschaft. Ihre
Zentralbanken und Finanzministerien werden – häufig im Verein mit den
örtlichen Bürokratien – reorganisiert, die staatlichen Institutionen geschwächt oder beseitigt. Unter Umgehung demokratischer Mitbestimmung etablieren die internationalen Finanzorganisationen allenthalben
»Parallelregierungen«, und Länder, die sich die »Leistungsziele« des IWF
nicht aufnötigen lassen, kommen auf die schwarze Liste – sie erhalten
keine Kredite mehr.
Obwohl im Namen von Demokratie und der so genannten »guten Regierungsführung« (good governance) betrieben, erfordern die Struktuanpassungsprogramme tatsächlich die Stärkung der internen Sicherheitsapparate und militärischen Nachrichtendienste in den betroffenen Ländern:
Politische Repression geht – mit dem geheimen Einverständnis der Eliten
der Dritten Welt – Hand in Hand mit »ökonomischer Repression«.
Für die Geberländer und Gläubiger der Entwicklungsländer sind »gute
Regierungsführung« und Mehrparteienwahlen zusätzliche Bedingungen
für Umschuldungen und neue Kredite. Doch allein schon das Wesen der
Wirtschaftsreformen schließt eine echte Demokratisierung aus. Ihre Umsetzung erfordert nämlich entgegen dem Geist des angelsächsischen Liberalismus unweigerlich die Rückendeckung durch das Militär und eine
autoritäre Staatsmacht. So begünstigen die Strukturanpassungen
Scheininstitutionen und eine nur vorgetäuschte parlamentarische Demokratie, die ihrerseits den Prozess der wirtschaftlichen Umstrukturierung
unterstützt.
In der gesamten Dritten Welt herrschen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit unter einer durch das Spiel der Marktkräfte verarmten Bevölkerung. In Tunis kam es im Januar 1984 zu Hungeraufständen vor allem
arbeitsloser Jugendlicher. In der venezolanischen Hauptstadt Caracas
wurden 1989 Unruhen und Volksaufstände gegen das IWF-Anpassungsprogramm brutal unterdrückt. Nachdem er rhetorisch den IWF beschuldigt hatte, »einen wirtschaftlichen Totalitarismus« zu praktizieren,
»der nicht mit Kugeln, sondern durch Hunger tötet«, erklärte Präsident
Carlos Andres Pérez den Ausnahmezustand und schickte Infanterie- und
Marineeinheiten in die Elendsviertel (barrios de ranchos) auf den Hügeln
über der Stadt. Die Anti-IWF-Unruhen wurden durch eine 200-prozentige
Steigerung des Brotpreises ausgelöst. Auf Männer, Frauen und Kinder
wurde unterschiedslos geschossen: »Das Leichenschauhaus von Caracas
berichtete von 200 Toten allein in den ersten drei Tagen… und warnte,
dass ihm die Särge ausgingen.«2 Inoffiziell kamen bei den Unruhen mehr
als 1000 Menschen ums Leben. Im selben Jahr schloss das nigerianische
Militär nach Studentenunruhen gegen die IWF-Anpassungen sechs Universitäten. In Marokko brachen 1990 erst ein Generalstreik, dann ein
Volksaufstand gegen die vom IWF gestützten Reformen aus. In Mexiko
erhoben sich 1993 die Zapatisten in der Region Chiapas im Süden des
Landes. Ebenfalls 1993 kam es in der Russischen Föderation zu Protesten
gegen die IWF-Reformen. Nach einem Putschversuch wurde das russische Parlament erstürmt. In Ecuador führten Massenproteste gegen die
Übernahme des US-Dollars als nationaler Währung im Januar 2000 zum
Rücktritt des Präsidenten. Im April desselben Jahres protestierten Tausende von Bauern in Bolivien gegen die Privatisierung der Wasserressourcen des Landes und die Durchsetzung von Nutzungsgebühren. Die
Liste ist lang und wird immer länger.
Wirtschaftliche Strukturanpassungen mit ihrer bewussten Manipulation
von Marktkräften schließen »ökonomische Völkermorde« nicht aus. Verglichen mit den früheren Perioden der Kolonialgeschichte, die besonders
durch erzwungene Arbeit und Sklaverei geprägt waren, sind die sozialen
Auswirkungen noch vernichtender. Die Anwendung struktureller Anpassungsprogramme in etlichen Schuldnerländern begünstigt die Internationalisierung einer makroökonomischen Politik unter direkter Kontrolle von
IWF und Weltbank, die sich zugunsten mächtiger finanzieller und politischer Interessen auswirkt, wie sie z.B. im Pariser und Londoner Club und
durch die G7-Länder vertreten sind. Diese neue Form der ökonomischen
und politischen Herrschaft – eine Form des »Marktkolonialismus« – unterjocht Menschen und Regierungen durch das scheinbar neutrale Spiel
der Marktkräfte. Die in Washington angesiedelte Bürokratie der internationalen Finanzorganisationen wurde von den internationalen Gläubigern
und multinationalen Konzernen mit der Ausführung eines globalen ökonomischen Plans beauftragt, der den Lebensunterhalt von mehr als 80
Prozent der Weltbevölkerung betrifft.
Die Zerstörung der Volkswirtschaften. Zu keiner Zeit in der Geschichte hat der – mit makroökonomischen Instrumenten manipulierte –
»freie« Markt eine so wichtige Rolle für das Schicksal souveräner Staaten
gespielt.
Die Umstrukturierung der Weltwirtschaft unter Führung von IWF und
Weltbank nimmt Entwicklungsländern zunehmend die Möglichkeit, ihre
Volkswirtschaften eigenständig aufzubauen. Stattdessen machen die internationalen Finanzorganisationen aus diesen Ländern offene Wirtschaftsgebiete und verwandeln ihre Volkswirtschaften in Reservoirs billiger Arbeitskräfte und natürlicher Ressourcen. Die Verabreichung der bitteren »Wirtschaftsmedizin« des IWF trägt dazu bei, die Warenpreise weiter zu drücken, weil sie einzelne Länder gleichzeitig zwingt, ihre Volkswirtschaften auf einen schrumpfenden Weltmarkt einzustellen.
Den Kern des globalen Wirtschaftssystems bildet eine strukturelle Ungleichheit des Handels, der Produktion und Kredite zwischen reichen und
armen Ländern. Im Jargon der Weltbank gehören zu letzteren die Low
income countries (LIC) und die Low middle income countries (LMIC) – die
UNO spricht etwas zurückhaltender von Least developed countries (LLDC)
und von Less developed countries (LDC). Zur Jahrtausendwende leben
über sechs Milliarden Menschen auf der Erde, fünf Milliarden davon in
armen Ländern. Während die reichen Länder mit etwa 15 Prozent der
Weltbevölkerung über annähernd 80 Prozent des weltweiten Einkommens
verfügen, müssen sich fast 60 Prozent der Weltbevölkerung – die Gruppe
der Länder mit niedrigem Einkommen einschließlich Indiens und Chinas
mit einer Bevölkerung von über 3,5 Milliarden Menschen – mit lediglich
6,3 Prozent des gesamten Welteinkommens bescheiden, mit weniger als
dem Bruttoinlandsprodukt von Frankreich und seinen Überseeterritorien.
Bei einer Bevölkerung von über 600 Millionen Menschen beläuft sich das
Bruttoinlandsprodukt der gesamten Subsaharastaaten Afrikas annähernd
auf die Hälfte dessen, was allein in Texas erwirtschaftet wird. Zusammengenommen verfügen die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen (darunter auch die ehemaligen »sozialistischen« Länder und die
frühere Sowjetunion), die etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, über annähernd 20 Prozent des Gesamteinkommens der Welt.
Man darf dabei nicht vergessen, dass der Anteil der Dritten Welt am
globalen Gesamteinkommen seit dem Ausbruch der Schuldenkrise beständig zurückgegangen ist. Während der Anteil der Länder mit niedrigem Einkommen an der Weltbevölkerung in den drei Jahren zwischen
1988 und 1991 um über zwei Prozent zunahm, sank ihr Anteil am Welteinkommen von 5,4 auf 4,9 Prozent. Allein der entsprechende Anteil der
Subsaharastaaten fiel im selben Zeitraum von 0,9 auf 0,7 Prozent.
1993 führte die Weltbank eine neue Berechnungsgrundlage für den
Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ein. Die in Tabelle 1.1 enthaltenen
Zahlen basieren auf dieser neuen Methode, nach der sich ein höherer
Anteil der Länder mit niedrigem Einkommen am Welteinkommen berechnet als während der 80er Jahre.
Tabelle 1.1 Anteile an Weltbevölkerung und Welteinkommen (1998)
BevölkeRung (in
Millionen)
Anteil an
Pro-Kopfder Weltbe- Einkommen
völkerung
(in US-$)
(in %)
GesamtEinkommen Welt
(in Mrd.
kom
US-$)
(in %)
Länder mit
niedrigem
Einkommen
3.515
59,6
520
1.828
6,3
Länder mit
mittlerem
Einkommen
1.496
25,4
2.950
4.413
15,3
alle armen
Länder
5.011
85
1.250
6.264
21,7
SubsaharaLänder
628
10,6
480
301
1
Südasien
1.305
22,1
430
561
1,9
China
1.239
21
750
929
3,2
2,7
ehemalige
UdSSR und
Osteuropa
gesamte
Dritte Welt*
alle reichen
Länder**
395
6,7
1.965
776
4.616
78,3
1.180
5.447
18,9
15
25.510
22.576
78,3
100
4.890
28.836
885
gesamte Welt 5.897
100
Quelle: Schätzung nach Daten des World Development Report der Weltbank,
1999/2000, Washington, DC. 2000, 5. 230f.
*einschließlich Türkei und Mexiko
**reiche Länder sind solche mit hohem Einkommen
Anmerkung: Alle armen Länder sind die Gesamtheit aller Länder mit niedrigem
und mittlerem Einkommen. Zur gesamten Dritten Welt gehören alle armen Länder außer der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa.
In vielen verschuldeten Ländern der Dritten Welt waren die realen Gehälter im modernen Sektor bereits Anfang der 90er Jahre um mehr als 60
Prozent gefallen. Im informellen Sektor sah es sogar noch kritischer aus.
In Nigeria z.B. fiel das Mindesteinkommen unter der Militärregierung von
General Ibrahim Babangida im Verlauf der 80er Jahre um 85 Prozent. Die
Löhne in Vietnam lagen unter zehn Dollar im Monat, während der Preis
für Reis infolge des von der Regierung in Hanoi durchgeführten Programms des IWF auf das Weltmarktniveau anstieg. Ein Lehrer mit Universitätsabschluss in einer weiterführenden Schule in Hanoi z.B. bekam
1991 ein Monatsgehalt von 15,2 Dollar (siehe Kapitel 12).3 In Peru stiegen über Nacht der Brotpreis um das 12fache und die Kraftstoffpreise um
das 31fache, Folge des von IWF und Weltbank unterstützten »Fujischocks«, den Präsident Fujimori im August 1990 durchführte. Die realen
Mindestlöhne dagegen sanken in Relation zu ihrem Niveau Mitte der 70er
Jahre um mehr als 90 Prozent (siehe Kapitel 14).
Die »Dollarisierung« der Preise und der Abstieg des Ostblocks.
Die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank führen der
Tendenz nach in den betroffenen Ländern zu einer »Dollarisierung« der
Binnenpreise, was heißt: Die Inlandspreise von Grundnahrungsmitteln
steigen zunehmend auf Weltmarktniveau. Die neue Weltwirtschaftsordnung basiert also einerseits auf der Angleichung der Warenpreise in einem voll integrierten Weltmarkt und vertieft andererseits die globalen
Einkommensdisparitäten. So liegen die Löhne (und Lohnkosten) in der
Dritten Welt und in Osteuropa bis zu 70-mal niedriger als in OECDLändern.
Zu diesen Diskrepanzen zwischen den Staaten kommen extreme Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen innerhalb der einzelnen
Länder. In vielen Ländern der Dritten Welt verfügen die oberen 20 Prozent der Bevölkerung über mehr als 60 Prozent des Nationaleinkommens
und haben 70 Prozent der ländlichen Haushalte ein Pro-Kopf-Einkommen,
das nur zwischen zehn und 20 Prozent des nationalen Durchschnitts beträgt. Diese enormen – und sich weiterhin vergrößernden – Einkommensunterschiede zwischen den Ländern und innerhalb ihrer Volkswirtschaften sind die Konsequenz der Struktur des Warenhandels und der
ungleichen internationalen Arbeitsteilung, die den Ländern der Dritten
Welt und in jüngerer Zeit auch den ehemaligen Ostblockstaaten einen
untergeordneten Status im Weltwirtschaftssystem zuweisen.
Bis in die frühen 90er Jahre wurden die Staaten Osteuropas und die
Sowjetunion als Teil des industrialisierten Nordens angesehen, d.h. man
hielt sie in puncto materiellen Verbrauchs, Erziehung, Gesundheit, wissenschaftlicher Entwicklung usw. für grob vergleichbar mit den OECDLändern. Obwohl die Durchschnittseinkommen insgesamt niedriger wa-
ren, sprachen westliche Experten den Ostblockländern besonders in den
Bereichen Gesundheit und Bildung erhebliche Errungenschaften zu.
Heute, mehr als zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, sind
die ehemaligen Ostblockländer als Folge der IWF-Reformen verarmt und
werden von der Weltbank zusammen mit den Ländern niedrigen und
mittleren Einkommens der Dritten Welt als »Entwicklungsländer« eingestuft. Die zentralasiatischen Republiken Kasachstan und Turkmenistan
gelten neben Syrien, Jordanien und Tunesien als einfache LMIC, während
die Russische Föderation mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 3000 Dollar neben Brasilien immerhin an der Obergrenze dieser Kategorie eingeordnet wird. Das also ist das Ergebnis des Kalten Krieges: die nunmehrige Zugehörigkeit Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion zur »Dritten Welt«.
Die Welthandelsorganisation – nicht legitimiert, aber mächtig. Die
Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1994 markiert eine weitere Phase in der Entwicklung des Wirtschaftssystems der Nachkriegszeit,
an deren Ende nun ein neues Machtdreieck aus IWF, Weltbank und WTO
steht. Durch eine effektivere »Überwachung« der Wirtschaftspolitik von
Entwicklungsländern können die drei wohlkoordinierten internationalen
Institutionen die Souveränität nationaler Regierungen immer weiter einschränken.
Die neue Welthandelsordnung, die sich mit dem Abschluss der Uruguay-Runde in Marrakesch 1994 herausbildete, bestimmt auch die Beziehung zwischen den internationalen Finanzorganisationen in Washington
und den nationalen Regierungen neu. Die Durchsetzung der wirtschaftlichen Auflagen des IWF und der Weltbank beruht seither nicht länger auf
bi- oder multilateralen Kreditvereinbarungen, die ja rechtlich nicht bindend sind. Viele der Eckpfeiler der Strukturanpassungsprogramme wie
Liberalisierung des Handels, Privatisierung und Öffnung für ausländische
Investoren sind nun in den Vertragsbestimmungen der WTO fest verankert worden, um die Grundlage für eine strenge und sanktionsbewehrte
Überwachung der Mitgliedsstaaten sowie die Durchsetzung von Bedingungen nach internationalem Recht zu schaffen.
Die Deregulierung des Handels nach den Regeln der WTO, verbunden
mit einem erweiterten Schutz geistigen Eigentums (TRIPS-Abkommen),
ermöglicht es multinationalen Konzernen, lokale Märkte zu durchdringen
und ihre Kontrolle über praktisch alle Bereiche der nationalen Fertigungssektoren, der Landwirtschaft und Dienstleistungsökonomie auszuweiten.
In diesem neuen wirtschaftlichen Umfeld spielen internationale Vereinbarungen, die von Regierungsvertretern in zwischenstaatlichen Verhandlungen getroffen werden, bei der Umformung von Volkswirtschaften eine
entscheidende Rolle. Die Vertragsklauseln der WTO stellen nach Einschätzung einiger Beobachter »eine Charta für multinationale Konzerne«
dar. Sie erschweren es Nationalstaaten, ihre Volkswirtschaften nach eigenem Gusto zu regulieren, und bedrohen nationale Sozialprogramme,
Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen und Initiativen auf kommunaler
Ebene. Während somit die globalen Konzerne ausgedehnte Machtbefugnisse erhalten haben, besteht die Gefahr, dass durch die WTO-Verträge
die nationalen Regelungskompetenzen entwertet werden.
Die WTO wurde nach der Unterzeichnung einer von hohen Ministerialbeamten hinter verschlossenen Türen getroffenen »technischen Vereinbarung« ins Leben gerufen. Selbst die in Marrakesch 1994 vertretenen
Politiker waren nicht in allen Belangen über die WTO-Statuten informiert,
auf die die Technokraten sich in separaten Sitzungen verständigt hatten.
Voraussetzung der WTO-Mitgliedschaft ist die Annahme sämtlicher Vereinbarungen der Uruguay-Runde: Alle »Resultate der Runde (sind) ausnahmslos zu akzeptieren«.4
Nach dem Treffen in Marrakesch stimmten die nationalen Parlamente
der 550-seitigen Vereinbarung (nebst ihren zahlreichen Anhängen) in der
Regel ohne Debatte zu, sofern sie überhaupt formal ratifiziert wurde. Die
WTO-Vertragsbestimmungen, die sich aus dieser »technischen Vereinbarung« ergaben, wurden also einschließlich des darin geregelten Schlichtungsverfahrens wie nebenbei zu internationalem Recht erhoben. Die
Vereinbarung von Marrakesch von 1994, die die WTO als multilaterale
Institution begründet, unterlief den demokratischen Prozess in jedem der
Mitgliedsländer. Sie greift in eklatanter Weise in nationales Recht und die
Verfassungen der Mitgliedsstaaten ein, während sie globalen Banken und
multinationalen Konzernen ausgedehnte Rechte verleiht und sie mit großer Macht ausstattet.
Der Schaffung der Welthandelsorganisation mit der Schlussakte der
Uruguay-Runde ist, mit anderen Worten, illegal, ihr fehlt in eklatanter
Weise jegliche politische Legitimation. Wie beiläufig wurde in Genf eine
totalitäre zwischenstaatliche Institution installiert, die unter internationalem Recht mit dem Mandat ausgestattet ist, die Wirtschafts- und Sozialpolitik einzelner Länder zu überwachen und zu maßregeln – unter Verletzung der Souveränitätsrechte nationaler Regierungen. In ähnlicher Weise
werden durch das WTO-Abkommen Autorität und Eingriffsmöglichkeiten
mehrerer UN-Organisationen kurzerhand neutralisiert, darunter die der
UNCTAD und die der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Die WTOVereinbarungen stehen nicht nur im Widerspruch zu gültigem nationalen
und internationalen Recht, sondern auch zur Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte von 1948: Wer die WTO als legitime Organisation ansieht, plädiert praktisch dafür, die Menschenrechtserklärung der UNO auf
unbestimmte Zeit auszusetzen bzw. aufzuheben.
Die Regeln der WTO verletzen nicht nur in eklatanter Weise internationales Recht, sie legitimieren auch Handelspraktiken, die an kriminelle
Handlungen grenzen, einschließlich des Raubs geistigen Eigentums durch
multinationale Konzerne. Sie schwächen die Rechte von Pflanzenzüchtern
und öffnen durch die Patentierbarkeit ganzer Organismen, Zelllinien oder
auch nur einzelner (sogar menschlicher) Gene der genetischen Manipulation durch Biotechnologiekonzerne Tür und Tor (siehe Kapitel 9).
Auch im Finanzsektor haben die WTO-Vereinbarungen weit reichende
Konsequenzen. Im Rahmen des General Agreement on Trade in Services
(GATS) legitimieren sie groß angelegte finanzielle und spekulative Manipulationen, die sich gegen die Entwicklungsländer richten – mit der Folge, dass diese Länder eine eigenständige Geldpolitik preisgeben müssen.
Die Regeln der WTO geben Banken und Multis das Recht, die Marktkräfte zu ihrem Vorteil zu manipulieren, nationale Institutionen zu destabilisieren, einheimische Produzenten in den Bankrott zu treiben und
schließlich die Kontrolle über ganze Länder zu übernehmen. Mit einem
Satz: Sie leisten der Rekolonialisierung Vorschub.
2. Globale Unwahrheiten
Die G7-Staaten und globale Organisationen wie IWF, Weltbank und WTO
leugnen die wachsende globale Armut. Soziale Realitäten werden verdeckt, offizielle Statistiken manipuliert, ökonomische Konzepte auf den
Kopf gestellt. Währenddessen bombardieren die Medien die Öffentlichkeit
mit strahlenden Bildern globalen Wachstums und Wohlstands. Die Weltwirtschaft soll angeblich durch den Schub der »Marktreformen« boomen:
»Rosige Zeiten sind wieder angebrochen…‚ eine wunderbare Gelegenheit
nachhaltigen und steigenden globalen Wachstums wartet darauf, ergriffen zu werden.«5 Ohne jede Debatte oder Diskussion wird die »solide
makroökonomische Politik«, also das ganze Spektrum von strengen
Sparmaßnahmen, Deregulierung, Rationalisierung und Privatisierung, als
Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg verkündet.
Der dominante Wirtschaftsdiskurs setzt sich auch immer stärker an
Universitäten und Forschungsinstituten auf der ganzen Welt durch. Kritische Analysen stoßen auf große Hindernisse; die soziale und wirtschaftliche Realität wird nur noch durch die Brille fiktiver wirtschaftlicher Relationen gesehen, die dem Zweck dienen, die wahre Funktionsweise des
globalen Wirtschaftssystems zu verbergen. Die Mainstream-Ökonomen
produzieren Theorien ohne Fakten (»reine Theorie«) und Fakten ohne
Theorien (»angewandte Wirtschaftswissenschaften«). Das herrschende
ökonomische Dogma erlaubt keinen Widerspruch, das tragende theoretische Paradigma steht nicht zur Debatte. Die Hauptaufgabe der Universitäten ist es, loyale und verlässliche Ökonomen auszubilden, die unfähig
sind, die sozialen Fundamente der globalen Marktökonomie aufzudecken.
In ähnlicher Weise werden auch zunehmend die Intellektuellen der Dritten Welt für das neoliberale Paradigma gewonnen. Die Internationalisierung der Wirtschafts-»Wissenschaften« läuft dem Prozess globaler wirtschaftlicher Umstrukturierung vorbehaltlos hinterher.
Dieses offizielle neoliberale Dogma schafft auch sein eigenes »Gegenparadigma«, eine moralische Kritik, die »nachhaltige Entwicklung« und
»Bekämpfung der Armut« einfordert. Doch häufig werden dabei die politischen Fragen und Probleme im Hinblick auf Armut, Umweltschutz und
Frauenrechte verzerrt und geschönt. Diese Kritik fordert die neoliberalen
Rezepte nur selten heraus und entwickelt sich eher neben und in Harmonie mit dem offiziellen neoliberalen Dogma als in Opposition zu ihm.
Innerhalb dieser harmlosen Strömung der Globalisierungskritik, die
vom Forschungsestablishment großzügig finanziert wird, finden Entwicklungsforscher und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGO) eine
komfortable Nische. Ihre Rolle ist es, den Anschein einer kritischen De-
batte zu erwecken, ohne die sozialen Grundlagen des globalen Marktsystems aufzudecken. Die Weltbank spielt in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle. Sie fördert Forschungen über die »Milderung der Armut« und die
»sozialen Dimensionen der Anpassung«, was dieser Organisation ein
»menschliches Antlitz« verleiht und den Anschein erweckt, als engagiere
man sich dort für sozialen Wandel. Doch insoweit dabei kein funktionaler
Zusammenhang zu den wesentlichen makroökonomischen Reformen
hergestellt wird, stellt diese Kritik nur selten eine Bedrohung der Ziele
neoliberaler Wirtschaftspolitik dar.
Die Manipulation der Armutszahlen. Die Legitimität der Marktreformen beruht auf der Illusion, dass Globalisierung zu langfristigem
Wohlstand führt. Diese Illusion wird durch die eklatante Manipulation
wirtschaftlicher und sozialer Daten aufrechterhalten, unter anderem der
Armutszahlen. Die Weltbank »schätzt«, dass 18 Prozent aller Menschen
in der Dritten Welt »extrem arm« sind, 33 Prozent werden als »arm«
bezeichnet. In ihrer maßgeblichen Studie über globale Armut legt diese
Organisation die »obere Armutsgrenze« willkürlich auf ein Pro-KopfEinkommen von einem Dollar am Tag fest, was einem jährlichen ProKopf-Einkommen von 370 Dollar entspricht.6 Bevölkerungsgruppen in
einzelnen Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über einem Dollar
am Tag werden ebenso willkürlich als »nicht arm« bezeichnet. Mit anderen Worten: Durch die grobe Manipulation der Einkommensstatistik setzt
die Weltbank alles daran, die Armen in den Entwicklungsländern als eine
Minderheit darzustellen.
Wie willkürlich diese Armutsschwelle ist, zeigen die Beispiele Lateinamerika und Karibik. Hier sollen laut Weltbank nur 19 Prozent der Bevölkerung »arm« sein – eine grobe Verzerrung, wenn man weiß, dass das
Bureau of the Census in den USA, wo das jährliche Pro-Kopf-Einkommen
bei über 25.000 Dollar liegt, einen von sieben Amerikanern als arm einstuft (vgl. Tabelle 2.1).7
Tabelle 2.1 Armut in ausgewählten G7-Staaten nach nationalen Standards
Land
USA (1996) *
Armutsniveau
(Prozentsatz der Bevölkerung unter der Armutsgrenze)
13,7
Kanada (1995) **
17,8
Großbritannien (1993) ***
20,0
Italien (1993) ***
17,0
Deutschland (1993) ***
13,0
Frankreich (1993) ***
17,0
Quellen: *US Bureau of the Census; **Center for international Statistics, Canadian Council on Social Development; ***European Information Service
Die subjektiven und voreingenommenen Schätzungen der Weltbank berücksichtigen also in keiner Weise die tatsächlichen Bedingungen im jeweiligen Land. Mit der Liberalisierung der Warenmärkte sind die Preise
für Grundnahrungsmittel in den Entwicklungsländern auf Weltmarktniveau gestiegen. Der dekretierte Standard von einem Dollar hat daher
keine rationale Basis: Bevölkerungsgruppen mit einem Pro-KopfEinkommen auch von zwei, drei oder sogar fünf Dollar sind einfach arm,
d.h. ihnen fehlt das Geld für Grundnahrungsmittel, Kleidung, Wohnung,
Gesundheit und Bildung.
Sobald die Schwelle von einem Dollar am Tag erst einmal festgelegt
ist, wird die »Berechnung« des nationalen und globalen Armutsniveaus
zu einer rein arithmetischen Übung, denn die Armutsindikatoren werden
auf der Basis dieser Annahme mechanisch bestimmt. Die Daten werden
dann in schöne Tabellen eingetragen und erlauben Prognosen über sinkende Armutsniveaus im 21. Jahrhundert.
Diese Armutsprognosen basieren auf einer rein hypothetischen Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens. Die Zunahme des Einkommens
kommt dann angeblich einer entsprechenden Abnahme des Armutsniveaus gleich. Nach Berechnungen, die die Weltbank Ende der 80er Jahre
angestellt hat, sollte z.B. die Armut in China von 20 Prozent 1985 auf 2,9
Prozent im Jahr 2000 sinken.8 In ähnlicher Weise sollte das Armutsniveau
in Indien, wo nach den offiziellen Daten mehr als 80 Prozent der Bevölkerung ein Pro-Kopf-Einkommen von weniger als einem Dollar am Tag haben, von 55 Prozent 1985 auf 25 Prozent im Jahr 2000 fallen – obwohl
also das Weltbankkriterium von einem Dollar am Tag gar nicht erfüllt
wird.9
Die gesamte Schätzungsmethode nach der »Ein Dollar am Tag«-Regel
hat rein gar nichts mit der realen Lebenssituation zu tun. Was die Menschen vor Ort für Essen, Wohnung und soziale Dienste ausgeben müssen,
wird nicht analysiert; wie die konkreten Bedingungen in verarmten Dörfern oder städtischen Slums tatsächlich aussehen, wird nicht überprüft.
So ist die Schätzung der Armutsindikatoren durch die Weltbank eine rein
numerische Übung und dient gewöhnlich dem Zweck, die Globalisierung
der Armut zu verbergen.
Die Vereinten Nationen beten die Unwahrheiten der Weltbank nach.
Ohne stützende Beweise behauptet die so genannte Human Development
Group des United Nations Development Programme (UNDP), dass »der
Fortschritt in der Verminderung der Armut im Verlauf des 20. Jahrhunderts bemerkenswert und beispiellos« sei. Die »Schlüsselindikatoren der
menschlichen Entwicklung« im späten 20. Jahrhundert hätten »sich sehr
günstig entwickelt«.10 Das UNDP hat einen »Armutsindex« auf Basis der
grundlegendsten Indikatoren für Armut erstellt: »einer kurzen Lebens-
spanne, mangelnden Zugangs zu Bildung sowie zu öffentlichen und privaten Ressourcen«.11 Basierend auf diesen Kriterien gelangt die Gruppe zu
Armutsschätzungen, die mit der tatsächlichen Situation in den einzelnen
Ländern nicht das Geringste zu tun haben. Der Armutsindex für Kolumbien, Mexiko und Thailand z.B. liegt bei zehn bis elf Punkten (siehe Tabelle
2.2). Die soziale Realität dieser Länder wird fast nach Belieben zurechtgebogen: Die Bewertungen des UNDP lassen auf Erfolge bei der Bekämpfung der Armut in der Subsahararegion Afrikas, dem Nahen Osten
und Indien schließen, die den Daten und dortigen Armutsschätzungen
völlig widersprechen.
Tabelle 2.2 Der Armutsindex des UNDP: Ausgewählte Entwicklungsländer
Land
Armutsniveau
(Prozentsatz der Bevölkerung unter der Armutsgrenze)
Trinidad und Tobago 4,1
Mexiko
10,9
Thailand
11,7
Kolumbien
10,7
Philippinen
17,7
Jordanien
10,9
Nicaragua
27,2
Jamaika
12,1
Irak
30,7
Ruanda
37,9
Papua-Neuguinea
32,0
Nigeria
41,6
Simbabwe
17,3
Quelle: Human Development Report 1997, Tabelle 1.1, S. 21
Tatsächlich vermitteln die Armutsschätzungen des UNDP ein noch verzerrteres und irreführenderes Bild als die der Weltbank. Nur 10,9 Prozent
der mexikanischen Bevölkerung z.B. werden vom UNDP als »arm« bezeichnet. Doch diese Schätzung widerspricht der Situation in den letzten
20 Jahren:
Massenarbeitslosigkeit, der Zusammenbruch der sozialen Dienste, verarmte Kleinbauern und ein dramatischer Niedergang der Reallöhne durch
mehrere Währungsabwertungen prägten die Realität Mexikos.
Zweierlei Maß. Bei der Schätzung der Armut herrscht zweierlei Maß.
Das Ein-Dollar-Kriterium der Weltbank gilt nur für Entwicklungsländer.
Sowohl die Weltbank als auch das UNDP verkennen die Existenz von Armut in Westeuropa und Nordamerika. Außerdem widerspricht der Standard von einem Dollar am Tag der Definition und den Methoden zur Messung von Armut in westlichen Staaten.
Im Westen beruhen die Methoden zur Messung von Armut auf den
Mindestaufwendungen der Haushalte für lebensnotwendige Ausgaben wie
Essen, Kleidung, Wohnung, Gesundheit und Bildung. In den USA z.B.
setzte die Social Security Administration in den 60er Jahren eine Armutsschwelle fest, die auf den »Minimalaufwendungen für angemessene Ernährung« beruhte und dann mit drei multipliziert wurde, um andere Ausgaben einzuschließen. Dieses Maß basierte auf einem breiten Konsens in
der US-Administration.12 Die Armutsschwelle lag 1996 in den USA demzufolge bei einem Jahreseinkommen von 16.036 Dollar für eine vierköpfige Familie (zwei Erwachsene, zwei Kinder). Diese Zahl übersetzt sich in
ein Pro-Kopf-Einkommen von elf Dollar am Tag (verglichen mit dem Kriterium von einem Dollar am Tag, das die Weltbank für Entwicklungsländer gelten ließ). In den USA lebten danach insgesamt 13,7 Prozent der
Gesamtbevölkerung und 19,6 Prozent der großstädtischen Bevölkerung
unterhalb der Armutsgrenze.13
Weder UNDP noch Weltbank vergleichen die Armutsniveaus zwischen
Industrie- und Entwicklungsländern. Vergleiche dieser Art würden sie
ohne Zweifel in Verlegenheit bringen, da die Armutsindikatoren, die sie
für die Dritte Welt gelten lassen, in einigen Fällen unter den offiziellen
Armutsniveaus der USA, Kanadas und der EU liegen. In Kanada – das
dem UNDP-Entwicklungsindex zufolge den ersten Platz unter allen Staaten belegt – leben nach dem Armutsindex des UNDP 17,4 Prozent der
Bevölkerung unter der Armutsschwelle, verglichen mit 10,9 Prozent in
Mexiko und 4,1 Prozent in Trinidad und Tobago.14
Würden die Methoden des US Bureau of the Census (die auf den Mindestkosten für eine angemessene Ernährung beruhen) umgekehrt auf die
Entwicklungsländer angewandt, müsste die überwältigende Mehrzahl der
Weltbevölkerung als »arm« eingestuft werden. Die Weltbank würde ohne
Zweifel argumentieren, dass »westliche Standards« und Definitionen von
Armut nicht auf Entwicklungsländer übertragbar seien. Doch jüngste Belege bestätigen, dass die Einzelhandelspreise für Güter des täglichen Bedarfs dort nicht nennenswert niedriger sind als in den USA und Westeuropa. Tatsächlich liegen aufgrund von Deregulierung und »freiem Handel« die Lebenshaltungskosten in vielen Städten der Dritten Welt heute
höher als in den USA.
Außerdem legen Untersuchungen über das verfügbare Budget privater
Haushalte für mehrere lateinamerikanische Länder nahe, dass wenigstens 60 Prozent der dortigen Bevölkerung nicht einmal die Mindestmenge an Kalorien und Proteinen zur Verfügung steht. Dies gilt z.B. für Peru,
wo es 83 Prozent der Bevölkerung an der ausreichenden täglichen Kalorien- und Proteindosis fehlt (siehe Kapitel 14). Die Situation in den
Subsaharastaaten und Südasien ist noch ernster. Dort leidet die Mehrheit
der Bevölkerung an chronischer Unterernährung.
Die Armutsschätzungen von Weltbank und UNO sind also größtenteils
Übungen von Bürokraten in Washington und New York, für die die Realitäten vor Ort ein Buch mit sieben Siegeln sind. Der Armutsbericht des
UNDP z.B. weist eine Abnahme der Kindersterblichkeit in den Subsaharaländern von einem Drittel bis der Hälfte aus. Tatsächlich aber ist dort die
Armut gestiegen und die öffentliche Gesundheitsvorsorge zusammengebrochen. Was der Bericht verschweigt, ist die Tatsache, dass durch die
Schließung von Krankenhäusern und massive Entlassungen von ausgebildetem Personal, das für die Registrierung der Sterblichkeitsdaten zuständig war – häufig ersetzt durch Freiwillige, die kaum lesen und schreiben können – ‚ lediglich die registrierte Sterblichkeit gesunken ist. Der
vermeintliche Fortschritt verdankt sich also schlicht dem Zusammenbruch
verlässlicher Datenerhebungen über Sterblichkeit und Krankheit.
Das ist die Realität, die von den Armutsstudien der Weltbank und des
UNDP bewusst verborgen wird. Ihre Armutsindikatoren stellen die Situation in den einzelnen Ländern und den Ernst der globalen Armut eklatant
falsch dar. Sie dienen dem Zweck, die Armen als Minderheit von ungefähr 20 Prozent der Weltbevölkerung darzustellen.
Armutsniveaus und Prognosen über künftige Entwicklungen werden so
frisiert, dass sie die Politik der »freien Märkte« und den »Washingtoner
Konsens« über makroökonomische Reformen verteidigen und stützen.
Das »freie« Marktsystem wird als das effektivste Mittel präsentiert, um
die Armut zu lindern, während man die verheerenden sozialen Auswirkungen der makroökonomischen Reformen leugnet. Sowohl Weltbank als
auch UNDP verweisen auf den Nutzen der technologischen Revolution
und den Beitrag von Auslandsinvestitionen und Handelsliberalisierung,
ohne zu erkennen, wie diese globalen Trends wachsende Armut nähren.
3. Kontrolle durch Kredite
Wie sind souveräne Länder unter die Vormundschaft der internationalen
Finanzorganisationen geraten? Als sie erst einmal verschuldet waren,
konnten IWF und Weltbank ihnen bei Verhandlungen über neue Kredite
strenge Bedingungen aufzwingen (so genannte conditionalities), die im
Sinne der Interessen der staatlichen und privaten Gläubiger erheblich in
ihre Wirtschaftspolitik eingreifen.
Die Schuldenlast der Entwicklungsländer ist seit den frühen 80er Jahren ständig gestiegen, trotz der verschiedenen Umschuldungs-, Umschichtungs- und Schuldenkonversionsprogramme. Tatsächlich haben
diese Verfahren in Verbindung mit neuen, an politische Bedingungen geknüpften Krediten von IWF und Weltbank im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen die Schulden der Entwicklungsländer noch vermehrt,
während sie gleichzeitig dafür sorgten, dass sie ihrem Schuldendienst
nachkommen, also rechtzeitig ihre Zinsen zahlen konnten.
1970 beliefen sich die langfristigen Schulden der Entwicklungsländer
aus staatlichen und privaten Quellen auf insgesamt annähernd 62 Mrd.
Dollar. Im Laufe der 70er Jahre stiegen sie um das Siebenfache und erreichten 1980 481 Mrd. Dollar. 1998 betrug die Gesamtverschuldung der
Entwicklungsländer nahezu zwei Billionen Dollar, 32-mal so viel wie 1970
(siehe Tabelle 3.1).
Zahlungsunfähig durch immer neue Schulden. Während die Warenpreise
purzelten und seit Beginn der 80er Jahre zu einem Rückgang der Exporterträge der Entwicklungsländer führten, floss ein immer größerer Anteil
davon in den Schuldendienst (siehe Tabelle 3.1 bis 3.4).
Bis Mitte der 80er Jahre waren die Entwicklungsländer zu Nettoexporteuren von Kapital zugunsten der reichen Länder geworden. Mit anderen
Worten: Die tatsächlichen Kapitalrückflüsse aus dem Schuldendienst
überstiegen den Zufluss neuen Kapitals in Form von Krediten, Auslandsinvestitionen und Auslandsbeihilfen.15 Bis etwa 1985 hatten die internationalen Finanzorganisationen die Schulden im Namen der Geschäftsbanken und staatlichen Gläubiger weitgehend refinanziert. Als
jedoch viele der Kredite, die multilaterale Organisationen zu Beginn der
Schuldenkrise gewährt hatten, fällig wurden, verlangten IWF und Weltbank ihre Rückzahlung, da nach dem Abkommen von Bretton Woods diese Schulden nicht umgeschuldet werden konnten.
Tabelle 3.1 Auslandsschulden der Entwicklungsländer (in Mrd. US-Dollar)
Jahr
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998*
Auslandsschulden
658
672
745
807
843
990
1218
1369
1334
1403
1510
1594
1667
1776
1921
2066
2095
2317
2465
Langfristige
Verschuldung
481
498
557
633
675
809
996
1128
1092
1134
1206
1265
1305
1391
1523
1626
1650
1783
1958
Kurzfristige
Verschuldung
164
159
168
140
132
141
179
198
207
237
269
291
324
345
355
378
385
463
412
Kredite des
IWF
12
14
20
33
36
40
43
43
35
32
35
38
38
40
44
61
60
71
96
Quelle: Weltbank, World Debt Tables, mehrere Ausgaben, Washington, DC.
*vorläufige Zahlen
Anmerkung: Die Daten vor 1985 beziehen sich auf die Angaben aller Länder gegenüber der Weltbank und sind nicht direkt mit jenen nach 1985 vergleichbar.
Tabelle 3.2 Verhältnis von Gesamtverschuldung zum Export von Gütern
und Dienstleistungen (%)
Jahr
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
Alle Entwicklungsländer
132,3
140,0
174,9
200,0
180,0
212,1
201,7
193,6
176,9
169,9
161,6
175,3
166,7
168,6
162,8
151,4
137,4
129,0
146,2
Stark verschuldete Länder mit
niedrigem
mittlerem
Einkommen
Einkommen
96,9
194,2
209,0
272,2
261,2
290,1
515,0
522,1
489,0
515,4
457,1
498,6
494,8
530,0
529,4
458,1
358,6
321,8
274,5
297,5
284,3
315,9
353,0
362,9
315,5
293,5
294,5
331,5
310,9
307,2
290,9
290,1
297,1
290,8
Quelle: Weltbank, World Debt Tables, mehrere Ausgaben, Washington, DC.
Schuldenmanagement und makroökonomische Reformstehen in enger, fast
symbiotischer Beziehung. Das Schuldenmanagement soll sicherstellen, dass
die einzelnen Schuldnerländer weiterhin ihren finanziellen Verpflichtungen
nachkommen und ihre Zinsen pünktlich zahlen. Durch finanz-technische
Kniffe und die Kunst des Umschuldens wird dabei die Rückzahlung der
Hauptschuld gestundet, zugleich aber die Zahlung der Zinsen erzwungen.
Die Schulden werden durch Beteiligungen ersetzt, und Staaten, die kurz vor
dem Bankrott stehen, bekommen neues Geld, damit sie ihre Zinsrückstände
auf die Altschulden zahlen können. So wird kurzfristig die Zahlungsunfähigkeit dieser Länder abgewendet – ein Prozess, der sich laufend wiederholt.
Dabei ist die Bereitwilligkeit der Schuldnerländer die wirtschaftspolitischen
Auflagen der Gläubiger und Kreditgeber zu erfüllen, das wichtigste Kriterium, da diese andernfalls einer Umschuldung nicht zustimmen.
Tabelle 3.3 Anteil der Exporterlöse, die in den Schuldendienst fließen (%)
Jahr
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
Alle EntStark verschuldete Länder mit
wicklungs- niedrigem
mittlerem
länder
Einkommen
Einkommen
14,0
9,6
37,1
13,0
27,3
19,1
46,8
27,3
22,8
40,5
25,0
28,7
38,0
30,4
34,1
42,3
25,9
31,2
39,1
23,9
25,7
31,2
22,9
29,1
36,1
20,3
24,9
32,4
18,3
23,0
26,5
18,6
23,0
29,3
17,1
22,2
30,9
17,6
17,4
31,4
16,6
20,0
27,9
17,0
19,9
31,3
17,2
15,3
36,0
17,0
13,2
42,2
17,6
Quelle: Weltbank, World Debt Tables, mehrere Ausgaben, Washington, D.C.
Anmerkung: Der Anteil der Exporterlöse, die in den Schuldendienst fließen, ist das
Verhältnis von Schuldendienstzahlungen (Zinsen und Tilgung) zum Export von Gütern und Dienstleistungen.
Das Ziel besteht darin, die Legitimität des Schuldendienstes aufrechtzuerhalten und die Schuldnerländer in einer Zwangsjacke zu halten, die ihnen
eine unabhängige eigene Wirtschaftspolitik unmöglich macht. So entstand
eine neue Generation von Krediten, die an wirtschaftspolitische Auflagen
geknüpft sind. Man gibt Geld, um Ländern »bei der Anpassung zu helfen«.
Aber diese Kreditvereinbarungen der Weltbank enthalten strenge Auflagen,
policy conditionalities: Die Kredite werden dem jeweiligen Staat nur dann
gewährt, wenn die Regierung Reformen zur Strukturanpassung zustimmt
und einen genauen Zeitplan für ihre Umsetzung einhält.
Tabelle 3.4 Anteil der Exporterlöse, die in den Schuldendienst fließen (nach
geografischen Regionen in %)
Jahr
Ostasien
u. Pazifik
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
13,6
7,1
18,0
18,6
18,3
25,1
26,0
25,0
19,1
16,8
15,3
13,4
13,1
14,7
12,0
12,8
13,0
11,3
12,0
Europa
u. Zentralasien
18,1
12,8
20,4
20,2
22,4
25,5
26,6
19,4
18,7
17,1
16,8
20,5
12,8
12,4
14,6
13,8
11,4
11,5
13,3
Lateinamerika
u. Karibik
36,9
21,6
47,6
42,1
38,9
42,7
46,9
37,4
39,6
32,1
26,3
26,2
28,9
30,0
27,5
26,1
32,3
35,5
33,8
Mittlerer
Osten und
Nordafrika
20,3
20,5
21,3
23,0
22,3
23,8
30,9
15,9
17,5
16,9
14,7
16,8
16,2
15,5
15,4
14,9
11,4
13,2
13,5
Südasien
11,6
10,2
14,5
17,7
18,2
22,6
28,7
27,5
26,2
26,8
27,6
25,0
24,7
23,7
25,6
24,6
22,0
20,3
17,9
Subsaharaländer
11,0
9,9
19,3
22,4
25,5
30,8
31,3
23,4
27,2
17,9
17,8
16,4
15,7
14,9
14,0
14,5
14,2
12,8
14,9
Quelle: Weltbank, World Debt Tables, mehrere Ausgaben, Washington, P.C.
Anmerkung: Der Anteil der Exporterlöse, die in den Schuldendienst fließen, ist das
Verhältnis von Schuldendienstzahlungen (Zinsen und Tilgung) zum Export von Gütern und Dienstleistungen.
Die
Einhaltung
der
IWF-Auflagen
im
Rahmen
der
Strukturanpassungsprogramme wiederum ist nicht nur die Voraussetzung für neue
Kredite von multilateralen Institutionen, sie bedeutet auch grünes Licht für
den Pariser und Londoner Club, ausländische Investoren, Geschäftsbanken
und bilaterale Geldgeber. Länder, die sich weigern, ihre Wirtschaftspolitik
im Sinne des IWF zu ändern, sehen sich dagegen ernsten Schwierigkeiten
bei der Umschuldung und/oder der Erlangung neuer Entwicklungskredite
und internationaler Hilfe gegenüber. Der IWF kann außerdem jederzeit die
nationale Wirtschaft durch die Blockade kurzfristiger Kredite zur Stützung
des Warenhandels empfindlich stören.
Die internationalen Finanzorganisationen gewähren die Kredite also nur,
wenn die Kreditnehmer umfassende Programme zur makroökonomischen
Stabilisierung und wirtschaftlichen Strukturreform durchführen. Die Kreditvergabe ist, anders als bei konventionellen projektbezogenen Krediten,
nicht an ein Investitionsprogramm, sondern an wirtschaftspolitische Vorgaben gebunden, deren Umsetzung der IWF und die Weltbank genau überwachen. Wenn ein Schuldnerland die Auflagen nicht erfüllt, kann die Auszah-
lung ausgesetzt und das betreffende Land von der Koordinationsgruppe der
bilateralen und multilateralen Geldgeber auf eine schwarze Liste verbannt
werden.16
Doch diese Kredite kommen gar nicht der realen Wirtschaft der Entwicklungsländer zugute, da nichts davon investiert wird. Sie erfüllen hingegen
einen anderen Zweck: Die Anpassungskredite ziehen Ressourcen von der
heimischen Wirtschaft der kreditnehmenden Länder ab und ermutigen diese, weiterhin große Mengen von Konsumgütern aus den reichen Ländern zu
importieren, darunter auch Grundnahrungsmittel. Das Geld, das z.B. für die
»Anpassung« der Landwirtschaft eines Landes gewährt wird, ist nicht etwa
für Investitionen in agrarische Projekte gedacht. Die Kredite können vielmehr nach freiem Ermessen für Warenimporte verwendet werden, auch für
langlebige Konsum- und Luxusgüter.17 Als Folge stagniert die Inlandswirtschaft, ihre Zahlungsbilanzkrise verschärft sich, und die Schuldenlast nimmt
weiter zu.
Die neuen Sofortkredite (quick disbursing loans) – theoretisch zur Erhöhung der Warenimporte gedacht – stellen »fiktives Geld« dar, weil die den
Schuldnerländern gewährten Beträge unfehlbar niedriger sind als der Rückfluss aus dem Schuldendienst – die Zinszahlungen der Schuldnerländer an
private und staatliche Gläubiger in den reichen Ländern übersteigen also die
von dort bezogenen Kreditmittel. Stellen wir uns beispielsweise ein Entwicklungsland mit einer Gesamtverschuldung von zehn Milliarden Dollar vor, bei
dem eine Milliarde Dollar (jährliche) Zinsrückstände beim Pariser und Londoner Club angefallen sind. Durch gesunkene Exporterträge ist das Land
jedoch unfähig, den Verpflichtungen aus dem Schuldendienst nachzukommen. Falls es keine neuen Kredite zur Rückzahlung der alten Schulden erhält, wird sich sein Zahlungsrückstand erhöhen, und es kommt auf die internationale schwarze Liste.
In unserem Beispiel wird nun ein Sofortkredit von 500 Mio. Dollar als
Zahlungsbilanzhilfe gewährt, der zum Import von Waren dienen soll. Der
Kredit wirkt als Katalysator: Er ermöglicht, dass die Exporterlöse des Landes in den Schuldendienst umgelenkt werden, so dass das Land die Fristen
bei seinen privaten und staatlichen Gläubigern einhalten kann. Auf diese
Weise wird die eine Milliarde Dollar rückständiger Zinsen aus dem Schuldendienst durch einen neuen Kredit von 500 Mio. Dollar eingetrieben.
Der Nettokapitalabfluss beträgt somit 500 Mio. Dollar. Der Kredit ist »fiktiv«, weil das Geld, das von IWF oder Weltbank vorgestreckt wird, sofort
wieder an die staatlichen und/oder privaten Gläubiger zurückfließt. Außerdem ist die Schuldenlast des Nehmerlandes nun um 500 Mio. Dollar gestiegen, weil der neue Kredit dazu verwendet worden ist, um die Zinsen auf
die Altschulden zu bedienen, und nicht etwa, um diese selbst zu vermindern.
Absichtserklärungen und Rahmenpapiere. Vor Kreditverhandlungen
muss ein Nehmerland immer glaubhaft machen, dass es substanzielle Reformen in die Wege leitet, und sich »zu ernsthaften Wirtschaftsreformen
verpflichten«. Dies geschieht häufig in Form einer Absichtserklärung (Letter
of Intent) an den IWF, in der die jeweilige Regierung die Maximen ihrer
Wirtschaftspolitik und beim Schuldenmanagement darlegt. Mit einem so
genannten Schattenprogramm kann der IWF einzelnen Ländern wirtschaftspolitische Richtlinien und technische Ratschläge an die Hand geben, noch
bevor es zu Kreditverhandlungen kommt. Schattenprogramme werden für
Länder ausgearbeitet, deren Wirtschaftsreformen – nach Meinung des LWF
– »nicht auf dem richtigen Kurs« sind (z.B. Brasilien unter den Präsidenten
Fernando Collor de Mello und Itamar Franco von 1990 bis 1994). Solche
Programme in Form einer technischen Hilfe durch IWF und Weltbank steckten auch die wirtschaftspolitischen Leitlinien in den Ländern des ehemaligen
Ostblocks und in Vietnam ab, bevor sie formal Mitglieder der BrettonWoods-Institutionen wurden und/oder Kreditvereinbarungen unterzeichneten.
Eine »zufriedenstellende Leistung« nach Maßgabe des Schattenprogramms ist die Vorbedingung aller Kreditverhandlungen. Sobald die Kredite
bewilligt werden, unterziehen IWF und Weltbank das betroffene Land vierteljährlich einer strengen Prüfung, ob die Leistungsziele weiter eingehalten
werden. Die Auszahlungen in mehreren Tranchen können unterbrochen
werden, wenn der Reformkurs nicht eingehalten wird. In diesem Fall kommt
das betreffende Land wieder auf die schwarze Liste und hat Sanktionen im
Handel und bei den Kapitalflüssen zu befürchten. Die Auszahlungen können
auch dann unterbrochen werden, wenn das Land seinen Schuldendienst
nicht leistet. Die technische Hilfe von IWF und Weltbank bleibt ihm jedoch
in der Regel erhalten: Dann wird ein neues Schattenprogramm (wie im Fall
von Kenia 1991) ausgearbeitet, das zu einer neuen Runde politischer Verhandlungen führt.
In ihren Vereinbarungen verpflichten IWF und Weltbank viele Schuldnerländer dazu, ihre Prioritäten in einem so genannten »politischen Rahmenpapier« (Policy Framework Paper) darzulegen, das häufig zusammen mit der
bereits erwähnten Absichtserklärung und einem technischen »Memorandum
über die Wirtschafts- und Finanzpolitik« eingereicht wird (siehe Kasten 3.1).
Obwohl offiziell ein von den nationalen Instanzen ausgearbeitetes Regierungsdokument, wird das Rahmenpapier nach einem festgelegten Standardformat unter strenger Aufsicht von IWF und Weltbank verfasst. Es gibt in
dieser Hinsicht eine klare Arbeitsteilung zwischen den Schwesterorganisationen: Der IWF wickelt die entscheidenden politischen Verhandlungen im
Hinblick auf den Wechselkurs und das Budgetdefizit ab, während sich die
Weltbank über ihre Vertretung im Land und ihre zahlreichen Expertendelegationen weit stärker um den tatsächlichen Reformprozess kümmert.
Kasten 3.1
Absichtserklärung
Mr. Michel Camdessus
Managing Director
International Monetary Fund
Washington, D.C. 20.431
USA
Sehr geehrter Herr Camdessus,
1. Die Ziele des wirtschaftlichen und finanziellen Anpassungsprogramms Guineas
für den Dreijahreszeitraum von 1999 – 2001 werden in einem aktualisierten
politischen Rahmenpapier in enger Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des
Internationalen Währungsfonds und der Weltbank vorbereitet und Ihnen getrennt zugesandt.
2. Das beiliegende Memorandum über die Wirtschafts- und Finanzpolitik, basierend auf dem genannten politischen Rahmenpapier, legt die Ziele und Politik
fest, welche die Regierung von Guinea von 1999 – 2001 verfolgen will. Zur
Unterstützung dieser Ziele und Politik bittet die Regierung hiermit um die dritte jährliche Ziehung im Rahmen der Erweiterten Strukturanpassungsfazilität
(Enhanced Structural Adjustment Facility, ESAF) in einer Höhe von SZR 23,6
Mio. (30 Prozent der Quote). In diesem Zusammenhang bittet Guinea auch
um die Verlängerung des ursprünglichen dreijährigen Verpflichtungszeitraums
der ESAF bis zum 12. Januar 2001.
3. Die Regierung von Guinea wird dem Fonds alle gewünschten Informationen
überdieFortschrittebei der Durchführung der wirtschafts- und finanzpolitischen
Maßnahmen und der Erfüllung der Ziele des Programms zukommen lassen.
4. Die Regierung von Guinea hält die Politik und die Maßnahmen, die im beigefügten Memorandum dargelegt sind, für angemessen, um die Ziele ihres Programms zu erreichen. Sie wird jede weitere Maßnahme ergreifen, die für diesen Zweck erforderlich werden könnte. Während des Zeitraums der dritten
jährlichen ESAF-Ziehung wird sich die Regierung mit dem Managing Director
über die Ergreifung jedweder Maßnahmen beraten, die angemessen sein
könnten – auf Initiative der Regierung, oder wann immer der Managing Director eine solche Konsultation wünscht. Darüber hinaus wird sich die Regierung
nach der dritten jährlichen ESAF-Ziehung und so lange Guinea noch ausstehende finanzielle Verpflichtungen gegenüber dem Fonds hat, die sich aus Krediten der Vereinbarung ergeben, mit dem Fonds von Zeit zu Zeit beraten, auf
Initiative der Regierung, oder wann immer der Managing Director Konsultationen über Guineas Wirtschafts- und Finanzpolitik wünscht.
5. Die Regierung von Guinea wird mit dem Fonds die erste Überprüfung ihres
Programms, das durch die dritte jährliche Ziehung unterstützt wird, nicht später als am 30. Juni 2000 und die zweite Überprüfung nicht später als am 31.
Dezember 2000 durchführen.
Mit freundlichen Grüßen
Ibrahima Kassory Fofana
Chérif Bah
Wirtschafts- und
Präsident der Zentralbank
Finanzminister
von Guinea
Der IWF begutachtet einmal im Jahr die Wirtschaftsleistung eines Landes im
Rahmen der »Konsultationen nach Artikel IV«, wobei »Konsultation« nur ein
Euphemismus für die regelmäßige Überprüfung der Wirtschaft eines Mitgliedslandes ist. Diese Überprüfung bietet neben der strengeren vierteljährlichen Überprüfung der Leistungsziele unter den Kreditvereinbarungen
die Basis der so genannten »Aufsichtstätigkeit des IWF« über die Wirtschaftspolitik der Mitglieder.
Die Weltbank ist in vielen Ministerien der kreditnehmenden Länder präsent. Die dort durchgeführten Reformen in Gesundheit, Bildung, Industrie,
Landwirtschaft, Verkehr, Umwelt usw. liegen in ihrer Zuständigkeit. Außerdem überwacht die Weltbank seit den späten 80er Jahren die Privatisierung
von Staatsunternehmen, die Struktur öffentlicher Investitionen und die Zusammensetzung öffentlicher Ausgaben durch die so genannte Überprüfung
öffentlicher Ausgaben (Public Expenditure Review).
Phase eins: »Wirtschaftliche Stabilisierung«. Für die internationalen
Finanzorganisationen besteht strukturelle Anpassung aus einer kurzfristigen
makroökonomischen Stabilisierung – dazu gehören Abwertung der Währung, Preisliberalisierung und strenge Haushaltspolitik – und mittelfristig
angelegten so genannten »notwendigen« Strukturreformen. Die Stabilisierungsvorgaben richten sich sowohl auf die Verminderung des Haushaltsdefizits als auch auf die Verbesserung der Zahlungsbilanz: »Geringe Haushaltsdefizite helfen, die Inflation zu kontrollieren und Probleme bei der Zahlungsbilanz zu vermeiden. Ein realistischer Umtauschkurs macht sich durch
größere internationale Wettbewerbsfähigkeit bezahlt und unterstützt die
Konvertibilität der Währungen.«18
Als Vorbedingungen auch nur der Verhandlungen über Strukturanpassungskredite wird vom IWF häufig eine Währungsabwertung verlangt. Der
IWF argumentiert stets, dass der Umtauschkurs »überbewertet« sei. Der
Umtauschkurs ist bei weitem das wichtigste Instrument der makroökonomischen Reform: Eine Währungsabwertung – einschließlich der Vereinheitlichung des Wechselkurses und der Beseitigung von Umtauschbeschränkungen – wirkt sich fundamental auf Angebot und Nachfrage innerhalb einer
Volkswirtschaft aus. Sie hat unmittelbar einen abrupten Preisanstieg zur
Folge und führt zu einer dramatischen Verringerung der realen Einkommen,
während sie gleichzeitig den in harter Währung ausgedrückten Wert der
Lohnkosten senkt. Eine Abwertung reduziert zudem den Dollarwert der
Staatsausgaben und erleichtert so die Freisetzung von Staatseinnahmen für
die Bedienung der Auslandsschulden. Deshalb ist die Destabilisierung der
nationalen Währung das verborgene Kernziel von IWF und Weltbank.
Nach den Bestimmungen von Artikel 8 des IWF-Abkommens drängt der
IWF auf die Vereinheitlichung des Umtauschkurses. Länder die Artikel 8
akzeptieren, verpflichten sich damit auch, ohne Zustimmung des IWF keine
Devisenkontrollen zu verhängen.
Die sozialen Auswirkungen der vom IWF betriebenen Währungsabwertungen sind brutal und stellen sich unmittelbar ein: Die heimischen Preise
für Grundnahrungsmittel, wichtige Arzneien, Kraftstoff und öffentliche Dienste steigen über Nacht. Eine Abwertung löst unweigerlich Inflation und die
»Dollarisierung« der heimischen Preise aus. Gleichzeitig zwingt der IWF die
jeweilige Regierung, als Teil der wirtschaftlichen Maßnahmen ein so genanntes »Antiinflationsprogramm« durchzuführen. Dieses hat jedoch wenig
mit den wirklichen Gründen der Inflation zu tun – also mit der Abwertung.
Es beruht auf einer Schwächung der Nachfrage und läuft so gut wie immer
auf die Entlassung von Staatsbediensteten, auf drastische Kürzungen von
Sozialprogrammen und die Abkoppelung der Löhne vom Preisindex hinaus.
In den Subsaharaländern z.B. halbierte die vom IWF und dem französischen
Finanzministerium erzwungene Abwertung des Franc der West- und Zentralafrikanischen Währungsunion 1994 mit einem Federstrich den realen
Wert der Löhne und der – in harter Währung ausgedrückten – Staatsausgaben und ermöglichte es so, die Staatseinnahmen in massivem Umfang in
den Schuldendienst umzulenken.
In einigen Fällen sorgten die Währungsabwertungen für eine Belebung
der exportorientierten Landwirtschaft. Häufiger jedoch nutzten Abwertungen nur den großen Plantagen und agrarindustriellen Exporteuren, deren
Lohnkosten sich dadurch verringerten. Der kurzfristige Vorteil der Abwertungen verpufft unweigerlich, wenn konkurrierende Länder der Dritten Welt
in ähnlichen Vereinbarungen mit dem IWF gleichzeitig zur Abwertung ihrer
Währungen gezwungen werden.
Dass die Abwertung – und nicht etwa die Ausweitung der Geldmenge –
den Hauptfaktor der Inflationsspirale darstellt, wird vom IWF notorisch geleugnet. Er erzwingt stattdessen eine strenge Beschränkung der Geldmenge, um »den Inflationsdruck« zu bekämpfen, mit der Folge, dass die jeweilige Regierung ihre realen Ausgaben kürzen, die Reallöhne der Staatsbediensteten reduzieren und Entlassungen vornehmen muss.
Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass diese Auswirkungen einer
Währungsabwertung den sozialen Druck verstärken, die Nominallöhne zu
erhöhen, um die dramatische Abnahme der Realeinkommen auszugleichen,
aber die Vereinbarungen mit dem IWF verbieten die Koppelung der Reallöhne (und auch der Sozialausgaben) an den Preisindex. Der IWF verlangt
vielmehr die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, die Beseitigung aller Tarifvereinbarungen und der gesetzlichen Mindestlohngarantien. Als Argument
zugunsten der Abkoppelung der Löhne vom Preisindex dient der »inflationäre Druck« der grundsätzlich als zu hoch gebrandmarkten Lohnforderungen.
Zu den Auflagen, die Kreditnehmer zu erfüllen haben, gehört auch die
Umstrukturierung ihrer Zentralbank. Der IWF fordert die Unabhängigkeit
der Zentralbank von der politischen Macht, um der »Neigung von Regierungen zu inflationstreibender Geldpolitik« entgegenzuwirken.19 In der Praxis
bedeutet dies, dass der IWF, nicht die Regierung, geschweige denn das Parlament die Geldmenge kontrolliert. Die Vereinbarung zwischen der Regie-
rung und dem IWF verhindert also die Finanzierung von Staatsausgaben
und die Bereitstellung von Krediten durch die Zentralbank mittels Geldschöpfung. Im Interesse der Gläubiger ist der IWF somit in der Lage, die
Finanzierung einer realen Wirtschaftsentwicklung praktisch zu lähmen. Da
dem betreffenden Land damit die Möglichkeit genommen ist, geldpolitisch
interne Ressourcen zu mobilisieren, wird es zunehmend von internationalen
Finanzierungsquellen abhängig, was einer weiteren Auslandsverschuldung
Vorschub leistet.
Mit ihren Kreditbedingungen erzwingen die Bretton-Woods-Institutionen
drastische Kürzungen in allen staatlichen Einzeletats. Zu Beginn der Schuldenkrise beschränkten sie sich noch darauf, ein Gesamtziel für das Haushaltsdefizit eines kreditnehmenden Landes zu fixieren, um Staatseinnahmen
für den Schuldendienst freizusetzen. Seit den späten 80er Jahren überwacht
die Weltbank jedoch auch die Struktur der öffentlichen Ausgaben und überprüft genau den Etat jedes Ministeriums (Public Expenditure Review). Ihre
immer währende Empfehlung ist dabei, »kosteneffektive«, also laufende
Ausgaben in so genannte »gezielte Ausgaben« (targeted expenditures) umzuwandeln. Die Überprüfung der Haushaltsausgaben dient dabei angeblich
der »kosteneffizienten und effektiven« Verminderung der Armut.
Bei den Sozialausgaben versuchen JWF und Weltbank, das Prinzip der
Kostendeckung durchzusetzen. Von den Kreditnehmern verlangen sie, sich
Schritt für Schritt aus grundlegenden Gesundheits- und Bildungsdiensten
zurückzuziehen. »Gezielte« Ausgaben im sozialen Sektor sollen lediglich besonders schwachen Gruppen der Gesellschaft (vulnerable groups) zugute
kommen. Dass diese Auflagen für den weitgehenden Zusammenbruch des
Bildungs- und Gesundheitssektors in der Dritten Welt verantwortlich ist,
versteht sich von selbst.
Zu den Kreditvereinbarungen mit dem IWF gehören auch genau festgelegte Ziele zum Abbau des Haushaltsdefizits. Seit den frühen 90er Jahren
arbeitet der IWF dabei jedoch nicht mehr mit festen Zielgrößen, sondern
mit »beweglichen Zielen«. Zunächst soll das Haushaltsdefizit auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts reduziert werden. In folgenden Kreditverhandlungen senkt der IWF das Ziel dann auf 3,5 Prozent, um der »inflationären Wirkung« der Staatsausgaben zu begegnen. Sobald das Ziel von
3,5 Prozent erreicht ist, besteht der IWF darauf, das Haushaltsdefizit auf
1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken usw. Dadurch verschlimmert sich schließlich die Finanzkrise des Staates, bis er schließlich
auch noch für die letzten Investitions- und Sozialprogramme nicht mehr
aufkommen kann – zugunsten kurzfristig frei werdender Mittel zur Bedienung der Auslandsschulden.
Da für alle laufenden Ausgaben und staatlichen Entwicklungsinvestitionen
genaue Obergrenzen festgelegt werden, hat der Staat nicht länger das
Recht, seine eigenen Ressourcen für den Aufbau der Infrastruktur, für Straßen, Krankenhäuser usw. zu mobilisieren. Die Gläubiger bestimmen also
nicht nur über alle großen öffentlichen Investitionsprojekte, sondern entscheiden auch im Rahmen des »öffentlichen Investitionsprogramms«, das
mit technischer Hilfe der Weltbank aufgelegt wird, welche Art von Infrastruktur sie selber finanzieren wollen und welche nicht – mit dem Ergebnis,
dass die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Infrastrukturinvestitionen dramatisch beschnitten werden.
Das von der Weltbank bestimmte öffentliche Investitionsprogramm verpflichtet den Kreditnehmer zu internationalen Ausschreibungen (competitive
bidding). So fällt häufig die Vergabe öffentlicher Arbeiten an internationale
Generalunternehmer. Diese schöpfen einen Großteil des Geldes durch eine
Vielzahl von Beratungs- und Managementhonoraren ab. Örtliche Baufirmen
(ob öffentlich oder privat) werden meist vom Ausschreibungsprozess ausgeschlossen, auch wenn lokale Firmen als Subunternehmer der multinationalen Firmen unter Einsatz örtlicher Arbeitskräfte mit sehr niedrigen Löhnen
einen Großteil der tatsächlichen Arbeiten ausführen. Das Geld aus den Krediten für Infrastrukturmaßnahmen wird, mit anderen Worten, weitgehend
zugunsten multinationaler Firmen » recyclet «.
Obwohl die Finanzierung einzelner Projekte in Form zinsgünstiger Kredite
mit erweiterten Rückzahlungsfristen durchaus gewährt wird, sind die tatsächlichen Kosten für das betreffende Land (und die damit verbundenen
Zinsen) außerordentlich hoch. Die Praxis öffentlicher Investitionsprogramme
unter Aufsicht der Weltbank führt somit zur Vergrößerung der Auslandsverschuldung und trägt zur Demobilisierung heimischer Ressourcen bei.
IWF und Weltbank behaupten, dass es notwendig sei, Preisverzerrungen
zu beseitigen. Zu ihrem Programm gehören daher vor allem die Deregulierung der heimischen Getreidepreise und die Liberalisierung des Imports von
Grundnahrungsmitteln, was sich dann unmittelbar auf die Kostenstruktur
der meisten Wirtschaftsbereiche auswirkt.
Die Preise für Ölprodukte sowie für die staatliche Daseinsvorsorge werden hingegen unter Aufsicht der Weltbank reguliert, d.h. erhöht. Der Preisanstieg bei Kraftstoffen und der öffentlichen Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung – häufig um mehrere hundert Prozent – führt unweigerlich
zur Destabilisierung der heimischen Produktion. Der hohe Benzinpreis –
weit höher als auf dem Weltmarktniveau – schlägt auf die Kostenstruktur
der heimischen Industrie und Landwirtschaft durch. So werden zum einen
die Produktionskosten häufig künstlich über die heimischen Verkaufspreise
der Waren getrieben, was kleine und mittlere Produzenten scharenweise in
den Bankrott treibt. Zum anderen wirken sich die von der Weltbank erzwungenen Preissteigerungen bei Ölprodukten als »interner Transitzoll«
aus, der die heimischen Erzeuger von ihrem eigenen Markt abschneidet,
weil die hohen Benzinpreise den internen Güterverkehr belasten. In den
Subsaharastaaten z.B. sind die von den internationalen Finanzorganisationen auferlegten hohen Transportkosten der entscheidende Grund, warum
die Bauern ihre Erzeugnisse nicht zum städtischen Markt bringen, was die
ohnehin stark subventionierten Landwirtschaftsimporte aus Europa und den
USA weiter begünstigt.
Phase zwei: »Strukturreform«. Auf die makroökonomische »Stabilisierung« – Grundbedingung für die Gewährung von Überbrückungskrediten
durch den IWF und für die Umschuldung der Auslandsschulden beim Pariser
und Londoner Club – folgt die Durchführung so genannter »notwendiger«
Strukturreformen. Dazu gehören vor allem die Liberalisierung des Handels,
die Deregulierung des Bankensektors, die Privatisierung von Staatsunternehmen und von Ackerland, eine Steuerreform, die »Bekämpfung der Armut« und »gute Regierungsführung«.
Für die Institutionen von Bretton Woods stehen Zölle grundsätzlich der
Entwicklung der Exportwirtschaft im Wege, und die Begünstigung des heimischen Marktes auf Kosten des Exportsektors führe ebenso grundsätzlich
zur Fehlverteilung von Ressourcen. Dafür gibt es jedoch kaum Belege.
Natürlich gehören zur Liberalisierung des Handels immer die Beseitigung
von Importquoten und die Senkung und Vereinheitlichung von Zöllen. Aber
die nunmehr geringeren Zolleinnahmen ziehen unmittelbar die Staatsfinanzen in Mitleidenschaft, vergrößern das Haushaltsdefizit und hindern die Behörden auch daran, die Verwendung knapper Devisen selektiv zu rationieren. Mittelbar – und ganz im Gegensatz zu allen Beteuerungen, durch die
Beseitigung von Quoten und die Reduzierung von Schutzzöllen die heimische Industrie »wettbewerbsfähiger« machen zu wollen – führt die Liberalisierung des Handels unweigerlich zum Zusammenbruch des heimischen, für
den Binnenmarkt produzierenden Fertigungssektors. Die Maßnahmen fachen auch die Einfuhr von Luxusgütern an, während die Steuerlast der oberen Einkommensgruppen als Folge der niedrigeren Importzölle auf Autos
und langlebige Gebrauchsgüter abnimmt. Importierte Konsumgüter ersetzen nicht nur die heimische Produktion; der durch das geliehene Geld der
verschiedenen Sofortkredite getragene Konsumrausch trägt schließlich auch
zum weiteren Anschwellen der Auslandsschulden bei.
Die aufgenötigte Strukturanpassung erlaubt es den Gläubigern, das Realvermögen verschuldeter Länder durch Privatisierungsprogramme zu übernehmen und somit Verbindlichkeiten aus dem Schuldendienst einzutreiben.
Deshalb geht die Umschuldung eines Landes regelmäßig mit der Privatisierung seiner Staatsunternehmen einher – auch wenn dazu gegebenenfalls
die Verfassung geändert werden muss (so etwa in Brasilien, siehe Kapitel
13). Die profitabelsten Staatsunternehmen werden von ausländischem Kapital oder Joint Ventures übernommen, häufig im Tausch gegen Schulden.
Die Erlöse aus diesen Verkäufen fließen über das jeweilige Finanzministerium dem Londoner und dem Pariser Club zu.
Unter der Anleitung der Weltbank wird in Schuldnerländern gemeinhin
das Steuersystem von Grund auf verändert, was sich in Angebot und Nachfrage ebenfalls meist negativ auf die heimische Produktion auswirkt. Die
Einführung einer Mehrwert- oder Verkaufssteuer und Veränderungen in der
Struktur der direkten Besteuerung führen unweigerlich zu einer größeren
Steuerlast für niedrige und mittlere Einkommensgruppen. Die Weltbank
drängt dabei auch auf die Registrierung von Kleinbauern und von Betrieben
des informellen städtischen Sektors. Während die heimischen Erzeuger
Steuern unterworfen werden, genießen Joint Ventures und internationales
Kapital regelmäßig großzügige Steuerbefreiungen, um ausländische Investitionen anzulocken.
Reformen in der Landwirtschaft werden häufig im Rahmen der sektoralen
Anpassungskredite der Weltbank durchgeführt und neue Gesetze zur Regelung des Eigentums an Grund und Boden dann gleich mit technischer Hilfe
ihrer Rechtsabteilung ausgearbeitet. Die Reformen bestehen in der förmlichen Regelung überkommener Gewohnheitsrechte und in der Vergabe von
Landrechten an Bauern, fördern aber faktisch die Konzentration von Ackerland in den Händen weniger. Tendenziell bewirken die neuen gesetzlichen
Regelungen, dass Kleinbauern ihr Land verlieren und/oder durch Hypotheken belasten müssen, während der kommerzielle Agrarsektor wächst
und sich eine Klasse landloser Saisonarbeiter bildet.
Außerdem tragen die Maßnahmen häufig dazu bei, unter dem Mantel der
Modernität die Rechte der alten Großgrundbesitzer wiederherzustellen, die
bezeichnenderweise häufig zu den Vorkämpfern der wirtschaftlichen »Liberalisierung« gehören.
Die Privatisierung von Grund und Boden dient auch dem Ziel, Mittel für
den Schuldendienst freizusetzen, da die Erlöse aus den von der Weltbank
angeratenen Verkäufen staatlicher Ländereien vom jeweiligen Finanzministerium an die internationalen Gläubiger weitergeleitet werden.
Die Zentralbank eines Schuldnerlandes, das sich den Bedingungen von
IWF und Weltbank beugen muss, verliert die Kontrolle über die Geldpolitik:
Die Zinssätze werden von den Geschäftsbanken auf dem »freien Markt«
bestimmt, also im Zweifelsfall beträchtlich erhöht. Damit gibt es dann für
die einheimische Landwirtschaft und Industrie keine günstigen Kredite
mehr. Steigende Zinsen verstärken zudem die Teuerung und umgekehrt.
Die Nominalzinsen steigen durch periodische Abwertungen und die daraus
folgende »Dollarisierung« der heimischen Preise auf völlig überhöhte Niveaus. Die Deregulierung des Bankensystems führt auch zum Zustrom
»heißen Geldes«, das von den künstlich hohen Zinsen angelockt wird.
Die internationalen Finanzorganisationen fordern auch die Privatisierung
der staatlichen Entwicklungsbanken und die Deregulierung des kommerziellen Bankensystems. Da ausländische Geschäftsbanken mit der 1994 unterzeichneten Schlussakte der Uruguay-Runde unter dem Schirm des General
Agreement on Tariffs and Trade (GATT) freien Zugang zum heimischen
Bankensektor jedes Mitgliedslandes erhalten haben, führt diese Deregulierung zur Verdrängung der heimischen Privatbanken. Die Umstrukturierung
des Bankensektors vollzieht sich im Rahmen eines so genannten Anpassungsprogramms für den Finanzsektor (Financial Sector Adjustment
Program, FSAP) und verfolgt nicht zuletzt das Ziel, mit den Privatisierungserlösen für die ehemals staatlichen Banken den internationalen Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können.
Der IWF besteht auf der »Transparenz« und der »völligen Freizügigkeit«
des Devisenverkehrs durch elektronische Transfers. Dies ermöglicht es aus-
ländischen Unternehmen, ihre Gewinne in Devisen ungehindert in ihr Heimatland abzuführen.
Durch dieses Kriterium wird jedoch noch ein weiteres wichtiges Ziel erreicht, denn die Liberalisierung der Kapitalflüsse fördert die Rückkehr »geflüchteten« Kapitals. Dabei handelt es sich häufig um »schwarzes« oder
»schmutziges« Geld, das seit den 60er Jahren von den Eliten der Dritten
Welt auf Bankkonten in Steuerparadiesen transferiert wurde. »Schmutziges
Geld« stammt aus illegalem Handel und/oder kriminellen Geschäften, während »schwarzes Geld« der Besteuerung entzogen wurde.
Die Liberalisierung der Kapitalflüsse dient also den Interessen der Gläubiger, denn so lässt sich in Steuerparadiesen deponiertes »schmutziges« und
»schwarzes« Geld für den Schuldendienst kanalisieren. Und für die privilegierten sozialen Klassen ist dies eine bequeme Möglichkeit, große, illegal
erworbene Geldbeträge zu waschen.
Dieser Prozess funktioniert wie folgt: Harte Währung wird von einem
Bankkonto eines Steuerparadieses in den Interbankenmarkt eines Entwicklungslandes transferiert, ohne dass dort nach der Herkunft der Mittel gefragt würde. Die Devisen werden dann in die heimische Währung umgetauscht und dazu verwendet, Staatsvermögen und/oder öffentliches Land zu
erwerben, das die Regierung im Rahmen des Privatisierungsprogramms der
Weltbank veräußert. Die Devisenerlöse aus diesen Verkäufen fließen wiederum dem Finanzministerium zu, das sie für den Schuldendienst verwendet.
Seit den späten 80er Jahren ist die »Bekämpfung der Armut« eine Bedingung bei den Kreditvereinbarungen der Weltbank geworden. Doch auch
dieses hehre Ziel kommt in Wirklichkeit vor allem dem Schuldendienst zugute. Denn »nachhaltige Armutsverminderung« unter der Herrschaft der
Bretton-Woods-Institutionen geht mit einer radikalen Kürzung der Sozialbudgets einher. Der eigens eingerichtete Sozialfonds (Social Emergency
Fund), der als flexibler Mechanismus für das »Armutsmanagement« gepriesen wird, trägt bestenfalls zur selektiven und symbolischen Unterstützung
der Armen bei.
Dieser Sozialfonds zielt nämlich nicht auf die Bekämpfung von Armutsursachen, sondern bietet ein »sozialtechnisches« Instrumentarium für das
»Armutsmanagement«, um die mit ihr verbundenen Konflikte zu minimalen
Kosten für die Gläubiger zu entschärfen. So genannte »gezielte Programme«, kombiniert mit Kostendeckungs- und Privatisierungsgeboten im Gesundheits- und Bildungswesen, sollen einen »effizienteren« Weg darstellen,
um den »Zielgruppen« (den Armen) zu helfen.
Der Sozialfonds sanktioniert also den Rückzug des Staates aus dem sozialen Sektor und überlässt die bloße Verwaltung der Armut privaten Hilfsorganisationen. Diverse NGO, die sich durch Spenden oder internationale
Hilfsprogramme finanzieren, haben so nach und nach viele genuine Regierungsaufgaben übernommen. Kleingewerbliche Produktionsstätten und
Handwerksprojekte, die als Subunternehmen für Exportfirmen arbeiten,
Gemeindeprogramme in Sachen Ausbildung und Beschäftigung und anderes
mehr sollen der »sozialen Absicherung« dienen. Das sichert einzelnen Gemeinden und Quartieren ein karges Überleben, während zugleich das Risiko
sozialer Aufstände eingedämmt wird.
Die Konsequenzen der Strukturanpassungen. Die vermeintliche Lösung
der Schuldenkrise führt zu immer weiterer Verschuldung. Das Paket des
IWF zur wirtschaftlichen Stabilisierung soll der Theorie zufolge Ländern helfen, ihre Wirtschaft umzustrukturieren, um Außenhandelsüberschüsse zu
erzielen und so die Schulden zurückzahlen und einen wirtschaftlichen Erholungsprozess einleiten zu können. Doch genau das Gegenteil geschieht,
denn es ist gerade der von den Gläubigern aufgezwungene Prozess des
»Gürtel-enger-Schnallens«, der die wirtschaftliche Erholung und die Möglichkeit dieser Länder zur Schuldentilgung vereitelt:
1. Die neuen, an politische Bedingungen geknüpften Kredite, mit denen die
alten Schulden zurückgezahlt werden sollen, tragen zur Erhöhung der
Schuldenlast bei.
2. Die Liberalisierung des Handels führt meist zu einer Verschärfung der
Zahlungsbilanzkrise. Weltmarktimporte, zu deren Gunsten neue Sofortkredite bewilligt werden, verdrängen eine große Bandbreite heimischer
Waren.
3. Mit dem Abschluss der Uruguay-Runde und der Gründung der WTO besteht ein weit größerer Anteil der Importrechnungen aus »Dienstleistungen«, darunter der Bezahlung von Urheberrechten. Mit anderen Worten:
Die Importrechnung steigt auch ohne entsprechende Einfuhr (»produzierter«) Waren.
4. Das strukturelle Anpassungsprogramm hat zu einer beträchtlichen Austrocknung projektbezogener Kredite geführt und Kapitalbildung in allen
Bereichen verhindert, die nicht direkt den Interessen der Exportwirtschaft dienen.
Das Paket zur wirtschaftlichen Stabilisierung zerstört die Möglichkeit eines
endogenen wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses, der von den Schuldnerländern selbst gesteuert wird. Die Reformen von IWF und Weltbank zerstören in brutaler Weise deren Sozialprogramme, machen die Kämpfe der
nachkolonialen Ära und die in der Vergangenheit erzielten Fortschritte praktisch mit einem Federstrich zunichte. In der ganzen unterentwickelten Welt
gibt es ein gleich bleibendes Muster: Die Sparmaßnahmen führen zur
Schwächung staatlicher Institutionen und zur Reorganisation der nationalen
Wirtschaft zugunsten einer weltmarktorientierten Produktion. Diese Maßnahmen gehen weit über die Beseitigung der Importsubstitutionsindustrien
hinaus. Sie zerstören die gesamte Struktur der heimischen Ökonomie. Das
Reformpaket von IWF und Weltbank stellt somit ein in sich stimmiges Programm für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch der Schuldnerländer dar.
Ironischerweise räumt der IWF selbst das Scheitern seiner Politik ein. Ein
hochrangiger Vertreter des IWF kommt zu dem Schluss: »Obwohl es im
letzten Jahrzehnt etliche Studien über das Thema gab, kann man nicht mit
Sicherheit sagen, ob die Programme >funktioniert haben< oder nicht… Auf
der Grundlage vorhandener Studien kann man sicherlich nicht sagen, ob die
Durchführung der vom Fonds unterstützten Programme zu einer Abschwächung der Inflation und höherem Wachstum geführt haben. Tatsächlich
stellt sich häufig heraus, dass die Programme im Zusammenhang mit einem
Anstieg der Inflation und einem Sinken der Wachstumsrate stehen.«20
So ruft die Forschungsabteilung des IWF denn erst einmal nach »verbesserten Bewertungsmethoden«. Doch auf welche Kriterien, Kategorien und
Daten der IWF künftig zurückgreifen wird: Es ist unabweisbar, dass seine
Programme genau das Gegenteil der erwünschten Effekte bewirken.
Als Rechtfertigung ihrer Maßnahmen verweisen die Organisationen von
Bretton Woods auf die mikroökonomische Effizienz ihrer Programme. Die
»sozialen Kosten« makroökonomischer Stabilisierung müssten gegen den
wirtschaftlichen Nutzen abgewogen werden. Das Motto von IWF und Weltbank lautet entsprechend: »Kurzfristiger Schmerz zugunsten langfristigen
Nutzens« (short-term pain for long-term gain>.
Obwohl sie die sozialen Härten der Anpassung anerkennen, führen IWF
und Weltbank gerne ins Feld, dass ihre Maßnahmen Schlimmeres verhüten:
»Die Situation ist schlecht, aber sie wäre ohne die Maßnahmen zur Strukturanpassung weit schlimmer.« Ein Bericht der Weltbank drückte es vor ein
paar Jahren so aus: »Afrikas enttäuschende wirtschaftliche Leistung belegt
nicht etwa, dass die Anpassungserfordernisse verfehlt wären, sondern nur
eine verfehlte Anpassung… Mehr – nicht weniger – Anpassung würde den
Armen und der Umwelt helfen… Anpassung ist der notwendige erste Schritt
auf dem Weg zu nachhaltiger Armutsverminderung.«21
Obwohl das wirtschaftspolitische Paket doch die ökonomische Effizienz
beflügeln und eine rationalere, marktwirtschaftlichen Mechanismen folgende
Verteilung produktiver Ressourcen ermöglichen soll, führt es tatsächlich zu
einer massiven Vergeudung menschlicher und materieller Ressourcen. Das
Gegenstück der »mikroökonomischen Effizienz« besteht in programmierten
Einsparungen und Einschränkungen auf makroökonomischem Niveau. Damit
ist der Rechtfertigung der verhängten Maßnahmen alle Grundlage entzogen.
Die sozialen Auswirkungen dieser Reformen – darunter auf das Gesundheits- und Erziehungswesen, auf die sozialen Rechte von Frauen und auf die
Umwelt – sind ausgiebig dokumentiert.22 Aus Geldmangel werden Lehrer
entlassen und ganze Bildungseinrichtungen geschlossen. Im Gesundheitssektor kommt es zu einem allgemeinen Zusammenbruch der Versorgung
und Vorbeugung, weil medizinische Ausrüstung und Medikamente fehlen
und sich Arbeitsbedingungen und Bezahlung des medizinischen Personals
verschlechtern. Der Mangel an Mitteln für laufende Ausgaben wird zum Teil
durch die Erhebung von Nutzungs- und Einschreibgebühren ausgeglichen,
z.B. also etwa durch Arzneikostenbeteiligung und kommunale Schulgebüh-
ren. Damit müssen Kranke und Eltern für Ausgaben aufkommen, die zuvor
dem jeweiligen Gesundheits- oder Erziehungsministerium oblagen.
Wesentliche soziale Dienste des Staates werden auf diese Weise teilprivatisiert, und große Bevölkerungsgruppen besonders in ländlichen Gebieten,
die nicht in der Lage sind, die verschiedenen Gebühren zu bezahlen, bleiben
de facto von medizinischer Versorgung und Bildung ausgeschlossen. Das
Prinzip der Kostendeckung – eines der obersten Gebote der Strukturanpassung – vergrößert auch auf diese Weise die Armut.
Dazu nur ein Beispiel. In den Subsaharastaaten ist es prompt zu einem
Wiederaufleben von ansteckenden Krankheiten gekommen, die man unter
Kontrolle glaubte. Dazu gehören Cholera, Gelbfieber und Malaria. Auch in
Lateinamerika sind Malaria und Denguefieber seit Mitte der 80er Jahre wieder dramatisch auf dem Vormarsch. Der Ausbruch von Beulenpest und Tuberkulose in Indien 1994 hing eindeutig mit der Verschlechterung der
kommunalen Sanitär- und Gesundheitsinfrastruktur zusammen, die die
Budgetkürzungen im Rahmen der von IWF und Weltbank geförderten Strukturanpassungen erzwungen hatten.23
Die internationalen Finanzorganisationen räumen zwar die sozialen Konsequenzen der Strukturanpassung in vollem Umfang ein, doch für sie handelt es sich um Sonderprobleme, um »unerwünschte Nebeneffekte « in einem Sektor der Gesellschaft – eben dem sozialen Sektor – ‚ die nach dem
herrschenden Dogma nicht mit der Funktionsweise ihres ökonomischen Modells in Zusammenhang stehen.
4. Die Weltbank und die Frauenrechte
Die Weltbank ist zur Verfechterin der Frauenrechte geworden und drängt
nationale Regierungen, »mehr in Frauen zu investieren, um die Ungleichheit
der Geschlechter zu vermindern und der wirtschaftlichen Entwicklung einen
Schub zu geben«.24 Mit dem in allen Entwicklungsländern aufgelegten Programm Women in Development (WID) diktiert die Weltbank die Grundregeln der Geschlechterpolitik. Das Programm zielt auf einen »marktorientierten« Ansatz zur Gleichstellung der Geschlechter: Auch Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit und zur Förderung der Rechte von Frauen
sollen sich demnach an »Kosten« und »Effizienz« orientieren.
Obwohl die Weltbank die Möglichkeit eines »Scheiterns der Märkte« einräumt – und folglich die Notwendigkeit staatlicher Interventionen, um Frauenrechte zu schützen – ‚ behauptet sie, dass »freie Märkte« auf breiter
Linie die Selbstbestimmung von Frauen und die Erreichung von Geschlechtergleichheit fördern: »Es ist entscheidend, dass Regierungen die
Führung übernehmen, wo Märkte nicht in vollem Umfang den Nutzen gesellschaftlicher Investitionen in Frauen realisieren… Investitionen in Frauen
sind entscheidend, um wirtschaftliche Effizienz und Wachstum zu erzielen…
Die Bank soll die Gleichheit der Geschlechter als eine Frage sozialer Gerechtigkeit fördern und die Teilhabe von Frauen an der wirtschaftlichen Entwicklung stärken.«25
Maßnahmen zur Stärkung der Märkte und zur Förderung des Wettbewerbs sollen zu größerer Gleichheit der Geschlechter beitragen. Die Weltbank behauptet, dass Strukturanpassungsprogramme den wirtschaftlichen
Status von Frauen verbessern, räumt jedoch auch ein, dass es »Risiken« für
Frauen gibt, die aus den Kürzungen der Sozialausgaben und der Beschneidung staatlicher Programme herrühren.
Bei der Frauenförderung agiert die Weltbank wie eine Aufpasserin. Sie
bestimmt die Konzepte, methodischen Kategorien, ja sogar das relevante
Datenmaterial, anhand deren die Geschlechterproblematik in einem Land
analysiert wird. Sie nimmt Einfluss auf staatliche Stellen, wenn es um Frauenbeauftragte oder gar um Frauenministerien geht. Und weil die Weltbank
die Hauptquelle zur Finanzierung von Frauenprojekten ist, übernehmen nationale Frauenorganisationen, die von diesen Mitteln abhängig sind, häufig
deren Geschlechterperspektive. Dabei ist die Weltbank an einer Stärkung
der Rechte von Frauen nur so weit interessiert, wie sich das mit der gewohnten Perspektive des freien Marktes vereinbaren lässt, weshalb dann
eben auch manchmal gegen die Frauenbewegung Position bezogen werden
muss.
Die internationalen Finanzorganisationen wollen also die »Stärkung der
Frauen« durch die üblichen makroökonomischen Rezepte erreichen: Währungsabwertung, strenge Haushaltsdisziplin, die Einführung von Gebühren
für Gesundheit und Erziehung, die Abschaffung von staatlichen Krediten, die
Liberalisierung des Handels, die Deregulierung des Getreidemarktes, die
Beseitigung gesetzlicher Mindestlohngarantien usw. Anders ausgedrückt:
Voraussetzung für die Finanzierung von Frauenprojekten im Rahmen des
WID-Programms ist also, dass sich die Situation der Frauen durch die Erfüllung der wirtschaftspolitischen Bedingungen von Weltbank und IWF verschlechtert.
Wo die Weltbank z.B. Frauen auf dem Land in geringem Umfang Kredite
gewährt, geht solchen symbolischen Projekten unfehlbar die Auflösung der
staatlichen Entwicklungsbanken, ein dramatischer Anstieg der Zinssätze
und die Abschaffung von ländlichen Kreditkooperativen voraus. Das Gleiche
gilt für die Programme zur Armutsbekämpfung. Diese beruhen auf der vorausgehenden Durchführung makro-ökonomischer Reformen, die erst die
Massenarmut bewirken. Programme zur Armutsbekämpfung zielen auf einzelne, besonders betroffene Gruppen: benachteiligte Frauen, Frauen der
Urbevölkerung, weibliche Haushaltsvorstände, Flüchtlinge, Migrantinnen
und behinderte Frauen. Die strukturellen Ursachen der Armut dagegen und
die Rolle der makroökonomischen Reformen bei ihrer Entstehung werden
geleugnet.
Ein weiteres Aktionsfeld der Weltbank ist die Gewährung von Stipendien
und/oder eher symbolischen Subventionen für Mädchen (Letting Girls
Learn), damit sie das Schulgeld sowie die Kosten für Schulbücher und Unterrichtsmaterialien aufbringen können.26 Gerade die von der Weltbank betriebenen Budgetkürzungen im Bildungssektor haben jedoch dazu geführt,
dass zuvor Lehrer entlassen wurden, sich die Arbeitszeit der übrigen Lehrer
verdoppelte und wieder einklassige Dorfschulen eingerichtet wurden. Jedenfalls sind seit der (Wieder-)Einführung des Schulgeldes in vielen Ländern
der Dritten Welt die Schülerzahlen – von Jungen und Mädchen – gesunken.
In weiten Teilen der Welt sind zudem Gesundheitsprogramme für Mütter
und Kinder der Strukturanpassung zum Opfer gefallen. Die Belege bestätigen ein Ansteigen der Mütter- und Kindersterblichkeit, was der von der
Weltbank durchgesetzten Forderung nach Kostendeckung im Gesundheitswesen zuzuschreiben ist.
Für die Weltbank ist die von ihr angestrebte »Marktgesellschaft« eine Sache von Männern und Frauen. Frauen gelten dabei als Angehörige einer besonderen Kategorie, als gehörten sie einer eigenen sozialen Schicht an. Die
Konfrontation zwischen Männern und Frauen gilt daher als eine Hauptquelle
sozialer Konflikte. In der Perspektive der Weltbank ist der soziale Status
von Frauen allein von der familiären Geschlechterbeziehung bestimmt. Welche Auswirkungen die Globalisierung auf Frauen hat, wird dagegen nicht
thematisiert. Für die Weltbank spielen die Konzentration von Reichtum und
die Wirtschaftsmacht großer Unternehmen für die Rechte der Frauen keine
Rolle.
Die Schaffung einer modernen Gesellschaft und die Selbstbestimmung
der Frauen durch den »freien Markt« sind für sie die Königswege zur Herstellung der Gleichheit der Geschlechter. Das System des globalen Handels
und der globalen Finanzwirtschaft wird dabei ebenso wenig in Zweifel gezogen wie die Rolle von IWF, WTO und Weltbank selber. Doch dieses globale Wirtschaftssystem, das auf billiger Arbeit und der Akkumulation privaten
Reichtums beruht, stellt letztlich eines der wichtigsten Hindernisse für die
Herstellung der Geschlechtergleichheit dar. Mehr noch: Die neoliberale Geschlechterperspektive, wie sie die Gebergemeinschaft über ihre Organisationen vertritt, zielt weitgehend darauf ab, nationale Gesellschaften zu spalten, die Frauenbewegung zu schwächen und die Solidarität zwischen Frauen
und Männern in ihrem Kampf gegen die Neue Weltordnung zu untergraben.
5. Die globale Niedriglohnökonomie
Mit der Globalisierung der Armut geht die Restrukturierung der Volkswirtschaften der Entwicklungsländer und eine Neubestimmung ihrer Rolle in der
neuen Weltwirtschaftsordnung einher. Die bereits erläuterten makroökonomischen Reformen auf nationaler Ebene spielen eine Schlüsselrolle bei der
Regulierung der Löhne und Lohnkosten weltweit. Die globale Armut ist dabei ein »Input« auf der Angebotsseite; das globale Wirtschaftssystem speist
sich aus billiger Arbeit.
Industrielle Standortverlagerungen. Kennzeichnend für die heutige
Weltwirtschaft ist die Abwanderung eines erheblichen Teils der Industrieproduktion aus den entwickelten kapitalistischen Ländern an Standorte in
den Entwicklungsländern, die über billige Arbeitskräfte verfügen. Die Entwicklung der auf Niedriglohnarbeit beruhenden Exportindustrie begann in
den 60er und 70er Jahren in Südostasien in der arbeitsintensiven Fertigung.
Zunächst auf ein paar Exportenklaven wie Hongkong, Singapur, Taiwan und
Südkorea sowie auf einige wenige Branchen beschränkt, gewann die Verlagerung an billige Produktionsstandorte im Ausland in den 70er und 80er
Jahren an Schwung.
Obwohl die Dritte Welt weiterhin eine Rolle als wichtiger Rohstofferzeuger
spielt, ist die heutige Weltwirtschaft nicht länger durch den traditionellen
Gegensatz zwischen Industrie- und Rohstoffproduktion gekennzeichnet.
Daher hat auch die Debatte über die Terms of Trade zwischen Rohstoff- und
Industrieproduzenten an Aktualität eingebüßt. Ein immer größerer Anteil
der weltweiten Fertigung – und zwar in fast allen Branchen – findet heute in
Südostasien, China, Lateinamerika und Osteuropa statt.
Diese weltweite Entwicklung zur Billiglohnproduktion technologisch zunehmend höherwertiger und schwerindustrieller Güter beruht auf der
Schrumpfung der Inlandsnachfrage in den einzelnen Nationalökonomien der
Dritten Welt und der Herausbildung einer billigen, stabilen und disziplinierten Industriearbeitnehmerschaft in einem relativ sicheren politischen
Umfeld. Begünstigt wird dieser Prozess durch die Zerstörung des für den
Binnenmarkt produzierenden Fertigungssektors in den Entwicklungsländern
– also der Importsubstitutionsindustrie – und die Entstehung einer auf billiger Arbeit basierenden Exportwirtschaft. Mit dem Abschluss der UruguayRunde in Marrakesch und der Gründung der WTO 1994 haben sich diese
»Billiglohnfreihandelszonen« auf alle Entwicklungsländer ausgedehnt.
Das heimliche Ziel der den Schuldnerländern von den Bretton-WoodsOrganisationen auferlegten Strukturanpassungen ist der Rückgang der
Lohnkosten. Die sinkenden Löhne in der Dritten Welt und in Osteuropa er-
leichtern die Standortverlagerung der Wirtschaftstätigkeit von den reichen
in die armen Länder.
So unterstützt die Globalisierung der Armut die Entwicklung einer weltweiten Billiglohnexportwirtschaft. Die Möglichkeiten der Produktion sind angesichts der Masse verarmter Arbeiter auf der ganzen Welt immens. Im
Gegensatz dazu treiben die armen Länder keinen Handel untereinander:
Arme Leute stellen keinen Markt für die Waren dar, die sie produzieren.
Anders als der französische Ökonomen Jean Baptiste Say verkündet hat,
schafft Angebot eben nicht seine eigene Nachfrage. Die Verbrauchernachfrage ist auf annähernd 15 Prozent der Weltbevölkerung beschränkt: auf die
reichen Länder sowie kleine Wohlstandsoasen in der Dritten Welt und den
ehemaligen Ostblock.
»Exportiere oder stirb« ist das Motto der Billiglohnökonomie, während
Importsubstitution und die Produktion für den Inlandsmarkt obsolete Konzepte sind. Die einzelnen Länder sind aufgefordert, sich nach Maßgabe ihrer
»komparativen Vorteile« zu spezialisieren, die im Überfluss und den niedrigen Kosten ihrer Arbeit liegen. Das Geheimnis des wirtschaftlichen »Erfolgs« ist die Exportförderung. Unter strenger Aufsicht von Weltbank und
IWF wird in einer Vielzahl von Entwicklungsländern simultan der Export der
gleichen, nicht-traditionellen Güter gefördert. Diese Staaten, zu denen heute die Billigproduzenten der osteuropäischen Länder hinzugekommen sind,
werden zu einem mörderischen Konkurrenzkampf gezwungen. Jeder will in
dieselben europäischen und nordamerikanischen Märkte exportieren, und so
zwingt das Überangebot die Produzenten der Dritten Welt, ihre Preise zu
senken. Die Erzeugerpreise von Industriegütern purzeln auf den Weltmärkten in ganz ähnlicher Weise wie die Rohstoffpreise. Der Wettbewerb zwischen und innerhalb von Entwicklungsländern drückt die Löhne, Erlöse und
Preise. So führt die Exportförderung letztlich zu niedrigeren Warenpreisen
und geringeren Exporteinnahmen, aus denen die Auslandsschulden bezahlt
werden müssen. Es ist bittere Ironie, dass ausgerechnet die erfolgreichsten
Exportwirtschaften unter den Entwicklungsländern auch die größten Schuldnernationen der Welt sind.
Darüber hinaus schlagen die Maßnahmen zur wirtschaftlichen Stabilisierung, die dem Süden und Osten aufgezwungen werden, auch auf die Wirtschaften der reichen Länder durch: Armut in der Dritten Welt trägt zu einer
globalen Schrumpfung der Importnachfrage bei, die wiederum das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung in den OECD-Ländern in Mitleidenschaft zieht.
Strukturanpassung verwandelt die Volkswirtschaften in offene Wirtschaftsräume. Länder werden zu bloßen Territorien, zu Billiglohn- und Rohstoffreservoirs. Aber weil dieser Prozess auf der Globalisierung der Armut
und der weltweiten Verminderung der Verbrauchernachfrage beruht, kann
die Exportförderung in der unterentwickelten Welt nur in einer begrenzten
Zahl von Ländern Erfolg haben. Die gleichzeitige Ausweitung der Exporttätigkeit in einer großen Anzahl von Ländern führt also zu größerer Konkurrenz zwischen den Entwicklungsländern, sowohl bei der Rohstoffproduktion
als auch in der Fertigung. Soweit die Weltnachfrage nicht steigt, steht der
Schaffung neuer Produktionskapazitäten in einigen Ländern der wirtschaftliche Niedergang und Zerfall an anderen Standorten der Dritten Welt gegenüber.
Wenn es in einem Land der Dritten Welt erfolgreiche Arbeitskämpfe gibt,
aufgrund deren die Löhne erhöht werden, kann das transnationale Kapital
seine Produktionsstandorte ohne weiteres in andere Billiglohnländer verlagern oder durch Untervergabe Produktion auslagern. Die Existenz von »Reserveländern« mit einem Überschuss an billigen Arbeitskräften drückt also
tendenziell auf die Löhne in den aktiveren (Billiglohn-)Exportwirtschaften
z.B. in Südostasien, Mexiko, China und Osteuropa. Diese weltweite »Überschussbevölkerung« bedingt die internationale Wanderung von Produktivkapital in ein und demselben Industriesektor von einem Land zum anderen.
Aus der Sicht des Kapitals gehören die nationalen Arbeitskräftereserven zu
einem einzigen internationalen Reservepool, innerhalb dessen Arbeitnehmer
aus verschiedenen Ländern in offene Konkurrenz zueinander gebracht werden. Die Weltarbeitslosigkeit wird so zu einem Hebel der globalen Kapitalakkumulation, welche die Lohnkosten in jeder der nationalen Wirtschaften
bestimmt.
Daher hat in vielen exportorientierten Billiglohnländern der Anteil der
Löhne am Bruttoinlandsprodukt und an der Wertschöpfung dramatisch abgenommen. Während die Löhne der Beschäftigten in den Industrieländern
annähernd 40 Prozent der Wertschöpfung in der Produktion ausmachen,
liegt der entsprechende Prozentsatz in Lateinamerika und Südostasien nur
etwa bei 15 Prozent.
Die Entindustrialisierung des Nordens. Der Entwicklung der Billiglohnexportfabriken in der Dritten Welt entspricht die Stilllegung von Industriestandorten in fortgeschrittenen Ländern. Die erste Welle von Fabrikschließungen betraf weitgehend die arbeitsintensiven Bereiche der Leichtindustrie. Seit den 80er Jahren sind jedoch alle Sektoren der westlichen Wirtschaft und alle Kategorien von Beschäftigten diesem Prozess ausgesetzt.
Dies belegt die Umstrukturierung von Unternehmen der Luftfahrtindustrie,
die Auslagerung der Autoproduktion nach Osteuropa und in die Dritte Welt,
die Schließung von Stahlstandorten usw.
Die Entwicklung der exportorientierten Fertigungsindustrie südlich des
Rio Grande an der Grenze zwischen USA und Mexiko war während der 80er
Jahre begleitet von Entlassungen und Arbeitslosigkeit in den US- und kanadischen Industriezentren. In ähnlicher Weise verlagern japanische Konzerne
einen bedeutenden Teil ihrer Fertigung an Standorte in Thailand oder auf
den Philippinen, wo Industriearbeiter für drei oder vier Dollar am Tag – oft
genug unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns – arbeiten. Der deutsche
Kapitalismus dehnt sich über die Oder-Neiße-Grenze wieder in seinen alten
»Lebensraum« aus. In Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und der
Slowakei liegen die Lohnkosten für Fabrikarbeiter mit etwa 120 Euro im
Monat beträchtlich niedriger als in der EU. Im Gegensatz dazu haben Arbei-
ter in deutschen Autofabriken Bruttostundenlöhne von etwa 25 Euro. Trotz
brachliegender Fabriken und hoher Arbeitslosenraten in der ehemaligen
DDR war es daher für deutsche Unternehmen profitabler, ihre Produktion
nach Osteuropa zu verlegen.
Durch jeden Arbeitsplatz, der in den Industrieländern verloren geht und
in die Dritte Welt verlagert wird, sinkt der Verbrauch in diesen Ländern.
Fabrikschließungen und Entlassungen werden in der Presse gewöhnlich als
isolierte und unzusammenhängende Fälle von Umstrukturierungen einzelner
Unternehmen dargestellt, doch ihre kombinierten Auswirkungen auf die Reallöhne und die Beschäftigung sind verheerend. Die Verbrauchermärkte
schrumpfen, weil eine große Zahl von Firmen in mehreren Ländern gleichzeitig ihre Belegschaften reduziert. Schwacher Konsum wiederum schlägt
auf die Produktion zurück und trägt zu einer weiteren Spiralumdrehung von
Fabrikschließungen und Bankrotten bei.
Im Norden wird die Schrumpfung der Verbraucherausgaben noch von der
Deregulierung des Arbeitsmarktes verschärft: von der Abkoppelung der
Löhne vom Preisindex, Teilzeitarbeit, Frühpensionierung und der Erzwingung »freiwilliger« Lohnkürzungen. Da ausscheidende Arbeitnehmer nicht
ersetzt werden, müssen die jüngeren Altersgruppen die Last der Arbeitslosigkeit tragen. Einer ganzen Generation ist so der Zugang zum Arbeitsmarkt
erheblich verstellt worden.
Der Prozess der Industrieabwanderung aus den Industriestaaten, der zur
Schwächung der Marktnachfrage beiträgt, untergräbt damit zugleich die
Bemühungen der Entwicklungsländer, Fertigprodukte auf den schrumpfenden Märkten des Westens zu verkaufen. Ein Teufelskreis: Gerade die Ausweitung der Produktion durch ihre Verlagerung in den Süden und Osten
treibt über steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Verbrauchsausgaben im
Norden und Westen die Weltwirtschaft tendenziell in eine globale Stagnation, wenn nicht gar Rezession.
Die Standortverlagerung der Produktion findet zunehmend auch innerhalb der Handelsblöcke statt. Sowohl Westeuropa als auch Nordamerika
entwickeln jeweils eigene »Billiglohnhinterhöfe« an ihren unmittelbaren
geografischen Grenzen. In Europa ist es die Oder-Neiße-Grenze zu Polen, in
Nordamerika der Rio Grande zwischen den USA und Mexiko, die beide die
Hoch- von der Niedriglohnwirtschaft trennen.
Oder und Neiße auf der einen und der Rio Grande auf der anderen Seite
unterscheiden sich allerdings insofern voneinander als die eine Grenze tatsächlich die vorläufige Grenze des Maastrichter Vertrages ist, der die Freizügigkeit der Arbeitskräfte innerhalb der EU garantiert, die andere Grenze
hingegen mitten in der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) liegt.
Dennoch trennt der Rio Grande zwei ganz unterschiedliche Arbeitsmärkte:
Die »Immobilität der Arbeitskräfte«, weniger der Freihandel und der Abbau
der Zollgrenzen ist daher das zentrale Merkmal der NAFTA.
Dieses Freihandelsabkommen erlaubt es US-Firmen, ihre Lohnkosten um
mehr als 80 Prozent zu reduzieren, indem sie die Produktion nach Mexiko
auslagern und an dortige Subunternehmen vergeben. Das ist beileibe nicht
auf die Fertigungsindustrie oder den Einsatz unqualifizierter Arbeitskräfte
beschränkt: Nichts hindert die Verlagerung auch der amerikanischen Hightech-Industrie nach Mexiko, wo Ingenieure und Wissenschaftler für ein paar
hundert Dollar im Monat angeheuert werden können. Standortverlagerung
betrifft potentiell einen großen Anteil der Wirtschaft der USA und Kanadas
einschließlich des Dienstleistungssektors.
Die NAFTA beruht von Anbeginn auf der Schrumpfung der Beschäftigung
und der Reallöhne. Die Industrieverlagerung nach Mexiko zerstört Arbeitsplätze in den USA und Kanada und drückt die Reallöhne. Deshalb verschärft
die NAFTA die Wirtschaftsrezession: Arbeiter, die in den USA und Kanada
entlassen werden, finden in der übrigen Wirtschaft keine neue Verwendung,
und durch die Abwanderung der alten entstehen keine neuen Wachstumsindustrien. Die Schrumpfung der Verbraucherausgaben, die aus den Entlassungen und Fabrikschließungen resultiert, führt zu einem allgemeinen
Rückgang des Absatzes und der Beschäftigung und zu weiteren Entlassungen in der Industrie.
Durch die NAFTA können amerikanische und kanadische Unternehmen
darüber hinaus den mexikanischen Markt durchdringen und die dort heimischen Unternehmen verdrängen. Die Industriekonzentration wächst, kleine
und mittlere Unternehmen werden vernichtet und ein Teil der mexikanischen Dienstleistungswirtschaft wird durch Lizenzvergabe übernommen. So
exportieren die USA ihre Rezession nach Mexiko. Mit Ausnahme eines kleinen Marktes privilegierten Verbrauchs begünstigen Armut und niedrige Löhne in Mexiko nicht gerade eine wachsende Verbrauchernachfrage. In Kanada führte das Freihandelsabkommen, das 1992 mit den USA unterzeichnet
wurde, zum Niedergang der Zweigwerke US-amerikanischer Firmen, die
alsbald ihre Tochtergesellschaften geschlossen und sie durch regionale Verkaufsbüros ersetzt haben.
Die Bildung der NAFTA hat folglich, ganz im Gegensatz zu den gängigen
Vorurteilen, in allen drei Ländern zur Verschärfung der Wirtschaftsrezession
beigetragen. Auch hier führt die Expansion der Produktion durch Standortverlagerung zur Schrumpfung der Verbraucherausgaben.
Luxusverbrauch und »parasitäre Wirtschaft«. Die wachsende Konzentration von Einkommen und Reichtum in der Hand einer Minderheit, die
nicht nur in den entwickelten Ländern, sondern auch in kleinen Wohlstandsoasen in der Dritten Welt und Osteuropas zu Hause ist, hat zu einem dynamischen Wachstum der Luxuswirtschaft geführt, die sich um Reisen und
Freizeit, Autos, Unterhaltungselektronik, moderne Telekommunikation usw.
dreht. Die »Drive-in«- und »Duty free«-Kultur die sich vor allem um die
Knotenpunkte des Luftverkehrs gebildet hat, ist der Brennpunkt der modernen Konsum- und Freizeitwirtschaft für Besserverdienende, in denen sich
riesige finanzielle Ressourcen bündeln.
Während sich das Spektrum der Konsumgüter, die dem Lebensstil oberer
Einkommensschichten dienen, grenzenlos erweitert hat, schrumpft seit der
Schuldenkrise in den frühen 80er Jahren das Verbrauchsniveau der großen
Mehrheit der Weltbevölkerung. 85 Prozent aller Menschen müssen sich in
ihrem Verbrauch mit den Grundnahrungsmitteln und lebens-notwendigen
Waren begnügen.
Dieses dramatische Wachstum des Luxusverbrauchs verschafft – im Verein mit den steigenden Militärausgaben – einer von Rezession bedrängten
Weltwirtschaft eine Atempause, steht jedoch im Kontrast zur Stagnation der
Sektoren, die notwendige Güter und Dienstleistungen produzieren. In der
Dritten Welt und in Osteuropa stagnieren Nahrungsmittelproduktion, Wohnungsbau und wichtige soziale Dienste, während der Luxusverbrauch der
alten und neuen Eliten floriert. Die soziale Ungleichheit und Einkommensdisparität in Ungarn und Polen sind heute mit den Zuständen in Lateinamerika vergleichbar. Ein Porsche Carrera konnte z.B. vor zehn Jahren bei
einem Vertragshändler im Zentrum von Budapest für die bescheidene
Summe von 9.720.000 Formt erworben werden. Ein durchschnittlicher ungarischer Industriearbeiter hätte dafür den Verdienst von 70 Jahren Arbeit
hinblättern mussen.27
Das globale Produktionssystem richtet sich daher zunehmend auf begrenzte Märkte aus, auf hohe Einkommensgruppen im Norden sowie auf
kleine Oasen des Luxusverbrauchs im Süden und Osten, während gerade
dort die vorherrschenden Niedriglöhne die proklamierte Entwicklung der
Massenkaufkraft blockieren. Jene, die produzieren, sind nicht diejenigen,
die konsumieren – das ist ein wesentliches Merkmal der globalen Billiglohnwirtschaft.
Mit dem Niedergang der Fertigungsindustrie hat sich in den reichen Ländern eine »parasitäre Wirtschaft« entwickelt, die praktisch nichts mehr produziert. Sie konzentriert sich auf den Dienstleistungssektor und schöpft die
Gewinne aus der Fertigung in der Dritten Welt ab. Die HochtechnologieWirtschaften, die auf der Verfügungsmacht über industrielles Know-how,
Produktdesign, Forschung und Entwicklung basieren, ordnen sich die Sektoren der materiellen Produktion unter. Oder anders: Die materielle Produktion wird der nicht-materiellen unterworfen, indem sich der Dienstleistungssektor die Wertschöpfung des Fertigungssektors aneignet. Darüber hinaus
werden außer den Zahlungen für Urheberrechte und Lizenzen für die Nutzung westlicher und japanischer Technologie die Gewinne der Produzenten
in der Dritten Welt unweigerlich durch den Zwischen-, Groß- und Einzelhandel der Industrieländer aufgezehrt. Die Wachstumsschwerpunkte in den
entwickelten Ländern liegen vor allem in der Dienstleistungswirtschaft, dem
Immobilienhandel, der kommerziellen und finanziellen Infrastruktur, der
Kommunikation und dem Verkehr statt in der materiellen Produktion.
Damit findet eine offenkundige »Entindustrialisierung« der Industrieländer statt. Die Bedeutung des Begriffs »Industrie« hat sich grundlegend geändert. Die Wachstumsschwerpunkte der Hochtechnologie erleben eine rasche Entwicklung auf Kosten der alten traditionellen Industrien, die sich seit
Beginn der industriellen Revolution in den fortgeschrittenen Ländern entwickelten.
Wir haben es mit einer Weltwirtschaft zu tun, in der die Mehrheit der
Volkswirtschaften Fertigwaren für den Export in die Märkte der OECDLänder produziert. Von einigen wichtigen Ausnahmen wie Südkorea, Brasilien und Mexiko abgesehen können diese Länder jedoch nicht als »neu industrialisiert« angesehen werden, denn ihre »Industrialisierung« verdankt sich
weitgehend der Standortverlagerung der Produktion aus den Industrieländern in Billiglohnregionen der Dritten Welt. Sie ist durch die Umformung der
Weltwirtschaft bedingt.
Die parasitäre Wirtschaft eignet sich die Gewinne der Direkterzeuger an.
Zwar wird die materielle Produktion in Billiglohnwirtschaften der Dritten
Welt ausgelagert, doch findet das größte Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den reichen, importierenden Ländern statt. Es ist in dieser Hinsicht
»importbedingt«: Mit billiger Arbeit produzierte Importe (Rohstoffe und Fertigprodukte) schaffen ein korrespondierendes Einkommenswachstum in der
Dienstleistungswirtschaft der reichen Länder.
Die vom IWF geförderten Strukturanpassungen tragen ebenfalls zur Konsolidierung der parasitären Wirtschaft bei:
Da dadurch jedes Entwicklungsland gezwungen ist, das gleiche Spektrum
von Rohstoffen und Industriewaren für den Weltmarkt zu produzieren, muss
es mit anderen Ländern konkurrieren. Die Kanäle des internationalen Handels ebenso wie des Groß- und Einzelhandels in den Industrieländern
werden jedoch durch monopolistische Konzerne kontrolliert. Diese Dualität
zwischen Wettbewerb und Monopol ist ein grundlegendes Merkmal des globalen Handelssystems. Dem mörderischen Wettbewerb zwischen den direkten Produzenten aus den diversen Ländern unter den Bedingungen globalen
Überangebots steht die monopolistische Kontrolle einiger weniger globaler
Unternehmen über den internationalen Handel, die Industriepatente und
den Groß- und Einzelhandel gegenüber.
Der Handel macht die Gewinne. Weil Güter, die in Entwicklungsländern
produziert werden, zu sehr niedrigen internationalen (Fob-)Preisen28 importiert werden, ist der offizielle Wert der OECD-Importe aus Entwicklungsländern im Vergleich zu dem des gesamten Handelsvolumens und der Inlandsproduktion relativ gering. Doch sobald diese Waren in die Groß- und
Einzelhandelskanäle der reichen Länder einfließen, multipliziert sich ihr Wert
um das Mehrfache. Die Einzelhandelspreise von Waren, die in der Dritten
Welt produziert werden, sind häufig zehnmal höher als die Importpreise. So
schafft die Dienstleistungswirtschaft der reichen Länder eine »Wertschöpfung« ohne materielle Produktion, wenngleich zugunsten des eigenen Bruttoinlandsprodukts. Der Einzelhandelspreis von Kaffee z.B. liegt sieben- bis
zehnmal über dem Fob-Preis und annähernd 20-mal über dem Preis, der
den Pflanzern in der Dritten Welt gezahlt wird.
Das Gros der Gewinne der Rohstoffproduzenten eignen sich somit der
Zwischen-, Groß- und Einzelhandel der Industrieländer an. Bei den Industriewaren, die in Billiglohnländern hergestellt werden, verhält es sich kaum
anders. So werden z.B. 60 Prozent der in den USA verkauften Schuhe in
chinesischen Ausbeuterbetrieben hergestellt. Die Gewinne aus dem Verkauf
der Schuhe in den USA fließen natürlich nicht den chinesischen Arbeitern
zu, die extrem niedrige Löhne erhalten (siehe Kasten 5.1), sondern den USUnternehmen – und sorgen für ein höheres Bruttoinlandsprodukt der USA.
Kasten 5.1
Löhne in chinesischen Fabriken, die für US-Einzelhändler produzieren
»Frauen, die in der Produktion von Timberland-Schuhen in der Pou YuenFabrik V, Zhongshan Stadt in der Provinz Guangdong beschäftigt sind,
arbeiten 14 Stunden am Tag. Die Fabrik stellt Mädchen von 16 und 17
Jahren für 22 Cents in der Stunde ein (16 Dollar für eine 70-StundenWoche). In einer Fabrik, die Kathie Lee(Gifford)-Handtaschen für WalMart produziert, betrugen die höchsten Löhne sieben Dollar in der Woche
oder acht US-Cents in der Stunde. Die Löhne für die bestbezahlten 14
Prozent der Arbeiter in Qin Shi lagen bei 18 Dollar im Monat.«
In einer anderen Fabrik, die Stereoanlagen für Autos herstellt, erhielten
junge Frauen 31 US-Cents pro Stunde. Sie »sitzen gebeugt über Mikroskopen, in die sie neun Stunden am Tag sechs Tage in der Woche starren, um Feinteile der Stereoanlagen zu löten.«
»Die Unternehmen (die in China operieren) stellen nur allein stehende
Frauen vom 17. bis zum 25. Lebensjahr ein.« Danach, wenn sie schließlich »aufgebraucht« sind, »werden sie durch eine neue Schar junger
Frauen ersetzt. Niemand hält es unter diesen Bedingungen lange aus,
daher gehen die Frauen entweder von selbst oder werden nach dem 26.
Lebensjahr aus dem Betrieb gedrängt. In jedem Fall werden sie durch eine neue Schar junger Frauen ersetzt und die Arbeit geht weiter.« Wenn
eine Frau schwanger wird, so will es das ungeschriebene Gesetz, »wird
sie gefeuert«.
Jon E. Dougherty, »Brutal Chinese Working Conditions Benefit WalMart«, unter: WorldNetDaily.com, September 2000
Nehmen wir ein Beispiel. Zahlen aus Fabriken in Bangladesch geben ein
grobes Bild von der Kostenstruktur und der Gewinnverteilung in der Bekleidungsexportindustrie: Der Fabrikpreis von einem Dutzend Hemden beträgt
36 bis 40 Dollar (Fob). Sämtliche Ausrüstungsgüter und Rohmaterialien
wurden importiert. Die Hemden werden dann im Einzelhandel in den USA zu
einem Stückpreis von etwa 22 Dollar – bzw. 264 Dollar für das Dutzend –
verkauft. Frauen- und Kinderarbeit in den Fabriken der Bekleidungsindustrie
in Bangladesch wird mit etwa 20 Dollar im Monat entlohnt, wenigstens 50-
mal weniger, als Arbeiter in der nordamerikanischen Bekleidungsindustrie
verdienen. Ergebnis also: Weniger als zwei Prozent des Gesamtwarenwertes
fließen den direkten Produzenten (den Arbeitern) in Form von Löhnen zu.
Ein weiteres Prozent stellt den Gewinn des »konkurrenzfähigen« unabhängigen Drittweltproduzenten dar.
Der Bruttoaufschlag zwischen dem Fabrikpreis und dem Einzelhandelspreis (also 264 – 38 = 226 Dollar für ein Dutzend Hemden) teilt sich im
Wesentlichen in drei Komponenten:
1. die Profite des internationalen Zwischenhandels, der Groß- und Einzelhändler bis hinunter zu den Ladenbesitzern (der größte Anteil am Bruttoaufschlag),
2. die realen Kosten für Transport, Lagerung usw.
3. die Zölle, die bei der Einfuhr in die Industrieländer auf die Waren erhoben
werden, und die indirekten Steuern (Mehrwertsteuer), die beim Einzelhandelsverkauf fällig werden.
Obwohl der Einzelhandelspreis siebenmal höher als der Fabrikpreis ist, fließt
der Profit nicht notwendigerweise den Einzelhändlern in den Industrieländern zu. Einen großen Anteil des vom Groß- und Einzelhandel erwirtschafteten Gewinns schöpfen mächtige Immobilienfirmen und Banken ab.
Man darf nicht übersehen, dass der Importfluss aus der Dritten Welt für
die reichen Länder auch ein Mittel zur Erwirtschaftung von Steuereinnahmen ist – und zwar in Form von Verkaufs- und/oder Mehrwertsteuern. In
Westeuropa liegt die Mehrwertsteuer bei weit über zehn Prozent des Einzelhandelspreises. Die Steuereinnahmen hängen daher von der Struktur des
ungleichen Warentauschs ab: Im Falle der Bekleidungsindustrie schöpfen
die Finanzämter der reichen Länder fast so viel ab, wie die produzierenden
Länder verdienen, und annähernd viermal so viel, wie die Arbeiter in der
Bekleidungsindustrie des produzierenden Landes als Lohn erhalten (siehe
Tabelle 5.1).
In der globalen Wirtschaft kauft das Kapital Arbeitsleistungen auf separaten und sehr unterschiedlichen nationalen Arbeitsmärkten ein. Der Großteil
der Lohnkosten – für Transport, Lagerung, in Groß- und Einzelhandel – fällt
in den Hochlohnmärkten der reichen Länder an. Wenn ein Einzelhandelsbeschäftigter in einem Industrieland ein Monatsgehalt bekommt, das mindestens 40-mal höher ist als das eines Fabrikarbeiters in Bangladesch, dann
entfällt eben auf Ersteren ein entsprechend größerer Anteil an den Gesamtlohnkosten für Produktion und Vertrieb der Ware.
Dennoch wäre es verfehlt, von einer »ungleichen Tauschbeziehung« zwischen den Industriearbeitern in Bangladesch und den Einzelhandelsbeschäftigten in den USA auszugehen. Alle verfügbaren Daten sprechen dafür, dass
die Beschäftigten im Dienstleistungssektor der reichen Länder extrem unterbezahlt sind. Ihre Löhne (die eine echte Wertschöpfung – d.h. Realkosten
– darstellen) bilden darüber hinaus nur einen relativ kleinen Prozentsatz der
Gesamtverkaufserlöse.
Tabelle 5.1 Verteilung der Einnahmen aus der Fertigung in der Dritten
Welt
Aufteilung der Einnahmen:
Ein Dutzend Hemden aus der
Produktion einer Billiglohnfabrik
der Dritten Welt
1.
1.1
1.2
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
3.
Menge in
US-Dollar
Einnahmen des Drittweltlandes
8,00
Löhne
5,00
Nettogewinn
3,00
Einnahmen des Industrielandes
284,60
aus Industrieländern importiertes
30,00
Material, Zubehör und Ausrüstung
Fracht und Kommissionen
4,00
Zölle auf Fob-Preis
4,00
Löhne im Groß- und Einzelhandel
10,00
Bruttogewinn, Miete und andere
210,00
Einkommen von Vertriebsunternehmen
Verkaufssteuern (zehn Prozent
26,60
des Einzelhandelspreises> zugunsten
des Industriestaates
Gesamteinzelhandelspreis
292,60
(einschließlich Verkaufssteuern)
Prozentsatz des
Verkaufspreises
2,7
1,7
1,0
97,3
10,2
1,4
1,4
3,4
71,8
9,1
100,0
Anmerkung:
Die Margen für Fracht und Kommissionen, Zölle und Verkaufssteuern entsprechen nach der verfügbaren Information realistischen Niveaus. Es
waren allerdings keine Informationen über die Lohnkosten im Groß- und Einzelhandel verfügbar. Die Einzelhandelsvertriebskosten für ein Dutzend Hemden wurden zur Illustration auf etwa 25 Prozent des Fob-Preises (10 Dollar) geschätzt.
In unserem Beispiel liegen die Lohnkosten für die Produktion von einem
Dutzend Hemden in Bangladesch bei fünf Dollar, was 25 bis 30 Stunden
Arbeit zu 15 bis 20 US-Cents in der Stunde entspricht. Angenommen, ein
Beschäftigter im US-Einzelhandel verdient fünf Dollar in der Stunde und
verkauft währenddessen sechs Hemden, so sind die Lohnkosten für die Produktion von einem Dutzend Hemden mit fünf Dollar halb so hoch wie die
Lohnkosten im Einzelhandel, die sich für diese zwölf Hemden auf zehn Dollar belaufen. Diese jedoch stellen immer noch einen relativ kleinen Prozentanteil des Gesamtpreises (292,60 Dollar einschließlich Steuern) dar d.h. der
Löwenanteil des Reingewinns fließt den Kaufleuten und Ladenbesitzern in
den reichen Ländern zu.
Während die Unternehmen der Dritten Welt nahezu unter vollkommenen
Konkurrenzbedingungen arbeiten, sind die Käufer ihrer Produkte quasimonopolistische Handelsgesellschaften und multinationale Firmen. Der Nettogewinn, der dem »wettbewerbsfähigen« Unternehmer in der Dritten Welt
zufließt (3 Dollar), beträgt ungefähr ein Prozent des Gesamtwertes der Ware. Weil die Fabriken der Dritten Welt auf einem von Überangebot gekennzeichneten Weltmarkt arbeiten, sinken die Fabrikpreise tendenziell und
drücken die Gewinnmarge der Produzenten auf ein Minimum. Dieser Prozess
erleichtert es internationalen Zwischen- und Großhändlern, ihre Gewinne
noch zu steigern.
Mobile und immobile Sektoren. Die Standortabwanderung der materiellen Produktion in Billiglohnländer umfasst alle international »mobilen« Sektoren. » Mobile Sektoren« sind solche, die durch Auslandsinvestitionen in
Billiglohnländern oder durch Vergabe von Unterverträgen an unabhängige
Produzenten in der Dritten Welt von einem geografischen Standort zu einem
anderen verlegt werden können. Zu den »immobilen Sektoren« der Industrieländer gehören im Gegensatz dazu Wirtschaftstätigkeiten, die sich ihrem Wesen nach international keine neuen Standorte suchen können: Bauwesen, öffentliche Arbeiten, Landwirtschaft und die meisten Dienstleistungen.
Während sich das Kapital frei von einem Arbeitsmarkt zum anderen bewegt, werden Arbeitskräfte daran gehindert, internationale Grenze zu überschreiten. Die nationalen Arbeitsmärkte sind in der Regel geschlossene Bereiche mit streng bewachten Grenzen. So ist z.B. im Rahmen der NAFTA
mexikanischen Arbeitern der Grenzübertritt in die USA weitgehend verwehrt, um sie innerhalb der Billiglohnwirtschaft zu halten. Für Bau-, öffentliche und landwirtschaftliche Arbeiten, die aufgrund ihrer Ortsgebundenheit
nicht international mobil sind, sind jedoch Kontingente von Saisonarbeitern
erlaubt – mit dem erwünschten Nebeneffekt, die Löhne der amerikanischen
und kanadischen Arbeiter zu drücken sowie die Rolle der Gewerkschaften zu
unterminieren.
Mit den Standortverlagerungen verändert sich die Industriestruktur der
fortgeschrittenen Länder grundlegend. Die alten Industriezentren verschwinden: Das »Fabriksystem« geht unter. Ein beträchtlicher Teil der Beschäftigten in den Industrieländern arbeitet nun in den neuen Wachstumspolen: in der Dienstleistungswirtschaft, in »nichtmateriellen« Wirtschaftssektoren und in den neuen Industrien der Informationssysteme, der
Telekommunikation usw.
Die Dualität zwischen materiellen und nichtmateriellen bzw. mobilen und
immobilen Sektoren ist für das Verständnis des Strukturwandels der Weltwirtschaft von zentraler Bedeutung. Globale Rezession ist mit dem dynamischen Wachstum der neuen Hochtechnologie-Sektoren durchaus nicht unvereinbar. Design, Technologie und Know-how gehören den internationalen
Unternehmen und werden von ihnen kontrolliert. Die nichtmaterielle Produktion und die Kontrolle über geistige Eigentumsrechte ordnen sich die
materielle Produktion unter. Die nichtmateriellen Sektoren eignen sich die
Gewinne der materiellen Industrieproduktion an.
Der unglaubliche Schub, der in den 80er und 90er Jahren die Telekommunikation, Computertechnologie und Produktionstechnik erfasst hat, stellt
einen entscheidenden Hebel im Prozess der industriellen Standortverlagerung dar: Die Unternehmenszentralen stehen nunmehr mit ihren Produktionsstandorten und Montagefabriken auf der ganzen Welt in unmittelbarem
Kontakt und verfügen damit über ein machtvolles Instrument weltweiter
Kontrolle und Aufsicht. Global agierende Firmen minimieren die Lohnkosten
weltweit durch ihre Fähigkeit, sich Produktionsstandorte (oder Subunternehmer) in Billiglohnländern überall auf der Welt zunutze zu machen.
Obwohl die technologische Revolution in den Industrieländern neue Berufsfelder entstehen lässt, vermindert sie den Arbeitskräftebedarf der Industrie erheblich. Neue, von Robotern bediente Montagebänder werden gebaut, während die Arbeitnehmer der vorhandenen Produktionsstätten entlassen werden. Der technologische Wandel in Verbindung mit der Standortabwanderung und der Umstrukturierung der Unternehmen begünstigt daher
tendenziell neue Fusionswellen und Übernahmen in den Schlüsselindustrien.
Zugleich werden auch bestimmte Dienstleistungen an Billiglohnstandorte
in der Dritten Welt und Osteuropa ausgelagert. Ein Teil der Dienstleistungswirtschaft gehört somit nicht mehr zum »immobilen« Sektor. Unternehmen
und Finanzinstitute können bei etlichen Bürotätigkeiten ihr Personal reduzieren: Die Buchführungssysteme großer Firmen z.B. lassen sich heute problemlos und via Computernetze und E-Mail unter beträchtlichen Einsparungen in Entwicklungsländern betreiben, wo qualifizierte Buchhalter und Computerspezialisten für weniger als 100 Dollar im Monat beschäftigt werden
können. Auch Aufträge in Sachen Daten- und Textverarbeitung können in
dieser Weise an Subunternehmen etwa auf den Philippinen vergeben werden, in denen Büropersonal unter schlechten Arbeitsbedingungen für zwei
oder drei Dollar am Tag arbeitet. Da mehr als 70 Prozent der Beschäftigten
in den Industrieländern im Dienstleistungssektor arbeiten, sind die potenziellen Auswirkungen einer Standortverlagerung auf die Löhne und die Beschäftigung – ganz zu schweigen von den sozialen Konsequenzen – schier
unabsehbar.
TEIL II
Afrika
6. Somalia: Die wahren Gründe des Hungers
1993 führte das US-Militär die Operation »Restore Hope« unter dem Schirm
der Vereinten Nationen durch. Ziel des Einsatzes war es, der verarmten
Bevölkerung Somalias zu Hilfe zu kommen. Dürre, das Vordringen der Wüste und Bürgerkrieg galten offiziell als Gründe der Hungersnot. Die tödlichen
Wirtschaftsreformen, welche die ausländischen Gläubiger Somalia in den
Jahren vor der Krise aufgezwungen hatten, wurden nie erwähnt
Bis in die 70er Jahre hinein war Somalia eine ländliche Tauschwirtschaft von
Hirtennomaden und Kleinbauern, in der die Hälfte der Bevölkerung nomadisch lebte. Trotz der wiederkehrenden Dürren konnte sich das Land praktisch selbst mit Nahrungsmitteln versorgen und war auf entsprechende internationale Hilfe so gut wie gar nicht angewiesen. Erst danach nahm die
kommerzielle Viehhaltung – begünstigt durch die Privatisierung von Brunnen und Weideland sowie durch Ansiedlungsprogramme – beträchtlich zu,
wodurch die Hirten zu verarmen begannen. Wie in anderen Entwicklungsländern auch nahm allmählich der Anbau von Agrarprodukten für den Export das beste Land in Anspruch, was den Anbau von Nahrungsmitteln für
den Eigenbedarf schwächte und dem Kleinbauerntum das Leben erschwerte.
Viehverkäufe machten bis 1983 etwa 80 Prozent der Exporteinnahmen aus,
bis dann diese Quote aufgrund der Geldüberweisungen von somalischen
Arbeitern in den Öl- und Golfstaaten zu sinken begann.
Die Intervention von IWF und Weltbank Anfang der 80er Jahre trug zur Verschlimmerung der Krise der somalischen Landwirtschaft bei. Die Wirtschaftsreformen untergruben das fragile Gleichgewicht von nomadischer
Vieh- und sesshafter Ackerbauwirtschaft, das sowohl durch Geldgeschäfte
als auch durch traditionellen Tauschhandel gekennzeichnet war. Der Regierung von Somalia wurde ein sehr strenges Sparprogramm aufgezwungen, in
erster Linie damit das Land beim Pariser Club die Zinsen seiner Schulden
zahlen konnte. Einen Großteil der Schulden, etwa 20 Prozent, hielten IWF
und Weltbank.1 Einem Projektbericht der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO) zufolge »sperrt sich unter den großen Empfängern der Schuldendienstzahlungen Somalias nur der IWF gegen eine Umschuldung… Tatsächlich hilft der IWF bei der Finanzierung eines Anpassungsprogramms, zu dessen Hauptzielen es gehört, die Schulden an ihn zurückzuzahlen.«2
Die
Zerstörung
der
Selbstversorgung.
Das
Strukturanpassungsprogramm verstärkte Somalias Abhängigkeit von Importgetreide. Von
Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre stieg die Nahrungsmittelhilfe mit
einer Zuwachsrate von 30 Prozent pro Jahr um das l5fache und entsprach
schließlich mehr als 35 Prozent des Verbrauchs.3 In Verbindung mit den gestiegenen Warenimporten führte die Einfuhr von billigem Überschussgetreide und Reis, die auf dem heimischen Markt verkauft wurden, zur Verdrängung der lokalen Erzeuger und zu einer bedeutenden Veränderung der Essgewohnheiten zum Schaden der traditionellen Feldfrüchte Mais und Sorghumhirse. Der vom IWF erzwungenen Abwertung des somalischen Schilling
folgten in periodischen Abständen weitere Abwertungen, die zu einem
Preisanstieg von Kraftstoff, Dünger und anderen landwirtschaftlichen
Einsatzgütern führten. Das wirkte sich unmittelbar auf die landwirtschaftlichen Erzeuger aus, besonders in der regenabhängigen Landwirtschaft, aber
auch im Bewässerungsfeldbau. Die Kaufkraft der Stadtbevölkerung schwand
dramatisch, staatliche Subventionen wurden gekürzt, die Infrastruktur
brach zusammen, und die Deregulierung des Getreidemarktes und der Zustrom von Nahrungsmittel-»Hilfen« führten zur Verarmung der bäuerlichen
Gemeinden.4
In dieser Zeit eigneten sich außerdem Staatsbedienstete, Armeeoffiziere
und Kaufleute mit guten Beziehungen zur Regierung einen Großteil des besten Ackerbaulandes an.5 Statt die Nahrungsmittelproduktion für den heimischen Markt zu fördern, ermutigten die Kreditgeber den Anbau so genannter »hochwertiger« landwirtschaftlicher Exportprodukte – Obst, Gemüse,
Ölsamen und Baumwolle – auf dem besten bewässerten Land.
Der Zusammenbruch der Viehwirtschaft. In den frühen 80er Jahren
stiegen zudem als Folge der Währungsabwertung die Preise für importierte
Tierarzneimittel. Die Weltbank ermutigte dazu, von den Hirtennomaden
Gebühren für Veterinärleistungen zu erheben, auch für die Impfung des
Viehs. Ein privater Markt für Tiermedikamente wurde gefördert. Die Funktionen, die das Viehministerium bei der Gesundhaltung der Viehbestände
ausgeübt hatte, wurden zurückgeschraubt, und die Kosten seiner tierärztlichen Labordienstleistungen sollten in vollem Umfang durch Gebühren gedeckt werden. Der Weltbank zufolge »sind die Veterinärleistungen für die
Entwicklung des Viehs in allen Regionen entscheidend und können weitgehend vom Privatsektor erfüllt werden… Da nur wenige Tierärzte in entlegenen Weidegebieten praktizieren werden, wird eine verbesserte Versorgung
des Viehs auch von >Para-Veterinären< abhängen, die aus Arzneiverkäufen
bezahlt werden.«6
Die Privatisierung der veterinärmedizinischen Versorgung war verbunden
mit fehlenden Notreserven für die Fütterung des Viehs in Dürrezeiten, der
Kommerzialisierung der Wasserversorgung und der Vernachlässigung von
Erhaltungsmaßnahmen für Wasser und Weideland. Die Ergebnisse waren
absehbar: Die Herden wurden dezimiert, der Anteil der Hirtennomaden an
der Bevölkerung ging zurück. Das versteckte Ziel dieses Programms bestand darin, die Nomaden mit ihrer traditionellen Tauschwirtschaft zu beseitigen. Die Weltbank bewertet die »Anpassungen« der Herdengrößen – also
die Abnahme der Viehbestände – in den Subsaharastaaten grundsätzlich
positiv, da sie die Herden einseitig als Ursache für Umweltzerstörungen betrachtet.7
Der Zusammenbruch der veterinärmedizinischen Versorgung diente indirekt den Interessen der reichen Länder: Als 1984 in Somalia die Rinderpest
ausbrach, importierten Saudi-Arabien und die Golfstaaten schlagartig kein
Vieh mehr aus Somalia und bezogen ihr Rindfleisch stattdessen aus Australien und der EU. Der Bann auf Viehimporte aus Somalia wurde jedoch nicht
aufgehoben, als die Epidemie vorüber war.
Die Zerstörung des Staates. Die Umstrukturierung der Staatsausgaben
unter Aufsicht von IWF und Weltbank spielte auch eine entscheidende Rolle
bei der Zerstörung der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelproduktion. Die
Agrarinfrastruktur brach zusammen und die Ausgaben für die Landwirtschaft sanken im Vergleich zu Mitte der 70er Jahre um etwa 85 Prozent. Der
IWF hinderte die somalische Regierung daran, die heimischen Ressourcen
zu mobilisieren. Es wurden strenge Ziele zur Begrenzung des Haushaltsdefizits festgelegt. »Hilfe« gewährten die Kreditgeber außerdem nicht in Form
von Kapital und Ausrüstungsgütern, sondern nur als Nahrungsmittelhilfe,
die dann vom Staat auf dem heimischen Markt verkauft wurde, um damit
einen Fonds zu alimentieren, aus dem Entwicklungsprojekte finanziert werden konnten. So wurde der Verkauf von Nahrungsmittelhilfe die Haupteinnahmequelle des Staates, wodurch die Kreditgeber in die Lage kamen, den
gesamten Haushalt zu kontrollieren.
Durch die Wirtschaftsreformen brachen die Gesundheits- und Erziehungsprogramme zusammen. Bis 1989 nahmen die Ausgaben im Gesundheitswesen im Vergleich zum Niveau von 1978 um 78 Prozent ab. Im Bildungsbereich beliefen sich nach Zahlen der Weltbank die wiederkehrenden Ausgaben pro Schüler 1989 nur noch auf etwa vier Dollar im Jahr – 1982 waren
es 82 Dollar im Jahr. Von 1981 bis 1989 sanken die Schülerzahlen trotz
eines beträchtlichen Anstiegs der Kinder im schulfähigen Alter um 41 Prozent. Schulbücher und Unterrichtsmaterialien verschwanden aus den Klassenzimmern. Der Zustand der Schulgebäude verschlechterte sich, fast ein
Viertel der Grundschulen wurde geschlossen, und die Gehälter der Lehrer
sanken auf ein jämmerliches Niveau.
Das Programm von IWF und Weltbank führte die somalische Wirtschaft in
einen Teufelskreis: Durch die Dezimierung der Herden brach unter den Hirtennomaden Hunger aus, was wiederum die Getreideerzeuger zu spüren
bekamen, die ihre Erzeugnisse an sie verkauften oder gegen Vieh tauschten. Das gesamte soziale Geflecht der Weidewirtschaft war zerstört. Der
Zusammenbruch der Deviseneinnahmen durch die sinkenden Viehexporte
und Geldüberweisungen der somalischen Arbeiter aus den Golfstaaten belastete die Zahlungsbilanz und den Staatshaushalt und führte zum Zusammenbruch der staatlichen Wirtschafts- und Sozialprogramme.
Die Kleinbauern ihrerseits wurden durch die Dumpingpreise des subventionierten US-Getreides auf dem heimischen Markt und den Kostenanstieg
der landwirtschaftlichen Einsatzgüter verdrängt. Weil die Stadtbevölkerung
verarmte, schrumpfte auch der Nahrungsmittelverbrauch. Die staatliche
Unterstützung für die Bewässerung der Anbauflächen wurde eingestellt, und
die staatlichen Farmen sollten unter Aufsicht der Weltbank geschlossen oder
privatisiert werden.
Nach Schätzungen der Weltbank waren die Gehälter im öffentlichen
Dienst bis 1989 im Vergleich zu 1975 um 90 Prozent gesunken. Das Durchschnittsgehalt im öffentlichen Sektor war auf drei Dollar im Monat gefallen,
was in der Summe nur 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachte.
Zwar schlug die Weltbank eine Anhebung der Gehälter vor, aber dieses Ziel
sollte bei gleichem Budget durch die Entlassung von 40 Prozent der Staatsbediensteten und die Beseitigung von Zusatzvergütungen erreicht werden.
Mit diesem Plan wäre der öffentliche Dienst in einem Land mit sechs Millionen Einwohnern bis 1995 auf nur 25.000 Beschäftigte geschrumpft. Mehrere Kreditgeber bekundeten reges Interesse an der Finanzierung der Kosten
zur Reduzierung der Staatsbediensteten.
Um das drohende Desaster abzuwenden, unternahm die internationale
Runde der Kreditgeber den Versuch, die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur des Landes wiederherzustellen, die Kaufkraft zu stärken und den
öffentlichen Dienst wieder aufzubauen: Die makroökonomischen Anpassungsmaßnahmen, die sie im Jahr vor dem Zusammenbruch der Regierung
von General Siad Barre im Januar 1991 auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges vorschlugen, verlangten jedoch eine weitere Reduzierung der öffentlichen Ausgaben, die Umstrukturierung der Zentralbank, die Liberalisierung
des Kreditwesens (die den Privatsektor praktisch ruinierte) und die Auflösung der meisten Staatsunternehmen.
1989 betrugen die Verpflichtungen aus dem Schuldendienst 194,6 Prozent der Exporteinnahmen. Der Kredit des IWF wurde wegen des Zahlungsrückstands Somalias gestrichen. Die Weltbank stimmte im Juni 1989 einem
Strukturanpassungskredit in Höhe von 70 Mio. Dollar zu, dessen erste Tranche zwar noch ausbezahlt, dessen zweite aufgrund der schlechten makroökonomischen Leistung Somalias ein paar Monate später eingefroren und
der im Januar 1991, nach dem Zusammenbruch der Regierung von Siad
Barre, ganz gestrichen wurde. Die Zahlungsrückstände an die Kreditgeber
sollten vor Bewilligung neuer Kredite und Umschuldungsverhandlungen erst
einmal beglichen werden. Somalia steckte in der Zwangsjacke von Schuldendienst und struktureller Anpassung.
Die somalische Lektion. Die somalische Erfahrung zeigt, wie ein Land
durch die gleichzeitige Gewährung von Nahrungsmittelhilfe und die Durchführung makroökonomischer Reformen nach dem Muster von IWF und
Weltbank verwüstet werden kann. Es gibt viele Somalias in der unterentwickelten Welt, und das hier durchgeführte Wirtschaftsreformpaket ähnelt
denen, die in über hundert Entwicklungsländern durchgesetzt wurden. Aber
es gibt noch einen weiteren bedeutsamen Aspekt: In ganz Afrika zerstören
IWF- und Weltbankprogramme die nomadische und kommerzielle Viehhaltung in ähnlicher Weise wie in Somalia. Der (zollfreie) Import von subven-
tioniertem Rindfleisch und Milchprodukten aus der EU hat zur Vernichtung
der afrikanischen Weidewirtschaft geführt. Europäische Rindfleischimporte
nach Westafrika nahmen seit 1984 um das Siebenfache zu: »EU-Rindfleisch
von niedriger Qualität wird zum halben Preis des lokal produzierten Fleisches verkauft. Die Herdenbesitzer in der Sahelzone müssen die Erfahrung
machen, dass niemand ihre Herden kaufen will. «8
Die Erfahrungen Somalias zeigen, dass Hunger im späten 20. Jahrhundert keine Konsequenz von Nahrungsmittelknappheit ist. Im Gegenteil,
Hungersnöte werden durch das globale Überangebot von Getreide ausgelöst. Seit den 80er Jahren ist der Getreidemarkt unter Aufsicht der Weltbank dereguliert, sind die US-Getreideüberschüsse systematisch eingesetzt
worden, um die Bauern zu ruinieren und die nationale Nahrungsmittelproduktion zu destabilisieren, die unter diesen Umständen viel verwundbarer
gegenüber den Wechselfällen von Dürren und Umweltkrisen wird.
Auf dem ganzen Kontinent richtete sich das Muster der »sektoralen Anpassung« in der Landwirtschaft unter Aufsicht der Bretton-WoodsInstitutionen unzweideutig auf die Zerstörung einer gesicherten Ernährung.
Die Abhängigkeit vom Weltmarkt wurde verstärkt, die Nahrungsmittelhilfe
für die Subsaharastaaten wuchs seit 1974 um mehr als das Siebenfache,
und die kommerziellen Getreideimporte haben sich mehr als verdoppelt.
Zwischen 1974 und 1993 stiegen die Getreideimporte in die Subsaharastaaten von 3,72 Mio. Tonnen auf 8,47 Mio. Tonnen und nahm die Nahrungsmittelhilfe von 910.000 Tonnen auf 6,64 Mio. Tonnen zu.9
Die Nahrungsmittelhilfe blieb jedoch nicht mehr nur auf die Dürreländer
des Sahelgürtels beschränkt, sondern floss auch in Länder, die sich bis vor
kurzem mehr oder weniger selbst mit Nahrungsmitteln versorgen konnten.
Simbabwe, das einst als Brotkorb Südafrikas galt, wurde 1992 von der
Hungersnot und Dürre im südlichen Afrika hart getroffen. Die Ernteerträge
von Mais, der vor allem in den weniger fruchtbaren Landesteilen angebaut
wird, sanken um 90 Prozent. Doch ironischerweise erlebte der für den Export angebaute Tabak – unterstützt durch moderne Bewässerung, Kredite
und Forschung – auf der Höhe der Dürre eine prächtige Ernte.10 Während
der Hunger die Bevölkerung zwang, Termiten zu essen, floss ein Großteil
der Exporteinnahmen von Simbabwe in den Schuldendienst der Auslandsschulden.
Unter den Strukturanpassungen gaben die Bauern zunehmend den traditionellen Nahrungsfeldbau auf. In Malawi, einst ein Nettoexporteur von Nahrungsmitteln, fiel die Maisproduktion 1992 um 40 Prozent, während sich der
Tabakanbau zwischen 1986 und 1993 verdoppelte. 150.000 Hektar besten
Landes wurden für die Tabakkultivierung umgewidmet.11 In den gesamten
80er Jahren wurden afrikanischen Staaten strenge Sparmaßnahmen aufgezwungen. Die Ausgaben für die ländliche Entwicklung wurden drastisch gekürzt, was zum Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Infrastruktur führte. Das Weltbankprogramm machte aus Wasser eine Ware, die kostendekkend an verarmte Bauern verkauft wurde. Aufgrund fehlender Mittel waren
die Staaten gezwungen, sich aus der Bewirtschaftung und Bewahrung der
Wasserressourcen zurückzuziehen. Wasserstellen und Bohrbrunnen trockneten aufgrund mangelnder Wartung aus oder wurden privatisiert und an lokale Händler oder reiche Bauern verkauft. In semiariden Gebieten führt diese Kommerzialisierung des Wassers und der Bewässerungsanlagen zum
Zusammenbruch der gesicherten Nahrungsmittelversorgung und zu Hungersnöten.12
Zwar spielen bei Hungersnöten auch klimatische Faktoren eine Rolle,
doch die Hungersnöte im Zeitalter der Globalisierung sind von Menschen
gemacht. Sie sind nicht die Folge von Nahrungsmittelknappheit, sondern
einer Struktur des globalen Überangebots, das die gesicherte Nahrungsmittelversorgung untergräbt und die nationale Produktion von Nahrungsmitteln
in den armen Ländern zerstört. Gesteuert vom internationalen Agrarbusiness führt dieses Überangebot letztlich zur Verarmung der Bauern auf der
ganzen Welt. Darüber hinaus sind es die Strukturanpassungsprogramme
von IWF und Weltbank, die in direkter Beziehung zu den Ursachen von
Hunger stehen, weil sie alle Bereiche der Wirtschaftstätigkeit in den Städten
und auf dem Land systematisch untergraben, die nicht direkt den Interessen des globalen Marktsystems dienen.
7. Wirtschaftlicher Völkermord in Ruanda
Die ruandische Krise, die 1994 zu den ethnischen Massakern führte, wurde
in den westlichen Medien als Epos menschlichen Leids dargestellt, doch was
die Journalisten dabei sorgfältig übersahen, waren ihre sozialen und wirtschaftlichen Ursachen. In unseren Breiten hält man ethnische Konflikte und
Bürgerkriege für beinahe unvermeidliche und typische Etappen von Gesellschaften, die auf dem schmerzlichen Weg von Ein-Parteien-Staaten zu demokratischen Systemen und freien Märkten sind. Die Brutalität der Massaker schockierte die Weltöffentlichkeit, aber was die internationalen Medien
verschwiegen, war die tiefe Wirtschaftskrise, die dem Bürgerkrieg vorausging. Tatsächlich aber hatte die Umstrukturierung der Landwirtschaft unter
Aufsicht von IWF und Weltbank die Bevölkerung in bittere Armut und Verelendung gestürzt.
Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, die unmittelbar auf den
Zusammenbruch des internationalen Kaffeemarktes und die Durchsetzung
umfassender makroökonomischer Reformen durch die Bretton-WoodsInstitutionen folgte, verschlimmerte die köchelnden ethnischen Spannungen
und beschleunigte den politischen Zusammenbruch des Landes. 1987 begann das Quotensystem des internationalen Kaffeeabkommens zu bröckeln,
die Weltpreise stürzten in den Keller, und der staatliche Fonds d´Égalisation
zur Stabilisierung der Kaffeepreise, der den ruandischen Kaffeebauern Festpreise garantierte, musste sich erheblich verschulden. Als das Kaffeeabkommen 1989 auf politischen Druck Washingtons zugunsten großer USKaffeehändler vollends scheiterte und der Kaffeepreis verfiel, versetzte das
der Wirtschaft Ruandas einen tödlichen Schlag. Nach einem historischen
Treffen der Kaffeeproduzenten in Florida stürzten die Kaffeepreise innerhalb
von Monaten um mehr als 50 Prozent.13 Für Ruanda und mehrere andere
afrikanische Länder war der Absturz der Preise vernichtend. Die Erzeugerpreise fielen auf weniger als fünf Prozent des US-Einzelhandelspreises. Der
Verfall der internationalen Kaffeepreise ermöglichte es den reichen Ländern,
enorme Gewinne auf Kosten der direkten Erzeuger zu machen.
Das Erbe des Kolonialismus. Worin liegt die Verantwortung des Westens
für diese Tragödie? Erstens ist zu betonen, dass der Konflikt zwischen den
Volksgruppen der Hutu und Tutsi in Ruanda weitgehend eine Folge des Kolonialsystems war, von dem sich bis heute noch viele Merkmale erhalten
haben. Seit dem späten 19. Jahrhundert hatte die frühe deutsche Kolonialbesatzung den in Nyanza residierenden Tutsi-König (mwami) benutzt,
um Militärposten zu etablieren. Es war jedoch vor allem die von den Belgiern 1926 durchgeführte Verwaltungsreform, die entscheidend die sozio-
ethnischen Beziehungen Ruandas formte. Die Belgier machten sich die Konflikte zwischen den Hutu und Tutsi gezielt zunutze, um ihre territorialen
Ansprüche durchzusetzen. Die traditionellen Häuptlinge wurden von der
Kolonialadministration benutzt, um Zwangsarbeiter zu rekrutieren. Die
Häuptlinge übernahmen für die Kolonialherren Auspeitschungen und andere
körperliche Züchtigungen. Solche Bestrafungen wurden unter direkter Aufsicht des belgischen Kolonialverwalters vorgenommen, der für das jeweilige
Gebiet zuständig war. Ein Klima der Angst und des Misstrauens breitete sich
aus, die Solidarität in den Gemeinden brach zusammen, und die traditionellen Klientelbeziehungen wurden missbraucht, um den Interessen der Kolonialisten zu dienen. Das Ziel war, ethnische Rivalitäten zu nähren, um politische Kontrolle zu gewinnen und die Solidarisierung der beiden ethnischen
Gruppen der Tutsi und Hutu zu unterbinden, die sich unweigerlich gegen
das Kolonialregime gerichtet hätte. Der dynastische Tutsi-Adel erhielt außerdem die Verantwortung für die Steuereintreibung und die Rechtsprechung. Die Wirtschaft der Gemeinden wurde unterminiert, indem die Belgier
die Bauern zwangen, statt Nahrungspflanzen »Kolonialwaren« anzubauen.
Gemeindeland wurde in Privatland umgewandelt, das ausschließlich mit Exportpflanzen kultiviert wurde, den so genannten cultures obligatoires.14
Historiker wurden von der Kolonialregierung mit der Aufgabe betraut, die
mündliche Überlieferung von Ruanda Urundi aufzuzeichnen und zu verzerren. Die historische Erinnerung wurde verfälscht: Die Monarchie des mwami
wurde ausschließlich mit der Tutsi-Dynastie identifiziert, während man die
Hutu als beherrschte Kaste darstellte.15 Ausweise wurden ausgegeben, auf
denen die »ethnische Zugehörigkeit« verzeichnet war, die willkürlich festgelegt wurde: Tutsi waren alle Viehbesitzer, Hutu alle Bauern.
Aus den aufgezwungenen sozioethnischen Gegensätzen entwickelten die
Belgier eine neue soziale Klasse, die so genannten »nègres évolués«, die
sich aus der Tutsi-Aristokratie rekrutierten. Die Kolonialmacht führte zudem
ein Schulsystem ein, um die Söhne der Häuptlinge zu erziehen und das afrikanische Personal heranzubilden, das sie brauchte. Auch die verschiedenen
christlichen Missionen und Gemeinden wurden für die Zwecke der belgischen Kolonialherrschaft eingespannt. Die Geistlichen drängten die Bauern
z.B. häufig, sich auf Exportkultivierung umzustellen. Die ethnischen Gegensätze, die seit den 20er Jahren in der ruandischen Bevölkerung genährt
wurden, haben bis heute tiefe Spuren hinterlassen.
Seit der Unabhängigkeit 1962 wurden die Beziehungen zur ehemaligen
Kolonialmacht und zu den internationalen Kreditgebern weit komplexer.
Aber bei allen militärischen, wirtschaftlichen und humanitären Interventionen, die seit Beginn des Bürgerkrieges 1990 unternommen wurden, blieb es
das Hauptziel, nach dem Prinzip »Teile und herrsche« eine Volksgruppe gegen die andere auszuspielen. Die Krise in Ruanda wurde Gegenstand ständiger Konferenzen der Kreditgeber in Paris, von Waffenstillstandsvereinbarungen und Friedensgesprächen. Die Gebergemeinschaft überwachte und
koordinierte die verschiedenen Initiativen mit einem Geflecht von Bedingungen und Gegenbedingungen. Die Freigabe von multilateralen und bilate-
ralen Darlehen seit Ausbruch des Bürgerkrieges wurde von der Bedingung
abhängig gemacht, einen Demokratisierungsprozess unter strenger Aufsicht
der Geber in Gang zu setzen. Die westliche Hilfe für die Unterstützung einer
Mehrparteiendemokratie wiederum war in einer fast symbiotischen Beziehung davon abhängig, ob die ruandische Regierung eine Einigung mit dem
IWF erzielte usw. Diese Bemühungen waren um so illusorischer, als die tatsächliche politische Macht in Ruanda seit dem Zusammenbruch des Kaffeemarktes 1989 weitgehend bei den Geldgebern lag. Ein Kommunique des
US-Außenministeriums von Anfang 1993, das die Fortsetzung der bilateralen Hilfe der USA an den Reformwillen der Regierung und an Fortschritte bei
der Demokratisierung knüpfte, illustriert die Situation lebhaft.
Das im August 1993 unterzeichnete Arusha-Friedensabkommen beruhte
auf einer bloß formalen Gleichstellung der Ethnien und war, wie die Gebergemeinschaft sehr wohl wusste, von Beginn an zum Scheitern verurteilt.
Die brutale Verarmung der Bevölkerung, verursacht durch den Krieg ebenso
wie durch die IWF-Reformen, schloss einen echten Demokratisierungsprozess aus. Das Abkommen sollte die Bedingungen für »gute
Regierungsführung« (good governance) schaffen – ein neuer Begriff im Vokabular der Geber – und unter der Schirmherrschaft der ausländischen
Gläubiger Ruandas die Bildung einer Scheinkoalitionsregierung aus mehreren Parteien ermöglichen. Tatsächlich heizte das formale Konzept der Mehrparteiendemokratie, das die Geber in Ruanda verwirklicht sehen wollten, die
Gegensätze unter den verschiedenen politischen Fraktionen des Regimes
nur noch weiter an. Wenig überraschend kündigte die Weltbank an, die
Auszahlung der ausgehandelten Kredite auszusetzen, als die Friedensverhandlungen zum Stillstand kamen.16
Die Wirtschaft seit der Unabhängigkeit. Die Entwicklung des postkolonialen Systems spielte eine entscheidende Rolle für die Vorgeschichte der
ruandischen Krise. Obwohl es tatsächlich Erfolge bei der Diversifizierung der
nationalen Wirtschaft gab, blieb die kolonial geprägte, auf Kaffee beruhende
Exportwirtschaft, die von der belgischen Verwaltung eingeführt worden war,
weitgehend erhalten und sorgte für 80 Prozent der ruandischen Deviseneinnahmen. Es bildete sich eine Rentier-Klasse mit Interessen im Kaffeehandel
und engen Verbindungen zur politischen Macht heraus. Das Armutsniveau
war hoch, doch während der 70er und der ersten Hälfte der 80er Jahre
wurden dennoch wirtschaftliche und soziale Erfolge erzielt: Das reale Bruttoinlandsprodukt wuchs von 1965 bis 1989 um durchschnittlich 4,9 Prozent
im Jahr, wesentlich mehr Kinder erhielten eine Schulbildung, und die Inflation gehörte mit weniger als vier Prozent im Jahr zu den niedrigsten in den
Subsaharastaaten.17
Obwohl die Landwirtschaft Ruandas mit starkem demografischen Druck –
3,2 Prozent Bevölkerungswachstum pro Jahr –, Fragmentierung der Landparzellen und Bodenerosion zu kämpfen hatte, konnte sie neben der Entwicklung der Exportwirtschaft auf lokaler Ebene bis zu einem gewissen Grad
die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln sichern. Kaffee wurde von annä-
hernd 70 Prozent der ländlichen Betriebe angebaut, machte jedoch nur einen kleinen Anteil des Gesamteinkommens aus. Es hatte sich eine Vielzahl
anderer Einnahmequellen entwickelt, darunter der Verkauf traditioneller
Grundnahrungsmittel und von Bananenbier auf den städtischen Märkten.18
Bis in die späten 80er Jahre waren die Importe von Getreide einschließlich
der Nahrungsmittelhilfen im Vergleich zu anderen Ländern in der Region
minimal. Die Situation begann sich jedoch Anfang der 80er Jahre mit einer
deutlichen Abnahme der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln pro Kopf der
Bevölkerung zu verschlechtern. Bis zu dieser Zeit waren die lokalen Produzenten – in offenem Gegensatz zur üblichen Handelsliberalisierung, die die
Weltbank forderte – durch Importbeschränkungen für Nahrungsmittel geschützt.19 Mit der Durchführung des Strukturanpassungsprogramms 1990
wurde dieser Schutz jedoch aufgehoben.
Die wirtschaftlichen Grundlagen des ruandischen Staates nach der Unabhängigkeit blieben extrem fragil. Ein großer Anteil der Staatseinnahmen
hing vom Kaffee ab, mit dem Risiko, dass ein Verfall der Kaffeepreise eine
Krise der Staatsfinanzen auslösen würde. Als die Schuldenkrise begann,
floss ein größerer Teil der Erlöse aus dem Kaffee- und Teeverkauf in den
Schuldendienst, und der Druck auf die Kleinbauern erhöhte sich weiter.
Die Exporteinnahmen gingen zwischen 1987 und 1991 um 50 Prozent zurück. Dies führte zu einem Zerfall staatlicher Institutionen. Als die Kaffeepreise abstürzten, brach auf dem Land überall Hunger aus. Nach den Zahlen der Weltbank schrumpfte zwischen 1981 bis 1986 das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lediglich um 0,4 Prozent, aber zwischen 1987 und
1991, also nach dem Einbruch des Kaffeemarktes, um 5,5 Prozent.
Die Intervention von IWF und Weltbank. Im November 1988 reiste
eine Delegation der Weltbank nach Ruanda, um die öffentlichen Ausgaben
des Landes zu überprüfen. Sie sprach eine Reihe von Empfehlungen aus,
um Ruanda wieder auf den Pfad nachhaltigen Wachstums zu bringen. Die
Weltbankdelegation präsentierte der Regierung zwei mögliche Szenarien.
Das erste mit dem Titel »Kein Strategiewandel« behandelte die Option, das
alte System staatlicher Planung beizubehalten, während das zweite – »
Strategiewandel « – die Schritte zu einer makroökonomischen Reform und
einen »Übergang zum freien Markt« beschrieb. Nach sorgfältigen ökonomischen »Simulationen« der möglichen Resultate kam die Weltbank mit einem
Schuss Optimismus zu dem Schluss, dass bei der Annahme des zweiten
Szenarios in Ruanda das Niveau des Verbrauchs zwischen 1989 und 1993
deutlich steigen würde, die Handelsbilanz verbessert werden könnte und die
Investitionen zunähmen. Die Berechnungen legten auch eine bessere Exportleistung und eine substanziell niedrigere Außenverschuldung nahe. Diese Ziele sollten erreicht werden, wenn die üblichen Rezepte angewandt
würden: Handelsliberalisierung und Abwertung, Beendigung staatlicher
Subventionen für die Landwirtschaft, also vor allem die Auflösung des staatlichen Fonds zur Stützung des Kaffeepreises (Fonds d’Égalisation), Privatisierung von Staatsunternehmen und Entlassung von Staatsbediensteten.
Das Szenario des Strategiewandels setzte sich durch. Die Regierung hatte, angesichts der Verheißung eines Schuldenerlasses von 46 Mio. Dollar
(der dann auch 1989 gewährt wurde), keine Wahl. Im November 1990 wurde der ruandische Franc um 50 Prozent abgewertet, kaum sechs Wochen
nach dem Einfall der Rebellenarmee der Patriotischen Front Ruandas (FPR)
aus Uganda.
Die Entwertung sollte den Kaffeeexporten einen Schub geben. Sie wurde
der Öffentlichkeit als Mittel zur Wiederbelebung der vom Krieg verwüsteten
Wirtschaft präsentiert. Es war nicht überraschend, dass genau das Gegenteil eintrat und die schon durch den Bürgerkrieg schwierige Lage noch
schlimmer wurde. Nach relativer Preisstabilität löste die Abwertung des ruandischen Franc eine Inflation und den Zusammenbruch der Reallöhne aus.
Ein paar Tage nach der Abwertung wurden beträchtliche Preiserhöhungen
für Kraftstoff und Güter des Grundbedarfs bekannt gegeben. Der Verbraucherpreisindex stieg von 1,0 Prozent 1989 auf 19,2 Prozent 1991. Die Zahlungsbilanz verschlechterte sich dramatisch, und die Auslandsverschuldung,
die sich seit 1985 bereits verdoppelt hatte, stieg zwischen 1989 und 1992
um weitere 34 Prozent auf insgesamt 804,3 Mio. Dollar. Der staatliche Verwaltungsapparat war in Unordnung, die Staatsunternehmen wurden in den
Bankrott getrieben und der öffentliche Dienst brach zusammen.20 Gesundheits- und Erziehungssystem hielten dem Druck der vom IWF auferlegten
Sparmaßnahmen nicht stand: Trotz der von den Kreditgebern unterstützten
flankierenden Sozialausgaben erhöhte sich die Mangelernährung bei Kindern
dramatisch; die Zahl der Malariafälle nahm im Jahr nach Beginn des IWFProgramms um 21 Prozent zu, vor allem aufgrund fehlender Arzneimittel in
den öffentlichen Gesundheitsstationen; und die Einführung von Schulgebühren für die Grundschule führte zu einem massiven Rückgang der Schülerzahlen.21
Die Wirtschaftskrise erreichte 1992 ihren Höhepunkt, als die ruandischen
Bauern aus Verzweiflung an die 300.000 Kaffeesträucher ausrissen.22 Trotz
der steil ansteigenden Preise auf dem Inlandsmarkt hatte die Regierung den
Erzeugerpreis von Kaffee nach der Vereinbarung mit IWF und Weltbank auf
dem Niveau von 1989 eingefroren (125 ruandische Franc pro Kilo). Der Regierung war es aufgrund der Kreditbedingungen der Weltbank nicht erlaubt,
staatliche Mittel für den Fonds d’Égalisation bereitzustellen. Außerdem erhöhten die lokalen Kaffee- und Zwischenhändler ihre Gewinnmargen erheblich, was die Kaffeebauern noch stärker unter Druck setzte.
Im Juni 1992 ordnete der IWF eine weitere Abwertung an, die auf der
Höhe des Bürgerkrieges zu einer weiteren Preisexplosion bei Kraftstoff und
Grundbedarfsgütern führte.23 Die Kaffeeproduktion ging in einem einzigen
Jahr um weitere 25 Prozent zurück. Aber für die Bauern war es nicht einfach, zur Kultivierung von Nahrungspflanzen zurückzukehren. Die letzten
Erlöse aus dem Kaffeeanbau reichten kaum noch aus, um Nahrungsmittel
zu kaufen, und auch landwirtschaftliche Einsatzgüter wurden aufgrund der
gesunkenen Einnahmen der Produzenten immer unerschwinglicher. Die Krise der Kaffeewirtschaft schlug daher auf die Produktion traditioneller
Grundnahrungsmittel
zurück,
was
zu
einem
erheblichen
Produktionsrückgang von Maniok, Bohnen und Sorghumhirse führte. Das Sparkassensystem der Kooperativen, das Kredite für Kleinbauern bereitstellte,
zerfiel ebenfalls. Durch die von IWF und Weltbank empfohlene Liberalisierung des Handels und die Deregulierung des Getreidemarktes gelangten
hoch subventionierte Importe billiger Nahrungsmittel aus den reichen Ländern nach Ruanda und destabilisierten die lokalen Märkte.
Unter dem System des »freien Marktes«, das Ruanda aufgezwungen
wurde, geriet die gesamte Landwirtschaft in eine Krise. Die Unordnung des
staatlichen Verwaltungsapparats verdankte sich nicht nur dem Bürgerkrieg,
sondern war auch das Ergebnis der Sparmaßnahmen und der sinkenden
Gehälter im öffentlichen Dienst – eine Situation, die zwangsläufig das Klima
allgemeiner Unsicherheit verschärfte.
Der Ernst der Situation in der Landwirtschaft wurde ausführlich von der
Food and Agriculture Organization (FAO) dokumentiert, die vor weit verbreitetem Hunger in den Südprovinzen warnte.24 Ihr Anfang 1994 veröffentlichter Bericht wies auf den totalen Zusammenbruch der Kaffeeproduktion als
Ergebnis des Krieges und der Schwächung des staatlichen Vermarktungssystems hin, das mit Unterstützung der Weltbank abgebaut wurde. Rwandex,
die halbstaatliche Firma zur Verarbeitung und für den Export des Kaffees,
hatte den Betrieb weitgehend eingestellt.
Die Entscheidung zur Abwertung war bereits am 17. September 1990
noch vor Ausbruch der Feindseligkeiten bei einem hochrangigen Treffen in
Washington zwischen IWF und einer Delegation unter Leitung des ruandischen Finanzministers Benoît Ntigurirwa gefallen. Der IWF gab grünes Licht:
Schon Anfang Oktober, als gerade die Kämpfe begannen, flossen Millionen
von Dollar so genannter »Zahlungsbilanzhilfe« in die Kassen der ruandischen Zentralbank. Diese von der Zentralbank verwalteten Mittel hatten die
Geber für Warenimporte vorgesehen, doch wahrscheinlich wurde ein beträchtlicher Teil dieser Sofortmittel vom Regime (und seinen verschiedenen
politischen Fraktionen) in Waffenkäufe aus Südafrika, Ägypten und Osteuropa umgeleitet.25 Der Kauf von Kalaschnikows, schwerer Artillerie und Granatwerfern vollzog sich im Rahmen des bilateralen militärischcn Hilfspakets,
das Frankreich gewährte. Dazu gehörten unter anderem Milan- und ApilaRaketen, ganz zu schweigen von einem Mystère-Falcon-Jet für den persönlichen Gebrauch von Präsident Juvénal Habyarimana.26 Seit Oktober 1990
wurde die Stärke der Streitkräfte darüber hinaus praktisch über Nacht von
5000 auf 40.000 Mann erhöht, was unter den Bedingungen sparsamer
Haushaltsführung unweigerlich einen beträchtlichen Zustrom ausländischer
Gelder erforderte. Die neuen Soldaten rekrutierten sich weitgehend aus den
Scharen städtischer Arbeitsloser, deren Zahl seit dem Zusammenbruch des
Kaffeemarktes 1989 dramatisch angeschwollen war. Tausende von Straftätern und müßigen Jugendlichen aus einer entwurzelten Bevölkerung wurden
in die zivile, aber von den Streitkräften organisierte und bewaffnete Miliz
eingezogen, die für die Massaker verantwortlich war.
Insgesamt waren seit Beginn der Feindseligkeiten, die zeitlich mit der
Abwertung und dem ersten »Schwall« frischen Geldes im Oktober 1990 zusammenfielen, 260 Mio. Dollar zur Auszahlung freigegeben worden, mit
beträchtlichen bilateralen Beiträgen von Frankreich, Deutschland, Belgien,
der EU und den USA. Während die neuen Kredite teilweise in den Schuldendienst und in die Aufrüstung des Militärs flossen, deutet vieles darauf hin,
dass der Großteil der Hilfsmittel weder produktiv verwendet noch zur Linderung des Hungers in den betroffenen Gebieten benutzt wurde.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Weltbank durch ihre für zinsgünstige Kredite zuständige Tochter, die International Development Association (IDA), 1992 die Privatisierung des ruandischen Staatsunternehmens
Electrogaz angeordnet hatte. Der Erlös aus dieser Privatisierung war eigentlich dem Schuldendienst vorbehalten. In einer Kreditvereinbarung, die von
der Europäischen Investitionsbank und der Caisse Francaise de Développement mitfinanziert wurde, sollte die ruandische Regierung nach Erfüllung
der Kreditbedingungen die bescheidene Summe von 39 Mio. Dollar zurückerhalten, um sie nach freiem Ermessen für Warenimporte zu verwenden.27 Die auf der Höhe des Bürgerkrieges durchgeführte Privatisierung
schloss auch Entlassungen von Mitarbeitern und einen sofortigen Anstieg
des Elektrizitätspreises ein, was zusätzlich dazu beitrug, den öffentlichen
Dienst in den Städten zu lähmen. Eine ähnliche Privatisierung wurde bei
Rwandatel, der staatlichen Telekommunikationsfirma, im September 1993
durchgeführt.28
Die Weltbank überprüfte sorgfältig die Projektanträge Ruandas für öffentliche Investitionen und empfahl, diese Liste auf die Hälfte zusammenzustreichen. Vor allem für die Landwirtschaft verlangte sie eine erhebliche
Verringerung der staatlichen Investitionen, darunter des Landgewinnungsprogramms, mit dem die Regierung begonnen hatte, Sümpfe trockenzulegen, um dem ernsten Mangel an Ackerland abzuhelfen – für die
Weltbank ein »unprofitables« Unterfangen.
Die Weltbank würde zweifellos behaupten, dass die Lage noch erheblich
schlimmer geworden wäre, wenn man sich für das erste Szenario entschieden hätte. Diese Argumentation klingt jedoch im Falle Ruandas besonders
absurd. Die Weltbank bewies keinerlei Feingespür und schenkte den zu erwartenden Auswirkungen ihrer wirtschaftlichen Schocktherapie auf ein Land
am Rande des Bürgerkriegs keinerlei Beachtung. »Nichtökonomische Variablen« schloss sie bewusst aus ihren »Simulationen« aus.
Ein US-Protektorat in Zentralafrika. Seit Beginn des ruandischen Bürgerkrieges 1990 war es das versteckte Ziel Washingtons, eine amerikanische Einflusssphäre in dieser Region zu etablieren, die historisch von Frankreich und Belgien dominiert wird. Um Frankreich zu verdrängen, unterstützten die USA die FPR und sorgten für Bewaffnung und Ausrüstung deren militärischen Arms, der Patriotischen Armee (RPA).
Seit Mitte der 80er Jahre wurde die Regierung des Nachbarlandes Uganda unter Präsident Yoweri Museveni zu Washingtons Vorzeigedemokratie in
Afrika. Uganda wurde auch zur Basis von Guerillabewegungen im Sudan, in
Ruanda und im Kongo. Chef der militärischen Aufklärung der ugandischen
Streitkräfte war Generalmajor Paul Kagame. Kagame lies sich im Army
Command and Staff College in Leavenworth im US-Bundesstaat Kansas
ausbilden, das sich auf Kriegführung und Militärstrategie spezialisiert hat,
und kehrte 1990, kurz nach dem Einfall der RPA in Ruanda, zurück, um sich
an die Spitze der Truppen zu stellen.
Vor Ausbruch des ruandischen Bürgerkrieges war die RPA tatsächlich Teil
der ugandischen Armee. Erst kurz vor ihrer Invasion in Ruanda im Oktober
1990 konstituierte sie sich als eigene Streitmacht. Über Nacht füllten sich
die Reihen der IFA mit ugandischen Soldaten, übernahmen Tutsi-Offiziere
aus der ugandischen Armee die Führungspositionen. Während des gesamten Krieges erhielt die RPA Nachschub von Militärbasen der ugandischen
Armee in Uganda. Faktisch handelte es sich also um eine Invasion des
ugandischen Militärs, die der Öffentlichkeit dann als Befreiungskrieg einer
von Tutsi geführten Guerillaarmee präsentiert wurde.
Die Militarisierung Ugandas. Die Militarisierung Ugandas war fester
Bestandteil der US-Außenpolitik. Großbritannien und die USA hatten den
Aufbau der ugandischen Armee und der RPA unterstützt. Die Briten sorgten
für die militärische Ausbildung auf dem Militärstützpunkt Jinja: »Seit 1989
unterstützt Amerika gemeinsame Angriffe der FPR und Ugandas auf Ruanda… 1991 gab es mindestens 56 >Situationsberichte< in den Akten des USAußenministeriums… Während die amerikanischen und britischen Beziehungen zu Ruanda stärker wurden, eskalierten die Feindseligkeiten zwischen Uganda und Ruanda… Im August 1990 hatte die FPR begonnen, mit
Wissen und voller Billigung des britischen Geheimdienstes eine Invasion
vorzubereiten.«29
Truppen der RPA und der ugandischen Armee unterstützten auch John
Garangs People’s Liberation Army in ihrem Sezessionskrieg im Südsudan.
Mit versteckter Hilfe der CIA stand Washington fest hinter diesen Initiativen.30
Darüber hinaus wurden ugandische Offiziere im Rahmen der »Africa Crisis Reaction Initiative« auch von US-Spezialkräften in Zusammenarbeit mit
einer Söldnerfirma trainiert – der Military Professional Resources Inc.
(MPRI) –, die gute Kontakte zum US-Außenministerium unterhält. Die MPRI
leistete auch während der jugoslawischen Bürgerkriege sowohl den kroatischen Streitkräften als auch der Kosovo-Befreiungsarmee ähnliche Hilfestellung und trainierte in jüngerer Zeit im Rahmen der US-Militärhilfe das kolumbianische Militär.
Die ugandischen Auslandsschulden. Die makroökonomischen Reformen
in Uganda unter Aufsicht des IWF dienten weitgehend der Verfolgung geopolitischer Ziele der USA. Der Anstieg der Auslandsverschuldung unter Präsident Museveni fiel zeitlich mit den Bürgerkriegen in Ruanda und dem Kongo zusammen. Bei der Wahl Musevenis zum Präsidenten 1986 beliefen sich
die Auslandsschulden auf 1,3 Mrd. Dollar. Mit dem Zustrom frischen Geldes
explodierten die Auslandsschulden 1997 über Nacht auf beinahe das Dreifache, nämlich auf 3,7 Mrd. Dollar. Tatsächlich hatte Uganda zu Beginn seines
»wirtschaftlichen Erholungsprogramms« keine Schulden bei der Weltbank.
1997 dagegen schuldete das Land allein der Weltbank zwei Milliarden Dollar.31
Wohin floss das Geld? Die ausländischen Kredite an die Regierung Musevenis waren für den wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau des Landes
bestimmt. Nach dem langen Bürgerkrieg forderte das vom IWF unterstützte
»wirtschaftliche Stabilisierungsprogramm« die massive Kürzung aller zivilen
Programme.
Im Namen der Kreditgeber überwachte die Weltbank den ugandischen
Haushalt. Im Rahmen des so genannten »Public Expenditure Review« war
die Regierung verpflichtet, die genaue Verwendung der Mittel in jedem Ressort zu offenbaren. jeder einzelne Ausgabenposten – darunter auch das
Budget des Verteidigungsministeriums – unterlag somit der genauen Kontrolle der Weltbank. Doch trotz der Sparmaßnahmen, die alle zivilen Ausgaben betrafen, erlaubten die Kreditgeber dass die Verteidigungsausgaben
ungebremst anstiegen.
Ein Teil des für zivile Programme vorgesehenen Geldes wurde in die Finanzierung der ugandischen Armee umgelenkt, die sich damit an militärischen Operationen in Ruanda und im Kongo beteiligen konnte. Die ugandischen Auslandskredite wurden folglich dazu benutzt, militärische Operationen im Sinne Washingtons zu finanzieren – bezahlen musste die Rechnung
dafür letztlich das ugandische Volk. Tatsächlich hatten die Einsparungen bei
den Sozialausgaben die Umlenkung von Staatseinnahmen zugunsten des
ugandischen Militärs erleichtert.
Die Finanzierung beider Bürgerkriegsparteien. Auch Ruanda unter der
Regierung Habyarimana finanzierte seine Militärausgaben mit Auslandskrediten. In grausamer Ironie wurden so beide Bürgerkriegsparteien von denselben Kreditgebern finanziert, wobei die Weltbank die Aufsicht führte.
Dem Habyarimana-Regime stand ein großes Arsenal militärischer Ausrüstung zur Verfügung, darunter 83 mm-Raketenwerfer, französische Blindicide, belgische und deutsche Kleinwaffen, automatische Gewehre wie Kalaschnikows aus Ägypten, China und Südafrika sowie gepanzerte AML-60und M3-Fahrzeuge.32 Ein Teil der Waffenkäufe wurde durch direkte französische Militärhilfe finanziert; gleichzeitig wurden Kredite der Weltbanktochter IDA, des African Development Fund (AfDF), des European Development
Fund (EDF) sowie Deutschlands, der USA, Belgiens und Kanadas für die
Finanzierung der damaligen Streitkräfte und späteren Interhamwe-Milizen
abgezweigt.
Eine genaue Untersuchung der Regierungsakten, Berichte und der Korrespondenz, die ich 1996 und 1997 in Ruanda gemeinsam mit dem belgischen
Ökonomen Pierre Galand durchführte, bestätigte, dass viele der Waffenkäufe außerhalb der offiziellen Militärhilfeabkommen mit verschiedenen Zwi-
schen- und privaten Waffenhändlern ausgehandelt wurden. Diese Transaktionen – als normale Staatsausgaben verbucht – waren in dem Staatsbudget enthalten, das die Weltbank detailliert kontrollierte. Große Mengen von
Macheten und anderes Gerät, die 1994 bei den Massakern eingesetzt wurden, waren als »zivile Waren« klassifiziert und über reguläre Handelskanäle
eingeführt worden.
Nach den Akten der ruandischen Nationalbank wurden einige der Importe unter Verletzung der mit den Kreditgebern ausgehandelten Verträge finanziert. Importrechnungen der Bank zeigen, dass annähernd eine Million
Macheten über verschiedene Kanäle importiert wurden, darunter Radio Mille
Collines, eine Organisation, die mit den Interhamwe-Milizen verbunden war
und zu ethnischem Hass aufstachelte.
Das Geld war von den Gebern für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Ruandas vorgesehen. Es war eindeutig festgelegt, dass keine Mittel für
den Import von »Waffen, Munition und anderem Material« verwendet werden durften.33 Tatsächlich war die Kreditvereinbarung mit der Weltbanktochter IDA noch strenger. Das Geld durfte auch nicht für den Import
von zivilen Gütern wie Kraftstoff, Nahrungsmittel, Arzneimittel, Kleidung
und Schuhe verwendet werden, die »für paramilitärische Zwecke bestimmt
sind«. Dennoch bestätigen die Bücher der ruandischen Nationalbank, dass
die Regierung Habyarimana das Geld der Weltbank verwendete, um den
Import von Macheten als »zivile Waren« zu finanzieren.
Die Weltbank entsandte eine Armee von Beratern und Rechnungsprüfern,
um die wirtschaftlichen Fortschritte von Habyarimanas Regierung im Rahmen der Kreditvereinbarung zu überprüfen. Die Verwendung der Kredite für
den Import von Macheten und anderen Mordinstrumenten tauchte in dem
unabhängigen Rechnungsprüfungsbericht, den Regierung und Weltbank im
Rahmen der Kreditvereinbarung in Auftrag gaben, nicht auf. 1993 beschloss
die Weltbank, die Auszahlung der zweiten Tranche ihres IDA-Kredits auszusetzen. Der Weltbankdelegation zufolge hatte es unglückliche »Fehler« und
»Verzögerungen« in der Umsetzung der wirtschaftspolitischen Auflagen gegeben. Die Marktreformen waren nicht länger »auf Kurs«, die Bedingungen
– einschließlich der Privatisierung des Staatseigentums – nicht erfüllt worden. Die Tatsache, dass sich das Land in einem Bürgerkrieg befand, wurde
nicht einmal erwähnt. Wofür das Geld ausgegeben wurde, war nie ein Thema.
Obwohl die Weltbank die zweite Tranche des IDA-Kredits eingefroren
hatte, war das 1991 bewilligte Geld auf einem Sonderkonto der Banque
Bruxelles Lambert in Brüssel deponiert worden. Dieses Konto blieb für das
ehemalige, nun im Exil befindliche Regime auch noch zwei Monate nach den
ethnischen Massakern vom April 1994 offen und zugänglich.
Vertuschungen und neuerliche IWF-Reformen. Nach dem Bürgerkrieg
schickte die Weltbank eine Delegation nach Kigali, um einen so genannten
»Vervollständigungsbericht« (completion report) zu erstellen. Das war das
übliche Vorgehen, bei dem man sich weitgehend auf makroökonomische,
nicht auf politische Fragen konzentrierte. Der Bericht räumte ein, dass »die
Kriegsanstrengungen die (ehemalige) Regierung veranlasst hatten, die Ausgaben beträchtlich zu erhöhen, weit über die Haushaltsziele hinaus, die unter dem Strukturanpassungsprogramm vereinbart waren«. Die Zweckentfremdung des Weltbankgeldes wurde nicht erwähnt. Stattdessen wurde die
Regierung Habyarimana dafür gelobt, dass sie »vor allem 1991 eine echte
und große Anstrengung unternahm, die heimischen und externen Finanzungleichgewichte zu vermindern, Verzerrungen zu beseitigen, die das Exportwachstum und die Diversifizierung behinderten, und Marktmechanismen für
die Ressourcenverteilung einzuführen«. Die Massaker an Zivilisten wurden
nicht erwähnt. Aus der Sicht der Geber war »nichts passiert«. Tatsächlich
fand sich im Bericht der Weltbank nicht einmal ein Hinweis darauf, dass es
vor dem April 1994 überhaupt einen Bürgerkrieg gegeben hatte.
1995, kaum ein Jahr nach dem Völkermord, nahmen die ausländischen
Kreditgeber Ruandas Gespräche mit der nun von den Tutsi geführten Regierung über die Schulden des ehemaligen Regimes auf, die zur Finanzierung
der Massaker benutzt worden waren. Die FPR entschloss sich, die Legitimität der »verhassten Schulden« von 1990 bis 1994 voll anzuerkennen. Der
starke Mann der FPR, Vizepräsident Paul Kagame, instruierte das Kabinett,
die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen und die Weltbank nicht um einen Erlass dieser Schulden zu bitten. Unter dem Druck Washingtons wollte
die FPR darüber keinerlei Verhandlungen, nicht einmal einen informellen
Dialog mit den Kreditgebern führen.
So wurde die Legitimität der Schulden aus der Kriegszeit offiziell nie infrage gestellt. Stattdessen hielt man das Prozedere ein, das die Kreditgeber
sorgfältig festgelegt hatten, um ihre prompte Rückzahlung sicherzustellen.
1998 wurde bei einer Sonderkonferenz der Kreditgeber in Stockholm ein
multilateraler Treuhandfonds in Höhe von 55,2 Mio. Dollar gebildet, um den
Wiederaufbau nach dem Krieg zu finanzieren.34 Tatsächlich aber war nichts
von dem Geld für Ruanda bestimmt, es sollte nur für die Zinszahlungen auf
die »verhassten Schulden« an die Weltbanktochter IDA, die African Development Bank und den Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) dienen.
Mit anderen Worten: Das »frische Geld«, das Ruanda schließlich zurückzahlen muss, wurde geliehen, damit das Land den Schuldendienst für die
Kredite leisten konnte, mit denen die Massaker finanziert worden waren.
Unter dem Banner des Wiederaufbaus wurden die Altschulden nach dem
Krieg lediglich durch neue ersetzt. So wurden die blutigen Schulden weißgewaschen, sie verschwanden aus den Büchern
– und mit ihnen die Verantwortung der Kreditgeber. Mehr noch: Dieser
Betrug war auch noch an die Bedingung geknüpft, die neue Welle von IWFund Weltbank-Reformen zu akzeptieren.
»Wiederaufbau und Versöhnung«. Unter dem Banner von »Wiederaufbau und Versöhnung« wurde Ruanda eine bittere Medizin zur wirtschaftlichen Gesundung verschrieben. Tatsächlich war das Reformpaket, das dem
Land nach dem Krieg aufgezwungen wurde, weit strenger als zu Beginn des
Bürgerkrieges 1990. Obwohl das Pro-Kopf-Einkommen von 360 Dollar auf
140 Dollar sowie die Löhne und die Beschäftigung auf ein erbärmliches Niveau gefallen waren, verlangte der IWF die Einfrierung der Gehälter im öffentlichen Dienst zusammen mit einer massiven »Verschlankung« im Bildungs- und im Gesundheitssektor, um die Stabilität der Wirtschaft wiederherzustellen. Verbleibendes Staatsvermögen sollte an ausländisches Kapital
zu günstigen Preisen verkauft werden. Eine Reduzierung des öffentlichen
Dienstes wurde auf den Weg gebracht.35 Die Gehälter im öffentlichen Sektor
sollten 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten, so genannte »unqualifizierte Staatsbedienstete« (vor allem Lehrer!) sollten entlassen werden – mit dem Ziel, die eingesparten Staatseinnahmen für den
Schuldendienst zu verwenden und die Schulden Kigalis beim Pariser Club im
Tausch gegen »Marktreformen« umzuschulden.
Statt die Streichung der verhassten Schulden zu verlangen, hieß die von
Tutsi geführte FPR-Regierung die Bretton-Woods-Institutionen mit offenen
Armen willkommen. Sie brauchte grünes Licht vom IWF zum Ausbau ihrer
Armee.
Trotz der Sparmaßnahmen stiegen die Verteidigungsausgaben weiter.
Das Muster, das sich zwischen 1990 und 1994 herausgebildet hatte, setzte
sich fort. Die seit 1995 gewährten Entwicklungskredite wurden nicht verwendet, um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes, sondern
um die militärische Aufrüstung zu finanzieren, dieses Mal die der RPA. Und
deren Aufbau vollzog sich unmittelbar vor Ausbruch des Bürgerkrieges im
ehemaligen Zaire.
Bürgerkrieg im Kongo. Nach der Etablierung des US-freundlichen Regimes in Ruanda 1994 intervenierten von der USA ausgebildete ruandische
und ugandische Kräfte im ehemaligen Zaire – unter Präsident Mobutu Sese
Seko eine Hochburg der Franzosen und Belgier. Wie ausgiebig dokumentiert, hatten US-Spezialkräfte – vor allem Green Berets von der 3rd Special
Forces Group aus Fort Bragg, North Carolina – die RPA ausgebildet. Damit
setzten die USA die verdeckte Unterstützung und Militärhilfe fort, die sie der
RPA vor 1994 gewährt hatten. Die tragischen Folgen des ruandischen Bürgerkrieges einschließlich der Flüchtlingskrise hatten die Bühne für die Teilnahme ugandischer Truppen und der RPA am Bürgerkrieg im Kongo bereitet:
»Washington pumpte Militärhilfe in Kagames Armee, und USSpezialkräfte und anderes Militärpersonal trainierten Hunderte von ruandischen Soldaten. Aber Kagame und seine Kollegen hatten ihre eigenen
Pläne. Während die Green Berets die Ruandische Patriotische Armee trainierten, bildete diese Armee selbst heimlich zairische Rebellen aus… Nach
Darstellung der US-Vertreter in Ruanda diente ihr Engagement bei der
Armee fast ausschließlich der Schulung in Menschenrechten. Aber die
Übungen der Spezialkräfte deckten auch andere Bereiche ab, darunter
Kampftraining… Hunderte von Soldaten und Offizieren wurden für die USAusbildungsprogramme angeworben, sowohl in Ruanda als auch in den
USA selber… Geführt von US-Spezialkräften lernten die Ruander Tarntechniken, Bewegungen in kleinen Gruppen, Truppenführung, Teamentwicklung usw…. Während die Ausbildung voranging, trafen sich USOffizielle regelmäßig mit Kagame und anderen hochrangigen ruandischen
Führern, um die fortdauernde militärische Bedrohung durch die (ehemalige ruandische) Regierung (im Exil) aus Zaire zu erörtern… Der Schwerpunkt der militärischen Gespräche zwischen Ruanda und den USVertretern hatte sich eindeutig vom Schutz der Menschenrechte zur Bekämpfung eines Aufstands verlagert… Mit Unterstützung von Museveni
(dem ugandischen Präsidenten) entwickelte Kagame einen Plan, die (von
Laurent Désiré Kabila geführte) Rebellenbewegung in Ostzaire zu unterstützen… Die Operation begann im Oktober 1996, nur wenige Wochen
nach Kagames Reise nach Washington und dem Abschluss der Ausbildung
durch die US-Spezialkräfte… Sobald der Krieg (im Kongo) begann, gewährten die USA Ruanda >politische Hilfe<… Ein Vertreter der USBotschaft in Kigali reiste zahlreiche Male nach Ostzaire, um enge Verbindungen zu Kabila aufzubauen. Bald waren die Rebellen vorangekommen.
Nachdem sie die zairische Armee mithilfe der ruandischen Truppen in die
Flucht geschlagen hatten, marschierten sie mit nur wenigen größeren militärischen Auseinandersetzungen in sieben Monaten durch Afrikas drittgrößte Nation. Mobutu floh im Mai 1997 aus der Hauptstadt Kinshasa,
Kabila übernahm die Macht und änderte den Namen des Landes in Kongo… US-Vertreter leugnen, dass es in Zaire während des Krieges USMilitärpersonal in ruandischen Truppen gab, obwohl seit den ersten
Kriegstagen unbestätigte Berichte über die Anwesenheit von US-Beratern
in der Region zirkulierten.«36
Amerikanische Bergbauinteressen. Bei diesen militärischen Operationen
im Kongo ging es um die ausgedehnten Bodenschätze Ost- und Südzaires,
darunter strategische Reserven von Kobalt, das für die USVerteidigungsindustrie von entscheidender Bedeutung ist. Während des
Bürgerkrieges, noch mehrere Monate vor dem Sturz Präsident Mobutus,
hatte Laurent Kabila in seiner Basis in Goma, Ostzaire, Bergbaukonzessionen mit mehreren Minengesellschaften aus den USA und Großbritannien neu verhandelt, darunter American Mineral Fields mit Sitz in Hope,
Arkansas, der Heimatstadt von Präsident Bill Clinton .37
Zurück in Washington, waren IWF-Vertreter in der Zwischenzeit damit
beschäftigt, die makroökonomische Situation Zaires zu analysieren. Man
verlor keine Zeit. Bereits jetzt traf man die Entscheidungen für die wirtschaftliche Agenda nach Mobutu. In einer im April 1997 veröffentlichten
Studie, kaum einen Monat bevor Präsident Mobutu Sese Seko aus dem Land
floh, hatte der IWF als Teil des wirtschaftlichen Erholungsprogramms empfohlen, die Zentralbank »sofort und vollständig« daran zu hindern, weiteres
Geld zu drucken.38 Und ein paar Monate nach der Machtübernahme der Re-
gierung von Laurent Kabila in Kinshasa ordnete der IWF an, die Gehälter im
öffentlichen Dienst einzufrieren, um die »makroökonomische Stabilität wiederherzustellen«. Von Hyperinflation erodiert, waren die Gehälter im öffentlichen Sektor auf 30.000 Neue Zaires im Monat gefallen, das Äquivalent von
einem US-Dollar.39
Die Forderungen des IWF bedeuteten, die gesamte Bevölkerung weiterhin
in elender Armut zu halten. Sie schlossen von Beginn an einen sinnvollen
Wiederaufbau nach dem Krieg aus und fachten dadurch den Bürgerkrieg im
Kongo, dem fast zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen, noch weiter an.
Der unerklärte Krieg zwischen Frankreich und den USA. Der Bürgerkrieg in Ruanda war ein brutaler Kampf um die politische Macht zwischen der von Frankreich unterstützten Hutu-Regierung Habyarimanas und
der von Tutsi geführten FPR, die Geld und Militärhilfe aus Washington bekam. Beide Mächte nutzten dabei unter tätiger Mithilfe der CIA und des
französischen Geheimdienstes die ethnischen Rivalitäten bewusst aus, um
ihre geopolitischen Ziele zu verfolgen. Der ehemalige französische Entwicklungshilfeminister in der Regierung von Premierminister Henri Balladur,
Bernard Debré, drückte es so aus: »Man vergisst dabei, dass Frankreich auf
der einen Seite war, während die Amerikaner auf der anderen standen und
die Tutsi mit Waffen versorgten, die ihrerseits die Ugander bewaffneten. Ich
will keine Kraftprobe zwischen den Franzosen und den Angelsachsen an die
Wand malen, aber die Wahrheit muss gesagt werden.«40
Neben direkter militärischer Hilfe für die Kriegsparteien spielten bei der
Finanzierung des Konflikts auch Entwicklungskredite eine wichtige Rolle.
Mittel der ugandischen wie der ruandischen Auslandskredite wurden in die
Unterstützung des Militärs und der Paramilitärs umgelenkt. Die Auslandsschulden Ugandas stiegen um mehr als zwei Milliarden Dollar, d.h.
noch wesentlich schneller als die Ruandas, wo sie zwischen 1990 und 1994
um annähernd 250 Mio. Dollar anwuchsen. Im Rückblick war die RPA, die
sowohl durch US-Militärhilfe wie durch Ugandas Auslandskredite finanziert
wurde, weit besser ausgerüstet und ausgebildet als die Forces Armées
Rwandaises (FAR), die Präsident Habyarimana gestützt hatten. Von Beginn
an hatte die RPA einen entschiedenen militärischen Vorteil über die FAR.
Nach Aussage von Paul Mugabe, einem ehemaligen Mitglied des Oberkommandos der FPR, war es Generalmajor Paul Kagame persönlich, der im
April 1994 den Abschuss der Maschine von Präsident Habyarimana befahl,
um die Kontrolle über das Land zu übernehmen. Dieser sei sich völlig darüber im Klaren gewesen, dass die Ermordung von Habyarimana Massaker
an Tutsi-Zivilisten auslösen würde. RPA-Kräfte hatten zu dieser Zeit überall
in Kigali Stellung bezogen, taten jedoch nichts, um dies zu verhindern:
»Die Entscheidung von Paul Kagame, das Flugzeug von Präsident Habyarimana abzuschießen, war der Auslöser eines in der ruandischen Geschichte beispiellosen Dramas, und Generalmajor Paul Kagame traf diese Entscheidung in vollem Bewusstsein. Kagames Ehrgeiz verursachte
die Auslöschung all unserer Familien: Tutsi, Hutu und Twa. Wir verloren
alle. Kagames Machtübernahme kostete eine große Anzahl von Tutsi das
Leben und führte zum unnötigen Exodus von Millionen von Hutu, von
denen viele unter dem Befehl der Rädelsführer unschuldig waren. Einige
naive Ruander riefen Kagame als ihren Retter aus, aber die Zeit hat gezeigt, dass er es war, der das Leid und Unglück verursacht hat… Kann
Kagame dem ruandischen Volk erklären, warum er Claude Dusaidi und
Charles Muligande nach New York und Washington schickte, um die UNMilitärintervention aufzuhalten, die entsandt werden sollte, um das ruandische Volk vor dem Völkermord zu schützen? Der Grund hinter der
Vermeidung dieser Militärintervention war, der FPR-Führung die Übernahme der Regierung in Kigali zu erlauben und der Welt zu zeigen, dass
sie – die FPR – diejenigen waren, die den Völkermord beendeten. Wir
werden uns alle daran erinnern, dass der Völkermord drei Monate dauerte, obwohl Kagame gesagt hatte, er könne ihn innerhalb einer Woche
stoppen. Kann Generalmajor Kagame erklären, warum er die UN-Mission
in Ruanda bat, das Land binnen Stunden zu verlassen, während die UN
die Möglichkeit untersuchten, die Truppen in Ruanda zu verstärken, um
dem Völkermord Einhalt zu gebieten?«41
Paul Mugabes Aussage über den Abschuss von Habyarimanas Flugzeug
wird von Geheimdienstdokumenten und Informationen gestützt, die in einer
Anhörung des französischen Parlaments präsentiert wurden. Eine unlängst
veröffentlichte Studie von Wayne Madsen verweist auch auf die Komplizenschaft hochrangiger Vertreter der Vereinten Nationen:
»Die dramatischste Offenbarung betrifft den Verbleib des Sprachrecorders oder der >Black Box< der abgeschossenen Mystére Falcon 50. UNVertretern zufolge, die mit den UN-Flugbewegungen in der Region zu
tun hatten, wurde die Black Box heimlich ins UN-Hauptquartier in New
York gebracht, wo sie bis heute geblieben ist… UN-Quellen besagen,
dass Daten der Black Box auf Druck der US-Regierung von der UN zurückgehalten wurden…‚ (und) die kanadische Richterin Louise Arbour,
die als Sonderstaatsanwältin beim Internationalen Kriegsverbrechertribunal den ruandischen Völkermord untersuchte, ordnete an, dass die
Ereignisse, die zum Abschuss des Flugzeugs am 6. April 1994 führten,
nicht untersucht werden sollten. UN-Ermittler wurden von Arbour angewiesen, sich nur mit den Ereignissen nach dem Abschuss der Maschine
zu befassen. Außerdem ordnete Arbour… ihre Untergebenen an…‚ ihre
Ermittlungen einzustellen, als klar wurde, dass sie zu der Schlussfolgerung führten, dass die FPR und ihre amerikanischen Geldgeber an der
Planung des Angriffs auf das Flugzeug beteiligt gewesen waren. Dazu
gehörten Beweise, dass FPR-Truppen am Abend des Angriffs drei Hauptzufahrten zum internationalen Flughafen Kayibanda kontrollierten und
europäische Söldner, die von der FPR und dem US-Geheimdienst bezahlt
wurden, nahe gelegene Lagerhäuser benutzten, die von einer Schweizer
Firma gemietet worden waren, um den Raketenangriff auf die Mystére
Falcon zu planen und durchzuführen. Außerdem fanden UN- und kanadische Ermittler Beweise, dass die kanadische Entwicklungshilfeagentur
der FPR-Regierung in den Jahren 1996 und 1997 humanitäre Hilfe und
Entwicklungshilfe gewährte, die stattdessen für Waffenkäufe benutzt
wurde. Als dies den internen Rechnungsprüfern der Entwicklungshilfeagentur bekannt wurde, stellte die kanadische Regierung die Untersuchung abrupt ein.«42
Madsen zufolge wurden diese »verdeckten Aktivitäten zugunsten der USA
und Kanadas« vom damaligen UN-Untergeneralsekretär Kofi Annan unterstützt, der für die Friedensmission verantwortlich war und in engem Kontakt
zu der damaligen US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Madeleine
Albright, sowie zu Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrats der USA stand.
»Besonders der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros Ghali wurde
von den USA herausgehalten, denen es 1996 gelang, ihn loszuwerden und
durch Annan zu ersetzen.«43
Die Einrichtung eines angloamerikanischen Protektorats. Trotz der
guten diplomatischen Beziehungen zwischen Paris und Washington und der
scheinbaren Einheit der westlichen Militärallianz handelte es sich um einen
unerklärten Krieg zwischen Frankreich und den USA. Durch die Unterstützung der Aufrüstung der ugandischen und ruandischen Armeen und die direkte Intervention im kongolesischen Bürgerkrieg trägt Washington direkte
Verantwortung für die ethnischen Massaker im Osten Kongos und den Tod
mehrerer hunderttausend Menschen, die in Flüchtlingslagern starben. Generalmajor Paul Kagame war ein Werkzeug Washingtons. Der Verlust afrikanischer Leben spielte keine Rolle. Der Bürgerkrieg in Ruanda und die ethnischen Massaker waren integraler Bestandteil der US-Außenpolitik, sorgfältig
durchgeführt nach genauen strategischen und wirtschaftlichen Zielen.
Die US-Politiker waren sich voll bewusst, dass eine Katastrophe drohte.
Tatsächlich hatte die CIA das US-Außenministerium in einem vertraulichen
Memorandum vier Monate vor dem Völkermord unterrichtet, dass die Vereinbarungen von Arusha scheitern und »über eine halbe Million Menschen
sterben würden, wenn die Feindseligkeiten wieder aufgenommen werden«.
Diese Information wurde vor den Vereinten Nationen zurückgehalten: »Erst
als der Völkermord vorüber war, wurde die Information an Generalmajor
Roméo Dallaire (der die UN-Truppen in Ruanda befehligte) weitergegeben.«44
Das Ziel Washingtons war es, Frankreich zu verdrängen, die französische
Regierung, die das Habyarimana-Regime unterstützt hatte, zu diskreditieren
und unter Generalmajor Paul Kagame ein angloamerikanisches Protektorat
zu installieren. Die USA taten bewusst nichts, um die Massaker zu verhindern.
Als die UN-Truppen entsandt werden sollten, versuchte Kagame, ihre
Stationierung zu verzögern, und wollte eine Friedensmission erst akzeptie-
ren, wenn die RPA die Kontrolle über Kigali übernommen hatte. Kagame
»fürchtete, die vorgeschlagene UN-Truppe von mehr als 5000 Soldaten
könnte intervenieren, um ihr (der RPA) den Sieg zu rauben«.45 In der Zwischenzeit beschloss der Sicherheitsrat nach Beratungen und einem Bericht
von Generalsekretär Boutros Boutros Ghali, die Intervention zu verschieben.
Der Völkermord in Ruanda von 1994 diente ausschließlich strategischen
und geopolitischen Zielen. Die ethnischen Massaker versetzten Frankreichs
Glaubwürdigkeit einen schweren Schlag, was der USA ermöglichte, einen
neokolonialen Vorposten in Zentralafrika zu etablieren. Nach der ursprünglich entschiedenen Orientierung auf Frankreich und Belgien ist die
ruandische Hauptstadt Kigali unter der von Tutsi geführten FPR-Regierung
heute entschieden angloamerikanisch geworden. Englisch ist die beherrschende Sprache in der Regierung und im Privatsektor. Viele Privatfirmen,
die einst Hutu gehörten, wurden 1994 von Tutsi übernommen, die aus dem
Exil in anglophonen Ländern Afrikas, den USA und Großbritannien zurückkehrten.
Mehrere frankophone Länder in den Subsaharastaaten haben militärische Kooperationsverträge mit den USA geschlossen. Diese Länder sind von
Washington auserkoren, dem Beispiel Ruandas zu folgen. In der Zwischenzeit verdrängt der Dollar im frankophonen Westafrika rasch den CFA-Franc,
der über die West- und Zentralafrikanische Währungsunion an den französischen Franc gekoppelt war und nun an den Euro gekoppelt ist.
8. Neue Apartheid im südlichen Afrika
Unter Präsident Nelson Mandela entwickelte die rechtsgerichtete burische
Freiheitsfront (FF) unter Führung von General Constand Viljoen den Plan
eines »Nahrungsmittelkorridors«, der sich über den südlichen Teil des Kontinents von Angola bis Mosambik erstrecken sollte. In der Ära nach der
Apartheid will sich das burische Agrarbusiness durch Großinvestitionen in
den kommerziellen Ackerbau, die Verarbeitung von Nahrungsmitteln und
Ökotourismus in die Nachbarstaaten ausbreiten. Die Gewerkschaften der
Buren im Oranjefreistaat und im östlichen Transvaal fungieren dabei als
Partner. Das Ziel ist, Farmen jenseits der Grenzen Südafrikas zu gründen,
die Weißen gehören.46
Der »Nahrungsmittelkorridor« bedeutet jedoch nicht Nahrung für die lokalen Menschen. Im Gegenteil, die Bauern werden bei der Umsetzung dieses Planes ihr Land verlieren, aus Kleinbauern werden Farmarbeiter oder
Pächter auf großen Plantagen, die den Buren gehören. Als Schirmorganisation, zu der auch mehrere rechtsgerichtete Organisationen wie die erwähnte
FF von Viljoen und der geheime Afrikaner Broederbond gehören, dient die
südafrikanische Landwirtschaftskammer. Als Kommandeur der südafrikanischen Streitkräfte während des Apartheid-Regimes war General Viljoen an
Angriffen auf so genannte »Ziele« des African National Congress (ANC) beteiligt, darunter an Sprengstoffanschlägen auf Anti-Apartheid-Aktivisten und
Regimekritiker.47 Obwohl die Freedom Front im Vergleich etwa zur extrem
rechten Afrikaner Weerstandsbeweging noch gemäßigt ist, handelt es sich
um eine rassistische politische Bewegung, die dem so genannten »Afrikaner
Volksstaat« verpflichtet ist.
Trotzdem erhielt die Initiative von Landwirtschaftskammer und FF die
politische Unterstützung des ANC und den persönlichen Segen von Präsident Nelson Mandela.
In Diskussionen mit Mandela hatte Viljoen argumentiert, dass »die Ansiedlung südafrikanischer Landwirte die Wirtschaften der Nachbarländer
stimulieren und den Ansässigen Nahrungsmittel und Beschäftigung verschaffen würde und dadurch der Zustrom von illegalen Immigranten nach
Südafrika gehemmt werden könnte«.48 Viljoen traf sich auch mit EU- und
UN-Vertretern sowie mit Delegierten anderer Geber-Organisationen zu Gesprächen über landwirtschaftliche Investitionen der Buren.49
Die Regierung Südafrikas ihrerseits verhandelte im Namen der Landwirtschaftskammer und der FF mit verschiedenen afrikanischen Regierungen.
Die ANC-Regierung war begierig, die Expansion des burischen Agrarbusiness in die Nachbarländer zu erleichtern. So bat Mandela z.B. die tansanische Regierung, burische Landwirte ins Land zu lassen, da sie bei der Entwicklung der Landwirtschaft helfen könnten. Die
Kammer nahm Kontakt
zu zwölf afrikanischen Ländern auf, die an weißen südafrikanischen Farmern
interessiert sein könnten.50 1994 gewährte die Regierung des Kongo einigen
Buren 99-jährige Pachtverträge für Ackerland. Mandela unterstützte das
Projekt und forderte die afrikanischen Nationen auf, »die Immigranten als
eine Art ausländischer Hilfe zu akzeptieren«.51
Ein früherer Treck weißer Landwirte nach Sambia und in den Kongo Anfang der 90er Jahre hatte gemischte Ergebnisse gehabt. Anders als beim
Projekt der südafrikanischen Landwirtschaftskammer war es dabei nicht um
die Interessen der burischen Agrarier und des Agrarbusiness gegangen,
sondern – ohne politische und finanzielle Unterstützung und den Segen des
neuen Südafrika – um die Ansiedlung einzelner (häufig bankrotter) burischer Farmer.
Auf Druck von Weltbank und WTO begrüßten die Nachbarländer überwiegend den Zustrom burischer Investitionen.
Die Enteignung der Bauern. Der »Nahrungsmittelkorridor« der Buren
wird schließlich die vorhandene Landwirtschaft in den jeweiligen Ländern
ersetzen. Dazu gehört nicht nur die Aneignung von Land, sondern auch die
Übernahme ihrer wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur, was zu höherer Armut der Landbevölkerung führen wird. Er wird die Subsistenzwirtschaft und den kleinbäuerlichen Anbau von Feldfrüchten schwächen,
die lokalen landwirtschaftlichen Märkte verdrängen und die endemischen
Hungersnöte in der Region verschärfen. Für Jen Kelenga, den Sprecher einer Initiative für mehr Demokratie im Kongo (ehemals Zaire), verfolgen die
Buren mit dieser Initiative den Zweck, neues Land zu gewinnen und in den
neuen Gebieten ihre »rassistische Lebensweise« durchzusetzen.52
Der »Nahrungsmittelkorridor« könnte die ländlichen Regionen des südlichen Afrika tief greifend verändern, erfordert er doch die großflächige Entwurzelung und Verdrängung von Kleinbauern. Der Plan sieht vor, Millionen
von Hektar besten Ackerlandes an das südafrikanische Agrarbusiness auszuhändigen. Die Buren werden kommerzielle Großfarmen leiten, die ländliche Bevölkerung als »Arbeitspächter« und Saisonarbeiter benutzen und
damit die Apartheid in die südafrikanischen Nachbarländer »exportieren«.
Die Agrarinvestitionen der Buren gehen Hand in Hand mit der von der
Weltbank geförderten Reform des Bodenrechts. Häufig nämlich verlangen
die Kreditgeber die Enteignung von landwirtschaftlichen Flächen als Bedingung für eine Umschuldung beim Pariser Club. Das Land von Kleinbauern,
das formal dem Staat gehört, wird oft zu sehr niedrigen Preisen verkauft
oder in 50- bis 99-jährigen Verträgen an das internationale Agrarbusiness
verpachtet. Die kargen Erlöse der Landverkäufe fließen in den Dienst der
Auslandsschulden.
Die Weltbank hat auch Veränderungen im Bodenrecht der Region durchgesetzt, die Millionen von kleinen Landbesitzern ihre Rechte nehmen könnten. Von einigen Abweichungen abgesehen sind die Gesetze in einzelnen
Ländern – entworfen unter technischer Anleitung der Rechtsabteilung der
Weltbank – praktisch identisch: »Der Verfassung (von Mosambik) zufolge
sind Grund und Boden Eigentum des Staates und können nicht verkauft
oder mit Hypotheken belastet werden. Besonders die USA und die Weltbank
üben starken Druck aus, das Land zu privatisieren und Hypotheken zu erlauben.«53
Südafrikanische Unternehmen und Banken beteiligen sich auch an Privatisierungsprogrammen im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme in
einzelnen afrikanischen Ländern und kaufen zu Niedrigstpreisen Staatseigentum an Minen, öffentlichen Versorgern und in der Landwirtschaft. So
kamen Musterfarmen, landwirtschaftliche Forschungsstationen, staatliche
Plantagen, Zuchtstationen usw. unter den Hammer. Mit der Deregulierung
der Agrarmärkte auf Rat der Weltbank werden die staatlichen Vermarktungssysteme entweder beseitigt oder von privaten Investoren übernommen.
Trotz der vorgeschlagenen Landgesetzgebung verkünden die südafrikanische Landwirtschaftskammer und die Weltbank, dass die traditionellen
Landrechte der Bauern in den betroffenen Ländern geschützt werden. Wo
traditionelles Landrecht gilt, sollen Kleinbauern Gebiete erhalten, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den kommerziellen Farmen der Weißen. In der
Praxis bedeutet dieser »Schutz« jedoch, dass ein Großteil der Landbevölkerung auf kleine Anbauflächen (Gemeindeland) gepfercht wird, während der
Löwenanteil des besten Ackerlandes verkauft oder an private Investoren
verpachtet wird. Damit können zugleich bäuerliche Gemeinden, die in großen Gebieten Fruchtwechsel betreiben, und Hirtennomaden in Zukunft für
alle möglichen Verletzungen – der Landrechte kommerzieller Farmen verfolgt werden – für Übertretungen, die ihnen häufig gar nicht bewusst sind.
Verarmt durch die makroökonomischen Reformen, ohne Zugang zu Krediten
und modernen landwirtschaftlichen Einsatzgütern, werden diese traditionellen Enklaven zu »Arbeitsreservoirs« für das Agrarbusiness.
Burenfarmen in Mosambik. Die südafrikanische Landwirtschaftskammer verfolgt derartige Investitionspläne im Kongo, in Sambia, Angola
und Mosambik. Der mosambikanische Präsident Joaquim Chissano und Nelson Mandela unterzeichneten eine zwischenstaatliche Vereinbarung, die
dem Agrarbusiness der Buren Investitionen in mindestens sechs Provinzen
auf etwa acht Millionen Hektar Land erlauben: »Mosambik braucht technisches Know-how und Geld, und wir haben die Leute… Wir ziehen ein Gebiet
vor, das nicht stark bevölkert ist, denn zu viele Leute auf dem Land sind
eine Achillesferse… Für die Buren kommt Land gleich nach Gott und der
Bibel.«54
Für die Konzessionsgebiete der südafrikanischen Landwirtschaftskammer
in Mosambik soll die »sozialistische« Frelimo-Regierung die Gewährleistung
der Landrechte sicherstellen. Klein- und Subsistenzbauern, die fast nie
Landrechte besitzen, werden entweder vertrieben oder erhalten randständiges Land.55 Mitglieder des Militärs und Regierungsminister, die Geschäftspartner des internationalen Agrarbusiness werden wollen, erhalten dagegen
Konzessionen über Millionen Hektar von Land, das bereits von Bauern be-
siedelt ist. Zur Absicherung möglicher ausländischer Investoren schlug die
Weltbank zusammen mit bilateralen Kreditgebern die exakte Kartierung und
Registrierung ausgedehnter Landgebiete durch Luftaufnahmen vor.56
In der mosambikanischen Provinz Niassa wurde das beste Ackerbauland
für 50 Jahre an Buren verpachtet. »>Es gibt so viele schöne, fruchtbare
Orte, unter denen man auswählen kann<«, so Egbert Hiemstra, der zwei
Farmen in Lydenburg besitzt und eine dritte in Mosambik gründen möchte.57
Angesichts des symbolischen Preises von 15 US-Cents pro Hektar im Jahr
ist der Pachtvertrag ein regelrechtes Geschenk.
Durch die Gründung von Mosagrius, einem Joint Venture, hat sich die
Landwirtschaftskammer nun fest im fruchtbaren Tal des Lugenda-Flusses
etabliert. Aber die Buren haben ihren Blick auch auf die landwirtschaftlichen
Flächen entlang des Sambesi und Limpopo sowie auf die Straßen und Eisenbahnstrecken gerichtet, die Lichinga, die Hauptstadt der Provinz Niassa,
mit dem Hochseehafen Nagala verbinden. Insgesamt geht es etwa um
170.000 Hektar.58 Die Absicht der burischen Farmer ist es, »die Hochgraslandgebiete mit Mais, Weizen und Rindern zu entwickeln, verbunden mit
agrarindustrieller Weiterverarbeitung für den Exportmarkt. Im Tiefgrasland
werden wir eine Reihe tropischer Obstbäume pflanzen und moderne Obstsaftfabriken bauen. Unsere Landwirtschaftsinsitute werden in dem Gebiet
Forschungsstationen aufbauen, um die Initiative der südafrikanischen
Landwirtschaftskammer zu unterstutzen… Schließlich möchten wir auch in
die Baumwollgebiete der Provinzen Nampula und Cabo Delgado gehen. «59
Die verfügbare Infrastruktur einschließlich diverser staatlicher Gebäude
und Unternehmen geht auf die Investoren über; mehrere Farmen in Staatsbesitz in der Provinz Niassa werden den Buren überlassen, zusammen mit
der Technischen Schule in Lichinga. Die landwirtschaftliche Forschungsstation wird ebenfalls übernommen: »Sie wollen raus, sie suchen Investitionen
der Buren, um die Forschungsstation in Gang zu halten.« Schließlich beabsichtigt das burische Agrarbusineß, auch die Pflanzenzucht der Regierung in
der Provinz Niassa Zu übernehmen.
Beim Mosagrius-Projekt soll der »Hauptantrieb von erfolgreichen südafrikanischen Landwirten kommen, die heute neues Land suchen und in der
Lage sind, beträchtliches Kapital zu mobilisieren«. Sie werden ihre neuen
Farmen von Südafrika aus betreiben und weiße Buren als Manager und Aufseher nach Mosambik schicken. »Bäuerliche Familien, die gute Leistungen
gezeigt haben, aber nicht über genügend Kapital verfügen, kommen ebenfalls infrage. Die Landwirtschaftskammer wird ihnen Geld zur Verfügung
stellen.« Allerdings gibt es keine Pläne für die burischen Farmer, die aufgrund des wirtschaftlichen Liberalisierungsprogramms Pretorias in den
Bankrott getrieben werden. Immerhin haben diese Landwirte vielleicht eine
Chance, als Manager auf burischen Farmen in Mosambik zu arbeiten.
Die Buren werden ihre schwarzen Vorarbeiter, Traktoristen und Techniker
mitbringen. Der Repräsentant der South African High Commission in Maputo
drückt es so aus: »Jeder burische Landwirt wird zur Beaufsichtigung der
lokalen Arbeiter seine zahmen Kaffer mitbringen«.
Die südafrikanische Landwirtschaftskammer hat die ausgewiesenen Gebiete sorgfältig per Helikopter kartiert, landwirtschaftliche Forschungsinstitute aus Südafrika haben bereits Untersuchungen durchgeführt und Umwelt-, Klima- und soziale Bedingungen analysiert. Südafrikanische Demografen wurden als Berater hinzugezogen, um die Auswirkungen der Verdrängung der ländlichen Bevölkerung abzuschätzen.
Die Schaffung »ländlicher Townships«. Dem Plan der Landwirtschaftskammer zufolge werden die ländlichen Gemeinden auf dem an
Buren verpachteten Land in Niassa zu »ländlichen Townships«‚ ähnlich wie
unter dem Apartheid-Regime: »Man wird es so machen, dass man Dörfer an
der Straße in der Nähe (weißer) Farmen entwickelt. Diese Dörfer sind sorgfältig in der Nähe von Anbauflächen geplant, so dass die Farmarbeiter hin
und her pendeln können. Die Dörfer erhalten etwas Infrastruktur und ein
Stück Land für jeden Haushalt, so dass die Farmarbeiter ihre eigenen Gemüsegärten anlegen können.«60
Falls die mosambikanischen Bauern nicht wenigstens rudimentäre Landrechte innerhalb oder neben den verpachteten Gebieten erhalten, werden
sie zu landlosen Farmarbeitern oder »Arbeitspächtern« werden. Im System
der »Arbeitspächter«, das die Buren im 19. Jahrhundert in Südafrika einführten, erbringen schwarze bäuerliche Haushalte Arbeitsleistungen bzw.
Frondienste im Tausch gegen das Recht, ein kleines Stück Land zu bestellen. Formal seit 1960 von der nationalistischen Regierung verboten, ist die
»Arbeitspacht« in vielen Teilen Südafrikas erhalten geblieben, auch in
Transvaal und KwaZulu-Natal. Mittlerweile wird den Pächtern ein (sehr niedriger) Nominallohn gezahlt, weitgehend zur Verschleierung der (ungesetzlichen) Feudalbeziehung. Seit 1995 versucht der Minister für Landfragen diese Praxis gesetzlich abzuschaffen.61
Die ländlichen Townships in den Pachtgebieten stellen ein Reservoir billiger Arbeitskräfte für die weißen kommerziellen Farmer dar, da die Löhne in
Mosambik beträchtlich niedriger sind als in Südafrika. Dennoch bezeichnete
der Vertreter des IWF, Sergio Leite, bei einer Konferenz von Kreditgebern
1995 den gesetzlich festgelegten Mindestlohn für Saisonarbeiter von mageren 18 Dollar im Monat im Hinblick auf internationale Standards als »übertrieben« und versäumte nicht, auf die inflationäre Wirkung zu hoher Löhne
hinzuweisen.62
Die Verschlechterung der Rechte der Arbeiter und die Deregulierung des
Arbeitsmarktes auf Anraten des IWF ermöglichen es den Buren nicht nur,
ihren mosambikanischen Arbeitern extrem niedrige Löhne zu zahlen, sondern auch den Forderungen der schwarzen Landarbeiter in Südafrika zu
entkommen. Die Investitionen in Nachbarländern verschaffen dem Agrarbusiness außerdem eine bessere Position bei seiner Lobbyarbeit, um die Landreform der ANC-Regierung und deren Programme für »positive Diskriminierung« in Südafrika zu hintertreiben.
Ausländische Hilfen. Die großen Geschäftsbanken Südafrikas, die Weltbank und die EU unterstützen das Projekt entschlossen. Der »Nahrungsmittelkorridor« ist zu einem integralen Bestandteil der Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank geworden. Willie Jordaan, Sekretär der
südafrikanischen Landwirtschaftskammer, erklärt: »Die Kammer hat sich
bemüht, ihre Politik mit der Weltbank und dem IWF in Übereinstimmung zu
bringen, und beansprucht, zu einer internationalen Entwicklungsagentur zu
werden.« Die Kammer möchte Verträge mit Geberorganisationen schließen
und in ihrem Namen »Hilfsprogramme im Ausland« durchführen.63
Obwohl der Westen den Kampf des ANC gegen das Apartheid-Regime
unterstützt hatte, leistet er nun, in der Ära nach der Apartheid, finanzielle
Hilfe für eine rassistische burische Entwicklungsorganisation. Unter dem
Deckmantel der »Hilfe im Ausland« tragen die westlichen Geldgeber so zur
Ausweitung der Apartheid in die Nachbarländer Südafrikas bei. Die EU stellte der südafrikanischen Landwirtschaftskammer Geld aus einem Entwicklungspaket zur Verfügung, das von Brüssel ausdrücklich für Südafrikas Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm verwendet werden sollte. Einem
EU-Sprecher zufolge war das Projekt »das Beste, was seit 30 Jahren aus
Afrika zu hören war«.64 Der EU-Botschafter in Südafrika, Erwan Fouéré, bekräftigte nach einer Unterredung mit General Viljoen, dass dieser mit weiteren EU-Geldern rechnen könne, falls das Projekt gelinge, um die Kosten der
Ansiedlung burischer Landwirte in den Nachbarländern Südafrikas zu dekken. Dass der Plan Kleinbauern ihrer Landrechte beraubt und das System
der »Arbeitspacht« wieder einführt, das in Südafrika unter der Apartheid
geherrscht hatte, war offenkundig nicht Gegenstand des Gesprächs.
Ein Großteil des Ufers des Niassa-Sees – einschließlich eines 160 km langen Streifens im Rift Valley von Meponda bis Mapangula, der sich weiter
nördlich zur Ilha Sobre o Lago in der Nähe der tansanischen Grenze erstreckt – wurde für einen »ökologisch nachhaltigen« Tourismus mit ergänzenden und begleitenden Erschließungsprojekten ausgewiesen. Angestrebt
wurden auch südafrikanische Investitionen in Fischerei und Aquakultur am
Niassa-See, die die lokale Fischereiindustrie verdrängen würden.65
Mit der Vereinbarung wurde Mosagrius auch mit der Entwicklung und
dem Betrieb des Niassa-Wildreservats an der tansanischen Grenze betraut.
Zum Reservat gehört ein ausgedehntes Gebiet von 20.000 Hektar, das für
»nachhaltigen Ökotourismus« genutzt werden soll. Die südafrikanische
Landwirtschaftskammer soll das gesamte Gebiet einzäunen und gehobene
Unterkünfte für Touristen am Rand des Wildparks schaffen. Wohlhabende
Einzeltouristen sollen – »in streng kontrollierten Gebieten« – auch die Möglichkeit zur Jagd erhalten. Nach Auskunft des Sekretärs von Mosagrius
»könnte es erforderlich sein, die Wildbestände aufzustocken, damit die Touristen auch einen originalgetreuen Eindruck bekommen«. Ein Experte des
südafrikanischen Ministeriums für Naturschutz assistiert der Landwirtschaftskammer bei der Planung des Unternehmens und stellt Finanzmittel
bereit. Gespräche mit finanzkräftigen Privatinvestoren über Investitionen in
Hotels und in den Wildpark stehen vor dem Abschluss.
Für ein noch weit größeres Projekt erhielt James Ulysses Blanchard III.
ein rechtsgerichteter texanischer Tycoon, eine Konzession über ein riesiges
Gebiet, zu dem das Maputo-Elefantenreservat und die angrenzende Halbinsel Machangula gehörten. Während des mosambikanischen Bürgerkrieges
finanzierte Blanchard die Renamo, jene Rebellenorganisation, die direkt
vom Apartheid-Regime unterstützt und von der südafrikanischen Armee
ausgebildet wurde. »Aber nun hat es den Anschein, dass der Mann, der
einst einer Rebellenarmee Geld für einen Krieg von unglaublicher Zerstörung und Brutalität gab – das US-Außenministerium schrieb einmal von den
Gräueltaten der Renamo, sie seien schlimmer als jene des Pol-Pot-Regimes
in Kambodscha – ‚ wahrscheinlich mit der Kontrolle über ein riesiges Stück
Land in der reichsten Provinz von Mosambik belohnt wird.«66
Blanchard beabsichtigt, einen so genannten »Dream Park« am Indischen
Ozean zu bauen. Ein schwimmendes Hotel soll Touristen Luxusunterkünfte
für 600 bis 800 Dollar pro Nacht und ein Kasino bieten. Große Landparzellen
in Manchangula wurden außerdem an Agrarinvestoren aus Eastern Transvaal vergeben. Die örtlichen Gemeinden in Blanchards Pachtgebiet werden
enteignet. John Perrot, der Generalmanager, drückt es so aus: »Wir werden
hierher kommen und (zu den örtlichen Dorfbewohnern) sagen: >Okay, jetzt
wohnt ihr in einem Nationalpark. Euer Dorf wird entweder umzäunt, oder
die wilden Tiere werden direkt über eure Hauptstraße laufen.<«67
An diesem Wettlauf um Land beteiligt sich auch eine religiöse Organisation. Die mosambikanische Regierung erklärte sich bereit, der in den Niederlanden angesiedelten Maharishi Heaven on Earth Company mehrere Millionen Hektar so genannten »ungenutzten« Landes zu überlassen. Präsident
Joaquim Chissano ist ein Anhänger des Maharishi Mahesh Yogi, dem Gründer der Naturgesetzpartei. Seit der Unterzeichnung der Vereinbarung im Juli
1993 scheint die Regierung jedoch von dem Geschäft Abstand genommen
zu haben und erklärt nun, dass die Maharashi-Kirche »so behandelt« würde
»wie jeder andere ausländische Investor auch, nicht besser und nicht
schlechter«.68
Die Aufteilung des nationalen Territoriums. Ein autonomes Territorium,
ein »Staat im Staate« wird in der Provinz Niassa entwickelt: Mosagrius,
nicht die Staats- oder Provinzregierung, bestimmt allein über die Vergabe
der Landnutzungsrechte und Konzessionsgebiete. Außerdem ist das Territorium als Freihandelszone ausgewiesen, was die ungehinderte Bewegung von
Waren, Kapital und Menschen (gemeint sind die weißen Südafrikaner) erlaubt. Alle Investitionen in den Konzessionsgebieten »werden frei von Zöllen
oder sonstigen Steuern sein«.69
Durch solche Konzessionen, die ausländischen Investoren in verschiedenen Landesteilen gewährt wurden, wird das nationale Territorium Mosambiks wie zu Kolonialzeiten in getrennte »Korridore« aufgeteilt, wobei jeder
der Korridore separat in den Weltmarkt integriert ist. Dieses System unterhöhlt die Volkswirtschaft des Landes.
Der Niedergang des mosambikanischen Staatsapparates begünstigt die
Zerstückelung der nationalen Wirtschaft und die Umwandlung ganzer Regionen des Landes – z.B. der Niassa-Provinz – in Konzessionsgebiete oder
»Korridore« unter der politischen Obhut von Kreditgebern, NGO und ausländischen Investoren. So entstehen de facto Parallelregierungen, die zunehmend das staatliche System umgehen. In mehreren Gebieten in Nordmosambik stellt die ehemalige, vom Apartneid-Regime unterstützte Rebellengruppe Renamo, die ebenfalls Verbindungen zu den Gebern aufgebaut
hat, mittlerweile die lokale Regierung. Nach dem Krieg wurden mehrere Renamo-Führer zu Geschäftspartnern südafrikanischer Unternehmen in Mosambik, auch bei Investitionsprojekten der südafrikanischen Landwirtschaftskammer: »Es könnte scheinen, dass es ein geheimes Einverständnis
im Rahmen des Friedensabkommens (von 1992) gibt, der Renamo und ihren Unterstützern Land zu geben.«70
9. Äthiopien: Die Zerstörung der Landwirtschaft und
Artenvielfalt
Die von IWF und Weltbank aufgezwungene »Wirtschaftstherapie « ist zu einem großen Teil verantwortlich für den Ausbruch der Hungersnöte und für
die soziale Verwüstung in Äthiopien. Sie hat der bäuerlichen Wirtschaft vernichtenden Schaden zugefügt und Millionen von Menschen verarmen lassen.
In Komplizenschaft mit US-Regierungsstellen haben diese Organisationen
auch US-Biotech-Unternehmen die Möglichkeit gegeben, traditionelles Saatgut und Kulturpflanzen zu enteignen und unter dem Deckmantel von Katastrophen- und Hungerhilfe die Einführung ihres eigenen, genetisch modifizierten Saatgutes zu betreiben.
Krise am Horn von Afrika und die Verheißung des »freien Marktes«.
Mehr als acht Millionen Menschen in Äthiopien – 15 Prozent der Bevölkerung
des Landes – lebten nach den Reformen in Hungergebieten. Die Löhne in
den Städten brachen zusammen, und arbeitslose Saisonarbeiter auf dem
Land und landlose Bauern wurden in erbärmlichste Armut getrieben. Ohne
nähere Analyse machen die internationalen Hilfsorganisationen allein klimatische Faktoren für das Ausbleiben der Ernte und die darauf folgende Katastrophe verantwortlich. Was die Massenmedien nicht offen legen, ist die
Tatsache, dass – ganz unabhängig von der Trockenheit und dem Grenzkrieg
mit Eritrea – mehrere Millionen Menschen in den blühendsten Ackerbauregionen ebenfalls Hunger litten. Ihre Not ist nicht die Konsequenz von Getreidemangel, sondern die der »freien Märkte« und der »bitteren Medizin«,
die IWF und Weltbank ihnen durch ihr Strukturanpassungsprogramm verordnet haben.
Äthiopien produziert mehr als 90 Prozent seines Nahrungsmittelbedarfs.
Doch auf der Höhe der Krise schätzte die Food and Agriculture Organization
(FAO) den Nahrungsmittelmangel im Jahr 2000 auf 764.000 Tonnen Getreide, also auf ein Minderangebot von 13 Kilo pro Person und Jahr.71 In Amhara lag die Getreideproduktion 1999 und 2000 um 20 Prozent über dem Bedarf. Und doch waren 2,8 Millionen der dort ansässigen Menschen – 17 Prozent der Bevölkerung – in Hungerzonen eingeschlossen und der FAO zufolge
vom Hungertod bedroht. Obwohl der saisonale Getreideüberschuss in Amhara über 500.000 Tonnen betrug, wurde der »Bedarf an Nahrungsmittelhilfe« von der internationalen Gemeinschaft auf fast 300.000 Tonnen geschätzt. Ähnlich war die Situation in Oromiya, der bevölkerungsreichsten
Provinz, wo nach Schätzung der FAO 1,6 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht waren, trotz der mehr als 600.000 Tonnen überschüssigen Getreides. In beiden Regionen, in denen zusammen 25 Prozent der Bevölkerung leben, war also Nahrungsmittelknappheit eindeutig nicht der Grund für
Hunger, Armut und soziales Elend. Doch dafür gaben die verschiedenen
internationalen Hilfsorganisationen und landwirtschaftlichen Forschungsinstitute keine Erklärung.
In Äthiopien kam 1991 nach einem langen und zerstörerischen Bürgerkrieg eine Übergangsregierung ins Amt. Nach dem Sturz des sowjetfreundlichen Regimes von Oberst Mengistu Haile Mariam wurde hastig ein von vielen Gebern finanziertes »Rettungs- und Wiederaufbauprogramm« aufgelegt,
um die annähernd neun Milliarden Dollar Auslandsschulden in den Griff zu
bekommen, die sich während der Mengistu-Regierung aufgetürmt hatten.
Äthiopiens Außenschulden beim Pariser Club wurden im Tausch gegen weitreichende Wirtschaftsreformen umgeschuldet. Mit Unterstützung des USAußenministeriums verordnete der IWF dem Land die übliche bittere Medizin zur Gesundung der Wirtschaft. Gefangen in der Zwangsjacke von Schulden und Strukturanpassung, verpflichtete sich die neue Übergangsregierung
unter Führung der Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front
(EPRDF) trotz der marxistischen Überzeugungen ihrer Führer auf durchgreifende Marktreformen. Für Washington wurde Äthiopien neben Uganda bald
zum Vorzeigeland für freie Märkte im Afrika nach dem Kalten Krieg.
Während der Sozialetat im Rahmen der Strukturanpassung zusammengestrichen wurde, vervierfachten sich die – teilweise aus dem frischen Geldsegen der Entwicklungskredite finanzierten – Militärausgaben seit 1989.72
Da Washington beide Seiten des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges unterstützte, stiegen die US-Waffenverkäufe sprunghaft. Die Beute teilten sich
die Waffenproduzenten und die Konzerne der Agrarindustrie. In der Ära
nach dem Kalten Krieg sicherten sich die Agrarkonzerne das einträgliche
Geschäft, Nothilfe an kriegsverwüstete Länder zu liefern. Aufgrund der
wachsenden Militärausgaben, die mit geborgtem Geld finanziert wurden,
floss nun die Hälfte der äthiopischen Exporterlöse in den Schuldendienst.
In Washington entwarfen IWF und Weltbank im Namen der Übergangsregierung ein politisches Rahmenpapier (Policy Framework Paper), das genau die von Äthiopien zu ergreifenden Maßnahmen festlegte und zur Unterzeichnung durch den Finanzminister nach Addis Abeba geschickt wurde. Die
darin festgelegten strengen Sparmaßnahmen schlossen praktisch die Möglichkeit eines sinnvollen Wiederaufbaus und der Wiederherstellung der verwüsteten Infrastruktur des Landes nach dem Krieg aus. Die Gläubiger verlangten die Liberalisierung des Handels und eine umfassende Privatisierung
der öffentlichen Versorgungsunternehmen, Finanzinstitute, staatlichen Farmen und Fabriken. Wie so oft wurden auch hier Staatsbedienstete auf die
Straße gesetzt, die Löhne eingefroren und die Arbeitsgesetze annulliert, um
es den Staatsunternehmen zu ermöglichen, ihre überschüssigen Arbeiter
loszuwerden. Währenddessen wucherte die Korruption. Die Beratungsfirma
Price Waterhouse Coopers wurde mit der Aufgabe betraut, den Verkauf von
Staatseigentum zu koordinieren, das an ausländisches Kapital zu Billigpreisen versteigert wurde.
Die Reformen führten zur Kürzung der Budgettransfers von der Zentralregierung an die Provinzen, so dass den Regionen eigene Mittel fehlten. Das
Auseinanderbrechen des föderalen Haushaltssystems, unterstützt von mehreren Gebern, wurde als »Regionalisierung« und »Dezentralisierung« verkauft. IWF und Weltbank wussten genau, was sie taten. Der IWF drückte es
so aus: »Die Fähigkeit (der Provinzen) zu effektiven und effizienten Entwicklungsinterventionen ist sehr unterschiedlich, ebenso wie ihre Fähigkeit,
Einnahmen einzutreiben.«73
Spenden als strategische Investitionen. Nach dem Muster der 1991
in Kenia durchgeführten Reformen (siehe Kasten 9.1) wurde der äthiopische
Agrarmarkt bewusst zugunsten der Agrarkonzerne manipuliert. Die Weltbank verlangte die schnelle Aufhebung der Preiskontrollen und aller Subventionen an die Bauern. Die Transport- und Frachtpreise wurden dereguliert, was die Nahrungsmittelpreise in entfernten, von Dürre betroffenen
Gegenden in die Höhe trieb. Der Markt für landwirtschaftliche Einsatzgüter
wie Düngemittel und Saatgut wurde privaten Händlern übergeben, darunter
Pioneer Hi-Bred International, das mit dem staatlichen Saatgutmonopolisten Ethiopia Seed Enterprise (ESE) eine lukrative Partnerschaft
einging.74
Kasten 9.1
Hunger im Brotkorb
Die von IWF und Weltbank erzwungenen »freien Getreidemärkte«
zerstören in Afrika die bäuerliche Wirtschaft und untergraben eine sichere Versorgung mit Nahrungsmitteln. Malawi und Simbabwe hatten einst
üppige Getreideüberschüsse. Ruanda konnte sich bis 1990 mit Nahrungsmitteln praktisch selbst versorgen. Doch dann ordnete der IWF an,
den heimischen Markt mit EU- und US-Getreideüberschüssen zu überfluten, was viele Kleinbauern in den Bankrott stürzte. 1991 und 1992 traf
der Hunger Kenia, Afrikas erfolgreichsten Nahrungsmittelproduzenten.
Die Regierung in Nairobi war zuvor auf eine schwarze Liste gesetzt worden, weil sie nicht die Rezepte des IWF befolgt hatte. Die Deregulierung
des Getreidemarktes war eine der Bedingungen für Kenias Umschuldung
bei den staatlichen Kreditgebern des Pariser Clubs.
Danach bemühte sich Präsident Daniel arap Moi beim IWF um grünes
Licht für die Aufhebung der Sanktionen. Die internationalen Kreditgeber
hatten gefordert, dass der kenianische Staat nicht länger die Nahrungsmittelverteilung in entlegenen Gebiete unterstützen dürfe und auf jede
Regulierung des Agrarmarktes verzichten müsse. Das vorhersehbare Ergebnis: Die Preise für Grundnahrungsmittel in Kenias semiariden östlichen und nordöstlichen Regionen an der Grenze zu Äthiopien und Somalia schossen in die Höhe. Nach UN-Angaben waren beinahe zwei Millionen
Menschen in Hungergebieten eingeschlossen. Die Krise beschränkte sich
allerdings nicht auf Kenias semiaride Regionen. Der Hunger griff auch auf
das Rift Valley über, das blühende landwirtschaftliche Kernland Kenias.
Im ganzen Land waren Nahrungsmittel vorhanden, aber die Kaufkraft
war unter dem Ansturm der vom IWF betriebenen Reformen zusammengebrochen. Überschüssiges Getreide wurde exportiert.
Zu
Beginn
der
Reformen
in
Äthiopien
»spendete«
die
USEntwicklungshilfebehörde USAID große Mengen US-Dünger im Tausch gegen Marktreformen: »Verschiedene landwirtschaftliche Produkte werden zur
Verfügung gestellt im Tausch gegen eine Reform des Getreidemarktes… und
die Beseitigung von Nahrungsmittelsubventionen… Die Reformagenda konzentriert sich auf Liberalisierung und Privatisierung im Düngemittel- und
Transportsektor im Tausch gegen die Finanzierung von Düngemitteln und
den Import von Lastwagen… Diese Initiativen haben uns ein Entée verschafft, um auf wichtige politische Fragen Einfluss zu nehmen.«75
Die Vorräte an gespendetem US-Dünger waren bald erschöpft, trugen aber
dazu bei, lokale Düngemittelproduzenten zu verdrängen. Dieselben Unternehmen, die sich im Düngerimportgeschäft engagierten, kontrollierten über
lokale Zwischenhändler auch den heimischen Düngergroßhandel.
Kommerzielle Farmen und bewässerte Anbauflächen, wo Dünger und ertragreiches Saatgut eingesetzt worden waren, konnten ihre Ernten steigern.
Insgesamt führte die Hilfe jedoch zu größerer wirtschaftlicher und sozialer
Polarisierung auf dem Land. Auf den weniger ertragreichen marginalen Anbauflächen sanken die Ernteerträge der armen Bauern erheblich. Und dort,
wo die Erträge gestiegen waren, befanden sich die Bauern nun in der Umklammerung der Saatgut- und Düngemittelhändler.
1997 gab das Carter Center in Atlanta – das aktiv den Einsatz von Gentechnik in der Maiszucht fördert – stolz bekannt, dass »Äthiopien zum ersten Mal zu einem Nahrungsmittelexporteur« geworden sei.76 Doch die
grausame Ironie war, dass die Kreditgeber die Auflösung von Getreidenotreserven anordneten, die nach der Hungersnot von 1984 bis 1985 angelegt
worden waren. Die äthiopischen Behörden fügten sich.
Statt die Getreidenotreserven des Landes aufzustocken, exportierte
Äthiopien Getreide, um seinen Schuldendienstverpflichtungen nachzukommen. Annähernd eine Million Tonnen der Ernte von 1996 gingen in den Export – ein Quantum, das nach den Zahlen der FAO bei weitem ausgereicht
hätte, um den Getreidemangel von 1999 und 2000 auszugleichen. Tatsächlich wurden die gleichen Grundnahrungsmittel (vor allem Mais), die exportiert worden waren, ein paar Monate später reimportiert. Der Weltmarkt
hatte die Getreidereserven Äthiopiens konfisziert.
Zum Ausgleich wurden US-Überschüsse von genetisch verändertem Mais
– der in der EU verboten ist – in Form von Nahrungsmittelhilfe am Horn von
Afrika verteilt. Die USA hatten einen bequemen Mechanismus gefunden, um
ihre Lager von genmanipuliertem Getreide zu entsorgen. Die Konzerne
kauften nicht nur die äthiopischen Exporte auf, sondern verdienten auch
noch an der Bereitstellung von Hilfslieferungen von Getreide zurück nach
Äthiopien: Während der Hungersnot von 1998 bis 2000 erhielten Giganten
des Getreidehandels wie Archer Daniels Midland und Cargill Inc. einträgliche
Aufträge für Maislieferungen.77
Genmanipulierte Hilfslieferungen und patentiertes Saatgut. Die in
kriegsverwüsteten Ländern abgestoßenen US-Getreide-Überschüsse dienen
auch dazu, die Landwirtschaft armer Länder zu schwächen. USAID »spendete« 1999 und 2000 etwa 500.000 Tonnen Mais und Maisprodukte an Hilfsorganisationen, darunter das World Food Programme, das eng mit dem USLandwirtschaftsministerium zusammenarbeitet. Mindestens 30 Prozent dieser Lieferungen, die von US-Agrarkonzernen beschafft wurden, bestanden
aus überschüssigen Beständen genetisch manipulierten Getreides.78
Befördert durch den Grenzkrieg mit Eritrea und das Elend von Tausenden
von Flüchtlingen, floss so kontaminierte Nahrungsmittelhilfe nach Äthiopien,
die den einheimischen Genpool und die Kulturpflanzen des Landes bedrohte.
Die Hilfslieferungen dienten den Nahrungsmittelgiganten gleichzeitig als
Einfallstor, um die Kontrolle über Äthiopiens Saatgutbanken zu erringen.
»Afrika«, so stellte die Umweltorganisation Biowatch Südafrika fest, »wird
als Mülleimer der Welt behandelt… Ungetestete Nahrungsmittel und Saatgut
zu spenden ist kein Akt der Freundlichkeit, sondern ein Versuch, Afrika noch
weiter in die Abhängigkeit von ausländischer Hilfe zu locken.«79
Darüber hinaus floss ein Teil der Nahrungsmittelhilfe in das Programm
»Nahrung für Arbeit«, das dazu diente, die heimische Produktion noch weiter zugunsten von Getreideimporten zu schwächen. Im Rahmen dieses Programms wurden verarmte und landlose Bauern im Tausch gegen gespendeten US-Mais zur Arbeit in ländlichen Infrastrukturprojekten herangezogen.
In der Zwischenzeit ging das Einkommen kleiner Kaffeebauern schlagartig zurück. Während Pioneer Hi-Bred sich in der Saatgutverteilung und vermarktung positionierte, drang die Cargill Inc. durch ihre Tochter Ethiopian Commodities in den Markt für Getreide und Kaffee ein.80 Bei den über
700.000 Kleinbauern mit weniger als zwei Hektar Land, die zwischen 90 und
95 Prozent des äthiopischen Kaffees produzierten, führte die Deregulierung
der landwirtschaftlichen
Kredite in Verbindung mit geringen Abnahmepreisen zu steigender Verschuldung und Landlosigkeit, besonders in Ostgojam dem Brotkorb Äthiopiens.
Die Agrarkonzerne eigneten sie die traditionelle Saatgutvielfalt Äthiopiens an (Gerste, Teff, Kichererbsen, Sorghumhirse usw.), veränderten sie
genetisch und ließen sich die veränderten Sorten patentieren: »Statt Entschädigung und Respekt bekommen die Äthiopier heute… Rechnungen von
ausländischen Unternehmen, die sich einheimische Arten >patentieren<
ließen und nun Bezahlung für ihre Verwendung verlangen.«81 Die Grundlagen dafür hatte das Privatisierungsprogramm von IWF und Weltbank gelegt,
das auch auf eine »wettbewerbsfähige « Saatgutindustrie zielte. Das staatliche Saatgutmonopol Ethiopian Seed Enterprises schloss sich mit Pioneer HiBred zusammen, um an Kleinbauern hochgezüchtetes und genetisch verän-
dertes Saatgut zusammen mit Herbiziden zu verteilen. Die Vermarktung des
Saatguts wurde mit finanzieller und technischer Hilfe der Weltbank auf ein
Netzwerk privater Subunternehmer und Saatgutfirmen übertragen. Der traditionelle Tausch von Saatgut unter den Bauern sollte im Rahmen des Weltbankprogramms durch ein marktorientiertes System »privater Saatgutproduzenten und -verkäufer« ersetzt werden.82
Das landwirtschaftliche Forschungsinstitut Äthiopiens wiederum arbeitete
mit dem Internationalen Zentrum zur Verbesserung von Mais und Weizen
(CIMMYT) zusammen, um neue Kreuzungen zwischen mexikanischen und
äthiopischen Maissorten zu entwickeln.83 Gegründet in den 40er Jahren von
Pioneer Hi-Bred International mit Unterstützung der Ford- und RockefellerStiftungen, stand das CIMMYT von Anfang an in enger Beziehung zum USAgrarbusiness. Zusammen mit dem britischen Norman Borlaug Institute
fungiert es als Forschungsarm und Sprachrohr der Saatgutkonzerne. Der
Rural Advancement Foundation zufolge verdienen US-Landwirte »bereits
jedes Jahr 150 Mio. Dollar durch den Anbau von Gerstensorten, die aus
äthiopischen Stämmen entwickelt wurden. Doch niemand in Äthiopien
schickt ihnen eine Rechnung.«84
Die Auswirkungen der Hungersnot. Die Hungersnot von 1984 und 1985
hatte die traditionellen äthiopischen Kulturpflanzen und Saatgutreserven
ernsthaft bedroht. Als Reaktion darauf legte das damalige Mengistu-Regime
durch sein Pflanzenforschungszentrum und in Zusammenarbeit mit der einheimischen NGO Seeds of Survival ein Programm zur Bewahrung der äthiopischen Artenvielfalt auf.85 Dieses Programm, das unter der Übergangsregierung fortgesetzt wurde, verband geschickt »die Bewahrung und Verbesserung der Feldfrüchte in den ländlichen Gemeinden mit unterstützenden
Diensten des Staates«. Unter Beteiligung von etwa 30.000 Bauern entstand
ein ausgedehntes Netz mit Standorten auf Höfen und geschützten Flächen.
1998, gleichzeitig mit dem Ausbruch der Hungersnot von 1998 bis 2000,
ordnete die Regierung die Beendigung des Programms an.86
Das versteckte Ziel war die Verdrängung der traditionellen Sorten und
Kulturpflanzen aus den dörflichen Pflanzenzuchtanstalten, die durch ein
Tauschsystem über 90 Prozent der Bauern mit Saatgut versorgten. Wie die
vorangehende bedrohte auch die Hungersnot von 1998 bis 2000 den Erhalt
der Saatgutbanken: »Die Getreidereserven, die dieser Bauer normalerweise
einlagert, um harte Zeiten zu überstehen, sind aufgebraucht. Wie 30.000
andere Haushalte im Galga-Gebiet hat seine Familie auch die Saatgutbestände für die nächste Ernte gegessen.«87 Ähnlich erging es den Kaffeebauern. Hier war die genetische Basis der arabischen Bohnen durch den Zusammenbruch der Erzeugerpreise und die Verarmung der Kleinbauern bedroht.
Die Hungersnot – selbst zu einem großen Teil das Produkt der Wirtschaftsreformen, die IWF, Weltbank und US-Regierung zugunsten von
Großkonzernen durchgesetzt haben – hatte also den Effekt, Äthiopiens Artenvielfalt zum Nutzen der Biotech-Firmen zu zerstören. Die »Schenkungen« des World Food Program und von USAID begünstigten das Eindringen
von Agrar- und Biotech-Konzernen in das landwirtschaftliche Kernland
Äthiopiens. Derartige Notprogramme sind daher nicht die Lösung, sondern
die Ursache des Hungers. Indem sie die Bauern bewusst in Abhängigkeit
von genetisch verändertem Saatgut bringen, bereiten sie künftigen Hungersnöten den Boden.
Heute, 17 Jahre nach der letzten großen Hungersnot, der eine Million
Menschen zum Opfer fielen, geht in Äthiopien wieder der Hunger um. Dieses Mal laufen acht Millionen Menschen Gefahr zu verhungern. Wir wissen,
dass daran nicht nur das Wetter schuld ist.
TEIL III
Süd- und Südostasien
10. Indien: Die indirekte Herrschaft des IWF
Indirekte Herrschaft hat in Indien eine lange Tradition, da schon unter der
britischen Kolonialregierung die Kaste der Rajputen und die Fürstenstaaten
ein recht großes Maß an Autonomie genossen. Im Gegensatz dazu berichtet
der indische Finanzminister unter der Vormundschaft von IWF und Weltbank
unter Umgehung des Parlaments und des demokratischen Prozesses direkt
den internationalen Finanzorganisationen in Washington. Das indische Budget, formal aufgestellt von indischen Beamten in Neu-Delhi, ist zu einem
bloß nachvollziehenden, überflüssigen Dokument geworden, sind doch die
wichtigsten Posten bereits in den Kreditvereinbarungen mit Weltbank und
IWF geregelt.
Der »chirurgische Eingriff« von 1991. Die Stützungsaktion des IWF für
die Minderheitsregierung der Kongresspartei unter Premierminister P. V.
Narasimha Rao von 1991 war auf den ersten Blick nicht so dramatisch wie
in vielen hoch verschuldeten Ländern Lateinamerikas und Osteuropas, die
einer Schockbehandlung durch den IWF unterzogen wurden. Indien schien
nicht unmittelbar vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und gesellschaftlicher Auflösung zu stehen. Das Land erlebte keine Hyperinflation, und
sein Devisenmarkt war nicht aus den Fugen geraten. Doch die sozialen
Auswirkungen auf die 900 Millionen Einwohner waren vernichtend: Weit
verbreiteter chronischer Hunger und soziales Elend waren direkte Folge der
Wirtschaftsreformen.
Das Programm von IWF und Weltbank begann in Indien nach dem Fall der
Regierung der Janata-Dal-Partei unter Vishwanath Pratap Singh 1990 und
der Ermordung von Rajiv Gandhi während des Wahlkampfes in Tamil Nadu
1991. Die Regierung wurde verpflichtet, 47 Tonnen Gold zur »sicheren Verwahrung« in den Tresoren der Bank von England zu hinterlegen, um die
Forderungen der internationalen Kreditgeber zu befriedigen.1 Aber die IWFVereinbarung, die kurz darauf umgesetzt wurde, sollte Indien bestenfalls
eine kurze Atempause verschaffen: Angesichts einer Verschuldung von über
80 Mrd. Dollar lieferten die IWF- und Weltbankkredite kaum genug flüssige
Mittel, um den Schuldendienst von sechs Monaten zu leisten, und genau
dafür waren sie von Anfang an vorgesehen.
Der »chirurgische Eingriff« der neuen Wirtschaftspolitik, den der LWF
1991 dem Land verordnete, forderte von der indischen Regierung die Kürzung der Ausgaben für Sozialprogramme und Infrastrukturmaßnahmen, die
Beseitigung staatlicher Subventionen und von Preisstützungen (einschließlich der Subvention von Nahrungsmitteln) sowie den Verkauf der profitableren Staatsunternehmen zu einem »guten Preis« an große Privatunternehmen und ausländisches Kapital. Weitere Reformmaßnahmen sahen die
Schließung einer großen Zahl so genannter »kranker Staatsunternehmen«
vor, die Liberalisierung des Handels, den freien Zugang ausländischen Kapitals zum indischen Markt sowie große Reformen des Banken-wesens, der
Finanzinstitute und der Steuerstruktur.
Die Kreditvereinbarungen mit dem IWF zusammen mit dem Strukturanpassungskredit der Weltbank, die im Dezember 1991 unterzeichnet wurden
– Inhalt und Bedingungen sind ein streng gehütetes Staatsgeheimnis – sollten Indien »helfen«, seine Zahlungsbilanzschwäche zu überwinden sowie
das Haushaltsdefizit und den Inflationsdruck zu vermindern. Das von IWF
und Weltbank geschnürte Paket erreichte jedoch das genaue Gegenteil: Es
trieb die Wirtschaft in eine Stagflation – der Reispreis stieg in den Monaten
nach den wirtschaftlichen Maßnahmen von 1991 um mehr als 50 Prozent –
und verschärfte die Zahlungsbilanzkrise als Folge gestiegener Kosten für
importierte Rohstoffe und Luxusgüterimporte. Außerdem trieb die Liberalisierung des Handels in Verbindung mit der Schrumpfung der Binnenkaufkraft und dem freien Zugang ausländischen Kapitals eine große Zahl von
indischen Produzenten in den Bankrott.
Zur sozialen Absicherung wurde 1991 ein eigener Fonds eingerichtet
(National Renewal Fund). Dieses von den Weltbankberatern vorgesehene
und für »gefährdete soziale Gruppen« gedachte Sozialprogramm schuf freilich keinen angemessenen Ausgleich für die geschätzten vier bis acht Millionen öffentlichen und privaten Beschäftigten (der insgesamt 26 Millionen
gewerkschaftlich organisierten Erwerbstätigen), die als Folge des Programms entlassen werden sollten. Mit dem Fonds sollte nur der Widerstand
der Gewerkschaften beschwichtigt werden. In der Textilindustrie sollte annähernd ein Drittel der Arbeiter ihren Job verlieren. Ein Großteil der Autound Maschinenbauindustrie sollte durch den Zustrom ausländischen Kapitals
und durch Joint Ventures verschwinden. Die G7-Staaten waren begierig
darauf, ihre Rezession nach Indien zu exportieren. Westliche und japanische
Konzerne saßen schon in den Startlöchern, um den indischen Markt zu erobern. Sie sahen ihre Chance gekommen, mithilfe der GATT-Bestimmungen
über den Schutz geistigen Eigentums das indische Patentrecht von 1970 zu
beseitigen, um Produktpatente anzumelden und sich genetisch veränderte
Kulturpflanzen schützen zu lassen – eine Möglichkeit, praktisch die Kontrolle
über einen großen Teil der indischen Wirtschaft zu gewinnen.
Diese »Abwicklungspolitik« – (exit policies), die einen umfassenden Politikwechsel markieren sollte, trug nichts zur Lösung der schwerwiegenden
Probleme von Bürokratisierung und Missmanagement in den staatlichen
Unternehmen Indiens bei und gab auf die Notwendigkeit einer Modernisierung der indischen Industrie keine sinnvolle Antwort. Obwohl das IWFProgramm Indien die Möglichkeit einer eigenständigen, nationalen kapitalistischen Entwicklung verweigerte – ebendas war sein verstecktes Ziel – ‚
erhielten die Reformen dennoch die Unterstützung der großen Unternehmerfamilien Indiens, die eine fragile Allianz mit der Immobilienlobby aus
den oberen Kasten eingingen. Die Familien der Tatas und Birlas identifizierten sich zunehmend mit ausländischem Kapital und der globalen Marktwirtschaft statt mit den nationalen Interessen. Die Tendenz zur Konzentration
des Eigentums in Indien wächst. Vorzugskredite für kleine und mittlere Unternehmen werden beseitigt und die großen Unternehmerfamilien dringen in
Partnerschaft mit ausländischem Kapital rasch in eine Vielzahl von Bereichen vor, die zuvor kleinen Industriebetrieben vorbehalten waren.
Große Industrieunternehmen sahen in dem von Regierung und IWF vorgeschlagenen Richtungswechsel »eine Gelegenheit, die Arbeitsgesetze zu
ändern und unsere Arbeiter loszuwerden. Für uns ist es profitabler, Unterverträge mit kleinen Fabriken abzuschließen, die nicht organisierte Gelegenheitsarbeiter beschäftigen.«2 Bata, der multinationale Schuhproduzent,
zahlte Anfang der 90er Jahre seinen gewerkschaftlich organisierten Arbeitern 80 Rupien am Tag, umgerechnet drei US-Dollar. Mit den Reformen der
Arbeitsgesetzgebung konnte er sie nun entlassen und Unterverträge mit
unabhängigen Schustern für nicht mehr als 25 Rupien am Tag – etwa ein
Dollar – schließen. In der Juteindustrie, in kleinen Maschinenbaubetrieben
und in der Bekleidungsindustrie neigen die großen Unternehmensmonopole
zu Verträgen mit Subunternehmern, um ihre besser bezahlte, abgesicherte
Belegschaft zu reduzieren.
Die Armen werden ausgeraubt… Statt die Arbeitsgesetzgebung auszuweiten, um Gelegenheits- und Saisonarbeiter zu schützen, schlug das IWFProgramm vor, den Armen durch völlige Abschaffung der Arbeitsgesetze
»zu helfen«, da angeblich »diese Gesetze die Arbeitsaristokratie« begünstigen und den nicht gewerkschaftlich organisierten Teil der Erwerbstätigen
»diskriminieren«. Weder die Regierung noch der IWF befassten sich mit den
sozialen Auswirkungen der neuen Wirtschaftspolitik auf die Arbeiter in der
Landwirtschaft, auf Handwerker und Kleinunternehmer.
In Indien sind mehr als 70 Prozent der ländlichen Haushalte, insgesamt
über 400 Millionen Menschen, Kleinbauern oder landlose Feldarbeiter. In
Gebieten mit künstlicher Bewässerung werden Landarbeiter 200 Tage im
Jahr beschäftigt, in der natürlich bewässerten Landwirtschaft etwa 100 Tage. Die Streichung von Subventionen für Düngemittel – eine ausdrückliche
Bedingung der IWF-Vereinbarung – und die gestiegenen Preise für landwirtschaftliche Einsatzgüter und Kraftstoffe trieben eine große Anzahl kleiner
und mittlerer landwirtschaftlicher Betriebe in den Bankrott. Der Preis für
chemischen Dünger schoss unmittelbar nach Einführung der neuen Wirtschaftspolitik um 40 Prozent in die Höhe.
In der Folge wurden Millionen von landlosen Farmarbeitern aus den unteren Kasten, die bereits weit unter der Armutsgrenze lebten, von der neuen Wirtschaftspolitik von Finanzminister Manmohan Singh jeder Existenzgrundlage beraubt. Diese Menschen wurden von der Wirtschaftspolitik zu
einer verachteten Kaste, zu neuen »Unberührbaren« gemacht. Für die Eliten der oberen Kasten sind es Menschen, die nicht wirklich zählen. Die
Auswirkungen der wirtschaftlichen Medizin des IWF auf diese Teile der Erwerbsbevölkerung wurden geflissentlich übersehen. Für den nicht organisierten Teil der Erwerbstätigen trafen der IWF und die indische Regierung
keinerlei Vorkehrungen. Für die häuslichen Kleinproduzenten, so Finanzminister Singh, »gibt es keine Probleme, da die Löhne sinken werden«.3
In Tamil Nadu z.B. betrug 1992 der von der Provinzregierung festgelegte
Mindestlohn für Landarbeiter 15 Rupien am Tag (0,57 Dollar). Die Arbeitsgesetze wurden jedoch nicht durchgesetzt, und die tatsächlichen Löhne der
Landarbeiter lagen mit Ausnahme der Erntesaison beträchtlich niedriger.
Für das Pflanzen von Reis z.B. erhielten die Arbeiter drei bis fünf Rupien am
Tag; auf dem Bau bekamen Männer zehn bis 15 Rupien und Frauen acht bis
zehn Rupien am Tag.4 Vielleicht mit der Ausnahme von Kerala und Westbengalen waren die gesetzlichen Mindestlohnregelungen zum Schutz der
Rechte von Landarbeitern weitgehend ineffektiv.
Auf der Autobahn zwischen Hyderabad und Bangalore kann man beobachten, wie Kinderarbeiter in den Dhone-Kalksteinminen schwere Lasten in
Bambuskörben eine Treppe von etwa 60 Stufen hinauftragen, von wo aus
der Kalkstein in hohe Öfen geschüttet wird. Erwachsene Arbeiter und Kinder
erhalten 9,5 Rupien am Tag: »Wir müssen hier trotz des giftigen Qualms,
der Hitze und des Staubes arbeiten, weil die Löhne höher sind als für die
Arbeit auf dem Land.«5
… oder durch Hungertod entsorgt. In der Zeit nach der Unabhängigkeit war der Hungertod in Indien weitgehend auf entlegene Stammesgebiete z.B. in Tripura oder Nagaland beschränkt. Das ist heute anders.
Die Indizien häufen sich, dass Hunger seit der Einführung der neuen Wirtschaftspolitik 1991 weit verbreitet ist. Eine Studie über den Hungertod unter Webern in einer relativ wohlhabenden ländlichen Gemeinde in Andhra
Pradesh, die in den Monaten nach der Einführung der neuen Wirtschaftspolitik durchgeführt wurde, macht die sozialen Auswirkungen des IWFProgramms deutlich. Mit der Währungsabwertung und der Aufhebung der
Kontrollen für Baumwollgarnexporte führten die sprunghaft gestiegenen
heimischen Preise für Baumwollgarn zu einem Zusammenbruch des nach
pancham (24 Meter) berechneten Preises, den der Zwischenhändler im so
genannten Verlagssystem an die Weber bezahlte: »Radhakrishnamurthy
und seine Frau waren in der Lage, drei bis vier panchams im Monat zu weben, was ihnen ein mageres Einkommen von 300 bis 400 Rupien für eine
sechsköpfige Familie einbrachte. Dann kam am 24. Juli 1991 der Bundeshaushalt, der Preis für Baumwollgarn stieg sprunghaft an und die Mehrkosten wurden auf die Weber abgewälzt. Radhakrishnamurthys Familieneinkommen sank auf 240 bis 320 Rupien im Monat.«6
Der Weber Radhakrishnamurthy aus dem Dorf Gollapalli im Distrikt Gutur starb am 4. September 1991 an Hunger. Zwischen dem 30. August und
dem 10. November 1991 wurde von mindestens 73 Hungertoden in nur
zwei Distrikten von Andhra Pradesh berichtet. Statt die Armut zu beseitigen,
wie der damalige Weltbankpräsident Lewis Preston behauptete, trug das
Programm von IWF und Weltbank tatsächlich dazu bei, die Armen zu »beseitigen«. Verbunden mit einem 50-prozentigen Anstieg des Reispreises,
der auf die Abwertung und die Streichung der Subventionen für Nahrungs-
mittel und Dünger folgte, sanken die Realeinkommen der Weber in den
sechs Monaten nach Einführung des IWF-Programms 1991 um mehr als 60
Prozent.7 Es gab 3,5 Millionen Handwebstühle in ganz Indien, die eine Bevölkerung von 17 Millionen Menschen ernährten.
Eine ähnliche Situation herrscht in den meisten kleinbäuerlichen und
städtischen Heimarbeitsbetrieben vor, die im Rahmen des Verlagssystems
arbeiten. Es gibt in Indien z.B. mehr als eine Million Diamantenschleifer,
von deren Einkünften fast fünf Millionen Menschen leben. Die großen Diamantenexporteure in Bombay importieren Rohdiamanten aus Südafrika und
schließen über Zwischenhändler Unterverträge mit ländlichen Werkstätten
in Maharashtra. Sieben von zehn in Westeuropa und den USA verkauften
Diamanten werden in Indien geschliffen. Während Diamanten in den reichen
Ländern »die besten Freunde einer Frau« sein sollen, ist in Indien Armut die
notwendige Voraussetzung dieses profitablen Exportgeschäfts. Ein großer
Exporteur drückt es so aus:
»Schmuck herzustellen ist billige Arbeit.« Zwar sind die Nahrungsmittelpreise gestiegen, »aber wir haben die Zahlungen an die Arbeiter
in den Dörfern nicht erhöht. Durch die Abwertung sind unsere Dollarlohnkosten gesunken, wir sind wettbewerbsfähiger und geben den Gewinn an unsere Kunden in Übersee weiter.«8
Zugunsten des Exports. Das Programm von IWF und Weltbank empfahl,
wie stets, die Aufhebung der gesetzlichen Mindestlohngarantien und die
Abkoppelung der Löhne vom Preisindex. Die vorgeschlagene »Liberalisierung« des Arbeitsmarktes verstärkte jedoch nur die despotischen Sozialbeziehungen auf dem Arbeitsmarkt und leistete in der Praxis der Ausbeutung
der unteren Kasten, der Halbsklaverei und der Kinderarbeit Vorschub. Aufgrund der von der Weltbank durchgesetzten Aufhebung der Obergrenze für
Landbesitz wurden immer mehr Kleinbauern verdrängt sowie Gemeindeland
zunehmend von Feudalherren und Großbauern enteignet. Die Liberalisierung des Bankensystems – z.B. durch Beseitigung der ländlichen Kreditkooperativen – trug zur Stärkung von Geldverleihern in den Dörfern bei.9
So verwandelte sich das IWF-Programm in ein Instrument für »wirtschaftlichen Völkermord«: Mehrere hundert Millionen Menschen – Landarbeiter, Handwerker, kleine Händler usw. – mussten mit einem täglichen
Pro-Kopf-Einkommen von erheblich weniger als 50 US-Cents überleben,
während die heimischen Preise nach der Logik der IWF-Maßnahmen auf
Weltmarktniveau stiegen.10 Als die Reis- und Getreidepreise im Jahr nach
Einführung der neuen Wirtschaftspolitik im Juli 1991 um mehr als 50 Prozent stiegen und die durchschnittlichen Arbeitstage sowohl in der natürlich
als auch in der künstlich bewässerten Landwirtschaft sanken, wurden weite
Teile der ländlichen Bevölkerung in chronischen Hunger getrieben – ein in
diesem Maßstab seit den großen Hungersnöten in Bengalen in den frühen
40er Jahren beispielloser Prozess.11 Im Gegensatz dazu stand dem Sinken
des heimischen Nahrungsmittelverbrauchs ein Anstieg der Reisexporte gegenüber. Das Unternehmen Tata Exports charakterisierte die Lage so: »Die
Abwertung war sehr gut für uns. In Verbindung mit der Aufhebung von
Mengenbegrenzungen bei Reisexporten erwarten wir eine Zunahme unserer
Reisverkäufe auf dem Weltmarkt von 60 Prozent.«12
Die Reformen von IWF und Weltbank speisen sich aus der Armut der
Menschen und dem Schrumpfen des heimischen Marktes. Obwohl die indische Bevölkerung erheblich größer ist als die aller OECD-Länder zusammengenommen (annähernd 750 Millionen), bewirken die auferlegten Wirtschaftsreformen, dass sich die indische Wirtschaft in erheblichem Umfang
auf den Export ausrichtet. In der Logik des Strukturanpassungsprogramms
ist der einzig erfolgversprechende Absatzmarkt der Markt der reichen Länder. Das IWF-Programm führt zur Schrumpfung des heimischen Verbrauchs
und orientiert Indiens Produktion auf den internationalen Markt. Armut ist
ein »Input« auf der Angebotsseite: Die Arbeitskosten in Dollar sind gering,
also ist es die heimische Kaufkraft auch. Nach den IWF-Maßnahmen fielen
z.B. die Verkäufe von Stoff in Indien auf acht Meter pro Kopf – kaum ausreichend für einen Sari und eine Bluse. 1965 waren es noch 16 Meter und
1985 immerhin zehn Meter gewesen.
Polarisierung und Parallelregierung. Zusammen mit den separatistischen Bewegungen in Kaschmir Punjab und Assam, Unruhen in Amritsar und einem unsicheren Waffenstillstand an der pakistanischen Grenze
hat die wirtschaftliche Medizin des IWF zu einer weiteren Polarisierung der
indischen Gesellschaft geführt und möglicherweise die Vorbedingungen für
den Zerfall des indischen Bundesstaates geschaffen. Die vom IWF aufgezwungenen Sparmaßnahmen haben die Spannungen zwischen der Bundesregierung und Bundesstaaten verschärft sowie dazu beigetragen, die religiösen und ethnischen Konflikte zu vertiefen.
Die wirtschaftspolitischen Reformen fanden bei der Kongresspartei ein
höchst zwiespältiges Echo. Mehrere Minister wandten sich offen gegen das
IWF-Paket. Der Anstieg der Nahrungsmittelpreise hat den Rückhalt der
Kongresspartei im Volk weiter geschwächt, nachdem sich bereits durch die
Annäherung an Israel seit dem Golfkrieg – die sich zum Teil dem Druck der
USA verdankte – ihr Image als säkulare Partei eingetrübt hatte, was zur
Stärkung der Muslimischen Liga führte.
Sowohl hinduistische als auch islamistische Fundamentalisten nähren
sich aus der Armut der Massen. Die größte Oppositionspartei, die hinduistische Bharatiya Janata Party, verurteilte die Politik der »offenen Tür« der
Regierung rhetorisch. Unter Berufung auf Mahatma Gandhis Konzept von
swadeshi (Eigenständigkeit) rief den fundamentalistische Zweig der JanataPartei zu einem massiven Boykott ausländischer Waren auf. Die National
Front und die Leftist Front, geführt von der (marxistischen) Kommunistischen Partei Indiens, wiederum fürchteten, dass bei einem Sturz der Minderheitsregierung der Kongresspartei die Janata-Partei an die Macht kommen könnte. Als die Janata-Partei 1996 tatsächlich die Wahl gewann, führte
jedoch die von ihr gestellte Regierung weitgehend die zu Beginn der 90er
Jahre begonnenen IWF-Reformen fort.
Die internationale Bürokratie der Weltfinanzorganisationen in Washington hat in Indien eine »Parallelregierung« installiert, die sich auf diese internen sozialen, religiösen und ethnischen Gegensätze Indiens stützt (»Teile
und herrsche«). Seit der Zeit des Ausnahmezustands Mitte der 70er Jahre
und noch weit stärker seit der Rückkehr Indira Gandhis an die Macht 1980
sind Vertreter des IWF und der Weltbank in entscheidende Beraterpositionen in den Ministerien der Zentralregierung eingerückt. Es überrascht daher
nicht, wenn der IWF das Gefühl hat, dass »es insgesamt leicht war, mit indischen Regierungsvertretern zu verhandeln…‚
verglichen mit anderen
Ländern der Dritten Welt, wo man eine Menge düsterer Mienen am Verhandlungstisch sieht. Das wirtschaftliche Denken ging weitgehend in die
gleiche Richtung, ihre Haltung war äußerst versöhnlich.«13
Unter strenger Aufsicht des IWF werden vierteljährlich die Fortschritte
überprüft. Mit einem computerisierten System, das im Finanzministerium
installiert ist, haben Vertreter des IWF und der Weltbank nicht später als
sechs Wochen nach Ablauf jedes Quartals Zugang zu den entscheidenden
makroökonomischen Daten Indiens. »Wir nehmen die Überwachung sehr
genau«, so der Vertreter des IWF in Neu-Delhi, »wir überprüfen exakt die
Informationen, die wir erhalten… Wir achten sorgfältig darauf, dass sie (die
Vertreter der indischen Regierung) nicht mogeln.« Etwa 40 zentrale Variablen der Wirtschaftsentwicklung werden überprüft: »Wir haben in die Vereinbarung auch zehn strukturelle Zielgrößen eingeschlossen. Das sind keine
ausdrücklichen Bedingungen der Kreditvereinbarung, sie gehören in den
weiteren Rahmen von Strukturreformen, denen sich die Regierung nach
unserem Wunsch öffnen soll.«
Trotz der genauen Vorgaben in den Kreditvereinbarungen ging es dem
IWF jedoch vor allem darum, den Zusammenbruch des Staatshaushalts zu
erzwingen, dem indischen Staat jeden Bewegungsspielraum und die Kontrolle über die wichtigsten Instrumente der Steuer- und Geldpolitik zu nehmen. Seine Bedingungen vereitelten praktisch von Anbeginn die Möglichkeit
wirtschaftlichen Wachstums. Der IWF war jedoch bei den Zahlen nicht pingelig. Tatsächlich kommt es ihm auf die »strukturellen Zielgrößen« an, nicht
auf die quantitativen Ziele. Was zählt, ist das beiderseitige Einverständnis
über Bedingungen, die in den Kreditvereinbarungen nicht notwendigerweise
offen genannt werden: »Die Regierung muss uns Signale geben, dass sie
sich in die richtige Richtung bewegt.«
Zur Beziehung der Regierung zu den Washingtoner FinanzOrganisationen gehört, dass IWF und Weltbank im Namen des indischen
Finanzministeriums entscheidende politische Dokumente direkt selbst verfassen. Leicht belustigt vermerkte die indische Presse, dass sowohl das
Memorandum über die Wirtschaftspolitik vom 27. August 1991 – ein entscheidendes Dokument in der ersten Übereinkunft der Regierung mit dem
IWF – als auch der Begleitbrief an den IWF-Direktor Michel Camdessus in
»amerikanischer Schreibweise« verfasst waren – also sehr wahrscheinlich
von IWF-Vertretern in Washington stammten –, nicht in der britischen
Schreibweise und Diktion, die indische Beamte üblicherweise benutzen.14
Ein Cartoon brachte es so auf den Punkt: »Ja, Sir, es gibt schreckliche Fehler in Grammatik, Buchstabierung und Syntax. Aber ich habe es nicht geschrieben, Sir. Es kam, mit der Bitte um Unterschrift, von der Weltbank.«15
Ein paar Tage vor der Haushaltsdebatte am 29. Februar 1992 wurde offenkundig, dass der Finanzminister die Hauptpunkte des Haushaltsvorschlags
nicht nur zuvor in einem Brief an den damaligen Weltbankpräsidenten Lewis
Preston hatte »durchsickern« lassen. Das Budget war vielmehr bereits integraler Bestandteil der Vereinbarung über den Strukturanpassungskredit mit
der Weltbank gewesen, die im Dezember 1991 unterzeichnet worden war.16
11. Bangladesch: Unter Vormundschaft
Im August 1975 putschte in Bangladesch das Militär, ermordete Präsident
Mujibur Rahman und etablierte eine Militärjunta. Unterstützt wurden die
Putschisten von maßgeblichen Figuren des eigenen Geheimdienstes und
vom CIA-Büro in der amerikanischen Botschaft in Dhaka.17 Schon in den
Monaten vor dem Mord hatte das US-Außenministerium einen Plan für einen
»stabilen politischen Übergang« für die Zeit nach der militärischen Machtübernahme ausgearbeitet.
IWF und Weltbank unterstützten das US-Konzept, denn bereits im Jahr
zuvor hatten Dhakas internationale Gläubiger die Bildung eines »Hilfskonsortiums« unter Aufsicht der Weltbank gefordert. Das erste Wirtschaftspaket für Bangladesch, das Mitte der 70er Jahre geschnürt wurde, enthielt bereits alle wichtigen Zutaten späterer Strukturanpassungsprogramme. In
vielerlei Hinsicht war Bangladesch ein Testfall, an dem der IWF seine wirtschaftlichen Gesundungsrezepte noch vor Ausbruch der Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre erproben konnte. Sein wirtschaftliches Stabilisierungsprogramm mit den später üblichen Zutaten wie Abwertung und Preisliberalisierung trug zur Verschärfung des Hungers bei, der in mehreren Regionen
des Landes ausgebrochen war.
Nach dem Sturz und der Ermordung Rahmans machten die USA weitere
Militärhilfe von der Bedingung abhängig, dass Bangladesch der vom IWF
verordneten Politik treu bliebe. Das US-Außenministerium rechtfertigte sein
Hilfsprogramm für das neue Militärregime damit, dass die Politik der neuen
Regierung »pragmatisch und blockfrei« sei. Die USA wollten die Blockfreiheit des Landes unterstützen und Bangladesch in seiner wirtschaftlichen
Entwicklung helfen.18
Scheindemokratie und die Macht der Kontrolleure. Seit sich General
Zia ur Rahman, der 1981 selbst ermordet wurde, 1975 zum Präsidenten
putschte, stand Bangladesch unter ständiger Überwachung der internationalen Kreditgeber. Dies setzte sich unter der Herrschaft von General Hussain Mahommad Ershad (bis 1990) fort. Der Staatsapparat unterstand mit
dem geheimen Einverständnis der herrschenden Militärclique der festen
Kontrolle der internationalen Finanzorganisationen und des »Hilfskonsortiums«, das seit seiner Einrichtung einmal im Jahr in Paris zusammenkam.
Zu diesen Treffen wird die Regierung in Dhaka gewöhnlich eingeladen und
entsendet dann Beobachter.
Der IWF hatte im vierten Stock der Zentralbank ein Verbindungsbüro
eingerichtet, die Weltbank war mit Beratern in den meisten Ministerien präsent. Auch die von Japan kontrollierte Asian Development Bank spielte eine
wichtige Rolle bei der Gestaltung des wirtschaftspolitischen Reformkurses.
Ein monatliches Arbeitstreffen unter Leitung des Weltbankbüros in Dhaka
gab den verschiedenen Gebern und Organisationen Gelegenheit, die
wesentlichen Elemente der staatlichen Wirtschaftspolitik effizient – und an
den Ministerien vorbei – zu koordinieren.
1990 führte eine wachsende Opposition gegen die Militärdiktatur zum
Rücktritt von Ershad, dem Bestechlichkeit und Korruption vorgeworfen wurde. Nach der zwischenzeitlichen Bildung einer provisorischen Regierung
brachten jedoch auch die folgenden Parlamentswahlen und die daraus hervorgegangene Regierung von Begum Khaleda Zia, der Witwe von Zia ur
Rahman, keinen grundlegenden Wandel der staatlichen Institutionen mit
sich. In vielerlei Hinsicht wurde Kontinuität gewahrt: So erhielten viele der
ehemaligen Günstlinge von General Ershad Schlüsselpositionen in der neuen »Zivil«-Regierung.
Die vom IWF finanzierten Wirtschaftsreformen trugen zur Entstehung einer Rentier-Wirtschaft bei, die von nationalen Eliten kontrolliert wurde und
weitgehend vom Außenhandel und von der Zweckentfremdung von Hilfsgeldern abhing. Mit der Wiederherstellung einer »parlamentarischen Demokratie« stärkten mächtige Militärs ihre Geschäftsinteressen.19 Die Regierungspartei Bangladesh Nationalist Party stand unter dem Schutz der dominanten Militärclique.
Mit der Wiederherstellung der formalen Demokratie 1991 wurde Hasina
Wajed von der Awami-Liga, die Tochter des ermordeten Präsidenten Mujibur Rahman, Oppositionsführerin. Das öffentliche Interesse konzentrierte
sich auf die parlamentarische Rivalität zwischen der »Witwe« und der »Waisen«; die Geschäfte der Machtcliquen, einschließlich der Militärführer, mit
den »Hilfsorganisationen« und Kreditgebern blieben dagegen praktisch unbeachtet. Tatsächlich stützten die Kreditgeber im Namen »guter Regierungsführung« (good governance) eine Scheindemokratie, die von den
Streitkräften kontrolliert wurde und in der die fundamentalistische Bewegung Jamaat-i-islami großen Einfluss genoss. In mancher Hinsicht war Begum Khaleda Zia eine fügsamere politische Marionette als der abgesetzte
Militärdiktator Ershad.
Nun hatte also das »Hilfskonsortium« die Kontrolle über die öffentlichen
Finanzen von Bangladesch übernommen. Dies geschah jedoch nicht nur
durch die Erzwingung einer strengen Steuer- und Geldpolitik. Die Kreditgeber überwachten die Verwendung der Geldmittel und die Entscheidungen
über Entwicklungsprioritäten auch ganz direkt. »Wir wollen nicht für jedes
Investitionsprojekt eine Vereinbarung treffen«, sagte ein Weltbankberater.
»Was wir wollen, ist Disziplin. Gefällt uns die Liste der Projekte? Welche
Projekte sollten beibehalten werden? Gibt es Schwachpunkte in der Liste?«20
Darüber hinaus gewann die Weltbank durch die Vereinbarungen über einen Kredit zur Verwaltung der öffentlichen Ressourcen (Public Resources
Management Credit) die Kontrolle über den gesamten Haushaltsprozess. Sie
überwachte die Mittelzuweisung an die einzelnen Ministerien und kontrollierte, wie sie dort genau verwendet wurden: »Natürlich können wir
nicht den Haushalt für sie aufstellen! Die Verhandlungen sind in dieser Hin-
sicht komplex. Trotzdem stellen wir sicher, dass sie sich in die richtige Richtung bewegen… Unsere Leute arbeiten mit den Leuten in den Ministerien
zusammen und zeigen ihnen, wie man die Haushalte vorbereitet.«
Das Hilfskonsortium kontrollierte auch die Reform des Bankensystems,
die während der Regierung von Khaleda Zia durchgeführt wurde. Entlassungen wurden angeordnet, Staatsunternehmen geschlossen. Eine strenge
Haushaltsführung hinderte die Regierung daran, interne Ressourcen zu mobilisieren. Für die meisten öffentlichen Investitionsprojekte forderte das
Hilfskonsortium zudem internationale Ausschreibungen. Statt einheimischer
Firmen erhielten große internationale Generalunternehmer die Aufträge. Die
Kapitalbildung im eigenen Land wurde somit vereitelt.
Die Zerstörung der Selbstversorgung. Der IWF erzwang auch die Beseitigung der Subventionen für die Landwirtschaft und trug so dazu bei, dass
in den frühen 80er Jahren eine Vielzahl kleiner und mittlerer bäuerlicher
Betriebe aufgeben musste. Das Ergebnis war, dass immer mehr landlose
Bauern auf marginales, regelmäßig von Überflutungen bedrohtes Land abgedrängt wurden. Durch die Liberalisierung der landwirtschaftlichen Kredite
nahm außerdem die Aufsplitterung der Landparzellen zu, die durch den demografischen Druck bereits beträchtlich beansprucht waren. Auch die traditionellen Wucherer und dörflichen Geldverleiher wurden dadurch gestärkt.
Weil Kleinbauern keine Kredite mehr erhielten, konnten die Besitzer von
Bewässerungsgerätschaften ihre Position als neue Rentier-Klasse stärken.
Diese Entwicklungen führten jedoch nicht – wie z.B. im Punjab – zur Modernisierung der Landwirtschaft durch die Herausbildung einer Klasse reicher
Agrarunternehmer. Das Strukturanpassungsprogramm vereitelte vielmehr
von Anfang an die Entwicklung einer kapitalistischen Landwirtschaft. Außer
der Vernachlässigung der landwirtschaftlichen Infrastruktur verlangten IWF
und Weltbank die Liberalisierung des Handels und die Deregulierung des
Getreidemarktes. Diese Politik war für die Stagnation des heimischen Nahrungsmittelanbaus mitverantwortlich.
Ein eklatantes Beispiel für die vom IWF aufgezwungene Restrukturierung
ist die Juteindustrie. Trotz des Zusammenbruchs der Weltpreise und trotz
der synthetischen Konkurrenzprodukte, die von großen multinationalen Textilkonzernen produziert werden, war sie eine der größten Devisenquellen
Bangladeschs. Empfand man die Juteindustrie des Landes als unlauteren
Wettbewerb? Der IWF jedenfalls forderte als Bedingung für seinen zinsgünstigen Strukturanpassungskredit die Schließung von einem Drittel der Jutebetriebe (öffentliche und private Unternehmen) und die Entlassung von
35.000 Arbeitern. Obwohl sie Abfindungen erhalten sollten, hatte der IWF
vergessen, die Auswirkungen der Umstrukturierung auf drei Millionen ländliche Haushalte – 18 Millionen Menschen – zu bedenken, deren Überleben
vom Juteanbau abhing.
Die USA nutzten die Deregulierung des Getreidemarktes auch dazu, sich
unter dem Deckmantel der »Nahrungsmittelhilfe« ihrer Getreideüberschüsse
zu entledigen. Das Programm »Nahrung für Arbeit« unter Federführung von
USAID sollte öffentliche Arbeiten in den Dörfern finanzieren. Doch indem
man die verarmten Bauern mit Getreide statt mit Geld entlohnte, destabilisierte man zugleich die lokalen Getreidemärkte.
Mit diesen Getreideverkäufen konnten die Amerikaner zwei Fliegen mit
einer Klappe schlagen. Erstens konnte auf diese Weise hoch subventioniertes US-Getreide unmittelbar mit den örtlich produzierten Grundnahrungsmitteln konkurrieren und die Entwicklung der heimischen Erzeugung schwächen. Zweitens wurden aus den Verkäufen von US-Getreide ein Fonds gebildet, dessen Mittel in von USAID kontrollierte Entwicklungsprojekte flossen
– was wiederum die Abhängigkeit Bangladeschs von importiertem Getreide
aufrechterhielt.
Aus Geldern des Fonds wurde z.B. Anfang der 90er Jahre das Bangladesh
Agricultural Research Institute finanziert. USAID bestimmte durch die Finanzierung, auf welchen Gebieten vorrangig geforscht werden sollte.
Einiges deutet darauf hin, dass Bangladesch durch die Gewinnung von
bewässertem Ackerland und eine umfassende Agrarreform die Selbstversorgung mit Lebensmitteln hätte erreichen können.21 Durch die Entwicklung
einer angemessenen Infrastruktur ließe sich außerdem, wie unlängst eine
Studie nahe legte, das Überschwemmungsrisiko deutlich reduzieren.
Das Strukturanpassungsprogramm stellte jedoch ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zur Erreichung dieser Ziele dar. Erstens verhinderte es
die Entwicklung einer unabhängigen Landwirtschaftspolitik. Zweitens dekkelte es durch das von der Weltbank beaufsichtigte öffentliche Investitionsprogramm bewusst die staatlichen Investitionen in die Landwirtschaft. Diese
»programmierte« Stagnation des heimischen Nahrungsmittelanbaus diente
ebenfalls den Interessen der US-Getreideproduzenten, denn die vom Hilfskonsortium auferlegte Haushaltsdisziplin verhinderte die Mobilisierung heimischer Ressourcen zur Unterstützung der Landwirtschaft.
Das Schicksal der heimischen Industrie. Der Unabhängigkeitskrieg hatte den ohnedies nicht sonderlich entwickelten industriellen Sektor vollends
ausgeblutet und zur massiven Abwanderung von Unternehmern und qualifizierten Beschäftigten geführt.22 Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges waren umso vernichtender, als das Hilfskonsortium Bangladesch keine
Atempause verschaffte, um die kriegszerstörte Wirtschaft wieder aufzubauen und seine menschlichen Ressourcen zu entwickeln.
Das in mehreren Phasen durchgeführte Strukturanpassungsprogramm
versetzte dem industriellen Sektor des Landes einen tödlichen Schlag. Der
makroökonomische Rahmen, den IWF und Weltbank dem Land aufnötigten,
untergrub die bestehende Industriestruktur, während er gleichzeitig die Entwicklung neuer, für den heimischen Markt produzierender Industrien verhinderte.
Aufgrund der kleinteiligen Landwirtschaftsbetriebe und des Mangels an
herstellendem Gewerbe gab es in Bangladesch auf dem Land so gut wie
keine Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft. Städtische Industrie war
weitgehend auf die exportorientierte Bekleidungsindustrie beschränkt, die
stark auf billige Arbeitskräfte aus ländlichen Gebieten angewiesen war. Für
den ständigen Vertreter des IWF in Dhaka sind in Bangladesch aber nur
solche Industrien lebensfähig, die den Überfluss an billigen Arbeitskräften
für den Export nutzen: »Was wollen Sie in diesem Land schützen? Es gibt
hier nichts zu schützen. Die Leute hier wollen einen dauerhaften Schutz,
aber ihr einziger komparativer Vorteil liegt in den arbeitsintensiven Industrien.«23
Aus der Sicht des IWF sollte die Bekleidungsindustrie die Hauptquelle
städtischer Beschäftigung bilden. 1992 gab es etwa 300.000 Arbeiter in der
Bekleidungsindustrie, zu 70 Prozent Frauen. 16 Prozent dieser Beschäftigten
waren Kinder zwischen zehn und 14 Jahren. 74 Prozent aller Arbeiter kamen aus verarmten ländlichen Gebieten.24 Die Produktion in den Fabriken
war und ist durch obligatorische Überstunden und despotisches Management gekennzeichnet. Die Löhne lagen, Überstunden inklusive, bei etwa 20
Dollar im Monat. In jenem Jahr 1992 wurde eine öffentliche Versammlung
von Arbeitern der Bekleidungsindustrie von den Sicherheitskräften brutal
unterdrückt. Die Regierung sah in den Forderungen der Arbeiter eine Bedrohung der Zahlungsbilanz.
Das Elend der Anpassung. Obwohl viele Hilfsorganisationen und NGO
sinnvolle Basisprojekte unterstützen, stellen mehrere der Projekte zur »Bekämpfung der Armut« in Wirklichkeit eine einträgliche Einkommensquelle
für qualifizierte Berufsgruppen und Beamte dar, statt den Armen zu helfen.
Über die verschiedenen Ausführungsorganisationen in Dhaka sind die örtlichen Eliten zu Entwicklungsmaklern und Zwischenhändlern geworden, die
im Namen der internationalen Kreditgeber handeln. So dienten die für die
Armen auf dem Land vorgesehenen Mittel häufig der Bereicherung von Militäroffizieren und Beamten, die die abgezweigten Hilfsgelder dann in Geschäfte und Immobilien investierten, darunter Bürogebäude, Luxusapartments usw.
Mit einer Bevölkerung von über 130 Millionen gehört Bangladesch zu den
ärmsten Ländern der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen lag 1991 bei 170 Dollar im Jahr. Die jährlichen Gesundheitsausgaben beliefen sich auf etwa 1,5
Dollar pro Kopf, von denen weniger als 25 US-Cents für lebenswichtige Arzneimittel aufgewendet wurden.25 Mit Ausnahme der Kosten für die Geburtenkontrolle betrachtete das Hilfskonsortium die Sozialausgaben dennoch
als übertrieben: 1992 und 1993 forderte es von der Regierung eine weitere
Runde »kosteneffektiver« Budgetkürzungen im Sozialbereich.
Zur Unterernährung im Land hinzu kommt ein verbreiteter Vitamin-AMangel aufgrund der einseitigen Reisernährung. Viele Kinder und Erwachsene besonders in ländlichen Gegenden sind aufgrund dieses Mangels erblindet.
In mehreren Regionen des Landes herrscht chronischer Hunger. Das
Hilfskonsortium für Bangladesch drängte bei seinem Treffen in Paris 1992
die Regierung von Khaleda Zia, die Durchführung der Reformen zu beschleunigen, um die Armut zu »bekämpfen«. Der Regierung wurde in Über-
einstimmung mit den neuen Richtlinien des Weltbankpräsidenten Lewis Preston davon in Kenntnis gesetzt, dass die Kreditgeber nur solche Länder unterstützen würden, die ernsthafte Anstrengungen zur Bekämpfung der Armut unternähmen.
Bei der Flutkatastrophe 1991 starben 140.000 Menschen. Die meisten
von ihnen waren landlose Bauern, die in regelmäßig von Überschwemmungen bedrohte Gebiete verdrängt worden waren. Zehn Millionen Menschen,
beinahe zehn Prozent der Bevölkerung, wurden obdachlos.26 In den offiziellen Statistiken tauchen jedoch nicht die Menschen auf, die nach dem Desaster verhungerten. Obwohl die Hilfsorganisationen und Kreditgeber die
schädliche Rolle klimatischer Faktoren unterstrichen, wurde die Hungersnot
von 1991 durch die vom IWF unterstützte Wirtschaftspolitik verschärft. Erstens führten die von den Kreditgebern seit den 70er Jahren erzwungenen
Obergrenzen für staatliche Investitionen in die Landwirtschaft und den
Hochwasserschutz zur Stagnation der Landwirtschaft. Zweitens trieb die
Abwertung kurz nach der Flutkatastrophe 1991 den Einzelhandelspreis von
Reis im Jahr nach dem Desaster um 50 Prozent in die Höhe. Und die Hungersnot war umso gravierender, als sich die privilegierten städtischen Eliten
an der Nothilfe der Kreditgeber bereicherten.
12. Die Zerstörung Vietnams nach dem Krieg
Ein Geheimabkommen, das 1993 in Paris getroffen wurde, verlangte von
Hanoi als Bedingung für die Gewährung frischer Kredite und die Aufhebung
des US-Embargos die Anerkennung der Schulden des gestürzten SaigonRegimes von General Nguyen Van Thieu. Das war als hätte man von Vietnam Entschädigungen für den Krieg gegen die USA verlangt.
Die Errungenschaften vergangener Kämpfe und die Hoffnungen einer
ganzen Nation werden heute beinahe mit einem Federstrich ausgelöscht.
Eine neue Phase wirtschaftlicher und sozialer Vernichtung hat begonnen, die
ohne Entlaubungsmittel, Splitter- und Napalmbomben auskommt. Die
scheinbar neutralen und »wissenschaftlichen« Werkzeuge der makroökonomischen Politik unter Federführung von IWF und Weltbank stellen
nach dem Vietnamkrieg ein ebenso effektives und scheinbar gewaltloses
Instrument der Rekolonialisierung Vietnams und der Verarmung von Millionen von Menschen dar.
Die Umschreibung der Kriegsgeschichte. 1940 ernannte die VichyRegierung Admiral Jean Decoux zum Generalgouverneur, um die Bedingungen für Indochinas Integration in die japanische Einflusssphäre zu verhandeln, während Frankreichs Kolonialgebiete formal unter dem Mandat der
Vichy-Administration blieben. 1944 erkannte Washington die Vietminh-Front
an, die gegen das Vichy-Regime und die japanischen Besatzungstruppen
gekämpft hatte. Das Office of Strategic Services (OSS), Vorläufer der CIA,
versorgte sie mit Waffen und finanziellen Mitteln. Als am 2. September
1945 auf dem Ba-Dinh-Platz in Hanoi die Unabhängigkeit erklärt und die
Demokratische Republik Vietnam ausgerufen wurde, fanden sich an der
Seite von Ho Chi Minh amerikanische Agenten des OSS. Beinahe 30 Jahre
Geschichte trennen dieses Ereignis von der nicht minder bedeutsamen Kapitulation von General Duong Vanh Minh in der Unabhängigkeitshalle in Saigon am 30. April 1975, die das Ende des Vietnamkrieges und den Beginn
des nationalen Wiederaufbaus markierte.
Die Zerstörungen, die der Krieg in Vietnam hinterließ, riefen von Anbeginn an eine Atmosphäre der Hilflosigkeit und der politischen Lähmung hervor. Zusätzlich behindert wurde der Wiederaufbau einer zivilen Wirtschaft
durch das – von den USA anfänglich verdeckt unterstützte – kambodschanische Pol-Pot-Regime, durch das sich Vietnam im Dezember 1978 zu einer
Intervention veranlasst sah, die kurz darauf ihrerseits die chinesische Invasion an der Nordgrenze Vietnams zur Folge hatte. Die Wiedervereinigung
des Landes führte zwei Landesteile zusammen, die eine sehr unterschiedliche sozioökonomische Entwicklung genommen hatten. Engstirnig setzte die
neue kommunistische Regierung im Süden die Richtlinien des Zentralkomitees durch, mit wenig Einsicht, wer dort die wirtschaftlich tragenden Kräfte
waren: Der Kleinhandel in Ho-Chi-Minh-Stadt wurde unterdrückt, die Landwirtschaft am Mekong unter heftigem Widerstand der mittelständischen
Bauern hastig kollektiviert. Die politische Repression zog nicht nur jene Bereiche der Gesellschaft in Mitleidenschaft, die Verbindungen zum Saigoner
Regime gehabt hatten, sondern auch viele, die Gegner von General Thieu
gewesen waren.
Seitdem hat sich das internationale Umfeld gravierend gewandelt. Die
Veränderungen des globalen Marktsystems und der Zusammenbruch des
Sowjetblocks – der Vietnams wichtigster Handelspartner gewesen war –
schlugen auf die heimische Wirtschaft durch und brachten die vietnamesische Volkswirtschaft in Unordnung. Die Kommunistische Partei Vietnams
(KPV) war unfähig, ein kohärentes Programm für den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu formulieren. Innerhalb der Parteiführung hatten sich schon in
den 80er Jahren tiefe Gräben aufgetan.
Heute, nach mehr als 50 Jahren Kampf gegen die Fremdherrschaft, wird
die Geschichte des Vietnamkrieges vorsichtig umgeschrieben: Der Neoliberalismus wird mit technischer Hilfe von IWF und Weltbank zur offiziellen
Doktrin der KPV. Beamte und Intellektuelle sind aufgerufen, das neue Dogma im Namen des Sozialismus bedingungslos zu unterstützen. Seit der
1986 begonnenen »Erneuerung« (doi moi) gelten Hinweise auf die brutale
Rolle der USA im Krieg zunehmend als unpassend. Die Führung der KPV hat
kürzlich die »historische Rolle« der USA bei der »Befreiung« Vietnams von
der japanischen Besatzung 1945 unterstrichen. Gleichzeitig sind die Symbole der US-Zeit langsam auf die Straßen Ho-Chi-Minh-Stadts zurückgekehrt.
Im ehemaligen »Museum Amerikanischer Kriegsverbrechen«, heute in
»Ausstellungshaus für Verbrechen des Aggressionskrieges« umbenannt,
kann man Modelle jener US-Kampfjets mit Coca-Cola-Emblemen auf dem
Rumpf kaufen, die bei US-Bombenüberfällen eingesetzt wurden – neben
einer großen Auswahl von Handbüchern über ausländische Investitionen
und makroökonomische Reform. Kein einziger Text über die Geschichte des
Krieges findet sich darunter. Die Zeichen eines einsetzenden Konsumrausches vor dem Museum stehen in scharfem Kontrast zu den Bettlern, Straßenkindern und Versehrten, von denen viele Kriegsveteranen sind, die an
der Befreiung Saigons 1975 beteiligt waren.
Der neue Vietnamkrieg. Viele westliche Medien haben noch unlängst das
stilisierte Bild eines Landes gezeichnet, das durch die Mechanismen des
freien Marktes in den Status eines künftigen »asiatischen Tigers« aufgerückt ist. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein: Die Wirtschaftsreformen, die 1986 unter Federführung von IWF und Weltbank auf
den Weg gebracht wurden, haben nach den brutalen Nachkriegsjahren eine
neue historische Phase wirtschaftlicher und sozialer Verwüstung eingeleitet
und zur Verarmung des vietnamesischen Volkes geführt.
Der erste Schritt erfolgte 1984/85, noch vor der Einleitung der »Erneuerung«, auf dem 6. Parteikongress der KPV, durch die Zerstörung der vietnamesischen Währung: Die wiederholten Abwertungen, die an den spektakulären Sturz des Piastre zur Zeit des Saigoner Regimes 1973 im Jahr nach
dem Pariser Abkommen und dem Rückzug der amerikanischen Kampftruppen erinnerten, heizten die Inflation an und führten zur »Dollarisierung« der
heimischen Preise.27 Heute wird Vietnam erneut von Dollarnoten überschwemmt. Sie haben den heimischen Dong bereits als Anlagewährung ersetzt. Zwar überwacht die Weltbank die Geldemission der vietnamesischen
Zentralbank genau, doch de facto hat die US-Notenbank die Verantwortung
für die Geldemission beim ehemaligen Kriegsgegner übernommen, denn sie
gewährt dem Land in massivem Umfang eigene Kredite. Die Illusion von
wirtschaftlichem Fortschritt und Wohlstand in Vietnam, die in der westlichen
Presse beschworen wird, macht sich am schnellen Wachstum kleiner, jedoch
ins Auge springender Konsumenklaven westlichen Stils fest, die weitgehend
auf Ho-Chi-Minh-Stadt und Hanoi beschränkt sind. Doch die bitteren wirtschaftlichen und sozialen Realitäten sprechen eine andere Sprache: steil
ansteigende Lebensmittelpreise, lokale Hungersnöte, massive Entlassungen
städtischer Arbeiter und Staatsbediensteter und die Zerstörung der Sozialprogramme.
Vietnam erhielt niemals Reparationszahlungen, doch es wurde als Vorbedingung für die Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und die Aufhebung des US-Embargos im Februar 1994 gezwungen, die Rechnung für die
multilateraIen Schulden zu bezahlen, die das von den USA gestützte Regime in Saigon gemacht hatte. Bei der Konferenz der Kreditgeber in Paris
im November 1993 wurden großzügig Kredite und »Hilfs-«Gelder in einer
Gesamthöhe von 1,86 Mrd. Dollar gewährt, um die Marktreformen Vietnams
zu unterstützen, doch unmittelbar nach der Konferenz fand ein weiteres
(separates) Treffen mit dem Pariser Club der staatlichen Gläubiger statt,
dieses Mal hinter verschlossenen Türen.28 Auf der Tagesordnung: die Umschuldung der vom Saigoner Regime vor 1975 aufgenommenen Kredite.
Wer gab wem grünes Licht? Der IWF stimmte zwar den Wirtschaftsreformen Vietnams vor der Pariser Geberkonferenz zu. Es waren jedoch letztlich
die Ergebnisse der Verhandlungen mit dem Pariser Club, die entscheidend
für die Zustimmung Washingtons waren. Und erst nach der formalen Aufhebung des Embargos durften die multi- und bilateralen Auszahlungen beginnen.
Die Rückzahlung der Zahlungsrückstände von 140 Mio. Dollar die das
Saigoner Regime dem IWF schuldete, war auch Bedingung für neue Kredite.
Zu diesem Zweck bildeten Japan und Frankreich, die ehemaligen Kolonialherren Vietnams, ein so genanntes »Komitee der Freunde Vietnams«‚ um
Hanoi das Geld zu leihen, das es zur Rückzahlung der alten Schulden an
den IWF brauchte. Durch die volle Anerkennung der Legitimität dieser
Schulden hatte Vietnam de facto akzeptiert, Kredite zurückzuzahlen, die zur
Unterstützung der US-Kriegsanstrengungen verwendet worden waren. Ironischerweise wurden diese Verhandlungen unter Beteiligung des ehe-
maligen Finanz- und stellvertretenden Premierministers in der südvietnamesischen Militärregierung von General Duong Vanh Minh geführt, die das
US-Militär 1963 nach der Ermordung von Präsident Ngo Dinh Diem und seines jüngeren Bruders eingesetzt hatte. Nguyen Xian Oanh, ein bedeutender
Ökonom, der zufällig zuvor auch beim IWF beschäftigt war, besetzte die
Position des Wirtschaftsberaters von Premierminister Vo Van Kiet. Er hatte
seit Beginn der 80er Jahre eng mit Kiet zusammengearbeitet, als dieser
kommunistischer Parteisekretär in Ho-Chi-Minh-Stadt war.29
Die Zerstörung der Volkswirtschaft. Durch die scheinbar harmlosen Mechanismen des »freien« Marktes – und ohne Krieg und physische Vernichtung über das Land bringen zu müssen – haben die Reformen in Vietnam
ein massives Zerstörungswerk angerichtet und zu einem enormen Abbau
von Produktionskapazität geführt: Mehr als 5000 von 12.300 Staatsbetrieben wurden bis 1994 geschlossen oder in den Bankrott getrieben. Die Folgen trafen das Land umso härter, als der Handel mit den Ländern des ehemaligen Ostblocks zusammengebrochen war. 1990 wurden Regeln zur Liquidierung von Staatsunternehmen und eine weitere »Rationalisierung« der
industriellen Basis durch Umstrukturierung der verbliebenen Unternehmen
beschlossen.30 Fast eine Million Arbeiter und etwa 136.000 Staatsbedienstete – die Mehrzahl Lehrer und Beschäftigte im Gesundheitswesen – wurden
bis Ende 1992 entlassen.31 Ziel des Regierungsbeschlusses Nr. 111 war die
Entlassung von weiteren 100.000 Arbeitern bis Ende 1994 eine Reduzierung
des öffentlichen Dienstes um 20 Prozent. Darüber hinaus wurden mit dem
Rückzug der vietnamesischen Truppen aus Kambodscha 500.000 Soldaten
demobilisiert Zudem kehrten 250.000 »Gastarbeiter« aus Osteuropa und
dem Nahen Osten zurück, mit nur geringen Aussichten auf Beschäftigung.
Den Zahlen der Weltbank zufolge reichte das Wachstum des privaten
Sektors nicht aus, um die Neuzugänge auf dem
Arbeitsmarkt
unterzubringen. Bei steigenden Preisen waren die Realeinkommen jener, die noch
Arbeit hatten, auf ein erbärmliches Niveau gefallen. Die Staatsbediensteten
konnten von ihren Gehältern in Höhe von umgerechnet 15 Dollar im Monat nicht leben, so dass sie neben ihrer Arbeit eine Vielfalt anderer Aktivitäten einschließlich unerlaubter Nebenjobs entwickelten, was zu hohen Abwesenheitsraten und de facto zu einer Lähmung des gesamten Verwaltungsapparates führte Mit Ausnahme der Joint Ventures, wo sich der nominelle,
nicht aber der tatsächlich ausgezahlte Mindestlohn auf 30 bis 35 Dollar im
Monat belief, gibt es keine gesetzliche Mindestlohngarantie oder irgendwelche Richtlinien für die Bindung der Löhne an den Preisindex. »Die marktliberale Politik der Partei lautet, dass auch der Arbeitsmarkt frei sein sollte.«32
Obwohl viele Staatsbetriebe nach westlichen Standards extrem ineffizient und nicht wettbewerbsfähig waren, verdankt sich ihr Untergang der
bewussten Manipulation der Marktkräfte: Die Umstrukturierung des staatlichen Bankensystems und der Finanzinstitute einschließlich der Kreditkooperativen auf Gemeindeebene bewirkte, dass alle mittel- und langfristigen
Kredite für heimische Produzenten eingefroren wurden. Kurzfristige Kredite
gab es nur gegen 35 Prozent Zinsen pro Jahr. Außerdem war es dem Staat
unter der mit dem IWF ausgehandelten Vereinbarung nicht erlaubt, die
staatseigenen Betriebe oder den aufkeimenden Privatsektor finanziell zu
unterstützen.
Der Untergang der staatlichen Wirtschaft war auch die Folge eines äußerst diskriminierenden Steuersystems: Während die Staatsunternehmen –
nun ohne alle Subventionen und Staatskredite – als Erbe des alten Plansystems weiterhin 40 bis 50 Prozent ihrer Gewinne als Gewinnsteuer abführen
mussten, genossen ausländische Investoren und Joint Ventures großzügige
Ausnahmen und Steuerbefreiungen. Die Gewinnsteuer wurde zudem nicht
mehr regelmäßig von Privatunternehmen eingetrieben.
Das versteckte Ziel der Reformen war – wieder einmal! – ‚ Vietnams industrielle Basis zu destabilisieren: Schwerindustrie, Öl und Gas, natürliche
Ressourcen und Bergbau, Zement- und Stahlproduktion sollten neu organisiert und von ausländischem Kapital übernommen werden, wobei japanische Konzerne die entscheidende und dominierende Rolle spielten. Das
wertvollste Staatsvermögen sollte Joint Ventures zufallen. Die Führung
kümmerte sich in keiner Weise darum, die industrielle Basis zu stärken oder
auch nur zu erhalten. Sie unternahm keine Anstrengungen, eine eigenständige Wirtschaft zu entwickeln. Unter den Kreditgebern herrschte die Ansicht
vor, die Schrumpfung der Staatswirtschaft sei erforderlich, um Platz für die
spontane Entwicklung eines vietnamesischen Privatsektors zu schaffen.
Staatliche Investitionen, so die Auffassung, würden die private Kapitalbildung verhindern. Doch die Reformen zerschlugen nicht nur die staatliche
Wirtschaft, sie verhinderten auch den Übergang zu einem nationalen Kapitalismus.
Vietnamesische Unternehmensgruppen waren kapitalschwach. Es fehlte
an Krediten, und der Staat gab praktisch keinerlei Unterstützung. Zusammengenommen vereitelten diese Faktoren die Entwicklung eines heimischen
Privatsektors. Zwar gab es geringfügige Anreize für die Viet Kieu (Auslandsvietnamesen), aber zu großen Teilen verfügte die vietnamesische Diaspora
ganz anders als etwa die Auslandschinesen einschließlich der Kriegsflüchtlinge und der späteren Boat People nur über geringe finanzielle Ressourcen
oder Ersparnisse. Von einigen Ausnahmen abgesehen konzentrierten sich
ihre Aktivitäten zumeist auf familieneigene Geschäfte und mittlere Unternehmen im Dienstleistungssektor.
Ein eklatantes Beispiel für wirtschaftliche Manipulation durch Marktreformen ist die vietnamesische Stahlindustrie. Beinahe acht Millionen Tonnen
Bomben und eine reiche Beute an hinterlassener militärischer Ausrüstung
hatten Vietnams Schwerindustrie mit reichlich Metallschrott versorgt. Das
war der einzige fassliche Beitrag der USA zum Wiederaufbau der Nachkriegszeit, und die Ironie der Geschichte war, dass ebendieser »Beitrag«
durch die Politik der »offenen Tür« wieder zurückgenommen worden ist:
Große Mengen von Metallschrott wurden frei ausgeführt, zu Preisen, die erheblich unter dem Weltmarktniveau lagen. Während die Produktion in den
fünf großen Stahlwerken Vietnams wegen Rohstoffknappheit ins Stocken
geriet (ganz zu schweigen vom Einfuhrverbot von Metallschrott für Staatsunternehmen), wurde 1994 mit einem japanischen Konsortium, bestehend
aus Kyoei, Mitsui und Itochu, ein Joint Venture für ein Werk in der Provinz
Ba-Ria Vung Tau gegründet, das nun Metallschrott zu Weltmarktpreisen
zurück nach Vietnam importiert.
Die Austrocknung des Binnenhandels. Durch die bewusste Manipulation
der Marktkräfte wurden die heimischen Produzenten wortwörtlich von ihrem
eigenen Markt ausgeschlossen, selbst in Bereichen, wo man ihnen einen
komparativen Vorteil zusprach. Zölle wurden beseitigt und die vietnamesische Leichtindustrie großenteils von einem massiven Zustrom importierter Konsumgüter verdrängt. Ende der 80er Jahre musste das Land einen
beträchtlichen Anteil seiner mageren Deviseneinnahmen für den Import von
Konsumgütern aufwenden – Kapital, das so der heimischen Industrie entzogen wurde. Die Reformen erlaubten es exportierenden Staatsbetrieben, ihre
Deviseneinnahmen nach freiem Ermessen für Importe zu verwenden. Es
entwickelte sich ein Netzwerk zwischen den Managern der staatseigenen
Betriebe im Import-Export-Geschäft, lokalen Beamten und privaten Händlern. Sie vergeudeten die Deviseneinnahmen und steckten große Geldsummen in die eigene Tasche. Mit den Marktreformen konnten sich viele
Staatsbetriebe der staatlichen Kontrolle entziehen und engagierten sich in
vielfältigen illegalen Aktivitäten. Mit der Einstellung staatlicher Zuschüsse
und dem Einfrieren der Kredite wurden produktive Tätigkeiten aufgegeben.
In den neuen Bereichen der Leichtindustrie und weiterverarbeitenden
Industrie, die als Folge der Politik der offenen Tür gefördert wurden, ist
vietnamesischen Unternehmen der heimische Markt versperrt. Bekleidungshersteller, die mit billigen Arbeitskräften arbeiten und Joint Ventures eingegangen sind oder als Subunternehmer für ausländisches Kapital arbeiten,
exportieren gewöhnlich ihre gesamte Produktion. Im Gegensatz dazu wird
der heimische Markt Vietnams mit importierter Gebrauchtbekleidung und
Fabrikausschuss aus Hongkong beliefert, was zum Verschwinden von
Schneidern und Kleinproduzenten in der informellen Wirtschaft geführt hat.
Die Reformen förderten die »wirtschaftliche Balkanisierung« der vietnamesischen Regionen, von denen jede separat in den Weltmarkt integriert
ist. Die Deregulierung der Transportindustrie führte zu steil angestiegenen
Frachtkosten, nachdem erst einmal die staatlichen Transportgesellschaften
in den Bankrott getrieben worden waren.
Durch das von der Weltbank empfohlene Einfrieren der Budgettransfers
von der Zentralregierung an die Provinzregierungen und Gemeindeverwaltungen waren die Provinzen und Kommunen zudem zunehmend »frei«, um
ihre eigenen Investitionen und Handelsbeziehungen zu ausländischen Unternehmen aufzubauen, zum Schaden des Binnenhandels. Die Provinzen
handelten zahlreiche Investitions- und Handelsabkommen aus. Sie stellten
ausländischen Investoren Land zur Verfugung und gewährten Konzessionen,
die es ausländischem Kapital in einer vollkommen unregulierten Umgebung
erlaubten, die Waldressourcen Vietnams zu plündern. Angesichts der Haushaltskrise stellten diese Vereinbarungen häufig das einzige Mittel dar mit
denen die Zentral- und Provinzregierungen ihre Ausgaben einschließlich der
Gehälter der Staatsbediensteten noch decken konnten.
Außerdem stellen Verbindungen zu ausländischen Unternehmen und
Joint Ventures angesichts des extrem niedrigen Verdienstes von Staatsbediensteten (15 bis 30 Dollar im Monat) unweigerlich eine Möglichkeit dar,
das Gehalt in Form von Beratungshonoraren, Aufwandskonten, Reisespesen
usw. aufzubessern. Durch solche Leistungen – immer in harter Währung
bezahlt – können sich ausländische Geldgeber und Baufirmen die treuen
Dienste von höheren Kadern und örtlichen Behördenvertretern sichern. Der
Staat ist bankrott und durch die Vereinbarungen mit den Kreditgebern unfähig, seine Beschäftigten angemessen zu entlohnen. Ausländische Generalunternehmer und Hilfsorganisationen eignen sich nicht nur »Humankapital« aus Forschungsinstituten und Ministerien an, sie werden zur Haupteinkommensquelle hoher und mittlerer Beamter, die mit dem Management von
ausländischem Handel und Investitionen zu tun haben.
Die Zerrüttung der Staatsfinanzen. Die Reformen haben die öffentlichen Finanzen in eine Zwangsjacke gesteckt. Geldschöpfung und Geldemission sind der Zentralbank ohne Zustimmung des IWF verboten. Es ist auch
nicht erlaubt, Staatsunternehmen Kredite zu geben oder sie zu finanzieren.
Diese stürzten aufgrund des Mangels an staatlichen Krediten und staatlicher
Finanzierung in den Bankrott. Der Bankrott der Staatsunternehmen wiederum führte zum Zusammenbruch der Steuereinnahmen und höhlte die öffentlichen Finanzen aus.
Eine ähnliche Situation besteht bei den staatlichen Banken. Sie sind vom
Niedergang der Dong-Einlagen betroffen, da die Bevölkerung ihre Ersparnisse nun lieber in Form von Dollarreserven anlegt, ganz zu schweigen von der
Aufhebung der staatlichen Subventionen, der strengen Rücklagenbedingungen und der hohen Gewinnsteuer. Das Schrumpfen des Kreditvolumens und
die zunehmende Zahlungsunfähigkeit von Staatsunternehmen trieben die
staatlichen Banken ihrerseits in Konkurs, zum Vorteil der zahlreichen ausländischen und Joint-Venture-Banken, die in Vietnam operieren. 1994 hatten mehr als 10.000 der 12.300 Unternehmen bei den staatlichen Banken
hohe Schulden.
Den Staatsunternehmen war es jedoch nicht erlaubt, ausländische Banken direkt um Kredite zu bitten. Andererseits hatten die ausländischen Banken durch die Möglichkeit, den vietnamesischen Staatsbanken Lombardkredite zu gewähren, Zugang zum lukrativen kurzfristigen Kreditmarkt.
Die Reformen trugen zu einem niederschmetternden Zusammenbruch
der öffentlichen Investitionen bei. Von 1985 bis 1993 sank der Anteil der
staatlichen Kapitalausgaben am Bruttoinlandsprodukt um 63 Prozent, von
8,2 auf 3,1 Prozent. In der Land- und Forstwirtschaft war der Rückgang mit
90 Prozent noch dramatischer, von 1,0 auf 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und in der Industrie und Bauwirtschaft fielen die Kapi-
talausgaben sogar von 2,7 auf 0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ein
Rückgang von 96 Prozent.33
IWF und Weltbank dekretierten in ihren Kreditvergabebedingungen feste
Obergrenzen für alle laufenden und investiven Ausgaben, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren. Dem Staat war es daher faktisch nicht mehr erlaubt, seine eigenen Ressourcen für den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, für Straßen und Krankenhäuser usw. zu mobilisieren. Die Gläubiger
wurden also nicht nur »Makler« aller großen öffentlichen Investitionsprojekte, sondern befanden darüber hinaus, welche dieser Projekte überhaupt für
die Infrastruktur Vietnams wünschenswert wären und welche nicht. Es erübrigt sich zu sagen, dass der Prozess der Finanzierung öffentlicher Investitionen wiederum Schulden verursachte, die den Zugriff der Gläubiger auf
die Wirtschaftspolitik weiter verstärkten.
Da die Pariser Geberkonferenz vom November 1993, auf der insgesamt
über 1,8 Mrd. Dollar multi- und bilateraler Kredite gewährt wurden, zudem
auf internationalen Ausschreibungen für die bewilligten öffentlichen Investitionsprojekte bestand, fiel deren Ausführung natürlich internationalen Generalunternehmern zu, die sich für Beratungs- und Managementdienste teuer bezahlen ließen – Geld, das Vietnam schließlich zurückzahlen muss. Einheimische Firmen – sowohl öffentliche wie private – durften sich an diesen
Ausschreibungen nicht beteiligen. Sie konnten lediglich mit den internationalen Firmen separate Unterverträge abschließen, so dass die tatsächlichen
Bauarbeiten großenteils von den sehr billigen örtlichen Arbeitskräften ausgeführt wurden.
Heimkehr ins japanische Reich. Mit den vollzogenen Reformen ist Vietnam auf dem Weg der Wiedereingliederung in die japanische Einflusssphäre
– eine Situation, die an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Die dominante Position des japanischen Kapitals verdankt sich der Kontrolle Nippons über
mehr als 80 Prozent der Kredite für Investitionsprojekte und die Infrastruktur. Diese Kredite, vergeben von Japans Overseas Economic Cooperation
Fund und der Asian Development Bank, unterstützten die Expansion der
großen japanischen Handelsgesellschaften und transnationalen Konzerne.
Mit der Aufhebung des US-Embargos im Februar 1994 beeilte sich auch
das amerikanische Kapital, seine Position in dieser von Japan – und zu einem geringeren Teil von der EU – dominierten hochprofitablen Investitionsund Handelsarena zurückzuerobern. Allerdings haben die Japaner nicht nur
bei den Schlüsselinvestitionen einen Vorsprung, sie kontrollieren auch viele
der langfristigen Kredite an Vietnam. Konfrontationen zwischen Washington
und Japan sind wahrscheinlich, wenn die amerikanischen Konzerne versuchen, ihre alten Positionen in Südvietnam vor 1975 – z.B. in der Ölförderung vor der Küste – zurückzugewinnen. Andere wichtige Spieler sind Korea, Taiwan und Hongkong. Hier sind die Einflusssphären allerdings klarer
getrennt: Während sich die asiatischen Tiger auf den Fertigungssektor und
die weiterverarbeitende Exportindustrie konzentrieren, teilen sich japani-
sche und europäische Konzerne die großen Infrastrukturprojekte und die
Ausbeutung von Öl, Gas und natürlichen Ressourcen.
Japan kontrolliert ferner einen großen Teil der Kredite zur Finanzierung
von Konsumimporten. Der stete Strom japanischer Markenprodukte nach
Vietnam wird weitgehend von geliehenem Geld aufrechterhalten, angefacht
vom Zustrom von Hunderten Millionen von Dollar, die Japan und multilaterale Banken, darunter die Asian Development Bank, die Weltbank und der
IWF, als Sofortkredite gewähren. Diese Kredite – im offiziellen Jargon als
»Zahlungsbilanzhilfe« bezeichnet – sollen ausdrücklich dem Warenimport
dienen. Verwaltet von der vietnamesischen Zentralbank, werden sie in Form
von Devisenquoten an Tausende von Staatsunternehmen ausgezahlt, die im
Importhandel tätig sind. Dadurch beschleunigt sich die Überflutung mit
Konsumgütern, wodurch wiederum die Auslandsschulden wachsen. Mit Ausnahme einiger weniger größerer Staatsunternehmen – und jener, die im
Importhandel tätig sind – haben die Reformen dazu beigetragen, ganze
Sektoren der Volkswirtschaft abzuwickeln. Die einzige Überlebensmöglichkeit für nationale Unternehmen besteht im einträglichen Importgeschäft
und in Joint Ventures, bei denen der ausländische Partner Zugang zu Krediten (in harter Währung) und die Kontrolle über Technologie, Preisgebung
und die Abführung der Gewinne hat. Der gesamte internationale Handel
Vietnams ist, von den niedrigeren Rängen bis zu höchsten Vertretern des
Staates, zudem anfällig für Korruption und Bestechung durch ausländische
Firmen.
Trotz der Wirtschaftskrise ging das amtlich registrierte Wachstum des
vietnamesischen Bruttoinlandsprodukts zunächst jedoch nicht zurück. Es
nahm sogar zu, vor allem aufgrund der raschen Umstellung der Wirtschaft
auf den Auslandshandel, woran in erheblichem Umfang die neuen exportorientierten Joint Ventures beteiligt waren. Ebenso führte der künstlich angefachte Zustrom importierter Waren zu einer Expansion des kommerziellen
Sektors und seines Anteils am Bruttoinlandsprodukt. Doch dieses Wirtschaftswachstum wurde von Schulden gespeist. Die Last des Schuldendienstes wuchs von 1983 bis 1993 um mehr als das Zehnfache – auch
weil Vietnam Ende 1993 gegenüber dem Pariser Club die »faulen Kredite«
des Saigoner Regimes anerkannt hatte.
Der Ausbruch von Hungersnöten. Unter Anleitung der Weltbank und der
Food and Agriculture Organization (FAO) gaben die Behörden ab Mitte der
80er Jahre die Politik der örtlichen Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln
auf, durch die regionale Lebensmittelknappheiten hatten verhindert werden
sollen. In den Hochlandgebieten Zentralvietnams wurden die Bauern ermutigt, sich auf ihre besonderen Vorteile zu besinnen, also den Anbau von
Nahrungsmitteln einzustellen und sich statt dessen der Produktion »hochwertiger« Exporterzeugnisse zuzuwenden. Der übermäßige Anbau von Kaffee, Maniok, Cashewnüssen und Baumwolle führte indes alsbald in Verbindung mit dem Absturz der Weltmarktpreise und den hohen Kosten für im-
portierte landwirtschaftliche Einsatzgüter zum Ausbruch regionaler Hungersnöte.
Ironischerweise ließ ausgerechnet der Wechsel zum Exportanbau die Nettodeviseneinnahmen sinken, weil die staatlichen Handelsfirmen große Lieferungen landwirtschaftlicher Erzeugnisse nur mit erheblichen Verlusten an
internationale Abnehmer verkauften konnten. »Wir bewegen die Bauern
dazu, Maniok und Baumwolle zu produzieren, aber sie können nicht mit Profit exportieren, weil die internationalen Preise gefallen sind… Daher sind die
staatlichen Handelsgesellschaften gezwungen, Kaffee oder Maniok mit Verlusten auszuführen. Es gelingt ihnen jedoch, diese Verluste auszugleichen,
weil sie die Devisenerlöse benutzen, um damit Konsumgüter zu importieren.
Sie machen auch große Gewinne durch Preisaufschläge auf importierten
Dünger.«34
Die staatlichen Exportgesellschaften wiesen somit zwar Buchgewinne
aus, trugen aber tatsächlich zum Wachstum der Verschuldung (in Devisen)
bei, indem sie regelmäßig Grundnahrungsmittel unter Weltmarktpreis verkauften. In vielen der Gebiete, in denen Nahrungsmangel herrschte, blieben
wegen des Überangebots auf dem Weltmarkt die Bauern auf ihren Exporterzeugnissen sitzen. So brach Hunger aus, weil die Bauern weder ihre Exportprodukte verkaufen noch ihre eigenen Lebensmittel anbauen konnten.
Zu einer ähnlichen Situation kam es bei den Staatsunternehmen, die im
Reishandel tätig waren. Sie zogen den Export mit finanziellen Verlusten vor,
statt den Reis auf dem heimischen Markt zu verkaufen. Durch die vollständige Deregulierung des Getreidemarktes, wo der Verkauf nun in den Händen privater Händler lag, stiegen die heimischen Preise besonders in den
Gebieten, wo Nahrungsmangel herrschte. Obwohl also Reis unter Weltmarktpreis ausgeführt wurde, kam es in Gebieten, in denen der Reisanbau
zugunsten der »regionalen Spezialisierung« aufgegeben worden war, zur
Mangelversorgung. 1994 räumten die Behörden z.B. ein, dass in der Provinz
Lai Cai an der Grenze zu China 50.000 Menschen von Hunger betroffen waren. Obwohl sich die Nahrungsmittelknappheit in Lai Cai über einen Zeitraum von fünf Monaten aufgebaut hatte, ohne dass Nothilfe bereitgestellt
wurde, blieben zwei Millionen Tonnen Reis im Mekong-Delta unverkauft,
weil die staatlichen Reishandelsgesellschaften zusammengebrochen waren.
Der Hunger machte sich auch in großen Städten und im Mekong-Delta
breit, wo Nahrungsmittelüberschuss herrschte. 25,3 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mussten täglich mit weniger als 1800 Kalorien auskommen.35 In den Städten waren wegen der Abwertung des Dong zusammen
mit der Beseitigung von Subventionen und Preiskontrollen die Preise für
Reis und andere Grundnahrungsmittel stark gestiegen, während die Löhne
und Gehälter tief gefallen waren und die Arbeitslosigkeit weiter um sich
griff.
Die Weltbank gab diesen Effekt offen zu: »Natürlich wird das Problem
der Verfügbarkeit in den von Nahrungsmittelknappheit betroffenen Gebieten
nicht über Nacht verschwinden, da der Privatsektor üblicherweise auf Preisanreize reagiert und die Verbraucher in diesen Gebieten nicht die Kaufkraft
haben, um die Preise zahlen zu können, die in den Überschussregionen für
Getreide erzielt werden. Tatsächlich ist es gegenwärtig finanziell lohnender,
Reis aus Vietnam zu exportieren, als ihn in die Mangelregionen innerhalb
des Landes zu transportieren. Während der private Getreidehandel expandiert, kann die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in den Mangelregionen
tatsächlich anfangs sinken, bevor sie sich verbessert.«36
Von dieser Situation waren Kinder am schlimmsten betroffen. Selbst die
Weltbank musste wiederum einräumen: »Vietnam hat einen höheren Anteil
von untergewichtigen und wachstumsgehemmten Kindern (in der Größenordnung von 50 Prozent) als jedes andere Land in Süd- und Südostasien
mit Ausnahme Bangladeschs… Wachstumshemmungen und Schulabbrüche
haben zweifellos beträchtlich zugenommen. Es ist auch möglich, dass die
makroökonomische Krise, die sich in den Jahren von 1984 bis 1986 vertiefte, zu einer Verschlechterung des Ernährungsstatus geführt hat.«37
Außerdem ist einer Untersuchung zufolge Vitamin-A-Mangel, der Blindheit
verursachen kann und auf eine ausschließlich auf Getreide beruhende Ernährung zurückgeht, unter Kindern in allen Regionen des Landes außer in
Hanoi und dem Südosten Vietnams weit verbreitet. Die Situation gleicht der
in Bangladesch (siehe Kapitel 11).
Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft. Die vietnamesische Landwirtschaftspolitik kam den Interessen des internationalen Agrarbusiness
weit entgegen: Selbst in Regionen wie dem Mekong-Delta, das günstige
Bedingungen für den Reisanbau bietet, wurden die Bauern zur exportorientierten Produktion von Zitronen, Mais, Cashewnüssen usw. ermutigt. Die
staatliche Landwirtschaftsbank stellte kurzfristige Kredite zu 2,5 Prozent
Zinsen im Monat zur Verfügung, damit von internationalen Getreidemultis
Maissämlinge eingeführt werden konnten. Der geerntete Mais wurde dann
von Proncoco zurückgekauft, einem französisch-vietnamesischen agrarindustriellen Joint Venture, das sowohl exportiert als auch Tierfutter auf dem
heimischen Markt verkauft, um Fleischprodukte für Taiwan und Hongkong
zu produzieren.38 Solche kurzfristigen Kredite gab es nur für kommerzielle
Feldfrüchte. Sie mussten innerhalb von 180 Tagen zurückbezahlt werden –
also in viel kürzerer Zeit als für den Anbau und die Vermarktung der Produkte erforderlich.
Dennoch kam es von 1987 bis 1989 und abermals 1992 zu einem beeindruckenden Anstieg der Reisproduktion, der Vietnam den Rollenwechsel
vom Nettoimporteur zum Exporteur von Reis erlaubte. Dieses gelang, bei
schrumpfenden Anbauflächen, durch den Wechsel zu neuen, ertragreicheren
Sorten und verstärkten Einsatz von chemischem Dünger und Pestiziden. Die
Kleinbauern mussten deshalb mit beträchtlich höheren Kosten fertig werden. Die Regierung hatte sich aus der Bereitstellung von landwirtschaftlichen Einsatzgütern zurückgezogen und hing nun von Importen ab: »Unsere
Produktivität ist gestiegen, aber nicht unser Einkommen. Wir müssen für
die neuen Saatsorten, Insektizide und Dünger bezahlen. Die Transportkosten sind gestiegen. Wenn die Kosten weiter wachsen, werden wir den Ak-
kerbau nicht fortsetzen können. Wir sind immer mehr auf Arbeit außerhalb
der Landwirtschaft angewiesen, im Handwerk und in den Städten. In der
Landwirtschaft reicht das Geld nicht zum Überleben.«39
Im Delta des Roten Flusses zahlten Kleinbauern an das International Rice
Research Institute (IRRI), das von der Weltbank und der Rockefeller Foundation unterstützt wird, Gebühren für eine neue Reissorte, die in lokalen
Pflanzenzuchtstationen
gezogen
wurde.
Landwirtschaftliche
Forschungsinstitute, die keine Mittel mehr vom Staat erhielten, waren in das
einträgliche Geschäft der Entwicklung und Produktion von Saatgut eingestiegen.
Die Steigerung der Reisproduktion hat jedoch ihren Höhepunkt überschritten. Seit 1987 vernachlässigt der Staat die Bewässerungsinfrastruktur,
was sich auf die künftige Produktion auswirken wird. Große Be- und Entwässerungssysteme werden nicht mehr ausreichend gepflegt. Die Weltbank
empfiehlt Kostendeckung und die Kommerzialisierung der Wasserressourcen, räumt jedoch ein, dass »Bauern außerhalb des MekongDeltas zu arm sind, um gegenwärtig höhere Raten (für die Bewässerungsgebühr) bezahlen zu können«.40 Das Risiko wiederkehrender Überflutungen
und Trockenheiten ist aufgrund des Zusammenbruchs der für Betrieb und
Wartung zuständigen Staatsunternehmen ebenfalls gestiegen. Ähnlich steht
es um andere staatliche Dienste und Leistungen: »Die Bereitstellung von
Dienstleistungen zur Unterstützung der Landwirtschaft – Dünger, Saatgut,
Schädlingskontrolle, Veterinärdienste, Maschinenservice, Forschung und
Beratung bei der Ausweitung der Anbauflächen – war bis in die späten 80er
Jahre vor allem eine staatliche Aufgabe… Dieses System funktioniert zwar
noch auf dem Papier, ist aber in der Realität… weitgehend zusammengebrochen. Diese Unterstützungsleistungen wurden bei vermarktbaren Produkten oder Dienstleistungen mit einigem Erfolg halb privatisiert, bei den
übrigen funktionieren sie kaum. In der betreffenden Bürokratie leben viele
Staatsbedienstete von Nebenjobs, während 8000 Abgänger von Agrarschulen >arbeitslos< sein sollen.«
Im Oktober 1993 wurde von der Nationalversammlung ein neues Bodenrecht verabschiedet. Rechtsexperten der Weltbank hatten am Gesetzestext
mitgeschrieben und den zuständigen Regierungsstellen dessen Auswirkungen erläutert:
»Die ausländischen Experten der Weltbank glauben, dass das Bodenrecht
für unsere besonderen Bedingungen geeignet ist. Wenn die Bauern kein
Kapital oder keine Ressourcen haben, können sie das Land >transferieren<,
in die Städte ziehen und da in einem >gehobenen< Haushalt arbeiten… Der
Mangel an Grund und Boden ist nicht die Quelle der Armut. Den Armen fehlt
es an Wissen und Erfahrung, und sie haben nur eine begrenzte Ausbildung.
Sie haben außerdem zu viele Kinder.«41
Unter dem neuen Gesetz kann Ackerland frei beliehen oder »transferiert«, d.h. verkauft werden – offiziell nur an ein staatliches Bankinstitut,
aber in der Praxis jedoch auch an private Geldverleiher. Auch mit Hypotheken belastetes Land kann bei Zahlungsunfähigkeit verkauft werden.
Die Konsequenz war besonders im Süden die Rückkehr von Wucherei und
Landpacht. Die bäuerliche Wirtschaft wurde wie gegen Ende der französischen Kolonialzeit wieder zu einem Kampf um Land und Kredite gezwungen.
Im Süden ist die Konzentration an Landbesitz bereits recht fortgeschritten.
Hier sind vor allem mittelgroße Plantagen entstanden, darunter zahlreiche
Joint Ventures mit ausländischem Kapital. Landlose Bauern, die einen wachsenden Anteil der ländlichen Bevölkerung ausmachen, müssen sich in den
Städten einen Gelderwerb suchen oder sich für etwa 50 US-Cents pro Tag
als Saisonarbeiter auf diesen Plantagen verdingen.
Gegen Ende des Vietnamkrieges, in der Phase der so genannten »Vietnamisierung«, führten die Amerikaner im Süden ein Landverteilungsprogramm durch, um die ländlichen Gebiete zu »befrieden«. Das heutige
Landwirtschaftsministerium erkennt die damals gewährten Rechte an Grund
und Boden nicht nur an, es hält das US-Programm aus Kriegszeiten überhaupt für ein nützliches Modell: »Unsere gegenwärtige Politik besteht darin,
das US-Landverteilungsprogramm jener Zeit nachzuahmen, uns fehlen allerdings ausreichende Finanzmittel.« Die Tausende von Bauern jedoch, die
ihre Dörfer verließen, um an der Seite der Befreiungsarmee zu kämpfen,
haben keinen formalen Anspruch auf Ackerland.
Die Zerstörung des Bildungswesens. Vielleicht am dramatischsten
wirkten sich die Reformen in den Bereichen Gesundheit und Bildung aus.
Dabei war gerade die Alphabetisierung eines der Kernziele des Kampfes
gegen die französische Kolonialherrschaft.
Von 1954 an – nach der Niederlage der Franzosen bei Dien Bien Phu – bis
1972 hatte sich der Schulbesuch um das Siebenfache erhöht, von 700.000
auf fast fünf Millionen Kinder in Grund- und weiterführenden Schulen. Nach
der Wiedervereinigung 1975 wurde im Süden eine Alphabetisierungskampagne gestartet. Angaben der UNESCO zufolge gehörten danach die
Alphabetisierungsrate (90 Prozent) und die Schulbeteiligung in Vietnam zu
den höchsten in Südostasien.
Die Reformen haben das Erziehungssystem durch massive Kürzungen des
Bildungsetats, Senkung der Lehrergehälter und die Kommerzialisierung von
weiterführenden Schulen, der Berufs- und höheren Bildung durch Schulund Studiengebühren zerstört. Bildung ist dabei, sich in eine Ware zu verwandeln. Im offiziellen Jargon der UN-Behörden müssen dazu »Konsumenten von (Erziehungs-)Dienstleistungen höhere Gebühren zahlen, so dass
Bildungsinstitutionen ermutigt werden, sich selbst zu finanzieren, sowie
Anreize für die Privatisierung von Bildung und Ausbildung geschaffen werden, wo dies angemessen ist«.42
Die Reformen haben damit praktisch alles zuvor Erreichte rückgängig
gemacht, einschließlich der Alphabetisierungsfortschritte seit 1945, und
einen beispiellosen Rückgang des Schulbesuchs bewirkt. Die Pflicht zur Entrichtung von Schulgebühren ist nun in der 1992 novellierten Verfassung
verankert. Offiziellen Angaben zufolge ging der Anteil von Grundschulabsolventen, die danach die vierjährige Mittelschule besuchen, von 92
Prozent 1986/87 (vor Einführung der Schulgebühren) auf 72 Prozent
1989/90 zurück – ein Rückgang von mehr als einer Million Schülern. Von
insgesamt 922.000 Schülern verließen 231.000 die Oberschule vor dem
Abschluss. So wurde in den ersten drei Jahren der Reformen fast eine drei
viertel Million Kinder aus den weiterführenden Schulen gedrängt, obwohl
gleichzeitig die Anzahl der Kinder im schulfähigen Alter um mehr als sieben
Prozent stieg. Zwar liegen keine jüngeren Zahlen über die Schulbeteiligung
vor, aber es gibt keine Anhaltspunkte, dass sich dieser Trend umgekehrt
hat.43 Die verfügbaren Zahlen aus den 80er Jahren belegen eine Abgängerquote von 0,8 Prozent pro Jahr in den Grundschulen. Zwar stieg danach die
Gesamtzahl der Schüler, aber nicht in dem Maße wie die der Kinder im
schulfähigen Alter. Die strukturelle Unterfinanzierung wird in den kommenden Jahren zu einer raschen Erosion der Grundschulbildung führen.
Der vietnamesische Staat stellt im Jahr pro Kind durchschnittlich drei bis
vier Dollar für die Grundschulbildung bereit (1994). Im Delta des Roten
Flusses mussten die Eltern 1994 für Schulmaterial und Bücher, die zuvor
vom Staat gestellt wurden, den Gegenwert von 100 Kilo Reis pro Kind und
Jahr bezahlen, ein beträchtlicher Anteil des Haushaltsverbrauchs.
Dennoch brachten Regierung und Kreditgeber ihre »Sorge« zum Ausdruck, dass durch den raschen Rückgang der Schulbeteiligung die »Kosten
je Einheit« gestiegen seien und es nun ein »Überangebot« von Lehrern gebe.44 Im »reduzierten« Schulsystem sollte daher größeres Gewicht auf
»Qualität statt Quantität« gelegt werden, was den Kreditgebern zufolge die
Entlassung überschüssiger Lehrer erforderte. Alle Ebenen des Erziehungssystems sind von den Kürzungen betroffen: Auch Kindertagesstätten werden
geschlossen und in Zukunft kommerziell betrieben.
Kostendeckung wurde auch an den Universitäten und allen höheren Bildungseinrichtungen durchgesetzt. Institute für angewandte Forschung wurden aufgefordert, ihre Kosten durch Kommerzialisierung ihrer Forschungsergebnisse aufzubringen: »Universitäten und Forschungsinstitute sind so
schlecht finanziert, dass ihr Überleben von der Schaffung unabhängiger Einkommensquellen abhängt.« Der Staat deckte, nur 25 Prozent der Gehälter
und anderer Betriebsausgaben in der Forschung.45 Forschungsinstituten
wurden allerdings Vorzugszinsen für kurzfristige Kredite eingeräumt: 1,8
Prozent pro Monat statt 2,3 Prozent.
Für die Berufs- und technische Ausbildung einschließlich der Ausbildungsstätten für Lehrer wurden im Rahmen der Richtlinien, auf die man sich mit
den ausländischen Geberorganisationen geeinigt hatte, genaue Obergrenzen für die Teilnehmer- und Studentenzahlen festgesetzt. Das Ergebnis: Die
Entwicklung von Humankapital und die qualifizierte Ausbildung erlebten
einen beträchtlichen Rückschlag.
So sind es heute die ausländischen Geberorganisationen, die in Vietnam
die finanzielle Kontrolle und Aufsicht über die meisten Forschungs- und
Ausbildungsinstitutionen in Händen halten. Sie verteilen selektiv Zusatzgehälter in Devisen, vergeben Forschungsaufträge usw. und diktieren gleich-
zeitig die Forschungsschwerpunkte und die Entwicklung der akademischen
Lehrpläne.
Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Die unmittelbarste
Auswirkung der Reformen im Gesundheitswesen war der Zusammenbruch
der Distriktkrankenhäuser und kommunalen Gesundheitszentren. Bis 1989
stellten die Gesundheitseinrichtungen kostenlose medizinische Beratung
und Arzneimittel. Die Auflösung der Krankenhäuser im Süden, wo die Gesundheitsinfrastruktur erst nach der Wiedervereinigung 1975 aufgebaut
worden war, ist insgesamt weiter fortgeschritten. Mit den Reformen wurden
ein Gebührensystem, das Prinzip der Kostendeckung und der Verkauf von
Arzneimitteln auf dem freien Markt durchgesetzt. Der Verbrauch wichtiger
Medikamente nahm im öffentlichen Gesundheitswesen um 89 Prozent ab,
was die einheimische pharmazeutische Industrie und die Hersteller medizinischer Güter in den Bankrott trieb.46
Bis 1989 ging die heimische Produktion von Pharmazeutika im Verhältnis
zu 1980 um 98,5 Prozent zurück. Heute haben importierte Pharmazeutika,
ausschließlich auf dem »freien« Markt zu extrem hohen Preisen verkauft,
weitgehend heimische Marken ersetzt. Ein beträchtlich geschrumpfter, aber
hochprofitabler kommerzieller Markt für internationale Pharmakonzerne hat
sich entwickelt. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Arzneimitteln, die auf dem
freien Markt gekauft werden, belief sich 1993 auf einen Dollar pro Jahr, was
selbst die Weltbank für zu niedrig hielt.47 Die Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung sind verheerend.
Die Regierung strich unter Anleitung der Kreditgeber auch die Unterstützung für medizinische Ausrüstung und Wartung zusammen. Dies führte
praktisch zur Lähmung des gesamten Gesundheitssystems. Die realen Einkommen von medizinischem Personal und die Arbeitsbedingungen haben
sich dramatisch verschlechtert: Das monatliche Gehalt von Ärzten in einem
Distriktkrankenhaus lag 1994 unter 15 Dollar im Monat. Scharenweise verließen aufgrund dieser Entwicklung Ärzte und Hilfspersonal das öffentliche
Gesundheitswesen. Eine Untersuchung bestätigte schon 1991, dass die
meisten Gesundheitszentren in den Gemeinden nicht mehr funktionsfähig
waren.
In Vietnam leben seither gefährliche Infektionskrankheiten wie Malaria,
Tuberkulose und Durchfallerkrankungen wieder auf. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestätigte, dass die Zahl der Malariatoten in
den ersten vier Jahren der Reformen um das Dreifache gestiegen war – bei
einem steilen Preisanstieg für Malariamittel. Diese Tendenz wird von Angaben aus den Kommunen vollauf bestätigt: »Der Gesundheitszustand war
früher viel besser. Es gab eine jährliche Gesundheitsuntersuchung auf Tuberkulose, heute gibt es keine Medizin mehr um Malaria zu behandeln. Die
Bauern haben kein Geld, um ins Distrikthospital zu gehen. Sie können sich
die Gebühren nicht leisten.«48
Auch die Weltbank räumte den Zusammenbruch des Gesundheitssystems
ein, die zugrunde liegenden makroökonomischen Ursachen erwähnte sie
freilich nicht: »Trotz seiner beeindruckenden Leistung in der Vergangenheit
siecht das vietnamesische Gesundheitswesen zur Zeit dahin… Die Mittelknappheit im Gesundheitssektor ist so akut, dass es unklar ist, wo die Basiseinrichtungen in Zukunft die Mittel finden werden, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.«49
Obwohl die Weltbank zugab, dass die staatlichen Programme zur Eindämmung von Durchfallerkrankungen, Malaria und akuten Infektionen der
Atemwege in der Vergangenheit »zu den erfolgreichsten Gesundheitsleistungen in Vietnam gehörten«, bestanden ihre vorgeschlagenen Lösungen
in der Kommerzialisierung der öffentlichen Gesundheitsversorgung und der
massiven Entlassung von überschüssigen Ärzten und Personal. Sie drängte
darauf, die Gehälter für Gesundheitspersonal im Rahmen eines eingefrorenen Budgets zu erhöhen: »Eine Erhöhung der Gehälter des staatlichen Gesundheitspersonals wird fast notwendigerweise von einer erheblichen Reduzierung der Beschäftigtenzahl im Gesundheitswesen ausgeglichen.«50
So bauen die Reformen den sozialen Sektor in brutaler Weise ab, machen die vierzigjährigen Anstrengungen und Kämpfe der Vietnamesen zunichte und zerstören alle in der Vergangenheit erreichten Fortschritte. Es
sieht ganz danach aus, als hätte das gesamte vietnamesische Volk den
Vietnamkrieg doch noch verloren.
TEIL IV
Lateinamerika
13. Verschuldung und Demokratie in Brasilien
Fernando Collor de Mello wurde im Dezember 1989 als erster Präsident Brasiliens demokratisch ins Amt gewählt. Er steht für das Ende der Militärdiktatur und den Übergang zu einer neuen autoritären Demokratie unter direkter
Kontrolle der ausländischen Gläubiger und der Washingtoner Finanzorganisationen. Ein paar Wochen nach dem Klimagipfel in Rio im Juni 1992
kam eine Untersuchungskommission des Kongresses zu dem Ergebnis, dass
Collor über seinen Sprecher und ehemaligen Wahlkampfleiter in einen millionenschweren
Betrugsskandal verstrickt war. Bestechungsgelder für Staatsaufträge an
Baufirmen waren auf geheime Konten geleitet oder für persönliche Ausgaben des Präsidentenhaushalts abgezweigt worden, darunter für die Garderobe seiner Frau Rosane. Die Öffentlichkeit konzentrierte sich auf den politischen Skandal und die Schande des Präsidenten: Die Einschaltquoten der
Kongressanhörungen waren höher als bei den Olympischen Spielen. Damit
erfüllte dieser Skandal eine wichtige Funktion bei der Umstrukturierung des
brasilianischen Staates.
Brasiliens Schuldensaga: Prolog. In der Zwischenzeit wurde hinter der
Bühne, der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit entzogen, ein MultimilliardenDollar-Geschäft zwischen Collors Finanzminister und Brasiliens internationalen Gläubigern ausgehandelt. Diese Verhandlungen fanden von Juni bis
September 1992 hinter verschlossenen Türen statt und fielen zeitlich mit
dem Amtsenthebungsverfahren zusammen. Mehrere Minister traten zurück
und distanzierten sich öffentlich vom Präsidenten. Der international angesehene Finanzminister Marcilio Marques Moreira jedoch hielt die Stellung und
sorgte für die notwendige Verbindung zum IWF und zu den privaten Gläubigern. Die Schwächung des Staates, begleitet von der Instabilität der Börse
von Sao Paulo und Kapitalflucht, erfüllte auch den Zweck, die Regierung
weiter unter Druck zu setzen. Im Juni 1992, zu Beginn des Skandals, gab
Präsident Collor die Aufnahme der Verhandlungen mit den Geschäftsbanken
bekannt. Eine vorläufige Vereinbarung über die Umschuldungsformel (im
Rahmen des Brady-Plans1) für Schulden in Höhe von 44 Mrd. Dollar an internationale Banken wurde kurz vor dem Amtsenthebungsverfahren gegen
Collor am 29. September 1992 dem Senat vorgelegt. Es war ein Ausverkauf: Die Last des brasilianischen Schuldendienstes sollte sich als Folge des
Deals beträchtlich vergrößern.
Die Kampagne für das Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten
hatte die öffentliche Aufmerksamkeit wirkungsvoll von den wahren sozialen
Problemen abgelenkt. Zu dieser Zeit war die große Mehrheit der Bevölkerung bereits durch den »Collor-Plan« verarmt, den die umstrittene Wirtschafts- und Finanzministerin Zelia Cardoso de Mello im März 1990 auf den
Weg gebracht hatte, bevor sich dann ihr Nachfolger Marcilio Marques Moreira an einer orthodoxeren, doch ebenso schädlichen Wirtschaftstherapie versuchte.
Eine zentrale Säule des Collor-Plans war die von den Gläubigern erzwungene Abwertung des Cruzeiro. Die Inflation fiel von über 900 Prozent auf
immerhin etwa 250 Prozent pro Jahr. Durch den Anstieg der Realzinsen,
den der IWF 1991 Brasilien verordnete, stiegen die Inlandsschulden und
floss jede Menge »heißes« und »schmutziges« Geld in Brasiliens Bankensystem. Etwa 300 große Finanz- und Industrieunternehmen machten enorme
Gewinne, die in hohem Maße für eine »profitgesteuerte Inflation« verantwortlich waren. Der Anteil des Aktienkapitals am Bruttoinlandsprodukt stieg
von 45 Prozent 1980 auf 66 Prozent Anfang der 90er Jahre. Die Demokratie
hatte – im Bund mit den internationalen Gläubigern – den brasilianischen
Wirtschaftseliten wirkungsvoller zugearbeitet als die vorangehenden Militärregimes.
Das geheime Ziel des IWF bestand darin, die Gläubiger zu unterstützen
und zugleich die Zentralregierung zu schwächen. 90 Mrd. Dollar für die
Zinszahlungen hatte Brasilien bereits in den 80er Jahren aufbringen müssen, fast so viel wie die Gesamtschuldenlast in Höhe von 120 Mrd. Dollar.
Aber es ging gar nicht darum, diese Schulden einzutreiben. Brasiliens internationale Gläubiger waren vielmehr an einer dauerhaften Verschuldung des
Landes interessiert. Das war die Voraussetzung, um die brasilianische
Volkswirtschaft zum eigenen Vorteil umstrukturieren zu können, Voraussetzung auch für die weitere Ausplünderung der natürlichen Ressourcen und
der Umwelt sowie für die Übernahme der profitabelsten Staatsunternehmen. Das Staatsvermögen sollte im Tausch gegen Schulden privatisiert
werden, die Lohnkosten würden als Folge der Abkoppelung der Löhne vom
Preisindex und durch die angestrebten Entlassungen sinken. So war die Armut nicht bloß eine unbeabsichtigte Folge der Reformen, sie war vielmehr
eine ausdrückliche Bedingung der Vereinbarung mit dem IWF.
1. Akt: Der Collor-Plan. Wer sind die Protagonisten der brasilianischen
Schuldensaga?
Der im März 1990 aufgelegte Collor-Plan war ein ungewöhnlicher Cocktail, der eine interventionistische Geldpolitik mit Privatisierungen im IWFStil, Handelsliberalisierung und einem frei schwankenden Wechselkurs verband. Ein Haushaltsdefizit von 31 Mrd. Dollar sollte beseitigt, 360.000 Bundesbedienstete sollten entlassen und sechs Ministerien abgeschafft werden.
Schreckensbleich verweigerte der Kongress einem Eckpunkt dieses Plans
die Zustimmung: Statt der 360.000 durften nur 14.000 Staatsbedienstete
gegen Abfindung entlassen werden. Viele von ihnen wurden später unter
Präsident Itamar Franco wieder eingestellt.
Mit hochfliegenden Plänen, der Inflation den Garaus zu machen, fror Finanzministerin Zelia Cardoso de Mello in einem naiven monetaristischen
Experiment die Sparkonten ein. Diese Maßnahmen machten allerdings weitgehend der Wirtschaftstätigkeit den Garaus. Die Arbeitslosigkeit stieg auf
Rekordniveaus, und die Einfrierung der Bankkonten zog kleine Firmen in
Mitleidenschaft, was allein 1990 zu 200.000 Entlassungen führte. Die Gewerkschaften reagierten auf den Collor-Plan im September 1990 mit einem
Streik, der von mehr als einer Million Arbeitern getragen wurde. Der Ökonom Paul Singer kam zu einem eindeutigen Urteil: »Der Schock war grausam, monströs und unnötig.«
Natürlich zielte der Collor-Plan darauf ab, mit den Einsparungen im Etat
Auslandsschulden bedienen zu können. Die Rückzahlungskonditionen für
diese Schulden waren jedoch mit einem Makel behaftet, den der stramm
nationalistische José Sarney, Colbors Amtsvorgänger, noch 1989 durchgesetzt hatte: Sehr zur Verstimmung der internationalen Banken hatte er ihnen ein Teilmoratorium abgerungen, das den Schuldendienst auf 30 Prozent
der insgesamt fälligen Zinszahlungen beschränkte.
Der IWF erteilte dem Collor-Plan seinen Segen, doch ein im September
1990 bewilligter Sofortkredit von zwei Milliarden wurde noch zurückgehalten. Der Direktor des IWF, Michel Camdessus, erklärte: »Bevor ich den
Exekutivrat (des IWF) um Zustimmung bitte, muss ich sicherstellen, dass
sich die Verhandlungen mit den Banken in die richtige Richtung bewegen
und die Ergebnisse befriedigend sind.«
Ein paar Wochen später nahm die Regierung wieder die Schuldenverhandlungen mit den internationalen Gläubigern auf. Jorio Dauster, Collors
Chefunterhändler, argumentierte wenig überzeugend, dass »die Schuldenzahlungen auf Brasiliens Zahlungsfähigkeit abgestimmt sein müssen«.2 Die
von Citicorp geführte und aus 22 Geschäftsbanken bestehende Beratergruppe schlug zurück, indem sie gegen die Kreditvereinbarung mit dem IWF
ihr Veto einlegte und die multilateralen Banken instruierte, Brasilien kein
neues Geld zu leihen, solange das Land nicht seine rückständigen Zinsen in
Höhe von acht Milliarden Dollar beglichen hätte. Bei einem Treffen in Washington stellten sich die G7-Staaten hinter dieses Veto. Das USFinanzministerium wies nun die Weltbank und die Interamerican Development Bank (IDB) an, alle neuen Darlehen an Brasilien vorerst auszusetzen.
Der IWF, auch in Reaktion auf präzise Direktiven von den Geschäftsbanken
und einschlägigen Regierungsstellen in Washington, vertagte daraufhin seine Beschlussfassung.
Die brasilianische Regierung steckte in einem Teufelskreis: Die Bewilligung frischer Mittel vom IWF, auf die das Land dringend angewiesen war,
um seine Schulden bei den Geschäftsbanken bedienen zu können, wurde
von der Beratungsgruppe ebendieser Geschäftsbanken blockiert. Eine unmögliche Situation. Die Regierung hatte alle Bedingungen des IWF erfüllt –
und dennoch blieb Brasilien auf der schwarzen Liste. Würde das Land die
Forderungen seiner privaten Gläubiger nicht erfüllen, könnte dies leicht zum
Vorwand für weitere Repressalien und internationale Ächtung werden. Die
Spannungen wuchsen. Im April 1991 beschuldigte Finanzministerin Zelia
Cardoso de Mello die G7-Staaten bei einer Konferenz der IDB im japanischen Nagoya verärgert, durch die Blockade multilateraler Kredite unfairen
politischen Druck auszuüben.3
2. Akt: Einwilligung in den »Washingtoner Konsens«. Die Konferenz
in Nagoya markierte einen wichtigen Wendepunkt. Die nationale Rhetorik
und die Beschuldigungen gegen die internationale Finanzgemeinde wurden
als unzeitgemäß und unpassend betrachtet. Zelia Cardoso wurde Anfang
Mai entlassen und durch Marcilio Marques Moreira ersetzt, was die USRegierung und die internationalen Finanzorganisationen ausdrücklich begrüßten.4 Als früherer Botschafter in Washington hatte Marques Moreira
enge persönliche Beziehungen zu dem IWF-Direktor Michel Camdessus und
zu David Mulford geknüpft, dem Unterstaatssekretär des USFinanzministeriums. Zelia Cardosos Unterhändler Jorio Dauster wurde ebenfalls entlassen, zugunsten von Pedro Malan, einem Berater der IDB und
ehemaligen Exekutivdirektor der Weltbank. Malans über zehnjährige Verbindungen zur Washingtoner Szene und Marques Moreiras persönliche Kontakte waren in der zweiten Hälfte der Präsidentschaft von Colbor wichtige
Faktoren für den Verlauf der brasilianischen Schuldenverhandlungen.
Im Juni 1991 schickte der IWF eine neue Delegation nach Brasilia, geleitet von José Fajgenbaum. Der IWF fühlte sich nun nicht mehr an den Einspruch der Beratungsgruppe der Geschäftsbanken unter Führung der Citicorp gebunden. Neue Verhandlungen über makroökonomische Reformen
sollten beginnen. Fajgenbaum erklärte, dass »strukturelle Wirtschaftsreformen« nötig seien, »die auch Änderungen der Verfassung erforderten«,
wenn Brasilien eine neue Kreditvereinbarung mit dem IWF erreichen wolle.5
Durch das Parlament ging ein Aufschrei. Dem IWF wurde »unerhörte Einmischung in die inneren Angelegenheiten« vorgeworfen. Collor verlangte vom
IWF, Fajgenbaum als Kopf der Delegation durch »eine qualifiziertere Person« abzulösen – ein »populistischer Erfolg für Präsident Colbor« in seinem
Kampf mit dem IWF, schrieb die New York Times.6
Obwohl der Vorfall als »unglückliches Missverständnis« bezeichnet wurde,
deckte sich Fajgenbaums Ansinnen weitgehend mit der etablierten Praxis
des IWF. Der IWF forderte die Verabreichung einer weit stärkeren Medizin
zur wirtschaftlichen Gesundung, damit ein größerer Anteil der Staatseinnahmen in den Schuldendienst an die Geschäftsbanken fließen konnte.
Doch mehrere Artikel der Verfassung von 1988 standen diesen Zielen im
Weg. Der IWF war sich völlig darüber im Klaren, dass die Haushaltsziele
ohne massive Entlassungen von Staatsbediensteten nicht erfüllt werden
könnten, was allerdings wegen der bislang verbrieften Arbeitsplatzsicherheit
eine Verfassungsänderung zur Voraussetzung hatte. Ebenfalls auf der Tagesordnung standen die in der Verfassung festgelegten Budgettransfers
vom Bund an die Bundesstaaten und Kommunen, die eingeschränkten Möglichkeiten der Bundesregierung, Sozialausgaben zu kürzen und Einnahmen
in den Schuldendienst umzulenken, sowie die deklarierten Bestandsgarantien für die Staatsunternehmen. Vom Standpunkt des IWF und
der Geschäftsbanken aus war also eine Verfassungsänderung zwingend.
Die zweite Verhandlungsrunde mit dem IWF wurde Ende 1991 abgeschlossen: Nach Beratungen mit Präsident George Bushs Finanzminister
Nicholas Brady und US-Unterstaatssekretär David Mulford stimmte Michel
Camdessus einer neuen Vereinbarung zu.7 Präsident Collor de Mello übergab
die zweite, von Marcilio Marques Moreira ausgearbeitete Absichtserklärung
(Letter of Intent) bei einem Arbeitsfrühstück während des lateinamerikanischen Gipfels im kolumbianischen Cartagena im Dezember persönlich an
Michel Camdessus (die erste von Zelia Cardoso vom September 1990 war
ja, wie wir uns erinnern, zerrissen worden). Im Januar 1992 wurde diese
Absichtserklärung vom IWF gebilligt.
Die neue Kreditvereinbarung in Höhe von zwei Milliarden Dollar verpflichtete die brasilianische Regierung über einen Zeitraum von 20 Monaten zu
weit destruktiveren Wirtschaftsreformen. Die Anpassung des Haushaltes
war besonders brutal: 65 Prozent der laufenden Ausgaben waren bereits für
den Schuldendienst vorgesehen, und der IWF verlangte noch weitere Kürzungen des Sozialetats.
Zu dieser Vereinbarung gehörte auch die ausdrückliche Übereinkunft, die
Verhandlungen mit dem Pariser Club wieder aufzunehmen und mit den Geschäftsbanken eine befriedigende Vereinbarung über die Bedienung der
Zahlungsrückstände zu erzielen. Für Marcilio Marques Moreira stellte die
Einigung mit den Privatbanken »ein neues Kapitel voller Möglichkeiten dar.
Dies ist das >neue Brasilien<, das sich wieder in die internationale Gemeinschaft einfügt: dynamisch, wettbewerbsfähig und souverän.«8
3. Akt: Nach der Amtsenthebung Collors. Der dritte Akt der Schuldensaga begann im Dezember 1992 mit der Amtseinführung von Itamar Franco
als geschäftsführendem Präsidenten. Es war ein unbeholfener Anfang: Der
neue Präsident versprach, die Reallöhne anzuheben, die Preise für öffentliche Versorgungsleistungen zu senken und das Privatisierungsprogramm zu
modifizieren, ohne zu erkennen, dass ihm infolge der ein Jahr zuvor unterzeichneten Vereinbarung mit dem IWF die Hände gebunden waren. Trotz
einer beeindruckenden Kongressmehrheit gelang es Itamar Francos Kabinett nicht, die Einwilligung der Washingtoner Organisationen zu erhalten.
Francos populistische Erklärungen missfielen sowohl den Gläubigern als
auch den nationalen Eliten. Der IWF beschloss, mit der neuen Regierung
viel härter umzugehen: Drei Finanzminister wurden während der sieben
Monate der Präsidentschaft von Itamar Franco ernannt, doch keiner von ihnen stieß beim IWF auf Gegenliebe. In der Zwischenzeit hatte der IWF seine
Rechnungsprüfer geschickt, um die Fortschritte bei der Umsetzung der Kreditvereinbarungen zu überwachen. Die vierteljährlichen Ziele zur Verminderung des Haushaltsdefizits waren nicht erreicht worden – und konnten es
ohne Verfassungsänderung auch nicht. Obwohl ein vom IWF verlangtes
Steuerreformgesetz den Kongress passiert hatte, kamen die IWF-Prüfer zu
dem Schluss, dass Brasilien nicht mehr »auf Kurs« sei. Die Auszahlung des
Sofortkredits wurde ausgesetzt, Brasilien stand wieder auf der schwarzen
Liste, und die Verhandlungen mit dem IWF über die Wirtschaftsreformen
mussten noch einmal von vorn beginnen.
Bei einem weiteren Frühstückstreffen, dieses Mal mit Itamars zweitem
Finanzminister Paulo Haddad in Washington im Februar 1993, bestand Michel Camdessus darauf, ein neues Wirtschaftsprogramm auszuarbeiten, das
dem IWF innerhalb von 60 Tagen zur Billigung vorgelegt werden sollte. Der
IWF machte zudem klar, dass kein Sofortkredit gewährt würde, bevor keine
abschließende Vereinbarung mit den Geschäftsbanken unterzeichnet wäre,
und es daher notwendig sei, die Terminpläne für die politische Reform und
die Umschuldung abzustimmen.9
Man verlor keine Zeit. Ein paar Wochen später traf eine IWF-Delegation
in Brasilia ein, geführt von jenem berüchtigten Jose Fajgenbaum, der zwei
Jahre zuvor die Notwendigkeit einer Verfassungsreform angedeutet hatte.
Auf Seiten des IWF war die Kontinuität des Personals gewährleistet – nicht
so bei den Brasilianern. Paulo Haddad war nicht länger im Amt. Bei der Ankunft der Delegation herrschte im Team des Wirtschaftsministeriums helles
Durcheinander, denn ein paar Tage zuvor hatten der Wirtschafts- und der
Finanzminister ihre Ressorts getauscht. Nun sollte Itamar Francos dritter
Finanzminister, Eliseu Resende, Ende April nach Washington fliegen, um
Camdessus zu treffen. Er wurde im Mai entlassen.10
4. Akt: Ein marxistischer Soziologe als Finanzminister. Eine neue
Phase der Schuldensaga begann, als Fernando Henrique Cardoso, ein prominenter Intellektueller und marxistischer Soziologe, zum Finanzminister
ernannt wurde. Die Wirtschaft, zuerst etwas besorgt, war bald beruhigt:
Trotz seiner linken Schriften – unter anderem über Themen wie Abhängigkeit und Entwicklung »im peripheren Kapitalismus« – stellte sich der
neue Minister bedingungslos hinter die Lehrmeinungen des Neoliberalismus:
»Vergessen Sie alles, was ich geschrieben habe«, sagte er bei einem Treffen mit führenden Bankern und Vertretern der Industrie. Ein paar Jahre
früher war Cardoso wegen seiner kritischen Analyse der sozialen Klassen in
Brasilien noch zum »Intellektuellen des Jahres« gewählt worden.
Etwa im Juli 1993 hatte sich Präsident Itamar Franco praktisch von der
realen politischen Macht verabschiedet und überließ die Durchführung der
Wirtschaftsreformen seinem neuen Minister. Als ehemals oppositioneller
Senator verstand Cardoso nur zu gut, dass die Ratifizierung der IWF-Reformen nur durch die Manipulation der öffentlichen Meinung und breiten Rückhalt in der Legislative glücken konnte. Der Öffentlichkeit wurde eingeredet,
dass die vorgeschlagene Abkoppelung der Löhne von der Preisentwicklung
das einzige Mittel sei, die Inflation zu bekämpfen. Im Juni 1993 gab Cardoso Haushaltskürzungen von 50 Prozent in den Bereichen Erziehung, Gesundheitswesen und Regionalentwicklung bekannt und wies auf die Notwendigkeit von Verfassungsänderungen in der kommenden Legislaturperiode des Kongresses hin. Cardosos Vorschlag wurde vom Kongress gebilligt,
und die Löhne konnten (real) um bis zu 31 Prozent fallen, was den öffentlichen Kassen – und den Gläubigern! – geschätzte Einsparungen von elf Milliarden Dollar brachte.11
5. Akt: Die Umschuldung. Die Schuldensaga trat im April 1994 in ihre
letzte Phase, als in New York eine Vereinbarung mit den privaten Geschäftsbanken über die Umschuldung von 49 Mrd. Dollar besiegelt wurde.
Der Deal war sorgfältig von Cardoso und William Rhodes, dem Vizepräsidenten der Citybank, der die Interessen von 750 internationalen Gläubigerbanken vertrat, ausgehandelt worden.12
Im Gegensatz zu den vorangehenden Verhandlungsrunden wurden dieses
Mal feste Stichtage für die Ratifizierung großer Gesetze festgelegt, darunter
für die Änderungen der Verfassung von 1988. Der IWF übernahm für die
Geschäftsbanken die Aufgabe, den Gesetzgebungsprozess zu überwachen.
Allerdings lief Cardoso trotz seiner Bemühungen, die öffentliche Meinung zu
täuschen und die Reformen zu sichern, um die verschiedenen Reformen
durch das »souveräne« Parlament zu boxen, die Zeit davon. Der Stichtag
des 16. März 1995 für die Unterzeichnung einer weiteren Absichtserklärung
mit dem IWF konnte nicht eingehalten werden.
Obwohl die Vereinbarung vom 15. April 1994 mit den Geschäftsbanken
formal gegen das übliche Procedere verstieß, zu dem eigentlich ein zuvor
bewilligter IWF-Sofortkredit gehört, um ein zu vereinbarendes Umschuldungsprogramm abzusichern, kam man dennoch zu der Überzeugung, dass
die Wirtschaftsreformen nun »auf Kurs« waren. Michel Camdessus erklärte,
dass er von den bereits unternommenen Schritten beeindruckt sei, und versprach, eng mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Cardoso seinerseits –
der in der Zwischenzeit zum Präsidentschaftskandidaten ernannt worden
war – erklärte, das Versprechen des IWF zu weiterer Kooperation nach Erfüllung der Kernpunkte des Wirtschaftsprogramms sollte ausreichende Gewähr bieten, die Umschuldungsvereinbarung in Kraft zu setzen. Trotz »unglücklicher Verzögerungen« im parlamentarischen Prozess war die Hauptbedingung – die massive Freisetzung staatlicher Mittel zugunsten der Gläubiger – erfüllt: Die Legislative hatte den vom IWF aufgenötigten Haushaltsreformen sowie der Schaffung eines Sozialfonds (Social Emergency Fund)
nach den Kriterien der Weltbank zugestimmt. Die Abstimmung im Kongress
zugunsten einer ersten Verfassungsänderung verpflichtete die Regierung,
den Bundeshaushalt einschließlich öffentlicher Investitionen um 43 Prozent
zu kürzen und die dadurch eingesparten Staatseinnahmen in den Schuldendienst umzuleiten.
Die von den Gläubigern auferlegten Maßnahmen versetzten den Sozialprogrammen Brasiliens, die sich bereits im fortgeschrittenen Zustand des
Verfalls befanden, den Todesstoß. Der neu aufgelegte Sozialfonds wurde
aus Budgetkürzungen im regulären Sozialetat finanziert. Seine Einführung
war eine wichtige politische Wegscheide: Sie markierte das Ende der Souveränität Brasiliens in der Sozialpolitik. Von nun an wurden die betreffenden
Budgets und Organisationsstrukturen im Namen der internationalen Gläubigerbanken direkt von den Washingtoner Finanzorganisationen überwacht.
Der Zusammenbruch und die Zerstörung der staatlichen Sozialprogramme
und die Streichung eines Teils des staatlichen Pensionsplans waren Vorbedingungen für die Unterzeichnung der Vereinbarung. Die Reformen drückten
durch eine Gehaltsobergrenze für den öffentlichen Sektor13 außerdem gezielt die Reallöhne und stellten alle Arbeitsverträge auf eine neue Währungseinheit, den Real, um. Die Währungsreform, die ein neues Gesetz erforderte, war vorher bei hochrangigen Treffen hinter verschlossenen Türen
in enger Beratung mit der Washingtoner Bürokratie der internationalen Finanzorganisationen erarbeitet worden. Winston Fritsch, der für Wirtschaftspolitik zuständige brasilianische Staatssekretär, hatte im Oktober
1993 unbedacht an die Presse durchsickern lassen, dass er »dem IWF die
Grundzüge eines Planes zur Abkoppelung der Löhne und Gehälter vom
Preisindex« übergeben werde.14
Die wirtschaftliche Therapie des IWF definierte auch die in der Verfassung
von 1988 festgelegte Beziehung zwischen Zentralregierung und Bundesstaaten grundlegend neu. Das vorgeschlagene Modell einer Haushaltsstrukturreform entsprach der Reform, welche die internationalen Gläubiger 1990
Jugoslawien aufgezwungen hatten (siehe Kapitel 17): Transferzahlungen
der Bundesregierung an die Bundesstaaten und Kommunen, die für Gesundheit, Erziehung und Wohnungsbau vorgesehen waren, wurden eingefroren, die Bundesstaaten sollten »Haushaltsautonomie« erhalten und die
Einsparungen, die dem Finanzminister des Bundes dadurch zuflossen, sollten in die Zinszahlungen umgeleitet werden.
Cardoso hatte viel besser »funktioniert« als seine Vorgänger im Finanzressort. Der Erfolg bei der Ausführung des IWFProgramms wurde belohnt.
Der Finanzminister gewann die Präsidentschaftswahlen von 1994, unterstützt von einer massiven, viele Millionen Dollar teuren Medienkampagne
und einer stillschweigenden Übereinkunft mit den Großunternehmen des
Landes, die Preise während der Wahlkampagne nicht zu erhöhen. Mit der
von Cardoso eingeführten neuen Währung waren zwar Löhne und Gehälter
von der Preisentwicklung abgekoppelt, doch die bemerkenswert niedrige
Inflationsrate in den Monaten vor seiner Wahl zum Präsidenten sorgte dafür, dass er besonders unter den ärmsten Bevölkerungsteilen, die am Rand
des Arbeitsmarktes überlebten, Unterstützung fand.15
Die Kontinuität mit dem autoritären demokratischen Regime von Fernando Collor de Mello war gesichert. Ein hochrangiger Manager einer der größten Gläubigerbanken Brasiliens drückte es 1993 so aus: »Collor hatte eine
gespaltene Persönlichkeit: Er war auf die Wirtschaftsreform verpflichtet und
wirkte als Triebkraft bei der Umsetzung dessen, was das brasilianische Volk
wollte… Sein zweites Kabinett unter Finanzminister Marcilio Marques Moreira
war das beste. Heute tut Fernando Henrique Cardoso das Gleiche mit geringerer Geschwindigkeit… Um die vom IWF festgelegten Defizitziele zu erreichen, muss der Kongress die Haushaltskürzung von sechs Milliarden Dollar
akzeptieren, weitere sechs Milliarden Dollar werden aus der Verfassungsänderung kommen müssen, im Wesentlichen durch die Entlassung von
Staatsbediensteten… Was wir in Brasilien brauchen würden, ist eine >weiche Pinochet-Regierung<, vorzugsweise zivil, wie Fujimori. Das Militär ist
keine Option.«
Epilog: »Armutsmanagement« zu minimalen Kosten. Die von den Washingtoner Finanzinstitutionen durchgesetzte Politik beschleunigte die Vertreibung von landlosen Bauern und führte zur Bildung eines nomadisierenden Arbeitskräfteheers, das von einer Großstadt zur nächsten zieht. In den
Städten entwickelten sich ganz neue Schichten von Armen, die sich sozial
von den Favela-Bewohnern unterschieden: Tausende von Arbeitern und
Angestellten, die bis dahin in Wohngebieten der Mittel- und Unterklassen
gelebt hatten, wurden vertrieben, sozial marginalisiert und häufig in die
Slums abgedrängt.
Der von Cardoso 1994 eingerichtete Sozialfonds steckte den Rahmen für
ein »Armutsmanagement« ab, das die soziale Sprengkraft der Reformen zu
minimalen Kosten für die Gläubiger entschärfen sollte. Die zur »Hilfe für die
Armen« aufgelegten so genannten »gezielten Programme« (targeted programs), verbunden mit Kostendeckungsrichtlinien und der Privatisierung
von Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen, stellten angeblich einen
»effizienteren« Weg als die herkömmlichen Sozialprogramme dar. Gleichzeitig sollte sich die Sozialversicherung durch beträchtliche Beitragserhöhungen für versicherungspflichtige Arbeitnehmer zunehmend selbst finanzieren.
Der Staat zog sich aus der Verantwortung für viele Sozialleistungen zurück
und überließ sie freien Trägern, die aus dem Sozialfonds finanziert wurden.
Aus Mitteln des Fonds wurden auch die Abfindungen für die Staatsbediensteten bezahlt, die infolge der Verfassungsreform ihren Arbeitsplatz
verloren.
Der Sozialfonds wurde im Namen der »Armutsmilderung« eingerichtet
und ist in mancher Hinsicht die Fortführung der so genannten »Bürgerkampagne gegen den Hunger«, die nach Collors Amtsenthebungsverfahren
1992 initiiert wurde. Diese Kampagne stärkte seinem Nachfolger Itamar
Franco bei dessen zögerlicher Haltung gegenüber dem IWF den Rücken und
diente seinem Populismus als Sprachrohr. Ursprünglich also eine breite demokratische Basisbewegung gegen alle Einschnitte in die staatlichen Sozialleistungen, verlor die Initiative bald ihren Schwung. Obwohl offiziell unabhängig, beteiligten sich an ihr sowohl die Regierung als auch die oppositionelle Arbeiterpartei. Zudem gab es zwischen dem Kopf der Kampagne, Herbert de Souza, und Alcyr Calliary, dem Präsidenten der Bank von Brasilien,
eine Vereinbarung: Ausgerechnet die Bank von Brasilien, ein mächtiger Arm
des Zentralstaates, war nun damit betraut, im ganzen Land lokale Komitees
für die Antihungerkampagne zu gründen. Mehr als zwei Drittel dieser »Basiskomitees« wurden von Beschäftigten dieser Bank von Brasilien kontrolliert.16 Der mächtige Geschäftstycoon Roberto Marinho, der das GloboFernsehnetz kontrolliert, bot der Kampagne seinerseits freie Werbespots im
Stil Hollywoods zur besten Sendezeit an.
Armut und Hunger wurden in der brasilianischen Presse in stilisierter,
sensationsheischender Form porträtiert. Aufgrund ihrer Alimentierung durch
die Finanzeliten zog die Kampagne keine Verbindung zwischen der wirtschaftlichen »Medizin« des IWF und dem Hunger in Brasilien. Als sich die
Wirtschaftskrise vertiefte, diente die »Bürger«-Initiative dem nützlichen
Zweck, die Aufmerksamkeit von den wirklichen politischen Problemen abzulenken. Sie suchte einen breiten nationalen Konsens, vermied die Kontroverse und hielt sich mit direkten Anklagen der Regierung oder der privilegierten sozialen Eliten Brasiliens tunlicherweise zurück.
Die wichtigsten Armutsindikatoren, die die Kampagne ins Feld führte, basierten auf Berechnungen eines regierungsnahen Wirtschaftsforschungsinstituts, des Instituto de Pesquisa Econômica, das nun mit der Erforschung
von Hunger und Armut beauftragt worden war. In grober Manipulation der
Daten legten die Ergebnisse des Instituts den Schluss nahe, dass nur 21
Prozent der brasilianischen Bevölkerung unter der kritischen Armutsschwelle lebten.17 Zweierlei Maß: Nur 32 Millionen Brasilianer sollten danach arm
sein, verglichen mit 35,7 Millionen US-Amerikanern.
Damit wurde die Armut, der doch seit Beginn der Collor-Regierung breite
Schichten bis hin zur Mittelklasse anheim gefallen waren, auf das Problem
einer Minderheit reduziert, was wiederum die Politik der selektiven und
»zielgruppenorientierten« Armutsbekämpfung legitimierte.
Der Sozialfonds diente zur Legitimation des schon zuvor begonnenen
Rückzugs des Staates aus der Sozialpolitik. Diverse nichtstaatliche Organisationen auf unterster Ebene übernahmen nun die Aufgaben des »Armutsmanagements« und sprangen mehr schlecht als recht für die Kommunen
ein, die infolge des Strukturanpassungsprogramms keine Mittel mehr erhielten. So konnte immerhin die Gefahr sozialer Unruhen eingedämmt werden.
Ein Beispiel für kleinteiliges »Armutsmanagement« dieses Stils findet sich
in Pirambu, einem wuchernden Slumgebiet mit 250.000 Einwohnern in der
nordostbrasilianischen Stadt Fortaleza. Pirambu wurde unter verschiedene
internationale Hilfsorganisationen und NGO aufgeteilt. Im Stadtteil Couto
Fernandes unterstützte die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) die Einrichtung eines modellhaften »Gemeindemanagements«. Diese »Mikrodemokratie«‚ eingerichtet unter den wachsamen Augen der Geldgeber, diente nicht zuletzt dem Zweck, die Entwicklung von
unabhängigen sozialen Basisbewegungen zu schwächen. Mit deutschen Geldern wurden die Gehälter von ausländischen Experten finanziert, während
die Investitionsmittel für kleine Fertigungsbetriebe durch einen von der örtlichen Kommune verwalteten Umlauffonds selbst aufgebracht werden sollten.
Das Armutsmanagement in ländlichen Gebieten diente den gleichen allgemeinen Zielen: Die Bauernbewegung sollte zugunsten der mächtigen
Großgrundbesitzer geschwächt werden, während man Millionen von landlosen Bauern, die vom Agrarbusiness entwurzelt und verdrängt worden waren, ein mageres Überleben sicherte. Ein Arbeitsbeschaffungsprogramm im
Sertao z.B. einer regelmäßig von Dürre heimgesuchten Region im Nordosten Brasiliens, sicherte 1993 1,2 Millionen landlosen Bauern eine minimale Vergütung von umgerechnet 14 Dollar im Monat.19 Sie wurden jedoch
häufig von Großgrundbesitzern angeheuert – auf Kosten also der Bundesregierung. Die Verteilung von US-Getreideüberschüssen durch Regierungsoder Hilfsorganisationen im Rahmen des Nahrungsmittelhilfsprogramms der
USA an verarmte brasilianische Bauern diente dem Zweck, die lokale Nahrungsmittellandwirtschaft zu schwächen und Kleinbauern zu entwurzeln. Die
»Bürgerkampagne gegen Hunger« übernahm die Verteilung.
Integraler Bestandteil des Strukturanpassungsprogramms von IWF und
Weltbank war auch die Marginalisierung der Kleinbauern. Die für Besiedlung
und Agrarreform zuständige brasilianische Behörde, INCRA, verteilte zusammen mit anderen Regierungsstellen Landparzellen und unterstützte die
Bildung von Kooperativen landloser Bauern. Doch dabei handelte es sich
unfehlbar um marginales oder von Dürren betroffenes Land, das nicht die
Interessen der Großgrundbesitzer berührte. In den Staaten Pará, Amazonas
und Maranhao beteiligten sich mehrere internationale Geldgeber, darunter
die Weltbank und die japanische Hilfsorganisation JICA, über das INCRA
auch an der Finanzierung von Ansiedlungsprojekten als Arbeitsreservoir für
große Plantagen.20 Und zuletzt darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Verfassungsänderungen auch die traditionellen Landrechte der Ureinwohner in
Mitleidenschaft zogen – ein Prozess, der durch die Umwandlung von Indianerreservaten im Amazonasgebiet in Besiedlungsgebiete für Plantagenarbeiter unter Federführung des INCRA bereits im Gang war.21
Halten wir also fest:
Die vom IWF geförderten Reformen trugen in Brasilien zur sozialen Polarisierung und Verarmung großer Bevölkerungsteile, auch der Mittelklasse
bei. Durch den Zusammenbruch der föderalen Haushaltsstruktur wächst das
Risiko einer Balkanisierung, im Süden macht sich zunehmender Separatismus breit. In fataler Regelmäßigkeit kommt es zu Menschenrechtsverletzungen aller Art, die Gewalt in den Städten und auf dem Land
nimmt zu. Seit der Präsidentschaft von Fernando Collor de Mello hat sich de
facto eine Parallelregierung entwickelt, die regelmäßig in Washington Bericht erstattet. Und unter Fernando Henrique Cardoso haben die Gläubiger
die Kontrolle über die staatliche Verwaltung und die Politiker des Landes
vollends gewonnen. Der Staat ist bankrott, sein Vermögen wird durch das
Privatisierungsprogramm beschlagnahmt.
14. Schocktherapie in Peru
Am 8. August 1990 verkündete der peruanische Premierminister Juan Hurtado Miller in einer Rede an die Nation den »Fujischock«, benannt nach Präsident Alberto Fujimori: »Unsere Hauptziele sind, das Haushaltsdefizit zu
reduzieren und die Preisverzerrungen zu beseitigen.« Über Nacht stiegen
die Preise für Treibstoff um 2968 Prozent und für Brot um mehr als 1150
Prozent. Im wahren Geist des angelsächsischen Liberalismus wurden diese
Preise nicht vom »freien« Markt, sondern durch einen Erlass des Präsidenten »fixiert« – eine Form von »Planliberalismus«. Der Fujischock sollte der
Hyperinflation das Genick brechen. Erkauft wurde dies allerdings mit dem
Anstieg der Lebensmittelpreise um 446 Prozent in einem einzigen Monat!
Die Inflation fiel im ersten Jahr der neuen Regierung auf bescheidene 2172
Prozent.
Viele Länder in Lateinamerika erlebten eine Schockbehandlung, doch das
Ausmaß der wirtschaftlichen Manipulation in Peru war beispiellos. Die sozialen Konsequenzen waren vernichtend: Während ein Landarbeiter in den
Nordostprovinzen Perus im August 1990 umgerechnet 7,50 Dollar im Monat
verdiente – das Äquivalent von einem Hamburger und einer Limonade –,
lagen die Verbraucherpreise in Lima höher als in New York.22 Das Realeinkommen sank im Laufe des Augusts um 60 Prozent (siehe Tabelle 14.1).
Mitte 1991 belief sich das Niveau des Realeinkommens auf weniger als 15
Prozent seines Werts von 1974 – ein Verlust von 85 Prozent. Die durchschnittlichen Gehälter von Staatsbediensteten fielen im ersten Jahr der Regierung von Fujimori um 63 Prozent und um 92 Prozent im Vergleich zu
1980.23 Mitte der 80er Jahre hatte der IWF Peru wegen der nur rhetorischen
Absichtserklärungen von Präsident Alan Garcia, den Schuldendienst auf
zehn Prozent der Exporterlöse beschränken zu wollen, auf die schwarze Liste gesetzt.
Tabelle 14.1: Die Auswirkungen der Schocktherapie vom August 1990 auf
die Verbraucherpreise in Peru (prozentuale Zunahme)
Stadtgebiet Lima, August 1990
Lebensmittel und Getränke
Transport und Kommunikation
Gesundheits- und medizinische
Dienstleistungen
Mieten, Treibstoff und Elektrizität
Verbraucherpreisindex
*
**
INEI*
446,2
571,4
702,7
Cuanto**
288,2
1428,0
648,3
421,8
397,0
1035,0
411,9
Instituto Nacional de Estadistica (INEI), Anuario estadistico 1991;
Cuanto. Peru en numeros, Kapitel 21, Lima 1991
Historischer Hintergrund. Perus erstes makroökonomisches Stabilisierungsprogramm wurde Mitte der 70er Jahre nach dem Staatsstreich von
1975 gegen die populistische Militärdiktatur von General Velasco Alvarado
initiiert. Durchgeführt wurden die Wirtschaftsreformen von der Militärjunta
unter General Morales Bermudez, dem Nachfolger von Velasco, als Bedingung für die Umschuldung bei Geschäftsbanken und internationalen Organisationen. Diese Reformen waren direkt mit den Gläubigerbanken ohne Beteiligung des IWF ausgehandelt worden. 1978 wurde mit der Umsetzung
eines zweiten Wirtschaftspakets begonnen, dieses Mal im Rahmen einer
formalen Vereinbarung mit dem IWF.
Diese
früheren
Wirtschaftsreformen
vor
Beginn
des
Strukturanpassungsprogramms Anfang der 80er Jahre orientierten sich an dem
chilenischen Modell, das General Augusto Pinochet seit 1973 mit den so
genannten »Chicago Boys« umsetzte: marktorientierten Ökonomen, deren
geistige Mentoren zwei Chicagoer Wirtschaftsprofessoren waren, Milton
Friedman und Arnold Harberger. Dessen Konditionen fielen, verglichen mit
den wirtschaftspolitischen Kreditbedingungen des Strukturanpassungsprogramms zu Beginn der 80er Jahre, insgesamt weniger streng und kohärent
aus.
Die makroökonomischen Reformen in der zweiten Hälfte der 70er Jahre
waren dennoch der Beginn eines historischen Verarmungsprozesses in Peru:
Mehrere Abwertungen in kurzer Folge lösten eine Inflationsspirale aus, die
reale Kaufkraft im modernen städtischen Sektor sank von 1974 bis 1978
um annähernd 35 Prozent. Diese Schrumpfung der Reallöhne – und Lohnkosten – führte jedoch nicht zur Stärkung des Exports, wie IWF und Weltbank behauptet hatten.
Mit der Amtseinführung von Präsident Fernando Belaúnde Terry 1980
wurde die makroökonomische Politik stringenter. Seine Politik, energisch
unterstützt vom IWF, trug dazu bei, den Staat und das unter Velasco Alvarado geschaffene System von Staatsunternehmen zu schwächen. Ausländische Konzerne erhielten großzügige Explorations- und Ausbeutungskonzessionen, z.B. Occidental für die Ölförderung. Auch die Senkung der
Zollbarrieren schwächte die Schlüsselsektoren der Volkswirtschaft. Der
Staatsanteil am Bankensektor wurde zurückgefahren, internationale Banken
– darunter Chase Manhattan, Commerzbank, Manufacturer’s Hannover und
die Bank von Tokio – wurden ermutigt, sich in die peruanischen Geschäftsbanken einzukaufen und Tochterunternehmen zu gründen.24
Die Belaúnde-Regierung setzte dieses vom LWF unterstützte Programm
1981/82 in Kraft, ganz zu Anfang der Schuldenkrise. Das Land wurde aufgrund der Handelsliberalisierung mit importierten Waren überflutet. Gleichzeitig brachen die Exporterlöse ein, die Terms of Trade verschlechterten
sich. Die Kombination dieser beiden Faktoren trug zur Verschärfung der
Handelsbilanzkrise bei. In der Folge ging das Bruttoinlandsprodukt um 12
Prozent im Jahr 1982 zurück, die Inflationsrate erreichte 1983 über 100
Prozent.
Von 1980 bis 1983 nahm die Unterernährung bei Kindern dramatisch zu.
1985 fiel der geschätzte Lebensmittelverbrauch im Vergleich zu 1975 um 25
Prozent. Im Laufe der fünfjährigen Präsidentschaft von Belaúnde (1980 –
1985) sank der reale Wert des garantierten Mindestlohns (remuneración
minima vital) um mehr als 45 Prozent. Die realen Löhne und Gehälter
schrumpften durchschnittlich um 39,5 bzw. 20,0 Prozent.
Die unorthodoxe Wirtschaftspolitik der APRA – und ihr Scheitern.
Die Regierung der Acción Popular von Präsident Fernando Belaúnde Terry
war diskreditiert. Im Wahlkampf von 1985 präsentierte die oppositionelle
Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA) ein alternatives Wirtschaftsprogramm. Nach ihrem Wahlsieg stellte die neue APRA-Regierung
von Präsident Alan Garcia im Juli 1985 einen wirtschaftlichen Notplan vor
(Plano Económico de Emergencia), mit dem sie in offene Konfrontation zu
den internationalen Finanzorganisationen in Washington trat. Dieses Programm richtete sich direkt gegen die üblichen wirtschaftlichen Rezepte des
IWF.
Zu Beginn der Präsidentschaft Garcías überstieg die jährliche Inflationsrate 225 Prozent. Als Reaktion darauf bestand das Regierungsprogramm
aus der Reaktivierung der Verbrauchernachfrage. Die Preise von Gütern des
täglichen Bedarfs und öffentliche Dienstleistungen wurden eingefroren, die
Zinsen gesenkt und der Wechselkurs stabilisiert. Die Wirtschaft hatte unter
der Regierung Belaúnde stagniert und verfügte über beträchtliche Überkapazitäten. Daher konnte die APRA-Regierung die Wirtschaftstätigkeit auf der
Nachfrageseite beleben, ohne übermäßigen Inflationsdruck auf die Produktionskosten auszuüben.25
García hatte sich im Wahlkampf darauf verpflichtet, den Bauern höhere
Erzeugerpreise zu sichern, um die Produktion wieder zu beleben und eine
Einkommensumverteilung zugunsten der ländlichen Regionen zu bewirken.
Nach einer Schätzung der Weltbank gelang ihm im ersten Jahr seiner Amtszeit eine Verbesserung der Terms of Trade zwischen Land und Stadt um 75
Prozent und ein deutliches kurzfristiges Wachstum der landwirtschaftlichen
Produktion.26
Für die städtische Wirtschaft verfügte die Regierung Lohn- und Gehaltserhöhungen, die etwas über der Inflationsrate lagen. Sie legte ein zeitlich
begrenztes Beschäftigungsprogramm auf und verfolgte eine expansive
Haushaltspolitik. Die realen Zinsen für Kredite wurden gesenkt. Verschiedene Steueranreize und Subventionen sollten die Wiederbelebung der Gesamtnachfrage zusätzlich stützen. Die Steuererleichterungen kamen jedoch
weitgehend der Wirtschafts- und Finanzelite des Landes zugute. Dadurch
wurden in der Folge das Steueraufkommen und die Devisenreserven des
Landes geschwächt.
Bei seinem Amtsantritt verkündete García zudem ein Moratorium für den
Schuldendienst: Die Zinszahlungen sollten zehn Prozent der Exporteinnahmen nicht überschreiten. Die internationale Finanzgemeinschaft setzte Peru
daraufhin umgehend auf die schwarze Liste. Der Zustrom frischen Geldes
kam zum Stillstand, die internationalen Geschäftsbanken entzogen dem
Land ihre Unterstützung und von 1986 an erhielt Peru keine Kredite mehr
auf dem freien Kapitalmarkt. Auch staatliche Organisationen und die Regierungen der OECD-Länder kürzten ihre Zahlungen an Peru erheblich.27
Trotz des Moratoriums stiegen die Auslandsschulden Perus dramatisch –
während der APRA-Regierung um neun Prozent jährlich.28 García scheiterte
ganz eindeutig mit seiner Haltung zum Schuldendienst: Die tatsächlichen
Schuldendienstzahlungen verschlangen zwischen 1985 und 1989 durchschnittlich 20 Prozent der Exporterlöse. Durch die Einfrierung neuer Kredite,
ganz zu schweigen von der Kapitalflucht in Steuerparadiese, vollzog sich in
dieser Zeit eine massive Abwanderung realer Kapitalressourcen.
In den ersten 18 Monaten der APRA-Regierung wuchs das Bruttoinlandsprodukt deutlich. Vor allem mit Hilfe der eingefrorenen Preise konnte die
Inflation gesenkt werden. Die »Dollarisierung« der Volkswirtschaft nahm ab,
und der Verbrauch stieg deutlich an.
Aber das Programm ließ sich nur kurzfristig durchhalten. Für die expansive Haushaltspolitik, mit der das Wirtschaftswachstum zunächst gefördert
worden war, erwies sich auf Dauer die Steuerbasis als zu dünn. Indirekte
Steuern waren gesenkt worden, Steuerhinterziehungen eher die Regel als
die Ausnahme, und die verschiedenen Subventionen und Steuerbefreiungen
großer Unternehmen wurden mit Defiziten und einer Ausweitung der Geldmenge finanziert. Das System war anfällig für Korruption und Spekulation.
Die Devisenbewirtschaftung mit unterschiedlichen Wechselkursen, die als
Instrument zur Einkommensumverteilung dienen sollte, nützte letztlich den
Reichen der peruanischen Gesellschaft.29
1988 sanken die Devisenreserven auf minus 252 Mio. Dollar.30 Trotz der
allgemein gestiegenen Kaufkraft war ein Großteil der Deviseneinnahmen
des Landes in Form von Subventionen und Steuerbefreiungen den Wirtschaftseliten zugute gekommen. Der Staat hatte eine klassisch keynesianisch-antizyklische Politik zur Unterstützung der Gesamtnachfrage begonnen, ohne fundamentalere Strukturprobleme anzugehen. Obwohl die Maßnahmen unter den Bedingungen extremer Stagnation und mangelnder Auslastung der Industriekapazitäten einen gewissen Grad an technischer Kohärenz bewiesen, gelang es damit nicht, über kurzfristige Erfolge hinaus die
wirtschaftliche Erholung aufrechtzuerhalten.
In der Praxis bediente die APRA-Regierung mit ihren verschiedenen Regulierungsinstrumenten angestammte Interessen. Das Wirtschaftsmodell
war von engen technischen Vorstellungen und populistischer Rhetorik getragen: Die APRA verfügte nicht über die erforderliche soziale Basis oder
den politischen Willen, um substanzielle und nachhaltige wirtschaftliche und
soziale Reformen in Sachen Steuern, Regionalisierung, Wiederbelebung der
Landwirtschaft und Unterstützung des informellen Sektors umzusetzen.
Über die populistische Rhetorik hinaus war die APRA-Regierung nicht zu
Maßnahmen bereit, die sich direkt gegen die angestammten Interessen der
Wirtschaftselite richteten. 1987 kündigte sie die Verstaatlichung des Bankensektors an. In ihrer Rhetorik bezeichnete die Regierung das Vorhaben
als »Demokratisierung des Kreditwesens«, ohne ein genauer definiertes
politisches Mandat. Den Geschäftsbanken und Finanzinstituten fiel es nicht
schwer die Initiative durch einen langen Rechtsstreit zu vereiteln, der letztlich zur Aufgabe des Projektes führte. Das Vorhaben markierte das Ende der
populistischen »Flitterwochen« der APRA mit der Finanzelite. Es führte zu
Streit innerhalb der Partei, diskreditierte die Regierung und schuf in der
Wirtschaft ein Klima der Unsicherheit und des Misstrauens, das nach Einschätzung mancher Beobachter die Hyperinflation von 1988 bis 1990 auslöste. Die Wirtschaftseliten erklärten der Regierung den Krieg.
In ähnlicher Weise ging die APRA-Regierung in ihrer Endphase die Frage
der Eigentumsrechte an. Sie konzentrierte sich lediglich auf die Registrierung von Eigentumstiteln, was immerhin kleinbäuerlichen Betrieben und
solchen der informellen Wirtschaft formale Eigentumsrechte verschafft hätte. Die Frage nach der Konzentration von Grund und Boden, die zu Kollisionen mit den Latifundienbesitzern geführt hätte, wurde dagegen sorgfältig
vermieden.
Anfang 1987 begann sich die Wirtschaftstätigkeit wieder abzuschwächen.
Innerhalb von wenigen Monaten kehrte sich die Aufwärtsbewegung der Realeinkommen um. Zwischen Dezember 1987 und Oktober 1988 fielen die
Realeinkommen um 50 bis 60 Prozent, die Gehälter der Staatsbediensteten
um zwei Drittel.31 Bis Mitte 1988 lagen die Reallöhne 20 Prozent unter dem
Niveau von 1985.
Im Juli 1988 beschloss die Regierung einen neuen Notplan, diesmal ein
orthodoxeres Programm zur Inflationsbekämpfung, das im September in
Kraft gesetzt wurde. Es enthielt die wichtigsten Zutaten des üblichen IWFProgramms, freilich ohne neoliberale Ideologie und die Unterstützung internationaler Gläubiger.
In vieler Hinsicht gab das Paket vom September 1988 die Richtung für
die wirtschaftlichen Schockmaßnahmen vor, welche die Regierung Fujimori
im August 1990 durchführte. Alle wesentlichen Elemente waren vorhanden:
Abwertung und Vereinheitlichung des Wechselkurses, Preiserhöhungen für
öffentliche Dienstleistungen und Benzin, substanzielle Kürzungen der
Staatsausgaben sowie die Einführung des Prinzips der Kostendeckung für
die meisten Staatsunternehmen. Zum Paket gehörte auch die Abkoppelung
von Löhnen und Gehältern vom Preisindex.
Dennoch: Das Scheitern des unorthodoxen Wirtschaftspakets von Präsident Alan García spricht nicht zwingend für die neoliberalen Konzepte. Das
Wirtschaftsprogramm war von Anfang an zweischneidig. Die APRA versäumte es, Gewinnmargen und Preispolitik der mächtigen kommerziellen und
agrarindustriellen Interessen zu regulieren. Keynesianische Instrumente
wurden mechanisch eingesetzt, ohne fundamentalere Strukturprobleme
anzugehen. Um erfolgreich zu sein, erforderte das Programm den Zustrom
von Devisen. Genau das Gegenteil trat ein: Der Nettoabfluss von Kapital
setzte sich ungebrochen fort. Die internationalen Gläubiger behielten die
peruanische Zahlungsbilanz fest im Griff.
Die Wiederherstellung der IWF-Herrschaft und der Fujischock. Im
Wahlkampf von 1990 trat Alberto Fujimori gegen den Schriftsteller Mario
Vargas Llosa und dessen Koalition demokratischer Oppositionskräfte an.
Vargas Llosa schlug zur Lösung der peruanischen Wirtschaftskrise eine
Schockbehandlung vor. Fujimoris Partei, Cambio 90, lehnte die neoliberalen
Rezepte ab und versprach ein Wirtschaftsprogramm, das zu einer »Stabilisierung ohne Rezession« führen sollte: Beseitigung der Hyperinflation bei
gleichzeitigem Schutz der Kaufkraft der Arbeiter.32
In den Monaten vor seiner Amtseinführung als Präsident am 28. Juli 1990
hatte Fujimori eine expansive Wirtschaftspolitik ins Auge gefasst. Dieses
Programm war jedoch rein fachlich angelegt und nur von einem geschlossenen Kreis von Wirtschaftsexperten und Ökonomieprofessoren diskutiert
worden. Wie es politisch durchzusetzen wäre, blieb offen.
Doch Fujimori sah sich starkem internen und externen Druck zugunsten
eines orthodoxen, vom IWF finanzierten Reformpakets ausgesetzt. Schon
im Flugzeug nach Washington auf dem Weg zu einem Treffen mit Michel
Camdessus, dem IWF-Direktor, soll der frisch gewählte Präsident nachdenklich zu seinem wichtigsten Wirtschaftsberater gesagt haben: »Wenn
der Wirtschaftsschock funktionieren sollte, wird mir das peruanische Volk
sicher vergeben.« Als er von seinen Treffen mit Perus internationalen Gläubigern in Washington und Tokio zurückkehrte, war der Präsident zu einem
unnachgiebigen Befürworter einer »kräftigen Medizin« zur wirtschaftlichen
Gesundung Perus geworden. Sein Politikwechsel wurde nur in seiner unmittelbaren politischen Umgebung bekannt; das peruanische Volk, das sich
gegen die wirtschaftliche Schocktherapie Vargas Llosas ausgesprochen hatte, erfuhr nichts davon.
Fujimoris Richtungswechsel führte zu Differenzen innerhalb seines wirtschaftlichen Beraterstabs. Der gewählte Präsident knüpfte nun enge Bande
zu einer anderen Gruppe von Ökonomen, die fest auf den Washingtoner
Konsens und das IWF-Paket verpflichtet waren. Seine wichtigsten Wirtschaftsberater traten kurz vor seiner Amtseinführung zurück. In aller Eile
wurde mit fachlichem Beistand von IWF und Weltbank ein neues Paket zur
wirtschaftlichen Stabilisierung geschnürt, das sich nicht wesentlich vom
Wahlprogramm Vargas Llosas unterschied.
Der Fujischock vom August 1990 stimmte nicht nur mit den Rezepten des
IWF überein, er ging weit über das hinaus, was normalerweise von einem
verschuldeten Land als Bedingung für Verhandlungen über seine Umschuldung erwartet wurde. Trotz der immer gravierenderen Armut in den letzten
Monaten der APRA-Regierung hielt die Regierung in Lima jetzt eine weitere
Senkung der Realeinkommen für notwendig, um den Inflationsdruck zu mildern. Man sah die Gründe für Perus Hyperinflation auf der Nachfrageseite,
was ein weiteres Sinken der Löhne und Sozialausgaben erfordere, zusammen mit massiven Entlassungen im öffentlichen Sektor.
Die Choleraepidemie von 1991 – weitgehend die Folge der Armut und des
Zusammenbruchs des öffentlichen Gesundheitswesens seit der Regierung
von Belaúnde – war auch dem vom IWF finanzierten Programm zuzuschrei-
ben. Weil der Preis für Öl zum Befeuern von Kochherden um das Dreißigfache stieg, konnten es sich die Menschen in den pueblos jovenes von Lima
nicht länger leisten, Wasser abzukochen oder sich warmes Essen zuzubereiten.
Die Aufmerksamkeit der internationalen Presse richtete sich auf die Cholera, an der nach offiziellen Zahlen innerhalb von sechs Monaten annähernd
200.000 Menschen erkrankten und 2000 starben, während der allgemeinere
soziale Zerstörungsprozess verdeckt blieb: Seit dem Fujischock vom August
1990 erreichte die Tuberkulose epidemische Ausmaße, angefacht von Mangelernährung und dem Zusammenbruch des staatlichen Impfprogramms.
Der Kollaps der öffentlichen Gesundheitsversorgung in der Region Selva
führte zum Wiederaufleben von Malaria, Denguefieber und Leishmaniose.33
Öffentliche Schulen, Universitäten und Krankenhäuser waren infolge eines
unbegrenzten Streiks der Lehrer und Beschäftigten im Gesundheitswesen
geschlossen worden. Diese Staatsbediensteten verdienten durchschnittlich
umgerechnet 45 bis 70 Dollar im Monat (Juli 1991) – 40-mal weniger als in
den USA.
Über 83 Prozent der Bevölkerung konnten nach einer Schätzung von Mitte 1991 ihren Minimalbedarf an Kalorien und Proteinen nicht decken. Die
registrierte Quote der Mangelernährung bei Kindern betrug landesweit 38,5
Prozent und war damit die zweithöchste in Lateinamerika. Eins von vier
Kindern in der Sierra starb vor dem fünften Lebensjahr, in der Hauptstadt
Lima war es eins von sechs. Die registrierte Fruchtbarkeitsrate betrug 4,8 –
vier Lebendgeborene pro Mutter –, was nahe legt, dass es in der Sierra im
Durchschnitt einen Kindstod pro Familie gab. Dennoch wurde Fujimori von
der internationalen Finanzgemeinschaft für seine erfolgreiche Wirtschaftspolitik gelobt.
Amtshilfe und »fiktives« Geld. »Nehmen Sie ein ernsthaftes Wirtschaftsprogramm in Angriff, und wir werden Ihnen helfen.« Die Durchführung dessen, was der IWF mit den Worten von Martin Hardy, dem Leiter der
IWF-Delegation, die 1991 Peru besuchte, ein »ernsthaftes Wirtschaftsprogramm« nennt, ist gewöhnlich die Voraussetzung für die Bewilligung einer
Überbrückungsfinanzierung durch eine »internationale Unterstützergruppe«.
Die internationalen Finanzorganisationen verbanden mit der Durchführung
des Wirtschaftspakets von 1990 keine Versprechen. Es war ein »IWFSchattenprogramm« (siehe Kapitel 3) ohne damit verbundene Kredite. Obwohl der IWF keinen unzulässigen Druck ausübte, gab er deutlich zu verstehen, dass Peru auf der schwarzen Liste bleiben würde, solange es sich
nicht an die Wirtschaftsrezepte des IWF hielte.
Die Fujimori-Regierung führte das Wirtschaftspaket jedoch vor der Unterzeichnung einer Kreditvereinbarung und vor einer Einigung über die Umschuldung von Perus Auslandsschulden durch. Sobald diese Maßnahmen
vollzogen waren, blieb somit wenig übrig, was Peru in den Verhandlungen
noch in die Waagschale werfen konnte. Zudem begann die Regierung sofort
nach der »wirtschaftlichen Stabilisierungsphase« vom August 1990 mit ei-
ner Reihe großer Strukturreformen (»Phase zwei«), in Übereinstimmung mit
den IWF-Rezepten.
Die Fujimori-Regierung hatte erwartet, dass der wirtschaftliche Schock
vom August sofort den Weg zur Bildung einer internationalen Unterstützungsgruppe und zur Bewilligung eines »Rettungspakets« öffnen würde.
Dazu fühlten sich die Gläubiger jedoch nicht so recht veranlasst. Schließlich
zahlte
Peru
ja
bereits
getreulich
all
seine
laufenden Schuldendienstverpflichtungen und seine makroökonomische Politik entsprach
den Vorgaben des IWF.34 Aus Sicht der internationalen Gläubiger gab es
daher keine Notwendigkeit, Peru einen »Gefallen« zu tun.
Angesichts dessen, dass Vertreter von IWF und Weltbank fest im Ministerium für Wirtschaft und Finanzen mitarbeiteten, war es natürlich schwierig für die Regierung, eine unabhängige Position bei Verhandlungen mit
dem IWF zu beziehen. Carlos Bolona z.B. im regulären Sold des IWF, war
an Peru »ausgeliehen«, um dem Minister als hochrangiger Berater zur Seite
zu stehen.35
Zu Beginn ging es der Regierung vor allem darum, von der schwarzen
Liste des IWF gestrichen zu werden, indem sie bedingungslos akzeptierte,
die Zahlungsrückstände ohne den geringsten Schuldennachlass an IWF und
Weltbank zu begleichen. Die ausstehenden Schulden wurden 1991 auf insgesamt 14 Mrd. Dollar geschätzt, davon 2,3 Mrd. Dollar allein bei den internationalen Finanzorganisationen. Dieses Ziel sollte durch die Aushandlung
neuer Kredite der internationalen Finanzorganisationen zur Rückzahlung der
Altschulden erreicht werden. Nicht ein Dollar von diesem Geld gelangte tatsächlich nach Peru. Diese neuen Kredite waren Geld, das die internationalen
Finanzorganisationen an sich selbst zahlten. Peru musste mit dem Ausgleich
seiner Schuldendienstrückstände sofort beginnen und die neuen Kredite
über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren zurückzahlen. Direkte Folge
war, dass sich die Schuldendienstverpflichtungen Perus 1991 mehr als verdoppelten, von 60 Mio. Dollar auf 150 Mio. Dollar – im Monat.
Das Militär und die Guerilla. Peru hielt sich getreu an das Washingtoner
Modell von »Demokratisierung«. Vor der Amtseinführung im Juli 1990 zog
sich Fujimori täglich auf das Armeegelände in Lima zurück, um mit dem
Oberkommando der Armee Gespräche zu führen. Der gewählte Präsident
und das Militär vereinbarten eine großzügige Reorganisation der Armee. Die
bedingungslose Unterstützung der Streitkräfte war notwendig, um den zivilen Widerstand zu brechen und das IWF-Programm durchzusetzen. Ein paar
Tage vor dem Fujischock wurde über das ganze Land der Ausnahmezustand
verhängt. Am 8. August 1990 bezogen Militär und Sicherheitskräfte in der
gesamten Innenstadt von Lima mit Truppen, bewaffneter Bereitschaftspolizei und gepanzerten Fahrzeugen Position.
Unter dem Deckmantel der parlamentarischen Demokratie übernahm das
Militär eine aktivere Rolle in der zivilen Administration. Die Situation war in
mancher Hinsicht mit der Entwicklung in Uruguay Anfang der 70er Jahre
vergleichbar, wo das Militär hinter der zivilen Regierung von Präsident Juan
María Bordaberry die eigentliche Macht in Händen hielt.
Die Sparmaßnahmen des IWF bluteten die staatlichen Programme aus.
Die Ausgaben für Gesundheit und Bildung wurden zusammengestrichen, die
Verwaltung in den Regionen brach zusammen. Diese Schwächung des Staates diskreditierte die Zentralregierung und spielte der Guerilla (Sendero
Luminoso, »Leuchtender Pfad«) in die Hand.
Der Sendero Luminoso war in den 60er Jahren während der Regierungszeit von Belaúnde in den Untergrund gegangen und hatte seither in einigen
Regionen der Selva und Sierra eine Parallelregierung etabliert. Manche Landesteile waren der Kontrolle des peruanischen Staates auch völlig entzogen.
Bestandteil des so genannten Befriedungsprogramms, dem sich bis in
die 80er Jahre alle gewählten oder durch einen Putsch an die Macht gekommenen Präsidenten verpflichtet fühlten, war eine Militärverwaltung in
weiten Teilen der Sierra. Deren notorische Übergriffe führten dem Leuchtenden Pfad aber bloß immer neue Anhänger zu und heizten die Rebellion
weiter an. Wie ausgiebig von Amnesty International dokumentiert, ließen
sich Armee und Polizei im ganzen Land willkürliche Verhaftungen, außergerichtliche Exekutionen, Folter an politischen Gefangenen, Misshandlungen
von Familienangehörigen Oppositioneller und von vermeintlichen »Sympathisanten« zuschulden kommen. Die Bekämpfung der Guerilla ging mit einer
weitgehenden Beschneidung der Bürgerrechte einher.36 Seit 1988 bedrohten
rechtsgerichtete Todesschwadronen unter dem Namen »Comando Rodrigo
Franco« zudem linke Persönlichkeiten und Gewerkschaftsführer.
Für Fujimori war der Kampf gegen die Guerilla ein willkommener Vorwand
für die systematische Einschüchterung der zivilen Opposition gegen das
IWF-Programm. Unter seiner Präsidentschaft wurden willkürliche Folter und
Exekutionen weitaus systematischer betrieben. Für die Strategie der Einschüchterung und Ermordung oppositioneller Gewerkschafter, Bauern- und
Studentenführer war direkt das militärische Oberkommando verantwortlich.
Im so genannten »schmutzigen Krieg« (la guerra sucia) gegen den Leuchtenden Pfad war die offizielle Linie bei der Behandlung von Verdächtigen:
keine Gefangenen, keine Verwundeten (»ni prisoneros, ni heridos«). So
stand es in einem geheimen Armeedokument, das 1991 an die Presse
durchsickerte.37
Das Elend der Landwirtschaft. Das IWF-Programm hatte unmittelbare
Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Mit Ausnahme des illegalen Kokaanbaus schrumpfte die landwirtschaftliche Produktion im Jahr nach der
Schockbehandlung vom August erheblich.
Die Verarmung der Landbevölkerung verschlimmerte sich, weil mächtige
agrarindustrielle Monopole weiterhin die Vermarktungs- und Vertriebskanäle
kontrollierten. 1990 führten die wirtschaftlichen Maßnahmen zu abrupten
Preissteigerungen bei Benzin, landwirtschaftlichen Einsatzgütern und Krediten. In vielen ländlichen Gebieten der Sierra stiegen die Produktionskosten weit über die Erzeugerpreise. Das Ergebnis war der Bankrott
kleiner unabhängiger Bauern. In der Sierra verarmten etwa 800.000 Produzenten von Wolle und Alpaka, die zum ärmsten Teil der Landbevölkerung
gehörten, noch mehr, weil 1990/91 die realen Preise für diese Erzeugnisse
weiter sanken.
Die Privatisierung von Ackerland unterhöhlte die vorherrschende Landwirtschaft von Kleinproduzenten (parcelenos) und landwirtschaftlichen Gemeinschaften (comunidades agricolas). Das Landgesetz von 1991 forderte
eine Minimalgröße von zehn Hektar pro Hof, was zur Stärkung und Konsolidierung mittelgroßer Parzellen und Betriebe führte. Parceleros, die durch
die Wirtschaftsreformen Bankrott gegangen waren, mussten ihr Land verkaufen oder aufgeben.38 Die beginnende Konzentration des Besitzes an
Grund und Boden war jedoch nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer
Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse in der Landwirtschaft. Aufgrund neuer Vergaberichtlinien blieben Betriebe unter zehn Hektar von nun
an von landwirtschaftlichen Krediten ausgeschlossen. Die mittelgroßen Betriebe gerieten durch Hypotheken auf ihr neu erworbenes Land in Abhängigkeit von den Interessen der Banken und des Handels.
Obwohl die bäuerlichen Gemeinschaften formal vor der Landprivatisierung geschützt waren, trugen die gestiegenen Kraftstoff- und Transportkosten dazu bei, sie vom Markt zu drängen. Da die Erzeugerpreise unter die
Produktionskosten fielen, waren viele bäuerliche Gemeinschaften, die zuvor
ihre Überschüsse auf den lokalen Märkten verkauft hatten, gezwungen, sich
ganz aus der kommerziellen Landwirtschaft zurückzuziehen.
De facto kehrte die Subsistenzwirtschaft zurück. Kommerzielle landwirtschaftliche Einsatzgüter wie Saatgut, Dünger usw. konnten sich die Bauern
nicht mehr leisten. Immer stärker mussten sie auf rein traditionelle Anbaumethoden zurückgreifen, so dass das Einkommen der Kleinbauern und bäuerlichen Gemeinschaften dramatisch sank. Sie konnten schließlich ohne andere Einkommensquellen nicht länger überleben und wurden zunehmend zu
einem Arbeitskräftereservoir für die kommerzielle Landwirtschaft.
Vom Nutzen des illegalen Drogenhandels. Der Wirtschaftsschock vom
August 1990 schuf die Bedingungen für eine weitere Zunahme des Drogenhandels. Verarmte Bauern wanderten aus der Sierra in die klassischen Kokaanbaugebiete des Alto-Huallaga-Tals ab oder versuchten in der Sierra
selber Koka als Exportprodukt anzubauen.
Peru ist der bei weitem größte Produzent von Kokablättern auf der Welt,
aus denen das Kokain hergestellt wird. Es produziert mehr als 60 Prozent
der gesamten Weltproduktion. Sowohl Peru als auch Bolivien (der zweitwichtigste Kokaproduzent, siehe Kapitel 15) sind Direktproduzenten und
verkaufen die Kokapaste an kolumbianische Drogenkartelle, die sie zu Pulver weiterverarbeiten. Mit der Schwächung des Medellin-Kartells und dem
Aufstieg des Cali-Kartells in den frühen 90er Jahren gewann der peruanische und bolivianische Drogenhandel größere Autonomie, die Vermarktungs- und Verarbeitungskanäle verlagerten sich. In Peru entwickelte sich
ein Zwischenhandel, das peruanische Bankensystem wurde zum »sicheren
Hafen« für den Transfer von Drogengeldern in und aus dem Land.
Jede Menge Dollarscheine aus der Drogenwirtschaft flossen in den informellen Devisenmarkt an den Straßenecken Limas, den mercado Ocona. Seit
Anfang der 80er Jahre hatte die Zentralbank den Ocona-Straßenmarkt periodisch genutzt, um ihre schwindenden Devisenreserven aufzufüllen. 1991
kaufte die Zentralbank auf dem informellen Devisenmarkt schätzungsweise
acht Millionen Dollar am Tag. Ein Großteil davon kam den peruanischen
Auslandsschulden zugute.
Perus Fähigkeit, seine Verpflichtungen aus dem Schuldendienst zu erfüllen, hängt also großenteils vom Recycling von Drogendollar in den Devisenmarkt ab.
Mit der vom IWF erzwungenen Einfrierung der Löhne und Staatsausgaben
wurde auch die Geldemission durch die Zentralbank dramatisch beschnitten. Ironischerweise führte diese strenge Geldpolitik in Verbindung mit der
Flut der illegal ins Land gekommenen Ocona-Dollar bereits seit 1991 zur
Aufwertung des einheimischen Sol im Verhältnis zum Dollar – sehr zum Ungemach des IWF, der auf eine reale Abwertung zur Unterstützung des Exportsektors gedrängt hatte.
Die Versuche der USA, den Kokaanbau zu unterbinden, gingen in Peru
einher mit Strategien zur »Pazifizierung« und zur Bekämpfung der Rebellenbewegung. US-Armee und US-Drogenbehörde arbeiteten eng zusammen, kooperierten mit den peruanischen Sicherheitskräften und richteten in
Santa Lucia in der Region Huallaga einen militärischen Stützpunkt ein. Die
von dort aus vorgetragenen Militäroperationen fügten allerdings dem Leuchtenden Pfad keinen weiteren Schaden zu, sondern brachten ihm vielmehr
eine gewisse Unterstützung bei den Kokaproduzenten ein. Außerdem engagierte sich unter Fujimori das Militär selbst stärker in der Vermarktung der
Kokapaste und beim Waschen von Drogengeldern.
Das im Mai 1991 mit den USA unterzeichnete Antidrogenabkommen
machte die Gewährung weiterer Unterstützung ausdrücklich vom Kampf
gegen die Drogen abhängig. Ein US-Senator bekundete bei einer Ausschusssitzung: »Wirtschaftshilfe wird nur unter der Bedingung gewährt,
dass Anstrengungen zur Drogenkontrolle unternommen werden und eine
solide Wirtschaftspolitik verfolgt wird.«39 Doch ironischerweise hatte ebendiese »solide Wirtschaftspolitik« einen großen Anteil am raschen Wachstum
der Drogenwirtschaft, denn es waren genau diese Wirtschaftsreformen, die
ja erst die Abwanderung verarmter Bauern in die Kokaproduktion begünstigt hatten.
Die makroökonomische Politik unter Fujimori einschließlich der Privatisierung von Ackerland und der Reform des landwirtschaftlichen Kreditwesens
vereitelte außerdem praktisch von Anfang an die Möglichkeit einer alternativen Entwicklung des Alto Huallaga-Tals, wie sie im Antidrogenabkommen
anvisiert wurde. Diesem Plan zufolge sollte Koka durch Tabak, Mais und
andere Kulturpflanzen ersetzt werden. Doch als Folge der vom IWF geförderten Reformen, deren Durchführung auch vom Antidrogenabkommen ver-
langt wurde, war die kommerzielle Landwirtschaft in der Huallaga-Region
mit Ausnahme der Kokaproduktion nicht mehr lebensfähig.
So wurde ausgerechnet der illegale Drogenhandel durch die Strukturanpassung gestärkt.
Nicht nur das peruanische Militär war (und ist) in den illegalen Drogenhandel verwickelt, sondern auch die CIA selbst hat immer wieder Drogengeld gewaschen, um verdeckte Operationen zu finanzieren und proamerikanische und paramilitärische Gruppen auf der ganzen Welt zu unterstützen.40
Wenn es der US-Regierung wirklich um eine Austrocknung des Drogenhandels ginge, hätte sie Peru nicht gezwungen, unter Federführung des IWF
eine Wirtschaftspolitik durchzuführen, die darauf hinausläuft, die Position
der Drogenhändler im Bund mit dem Militär zu stärken. So aber dementierte Washington seine eigenen Verlautbarungen. Die eine bürokratische Fraktion tat alles dafür, den Drogenhandel aus der Welt zu schaffen, die andere
alles dafür, ihn als Quelle schmutzigen, aber willkommenen Geldes zu erhalten. Die Stärkung der Drogenwirtschaft diente schließlich den Interessen
der internationalen Gläubiger Perus, weil sich dadurch Dollareinkünfte erwirtschaften ließen, die Peru für seinen Schuldendienst brauchte.
15. Verschuldung und Drogen in Bolivien
Bolivien gilt bei den internationalen Finanzorganisationen als ein erfolgreiches Modell für Strukturanpassung, das von anderen Ländern, die ihre Wirtschaft stabilisieren und einen nachhaltigen Prozess des Wirtschaftswachstums erreichen wollen, nachgeahmt werden sollte. Es fällt auf, wie sehr
sich die bolivianische und peruanische Strukturanpassung ähneln. Beide
Volkswirtschaften hängen in hohem Maße von illegalen Kokaexporten als
Hauptdevisenquelle ab. In beiden Ländern ist das »Recycling« von Drogendollar ein Mittel, um ihre Auslandsschulden zu bedienen.
Der Bankrott der Stabilisierungspolitik. Im September 1985 begann die
Regierung von Victor Paz Estenssoro mit ihrem »Dekret 21.016« eine orthodoxe Stabilisierungspolitik zur Bekämpfung der Inflation und Beseitigung
interner und externer Ungleichgewichte. Das Wirtschaftspaket enthielt alle
wesentlichen Zutaten des IWF-Strukturanpassungsprogramms: Die Währung wurde abgewertet, der Wechselkurs vorgegeben und eine Devisenbörse eingerichtet. Ferner wurden die Staatsausgaben gekürzt, etwa 50.000
Staatsbedienstete entlassen, alle Preiskontrollen beseitigt, die Löhne vom
Preisindex abgekoppelt und der Arbeitsmarkt dereguliert. Zum Paket gehörte auch die Liberalisierung des Handels und eine beträchtliche Senkung der
Importzölle.41
Dem Stabilisierungsprogramm folgte die Umstrukturierung der staatlichen Bergbauindustrie – im Klartext: die Schließung unprofitabler Minen
und die Entlassung von 23.000 Arbeitern.
Der Architekt des wirtschaftlichen Anpassungspakets war der damalige
Finanzminister Gonzalo Sánchez de Lozada, der später (1993) Präsident
Boliviens wurde. Er beschrieb die Ereignisse nach Einführung der neuen
Wirtschaftspolitik im August 1985 so: »Sobald wir mit den Maßnahmen begonnen hatten, hatten wir einen Generalstreik, das Land war im September
1985 zehn Tage lang gelähmt… Am zehnten Tag erklärten die Gewerkschaftsführer einen Hungerstreik, das war ihr großer Fehler. Das war der
Moment, in dem wir den Ausnahmezustand erklärten. Paz hatte gehofft,
dass die Leute der Meinung wären, dass es so nicht weitergehen konnte.
Daher ließen wir die Gewerkschaftsführer verhaften und brachten sie ins
Landesinnere. Damit verlor die Arbeiterbewegung ihre Sprecher.«42
Trotzdem gelang es damals, die Inflation innerhalb von wenigen Monaten
unter Kontrolle zu bringen. Davor hatte sie bei annähernd 24.000 Prozent
im Jahr gelegen. Das Ziel der Preisstabilität wurde jedoch durch die »Dollarisierung« der Preise erzielt, nicht durch die wirtschaftlichen Stabilisierungsmaßnahmen: »Da die meisten Preise de facto an den Wechselkurs
gebunden waren, bedeutete die Stabilisierung des Letzteren beinahe automatisch eine Stabilisierung der Ersteren.«43
Man handelte einen Schuldenerlass aus, dem zufolge staatliche Geber
Boliviens Schulden von den Geschäftsbanken mit erheblichen Nachlässen
»zurückkaufen« sollten. Dieser Schuldenrückkauf war an die Übernahme
des IWF-Programms geknüpft.
Das Stabilisierungspaket führte zu einem erheblichen Sinken der Beschäftigung und der Realeinkommen. Das niedrige Lohnniveau wiederum
schlug auf den informellen urbanen Sektor und die Landwirtschaft durch.
Der kumulative Effekt von reduzierter Kaufkraft, dem Abbau der Handelsschranken und dem Zustrom billiger Nahrungsmittelimporte untergrub die
bäuerliche Wirtschaft, die sehr stark vom Binnenmarkt abhängig war. In
ähnlicher Weise trug die Aufhebung der Zölle zur Verdrängung der nationalen Fertigungsindustrie bei. Die Warenimporte blühten, weitgehend auf Kosten der heimischen Produktion.
Die Staatseinnahmen und -ausgaben waren bereits während der Regierung von Hernán Siles Zuazo in der ersten Hälfte der 80er Jahre dramatisch
zurückgegangen. Doch unmittelbar nach den Wirtschaftsreformen von 1985
wurden die realen Staatsausgaben – besonders in den Bereichen Bildung
und Gesundheit – um weitere 15 Prozent gekürzt.44 Obwohl die Löhne im
modernen Sektor nach offiziellen Zahlen nur um 20 Prozent sanken, fiel die
Beschäftigtenzahl auf ein erbärmliches Niveau. Durch den Rückgang der
Beschäftigung im modernen Sektor, vor allem durch Entlassungen, war der
Rückgang der Einkommen also beträchtlich höher als 20 Prozent.
Das 1985 begonnene IWF-Programm trug zur Stagnation aller großen
Sektoren der Volkswirtschaft bei – Bergbau, Industrie und Landwirtschaft –
‚ mit Ausnahme der illegalen Kokawirtschaft und des städtischen Dienstleistungssektors. Die bolivianische Wirtschaftsreform hatte also ganz ähnliche
Auswirkungen wie in Peru (siehe Kapitel 14).
Die Stagnation in der vom staatlichen Minenkonsortium COMIBOL dominierten Bergbauindustrie resultierte aus der Schließung »unprofitabler« Minen und dem gleichzeitigen Zusammenbruch des internationalen Zinnmarkts. Die Verschlechterung der Terms of Trade verschärfte die Auswirkungen der Wirtschaftsreformen noch zusätzlich.
Viele entlassene Bergleute investierten ihre Abfindungen in den Kauf von
Land in den Kokaanbaugebieten. Kapital und Arbeitskraft flossen so in die
Kokawirtschaft. Die neue Wirtschaftspolitik bot den von COMIBOL entlassenen Arbeitern keine alternative Beschäftigungsquelle.
Der Fertigungssektor, der vor allem für den Binnenmarkt produzierte,
wurde als Folge der Importliberalisierung teilweise verdrängt, besonders
Betriebe der Textil- und Agrarindustrie. Der Schwund der internen Kaufkraft
und die Zunahme des Schmuggels taten ein Übriges, um Fertigungsbetriebe
in den Bankrott zu treiben.
Was die Landwirtschaft anbelangt, so müssen wir zunächst drei Sektoren
voneinander unterscheiden:
1. Die kleinbäuerliche Wirtschaft (economia campesina) besteht vor allem
aus kleinen landwirtschaftlichen Betrieben (parceleros) und bäuerlichen
Gemeinschaften (comunidades campesinas), die sich in den Andentälern
und auf dem Altiplano konzentrieren. Die bäuerliche Wirtschaft ist das
Ergebnis der Agrarreform der 50er Jahre und der Auflösung des Großgrundbesitzes. Wie in Peru leben die bäuerlichen Gemeinschaften des
Hochlandes unter dürftigen Bedingungen: 97 Prozent der Landbevölkerung werden als »arm« eingestuft, zwischen 48 und 77 Prozent befinden
sich in »kritischer Armut«.45
2. Die kommerzielle Landwirtschaft produziert weitgehend für den Exportmarkt und ist durch mittlere und große Plantagen gekennzeichnet, besonders in den neuen landwirtschaftlichen Besiedlungsgebieten im Tiefland (llanos orientales) z.B. im Gebiet von Santa Cruz.
3. Und dann gibt es noch den weit verbreiteten Anbau von Koka, die zu Kokapaste weiterverarbeitet und exportiert sowie auf dem heimischen Markt
verkauft wird.
Die neue Wirtschaftspolitik schwächte die bäuerliche Landwirtschaft. Die
lokalen Getreidemärkte waren vom Zustrom vor allem billiger Weizenimporte betroffen, die zum Teil aus Lebensmittelhilfen bestanden, sowie durch
Schmuggel aus Argentinien und Brasilien. Der Zustrom drückte die realen
Preise für die in Bolivien produzierten Grundnahrungsmittel. Die realen
Großhandelspreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse sanken in den drei
Jahren nach Einführung der neuen Wirtschaftspolitik 1985 um 25,9 Prozent.
Der Rückgang der realen Erzeugerpreise war außerdem von einem beträchtlichen Anstieg der Gewinnmargen von Groß- und Einzelhändlern begleitet: Händler und Zwischenhändler schöpften zum Nachteil der Direktproduzenten einen größeren Anteil des Überschusses ab. Der dramatische
Anstieg der Transportkosten war ebenfalls ein wichtiger Faktor für den Einkommensrückgang der Bauern und die wachsende Kluft zwischen Erzeugerund Großhandelspreisen.
Das vom IWF geförderte Programm von 1985 steigerte die Produktion
landwirtschaftlicher Exporterzeugnisse mitnichten – Ausnahme bestenfalls
kommerziell angebaute Sojabohnen aus den Tieflandgebieten. Wie in Peru
kam es auch in Bolivien zur Verlagerung der traditionellen Exportlandwirtschaft in die Kokawirtschaft.
Der Drogenstaat. Die bolivianische Wirtschaftselite einschließlich der Geschäftsbanken war in den illegalen Drogenhandel eingebunden, wobei die
Geld- und Devisenpolitik der Regierung den Geschäftsbanken bei der Geldwäsche sehr entgegenkam: Das Bankgeheimnis für Devisentransaktionen
wurde eingeführt und dadurch die Rückkehr von ins Ausland transferierten
Kapitals begünstigt. Auf solche Dollarkonten wurden auch die Erlöse eingezahlt, die bolivianische Zwischenhändler im Drogenhandel erzielten.
Ungewöhnlich hohe Zinsraten trugen das ihre dazu bei, »heißes« Geld in
die bolivianischen Geschäftsbanken zu locken, führten aber zugleich zu ei-
nem deutlichen Rückgang der produktiven Investitionen. Von 1986 bis 1988
betrugen die Kreditzinsen (in Dollar) zwischen 20 und 25 Prozent im Jahr,
die Kredite für Landwirtschaft und Fertigungsindustrie jedoch wurden eingefroren.46
Obwohl ihre makroökonomische Politik die Drogenwirtschaft und Geldwäsche unmittelbar unterstützte, erließ die Regierung auf Druck der USAntidrogenbehörde auch Gesetze zur Bekämpfung der Kokaproduktion. In
diesem Rahmen wurden mobile Einheiten zur Kontrolle der Kokaanbaugebiete aufgestellt. Sie gingen jedoch vor allem gegen kleine Kokaproduzenten vor, häufig in traditionellen Anbaugebieten, richteten aber nur wenig
gegen den Drogenhandel und die mächtigen Interessen aus, die an der
Vermarktung und am Export von Kokapaste beteiligt waren. Alles deutet
darauf hin, dass diese Einheiten selbst von der Drogenmafia kontrolliert
wurden.47
Die Kokawirtschaft genoss unter der Militärdiktatur von García Meza
(1980 – 1982) – einem Regime, das international allgemein als »Kokainregierung« bezeichnet wurde – von allerhöchster Ebene staatlichen Schutz.48
Daran hat sich auch nach der Wiederherstellung der parlamentarischen
Demokratie nichts Wesentliches geändert. Wichtige Finanz- und Industrieinteressen haben weiterhin Verbindungen zum Kokahandel, und Erlöse
aus dem Drogenhandel dienen immer noch zur Finanzierung von Investitionen in moderne Wirtschaftssektoren.
Seit Mitte der 70er Jahre wurde die Entwicklung der städtischen Dienstleistungswirtschaft für die oberen Einkommensschichten weitgehend von
der Drogenwirtschaft finanziert. Drogengelder flossen in die heimische Wirtschaft zurück und dienten zur Finanzierung von Immobilien, Einkaufszentren, Touristik- und Unterhaltungsinfrastruktur usw. Das vom IWF geförderte Programm verstärkte diese Tendenz.
Mit der neuen Wirtschaftspolitik von 1985 gab die herrschende MNRPartei unter Gonzalo Sánchez de Lozada ihre populistische Haltung und ihre
traditionelle Verbundenheit mit den Gewerkschaften auf und suchte die Unterstützung der rechtsgerichteten Acción Democratica Nacional (ADN) des
ehemaligen Diktators Hugo Banzer. Banzer war mutmaßlich seit Mitte der
70er Jahre eine Schlüsselfigur im illegalen Drogenhandel, und es gibt eindeutige Beweise, dass Mitglieder seiner Partei zusammen mit hochrangigen
Militärs mit der Drogenmafia in Verbindung standen.49
Der »Pakt für Demokratie« zwischen MNR und ADN ermöglichte es der
Regierung, verschiedene Gesetze für ihre neue Wirtschaftspolitik durchs
Parlament zu bringen, darunter die Deregulierung des Arbeitsmarktes und
die Unterdrückung der Arbeiterbewegung.
Auch als 1989 Paz Zamora von der MIR, der revolutionären Linken, Präsident wurde, blieb Banzers nationalistische Partei an der Regierungskoalition
beteiligt. Paz Zamora wurde bei der Präsidentschaftswahl von 1989 zwar
nur Drittstärkster nach Hugo Banzer und dem Kandidaten der MNR, Gonzalo
Sánchez de Lozada, wurde aber durch eine politische Vereinbarung mit Ge-
neral Banzer zum Präsidenten gewählt, wofür dessen Partei Schlüsselposten
im Kabinett erhielt.
Die Regierungskoalition zwischen ADN und MIR verfolgte die makroökonomische Politik weiter, die 1985 unter der MNR mit der neuen Wirtschaftspolitik begonnen worden war. Die ADN und ihr Führer Hugo Banzer sicherten auf diese Weise in zwei demokratisch gewählten Zivilregierungen die
politische Kontinuität und den Fortbestand der engen Verbindungen zwischen Regierungspolitik und den Interessen des illegalen Kokahandels.
TEILV
Die ehemalige Sowjetunion und die
Balkanländer
16. Die Russische Föderation: Abstieg in die Dritte
Welt
Der Kalte Krieg war ein Krieg ohne materielle Zerstörung. Der Westen hat
gewonnen und diktiert die Bedingungen der Nachkriegszeit. Dabei spielen
die Instrumente der makroökonomischen Politik eine ebenso entscheidende
wie grausame Rolle, um die Wirtschaft des Besiegten abzuwickeln. Die Reformen in der ehemaligen Sowjetunion zielen nicht, wie gemeinhin behauptet wird, auf den Aufbau einer Marktwirtschaft und einer sozialen Demokratie im westlichen Stil ab, sondern auf die Neutralisierung des ehemaligen
Feindes. Sie sollen verhindern, dass sich Russland zu einer großen kapitalistischen Macht entwickelt.
Phase 1: Die Schocktherapie vom Januar 1992. Im Herbst 1992 erläuterte mir ein russischer Wirtschaftswissenschaftler: »Wir leben in Russland in einer Nachkriegssituation, aber es, gibt keinen Wiederaufbau. Der
Kommunismus und das >Reich des Bösen< sind besiegt, aber der Kalte
Krieg, obwohl offiziell beendet, hat seinen Höhepunkt immer noch nicht erreicht. Den G7-Staaten geht es darum, das Herz der russischen Wirtschaft,
den militärisch-industriellen Komplex und unsere Hightech-Industrien zu
zerschlagen. Das Ziel des IWF-Wirtschaftsprogramms ist es, uns zu schwächen und die Entwicklung einer rivalisierenden kapitalistischen Macht zu
verhindern.«1
Die Schockbehandlung im Stil des IWF, die im Januar 1992 in Russland
einsetzte, war von Anfang an darauf abgestellt, den Übergang zu einem
nationalen Kapitalismus zu verhindern – d.h. zu einer kapitalistischen
Volkswirtschaft, die von einer einheimischen Unternehmerklasse kontrolliert
und, wie etwa in anderen großen westlichen Nationen, vom Staat wirtschafts- und sozialpolitisch abgesichert wird. Für den Westen, so muss man
daraus schließen, war nun nicht mehr der Sozialismus, sondern der Kapitalismus der eigentliche Gegner. Ganz offensichtlich ging es um die Fragen:
Wie zähmt und unterwirft man den russischen Bären, wie schöpft man die
Kompetenzen, die Wissenschaftler, die Technologie ab, wie kauft man das
Humankapital auf, wie eignet man sich das geistige Eigentum an? »Wenn
der Westen glaubt, dass er uns in einen Ausfuhrhafen für Hochtechnologie
verwandeln und unsere Wissenschaftler mit 40 Dollar im Monat abspeisen
kann, täuscht er sich gewaltig. Die Leute werden sich dagegen wehren.«
Während die bittere Medizin des IWF einseitig die Interessen der russischen Händler und Wirtschaftsmafiosi förderte, brachte sie ihren Patienten
um, zerstörte die Volkswirtschaft und trieb die Staatsunternehmen in den
Bankrott. Durch bewusste Manipulation der Marktkräfte bestimmten die
Reformen, welche Sektoren der Wirtschaft überleben sollten. Offizielle Angaben belegen einen Rückgang der Industrieproduktion von 27 Prozent im
ersten Jahr nach den Reformen, manche Ökonomen halten 50 Prozent für
wahrscheinlicher.2
Die von Boris Jelzin umgesetzten IWF-Reformen erwiesen sich faktisch
als Trittleiter für Russlands Abstieg in die Dritte Welt. Sie gleichen aufs Haar
den strukturellen Anpassungsprogrammen, die den Schuldnerländern in
Lateinamerika und den Subsaharastaaten aufgezwungen wurden. Der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs, Berater der russischen Regierung, empfahl
Russland die gleiche makroökonomische Radikalkur wie Bolivien, wo er
1985 als Wirtschaftsberater des damaligen Finanzministers Gonzalo
Sánchez de Lozada seine Duftmarke gesetzt hatte (siehe Kapitel 15). Aber
die durchgeführte Preisliberalisierung beseitigte mitnichten die verzerrte
Preisstruktur des Sowjetsystems. Das »Antiinflationsprogramm« von IWF
und Weltbank stellte vielmehr einen in sich geschlossenen Plan zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung dar. Die Verbraucherpreise stiegen
1992 um mehr als 9900 Prozent.3 Wie bei den Stabilisierungsprogrammen
in der Dritten Welt wurde die Inflation weitgehend durch die »Dollarisierung« der heimischen Preise und den Zusammenbruch der nationalen
Währung herbeigeführt.
Der Brotpreis stieg um mehr als das Hundertfache, von 13 bis 18 Kopeken im Dezember 1991 (vor den Reformen) auf über 200 Rubel im Oktober
1992. Der Preis für in Russland produzierte Fernseher erhöhte sich von 800
auf 85.000 Rubel. Die Löhne stiegen im Gegensatz dazu nur um annähernd
das Zehnfache, d.h. die Realeinkommen sanken um mehr als 80 Prozent.
Milliarden von lebenslang ersparten Rubeln wurden vernichtet. Einem Vertreter des IWF zufolge war es notwendig, die »Liquidität aufzusaugen. Die
Kaufkraft war zu groß.«4 Die Regierung »entschied sich für einen möglichst
großen >Knall<, um die Geldreserven der Privathaushalte gleich zu Beginn
des Reformprogramms zu beseitigen«.5 Ein Berater der Weltbank sagte,
diese Ersparnisse der ehemaligen Sowjetbürger seien ohnehin nicht real
gewesen: »Sie wurden nur als solche wahrgenommen, weil die Leute nichts
kaufen durften.«6 Ein Ökonom der Russischen Akademie der Wissenschaften sah es anders: »Unter dem kommunistischen System war unser Lebensstandard nie wirklich hoch. Aber jeder hatte Arbeit, die Grundbedürfnisse konnten gedeckt werden, und die wesentlichen sozialen Dienste
standen, obwohl nach westlichen Standards zweitklassig, jedermann frei zur
Verfügung. Aber nun ähneln die sozialen Bedingungen in Russland denen
der Dritten Welt.«7
Das Durchschnittseinkommen lag unter zehn Dollar im Monat (1992/93),
der Mindestlohn (1992) bei drei Dollar im Monat. Ein Universitätsprofessor
verdiente umgerechnet acht Dollar, eine Bürokraft sieben, eine qualifizierte
Krankenschwester an einer städtischen Klinik sechs Dollar.8 Da die Preise
vieler Verbrauchsgüter rasch auf Weltmarktniveau stiegen, reichten diese
Gehälter kaum, um Lebensmittel zu kaufen. Ein Wintermantel kostete umgerechnet 60 Dollar, der Gegenwert von neun Monatslöhnen.
Dieser Zusammenbruch des Lebensstandards ist in der russischen Geschichte beispiellos. Selbst während des Zweiten Weltkriegs, so die verbreitete Meinung in der Bevölkerung, gab es mehr zu essen.
Kasten 16.1
Der Lebensstandard in ganz Osteuropa stürzt ab
»In Rumänien stiegen die Benzin- und Dieselpreise, die sich bereits Anfang Januar 1997 verdoppelt hatten, nach der Schockbehandlung des IWF
noch einmal um etwa 50 Prozent, der Preis von Bahnkarten um 80 Prozent,
die Telefonkosten um 100 Prozent und die für die Elektrizität um 500 Prozent… Der IWF und die Weltbank, hinter den Kulissen die Architekten des
Plans, stimmten einem Kredit von 400 Mio. Dollar zu, um die am schwersten von den Maßnahmen Betroffenen zu entschädigen. Aber angesichts
von Millionen Familien, die in diesem Winter bereits auf eine Kost von Kohl
und Kartoffeln reduziert sind, besteht die große Gefahr sozialer Unruhen.«
Colin Woodard, »New Leader Aims to Break Romania of Authoritarianism«, San Francisco Chronicle, 24. Februar 1997, S. A 10
Nach den Richtlinien von IWF und Weltbank sollen sich, dem bekannten
Muster zufolge, die Sozialprogramme in der Russischen Föderation von nun
an selbst finanzieren: Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten, ganz zu
schweigen von staatlich geförderten Einrichtungen für Sport, Kultur und
Kunst, wurden angewiesen, sich durch die Erhebung von Gebühren ihre
eigenen Einkommensquellen zu verschaffen.9 Chirurgische Eingriffe kosteten zwei bis sechs Monatseinkommen; nur die Neureichen konnten sich
noch Operationen leisten. Nicht nur Krankenhäuser auch Theater und Museen wurden in den Bankrott getrieben. Viele der Errungenschaften des Sowjetsystems in Gesundheit, Erziehung, Kultur und den Künsten – von westlichen Wissenschaftlern weithin anerkannt – wurden zunichte gemacht.
Auf gewisse Weise blieb dennoch die Kontinuität zum alten Regime erhalten. Unter der Maske einer liberalen Demokratie hielt sich der totalitäre
Staat. Es entstand eine eigentümliche Mischung aus Spätstalinismus und
»freiem« Markt. Jelzin und seine Günstlinge, über Nacht zu glühenden Verfechtern des Neoliberalismus geworden, ersetzten ein totalitäres Dogma
durch ein anderes, taten alles dazu, die soziale Realität zu schönen, ließen
die offiziellen Statistiken über die Realeinkommen fälschen. So konnte noch
Ende 1992 der IWF weithin unwidersprochen behaupten, dass der Lebensstandard seit Beginn des Reformprogramms »gestiegen« sei10, und das russische Wirtschaftsministerium die Ansicht vertreten, dass »die Löhne
schneller steigen als die Preise«.11 Bloß der berühmte Mann auf der Straße
hatte so seine eigenen Einsichten: »Die Leute sind ja nicht dumm, wir glauben der Regierung einfach nicht. Wir wissen, dass die Preise um das Hundertfache gestiegen sind.«12
Das Erbe der Perestrojka und die neue »Basar-Bourgeoisie«. In der
Zeit der Perestroika bestand die Hauptquelle des Reichtums darin, irgendwelche kontingentierten und daher notorisch knappen Güter mithilfe von
Bestechung und Korruption zu staatlich regulierten Preisen zu ergattern und
dann auf dem freien Markt mit Gewinn weiterzuverkaufen. Diese Schattengeschäfte, an denen sich vor allem Beamte und Parteimitglieder gütlich taten, wurden unter Michail Gorbatschow im Mai 1988 mit dem Gesetz über
die Kooperativen legalisiert.13 Nun war die Gründung von Privatunternehmen und privaten Kooperativen erlaubt, die neben dem System der Staatsbetriebe wirtschaften sollten. In vielen Fällen wurden diese Kooperativen
von Managern der Staatsunternehmen gegründet. Sie verkauften die von
ihrem Staatsunternehmen produzierten Waren zum offiziellen Preis an ihre
privaten Kooperativen, d.h. an sich selbst, um sie dann auf dem freien
Markt mit großem Gewinn weiterzuverkaufen. 1989 wurde den Kooperativen auch erlaubt, ihre eigenen Geschäftsbanken zu gründen und Devisengeschäfte abzuwickeln. Durch die Beibehaltung eines dualen Preissystems
förderten die Unternehmensreformen von 1987 bis 1989 auf diese Weise
statt echten kapitalistischen Unternehmertums persönliche Bereicherung,
Korruption und die Entwicklung einer »Basar-Bourgeoisie«.
Als aus der Sowjetunion die Russische Föderation wurde, verbarg sich
das Geheimnis der ursprünglichen Akkumulation im Prinzip des schnellen
Geldes. Die Devise lautete: Den Staat bestehlen, also das Staatseigentum
häppchenweise billig kaufen und teuer weiterverkaufen. Die Wiege der neuen russischen Biznesmany, Ableger der kommunistischen Nomenklatura der
Breschnew-Zeit,
liegt
in
der
Entwicklung
eines
»ApparatschikKapitalismus«. »Adam biss in den Apfel, und damit kam über den Sozialismus die Sünde.«14 Wenig überraschend unterstützten die »Demokraten«
das IWF-Programm bedingungslos – was deutlich macht, dass die IWFReformen einseitig die Interessen dieser neuen, sich ungeniert bereichernden Händlerklasse förderten. Die Jelzin-Regierung machte sich unzweideutig die Aspirationen der Dollar-Elite zu Eigen. Durch die Reformen
galt der Rubel nicht länger als sichere Wertanlage. Er stürzte in den Keller,
weil die normalen Bürger es vorzogen, ihre Ersparnisse in Dollar anzulegen.
Der Dollar wurde nicht nur an der Devisenbörse des Interbankenmarktes
gehandelt, sondern er wechselte auch an den Straßenkiosken in der ganzen
ehemaligen Sowjetunion frei über den Tresen: »Die Leute kaufen Dollar zu
jedem Preis.«15
Die wirtschaftlichen Reformen haben erheblich dazu beigetragen, die Zivilgesellschaft zu zerstören und die sozialen Beziehungen erodieren zu lassen. Das Privatisierungsprogramm mit seiner Plünderung des Staatseigentums begünstigte Geldwäsche, Kapitalflucht und die allgemeine Kriminalisierung der Wirtschaftstätigkeit. Das organisierte Verbrechen durchdringt
den ganzen Staatsapparat und stellt eine machtvolle Lobby dar, die Jelzins
makroökonomische Reformen auf breiter Linie unterstützte. Einer jüngsten
Schätzung zufolge war die Hälfte der russischen Geschäftsbanken bis 1993
unter die Kontrolle lokaler Mafias geraten. Die Hälfte des Immobilienbesitzes in der Moskauer Innenstadt war dem organisierten Verbrechen anheim
gefallen.16
Russische Händler konnten staatlichen Unternehmen Öl, Nichteisenmetalle und strategische Rohstoffe in Rubel abkaufen und in harter Währung an
Firmen aus der EU zum zehnfachen Preis weiterverkaufen. Rohöl kostete
1992 z.B. 5200 Rubel (17 Dollar) pro Tonne und ließ sich, wenn erst einmal
ein korrupter Beamter durch Bestechung zum Abstempeln einer Exportlizenz bewogen worden war, auf dem Weltmarkt für 150 Dollar pro Tonne
weiterverkaufen.«17 Der Gewinn solcher Transaktionen floss entweder in –
importierte – Luxusgüter oder auf ein Bankdepot in einer Steueroase. Obwohl offiziell illegal, wurden Kapitalflucht und Geldwäsche durch die Deregulierung des Devisenmarktes und die Reformen des Bankensystems erleichtert. Die Kapitalflucht aus der Russischen Föderation wurde während der
ersten Phase der IWF-Reformen auf über eine Milliarde Dollar im Monat geschätzt. Und es spricht einiges dafür, dass daran auch prominente Mitglieder des politischen Establishments beteiligt waren.
Während der allgemeine Lebensstandard zusammengebrochen ist, die
Armut rapide um sich gegriffen hat, Industrie und Landwirtschaft darniederliegen, ist zugleich ein dynamischer Markt für Luxusgüter entstanden. In
den schicken Dollar-Geschäften Moskaus geben sich die Neureichen die
Klinke in die Hand. Sie blicken auf die heimischen Waren herab und bevorzugen Mercedes, BMW, Pariser Haute Couture, ganz zu schweigen von importiertem »russischen« Wodka hoher Qualität aus den USA zu 345 Dollar
für die Kristallglasflasche – vier Jahreseinkommen eines durchschnittlichen
Arbeiters.
Die enormen Profite der neuen Wirtschaftselite werden auch dazu benutzt, Staatseigentum »zu einem guten Preis« zu kaufen oder es von den
Managern und Belegschaften zu erwerben, sobald es im Rahmen des Anteilscheinsystems (Voucher) der Regierung privatisiert ist. Weil der Buchwert
von Staatseigentum zum jeweiligen Rubelwert künstlich niedrig gehalten
wurde (und der Rubel so billig war), konnte man Staatseigentum praktisch
für einen Appel und ein Ei kaufen. Schätzungen zufolge entsprach ein realer
Vermögenswert von 300.000 Dollar einem Buchwert von lediglich 1000 Dollar. Eine Hightech-Raketenfabrik war für eine Million Dollar zu haben, ein
Hotel in Moskau kostete weniger als eine Wohnung in Paris. Als im Oktober
1992 die Moskauer Stadtverwaltung eine große Anzahl von Wohnungen versteigerte, begannen die Gebote bei einem Rubel.
Die ehemalige Nomenklatura, die neuen Geschäftseliten und die lokalen
Mafiosi sind die Einzigen, die Geld und Beziehungen haben, um Eigentum zu
erwerben, doch fehlten ihnen sowohl die Fähigkeiten als vermutlich auch die
Ambitionen, die russische Industrie zu managen. Es ist unwahrscheinlich,
dass sie eine entscheidende Rolle beim Aufbau der russischen Wirtschaft
spielen werden. Wie in vielen Ländern der Dritten Welt gedeihen diese
»Händlereliten« vor allem durch ihre Beziehung zu ausländischem Kapital.
Die Wirtschaftsreformen begünstigen außerdem die Verdrängung der nationalen Produzenten – ob staatlich oder privat – und die Übernahme großer
Sektoren der Wirtschaft durch ausländisches Kapital. Viele ausländische
Unternehmen ziehen es allerdings vor, mit kleinen Investitionen durch die
Hintertür auf den russischen Markt zu gelangen. Dies geschieht häufig über
Joint Ventures oder den Kauf heimischer Unternehmen zu sehr niedrigen
Preisen. Marlboro und Philip Morris, die amerikanischen Tabakgiganten, haben z.B. bereits die Kontrolle über die staatlichen Produktionsstätten gewonnen. British Airways hat sich über Air Russia, ein Joint Venture mit Aeroflot, Zugang zu den inländischen Flugrouten verschafft. Während wichtige
Unternehmen der Leichtindustrie meist geschlossen und ihre Produktion
durch Importe ersetzt werden, sind es vor allem die gewinnträchtigeren Bereiche der russischen Wirtschaft einschließlich der Hightech-Unternehmen
des militärisch-industriellen Komplexes, die an Joint Ventures fallen.
Das ausländische Kapital hat jedoch im Großen und Ganzen eine abwartende Haltung eingenommen. Die politische Situation ist unsicher, die Risiken sind groß: »Wir brauchen Garantien hinsichtlich des Grundeigentums
und der Gewinnrückführung in harter Währung.«18
Ausverkauf und Balkanisierung. Damit Russland nicht als eigenständige
Macht auf dem Weltmarkt auftreten kann, zielen die aufgeherrschten Reformen vor allem darauf ab, die einheimische Hightech-Industrie zu schwächen, zu zerschlagen und ihre dann verbliebenen Kapazitäten im Verein mit
westlichen Partnern für den Export umzurüsten. Es ist ein höchst einträgliches Geschäft. Lockheed und Boeing, Rockwell International und andere
haben ein Auge auf die russische Luft- und Raumfahrtindustrie geworfen.
Amerikanische und europäische Hightech-Firmen – darunter Rüstungsfirmen
– können die Dienste von russischen Spitzenwissenschaftlern in Bereichen
wie Glasfaseroptik, Computerdesign, Satellitentechnik, Nuklearphysik, um
nur ein paar zu nennen, für ein durchschnittliches Monatsgehalt unter 100
Dollar einkaufen, mindestens 50-mal weniger als in Silicon Valley. Es gibt
1,5 Millionen Wissenschaftler und Ingenieure in der ehemaligen Sowjetunion – für das westliche Kapital eine beträchtliche Reserve an billigem »Humankapital«.
Ein großer Teil des militärisch-industriellen Komplexes untersteht dem Verteidigungsministerium. Unter seiner Aufsicht werden verschiedene Konversionsprogramme durchgeführt, die mit der NATO und den westlichen Verteidigungsministerien ausgehandelt wurden und ebenfalls das Ziel der Demobilisierung verfolgen. Die AT&T Beil Laboratories haben z.B. durch ein
Joint Venture die Dienstleistungen eines ganzen Forschungslabors am Institut für Allgemeine Physik in Moskau erworben. McDonnell Douglas hat eine
ähnliche Vereinbarung mit dem Institut für Mechanische Forschung getroffen.19
Kasten 16.2
General Eiectric kauft russische Flugzeugmaschinenfabrik
1996 gewann General Electric mit einer »Investition« von 300.000 Dollar die Kontrolle über die riesige russische Flugzeugmotorenfabrik in Rybinsk am Ufer der Wolga. Während der Sowjetära bestückte die Fabrik
mit einer Belegschaft von 22.000 Arbeitern 80 Prozent aller Militär- und
60 Prozent aller Zivilflugzeuge mit ihren Motoren. Die Reformen hatten
Rybinsk in den Bankrott getrieben, Vermögenswerte und Buchwert des
Unternehmens wurden von westlichen Finanzanalysten extrem unterbewertet: Das Kapital des Joint Venture wurde willkürlich auf 600.000 Dollar festgesetzt.
General Electric wird nicht nur die Produktion von Flugzeugmotoren für
Zivilflugzeuge übernehmen, es wird durch die Lieferung von Motoren für
Militärjets an das russische Verteidigungsministerium gleichzeitig einer
von Russlands wichtigsten Rüstungsproduzenten.
Bei einem der Konversionsprojekte wurden Militärgerät und Industrieanlagen in Metallschrott »umgewandelt« und auf dem Weltrohstoffmarkt verkauft. Die Erlöse aus diesen Verkäufen wurden in einen Fonds des Verteidigungsministeriums eingezahlt und konnten dann für Importe von Kapitalgütern, den Schuldendienst oder Investitionen in Privatisierungsprogramme
verwendet werden.
Seit den Reformen von 1992 und dem Zusammenbruch vieler staatlicher
Banken schossen in der ehemaligen Sowjetunion an die 2000 Geschäftsbanken aus dem Boden, davon 500 allein in Moskau. Mit dem Zusammenbruch der Industrie werden nur die stärksten dieser Geldinstitute und solche
mit Verbindungen zu internationalen Banken überleben. Diese Situation
begünstigt die Durchdringung des russischen Bankensystems durch ausländische Geschäfts- und Joint-Venture-Banken.
Das IWF-Programm zielte außerdem darauf, die Rubel-Zone abzuschaffen und den Handel zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken zu unterminieren. Die neuen Staaten wurden von Anfang an dazu ermutigt, mit technischer Hilfe des IWF eigene Währungen und Zentralbanken einzuführen.
Dieses Vorgehen förderte die wirtschaftliche Balkanisierung: Mit dem Zusammenbruch der Rubelzone entwickelten sich kleinere Wirtschaftsmächte,
die einseitig den engen Interessen lokaler Tycoons und Bürokraten dienten.
Zwischen Russland und der Ukraine entwickelten sich bittere Finanz- und
Handelsstreitigkeiten. Obwohl der Außenhandel mit dem Westen liberalisiert
wurde, bauten beide Länder zwischen sich die Grenzen aus, die die freie
Bewegung von Waren und Menschen innerhalb der GUS verhindern.
Phase II: Die IWF-Reformen in der Sackgasse. Die vom IWF geförderten Reformen gerieten unter dem kommissarischen Premierminister Jegor
Gaidar Ende 1992 in eine Sackgasse. Im Parlament und in der Zentralbank
formierte sich Opposition. Der IWF räumte ein, dass möglicherweise bis zu
40 Prozent der Industriebetriebe geschlossen werden müssten, wenn die
Regierung ihr Ziel der Haushaltskonsolidierung erreichen wolle. Der Präsident der Zentralbank, Victor Geraschtschenko, traf mit Unterstützung von
Arkadij Volskij von der Bürgerunion – in Personalunion Vorsitzender des
Verbandes der Industriellen und Arbeitgeber – die Entscheidung, gegen den
Rat des IWF die Kredite für Staatsunternehmen auszuweiten und gleichzeitig die Ausgaben für Gesundheit, Erziehung und Renten drastisch zu kürzen.
Nach der Absetzung von Jegor Gaidar als Premierminister und der Berufung Victor Tschernomyrdins zu seinem Nachfolgen im Dezember 1992 lief
die Beziehung zwischen Regierung und Parlament auf eine Konfrontation zu.
Die Legislative nutzte ihre Kontrollrechte über die Haushalts- und Geldpolitik, um die reibungslose Umsetzung des IWF-Programms zu blockieren.
Das Parlament verabschiedete Gesetze, die die Privatisierung der staatlichen Industrie verlangsamten, ausländischen Banken Beschränkungen auferlegten und die Vollmachten der Regierung beschnitten, die Subventionen
und Sozialausgaben nach den Forderungen des IWF zu kürzen.
Die Opposition gegen die Reformen kam vor allem aus der herrschenden
politischen Elite, der gemäßigten Mitte, zu der auch ehemalige Mitarbeiter
von Jelzin gehörten. Als parlamentarische Minderheit befürwortete die Bürgerunion zusammen mit Arkadij Volskijs Unternehmerverband die Entwicklung eines nationalen Kapitalismus, während die starke Rolle des Zentralstaates erhalten bleiben sollte. Auch die wichtigsten parlamentarischen
Gegenspieler Jelzins wie vor allem Aleksander Ruzkoj und Ruslan Chasbulatow können nicht einfach als kommunistische Hardliner abgetan werden.
Der Regierung gelang es nicht, sich gegen die Legislative durchzusetzen.
Nach Monaten der politischen Zuspitzung und einem Volksentscheid, in dem
sich Jelzin das Plazet für seine »Reformpolitik« geholt hatte, löste er qua
Erlass am 21. September 1993 beide Häuser des Parlaments auf.
Zwei Tage später, am 23. September, gab der IWF-Direktor Michel Camdessus zu erkennen, dass die zweite Tranche eines IWF-Kredits von drei
Milliarden Dollar nicht ausgezahlt würde, weil Russland vor allem aufgrund
der Interventionen des Parlaments seine Verpflichtungen nicht erfüllt hatte.
Im April 1993 hatte Präsident Clinton auf dem asiatisch-pazifischen Wirtschaftsgipfel in Vancouver erklärt, dass westliche Hilfe für Russland an die
Durchführung demokratischer Reformen gebunden sei. Die Bedingungen
von IWF und westlichen Gläubigern konnten jedoch nur durch die Kaltstellung des Parlaments erreicht werden. Als bewaffnete Anhänger Ruzkojs und
Chasbulatows das Moskauer Ratbaus besetzten, mussten erst präsidententreue Truppen das Weiße Haus am 4. Oktober 1993 stürmen, bevor es Jelzin endgültig gelang, die politischen Abweichler aus den Reihen der Nomenklatura in Moskau und den Regionen zu neutralisieren. Jetzt war der Weg
für Reformen nach dem Muster des IWF frei.
Die G7-Staaten unterstützten Jelzins Dekret zur Auflösung beider Häuser
des Parlaments im Voraus. Ihre Botschaften waren informiert. Dem Präsidentenerlass vom 21. September folgte sofort eine Welle weiterer Erlasse
zur Beschleunigung der Wirtschaftsreformen und zur Erfüllung der IWFKreditbedingungen, die die russische Regierung im Mai unterzeichnet hatte:
Die Kredite an die Staatsunternehmen wurden umgehend beschränkt, die
Zinsen erhöht und die Privatisierungen und Handelsliberalisierung beschleunigt. Finanzminister Boris Fjodorow, nun von jeder parlamentarischen Kontrolle befreit, erklärte: »Wir können jeden Haushalt beschließen, den wir
wollen.«20
Jelzin hatte den Zeitpunkt seines Erlasses gut gewählt: Sein Finanzminister sollte am 25. September bei einem Treffen der G7-Finanzminister Bericht erstatten; Außenminister Andrej Kosyrew weilte gerade in Washington,
wo er mit Clinton zusammentraf; die Jahreskonferenz von IWF und Weltbank sollte am 28. September in Washington beginnen; und schließlich war
der 1. Oktober der Stichtag für eine Entscheidung über einen IWFSofortkredit vor einem Treffen des Londoner Clubs der Gläubigerbanken
unter Vorsitz der Deutschen Bank am 8. Oktober. Und am 12. Oktober wollte Jelzin nach Japan reisen, um Verhandlungen über das Schicksal der Kurileninseln im Tausch gegen einen Schuldenerlass und japanische Hilfe aufzunehmen.
Nach der Auflösung des Parlaments drückten die G7-Staaten »ihre große
Hoffnung aus, dass die jüngsten Entwicklungen Russland helfen werden,
einen entscheidenden Durchbruch auf dem Weg zu Marktreformen zu erzielen«. Der deutsche Finanzminister Theo Waigel erklärte, die russischen Führer müssten deutlich machen, dass sie die Wirtschaftsreformen fortsetzten,
da sie andernfalls die internationale Finanzhilfe verlieren würden. Und Michel Camdessus verlieh seiner Erwartung Ausdruck, dass die politischen
Entwicklungen in Russland dazu beitragen würden, den Prozess der Wirtschaftsreform zu beschleunigen.
Doch trotz der westlichen Ermutigungen war der IWF noch nicht bereit,
Russland grünes Licht zu geben. Zentralbankpräsident Victor Geraschtschenko, der für die Bürgerunion eintrat, kontrollierte immer noch die Geldpolitik. Eine IWF-Delegation, die Ende September 1993 auf der Höhe der
Parlamentsrevolte nach Moskau reiste, um den Fortgang des Reformprozesses zu überprüfen, informierte Michel Camdessus, dass die »bereits verkündeten Pläne der Regierung zur Kürzung von Subventionen und Beschränkung der Kredite ungenügend« seien.21
Die Auswirkungen der Wirtschaftserlasse vom September 1993 machten
sich sogleich bemerkbar. Die Entscheidungen, die Energiepreise weiter zu
liberalisieren und die Zinsen anzuheben, dienten dem Ziel, große Sektoren
der russischen Industrie rasch in den Bankrott zu treiben. Als Mitte Oktober
1993 Roskhlebprodukt, das staatliche Getreidehandelsunternehmen, dereguliert wurde, stiegen die Brotpreise über Nacht von 100 auf 300 Rubel.22
Und diese zweite Welle der Verarmung brach über das russische Volk herein, nachdem es bereits im Vorjahr mit einem geschätzten Kaufkraftverlust
von 86 Prozent hatte fertig werden müssen!23 Da alle Subventionen aus der
Staatskasse finanziert worden waren, konnte das eingesparte Geld, wie
vom IWF verlangt, in die Bedienung der russischen Auslandsschulden
umgelenkt werden.
Die Reform der Haushaltsstruktur, die Finanzminister Boris Fjodorow
nach dem Coup vom September 1993 vorschlug, folgte dem Weltbankprogramm für Schuldnerländer der Dritten Welt. Es forderte die »Finanzautonomie« der Teilrepubliken und der diversen politischen Instanzen durch die
Kürzung der Transferleistungen der Zentralregierung und die Umlenkung
der staatlichen Finanzressourcen in den Schuldendienst. Die Folge war der
Zusammenbruch der Staatsfinanzen, die wirtschaftliche und politische Balkanisierung und die Ausweitung der Kontrolle westlichen und japanischen
Kapitals über die Wirtschaft der russischen Regionen.
»Hilfe« wird zur Zwangsjacke. Bis 1993 hatten die Reformen zu einer
massiven Plünderung des Reichtums Russlands und einem beträchtlichen
Kapitalabfluss geführt. Das Zahlungsbilanzdefizit lag 1993 bei 40 Mrd. Dollar, was etwa der vom Tokioter G7-Gipfel im August des Jahres gewährten
»Hilfe« (43 Mrd. Dollar) entsprach. Doch der Großteil dieser westlichen Hilfe
war fiktiv: Sie erfolgte weitgehend in Form von Krediten und diente dem
nützlichen Zweck, Russlands Auslandsschulden zu vergrößern – zu jener
Zeit etwa 80 Mrd. Dollar – und den westlichen Gläubigern einen noch besseren Zugriff auf die russische Wirtschaft zu verschaffen. Nur weniger als
drei Mrd. wurden tatsächlich ausgezahlt.
Die Umschuldungsvereinbarung mit dem Pariser Club für die Schulden
bei staatlichen Gläubigern bot, obwohl auf den ersten Blick großzügig, Russland nur eine kurze Atempause. Dabei ging es lediglich um die in der Sowjetzeit gemachten Schulden – um insgesamt 17 Mrd. Dollar, von denen
schließlich zwei sofort getilgt werden mussten und die anderen 15 mit einer
tilgungsfreien Frist von fünf Jahren über einen Zeitraum von zehn Jahren
umgeschuldet wurden. Die massiven Schulden der Regierung unter Jelzin –
weitgehend ja eine Folge der Wirtschaftsreformen – waren von den Verhandlungen von vornherein ausgenommen.
Was die bilateralen Verpflichtungen anging, so bot Präsident Clinton auf
dem bereits erwähnten Gipfel in Vancouver magere 1,6 Mrd. Dollar, 970
Mio. davon in Form von Krediten vor allem für Nahrungsmittelkäufe von USFarmern. Die restlichen 630 Mio. Dollar bestanden aus russischen Zahlungsrückständen für US-Getreide und wurden durch das »Food for Progress«-Programm des US-Landwirtschaftsministeriums finanziert. Durch die
Nahrungsmittelhilfe im Rahmen dieses Programms fand sich Russland unversehens auf einer Stufe mit den afrikanischen Entwicklungsländern des
Subsaharagebiets wieder. Ähnlich verhielt es sich mit der bilateralen Hilfe
Japans an Russland. Der Großteil waren Mittel zur Absicherung japanischer
Firmen, die in Rußland investierten.24
Das Ergebnis der Ausschaltung der parlamentarischen Opposition im
September und Oktober 1993 war, dass sich Moskaus Strategie bei den
Schuldenverhandlungen mit den Geschäftsbanken umgehend änderte. Wieder war das Timing von entscheidender Bedeutung. Das russische Verhandlungsteam forderte beim Treffen des Londoner Clubs Anfang Oktober 1993
in Frankfurt – nur vier Tage nach Erstürmung des Weißen Hauses – weder
die Abschreibung der Schulden noch auch nur einen Teilerlass. Die getroffene Vereinbarung sah nur eine zeitlich verschobene Rückzahlung vor: 24 von
38 Mrd. Dollar der Schulden bei privaten Gläubigern sollten umgeschuldet
werden. Moskaus Verhandlungsteam akzeptierte sämtliche Bedingungen –
bis auf eine: Die Russen weigerten sich, eine Klausel zu akzeptieren, nach
der die Gläubigerbanken Rechtsansprüche auf russische Staatsunternehmen
und Staatsvermögen hätten geltend machen können, falls das Land seinen
Schuldendienstverpflichtungen nicht nachkäme. Für die Geschäftsbanken
war das keine bloße Formalität: Der Zusammenbruch der russischen Wirtschaft, die Zahlungsbilanzkrise und gewachsenen Verbindlichkeiten aus dem
Schuldendienst an den Pariser Club trieben Russland in ein »technisches
Moratorium«, d.h. de facto in die Zahlungsunfähigkeit.
Die ausländischen Kreditgeber erwogen auch Mechanismen, um die russischen Devisenreserven – bei der Zentralbank und auf den Dollarkonten
der russischen Geschäftsbanken – in den Schuldendienst umzulenken, und
schielten auch nach den Devisenbeständen von Russen in Steueroasen.
Die drohende Zahlungsunfähigkeit verlieh der Beziehung zwischen Moskau und seinen Gläubigern eine neue Qualität: Wie ein unterwürfiges und
fügsames Regime der Dritten Welt saß die russische Regierung nun in der
Zwangsjacke von Schulden und Strukturanpassung gefangen. Nun konnten
die Staatsausgaben brutal zusammengestrichen werden, um staatliche Mittel für die Bezahlung der Gläubiger freizusetzen.
Während sich die Krise vertiefte, wurden die russischen Bürger immer
mehr in die Vereinzelung getrieben und damit verwundbarer. Formal war
eine »Demokratie« errichtet worden, aber die neuen, den Massen enthobenen politischen Parteien bedienten vor allem die Interessen von Geschäftemachern
und
Apparatschiks.
Die
Auswirkungen
des
Privatisierungsprogramms auf die Beschäftigung waren vernichtend: Über 50 Prozent
der ehedem staatlichen Industriebetriebe waren bis 1993 in den Bankrott
getrieben worden. Zudem befanden sich ganze Städte im Ural und in Sibirien, die unmittelbar in den militärisch-industriellen Komplex einbezogen und
von Staatskrediten und staatlichen Versorgungsleistungen abhängig waren,
in der Auflösung. 1994 erhielten nach offiziellen Zahlen die Arbeitnehmer in
33.000 verschuldeten Unternehmen, darunter staatliche Industriebetriebe
und Kolchosen, keine regelmäßigen Lohnzahlungen mehr.25
Wenn schon den Politikern und Finanzgewaltigen der G7-Staaten das
elende Schicksal der übergroßen Mehrheit der russischen Bürger gleichgültig ist, dann sollten sie wenigstens im Interesse des Weltfriedens die Konsequenzen ihrer Handlungen sorgfältig überdenken. Die globalen geopolitischen Gefahren und Sicherheitsrisiken bei einer weitergehenden Zersetzung
und Auflösung der Russischen Föderation sind unabsehbar.
Kasten 16.3
Sibirien:
Wirtschaftlicher und sozialer Ruin
Eine Folge der strengen Haushaltspolitik war, dass Moskau die Transferzahlungen an die Region Sibirien kürzte, die 70 Prozent des Staatsgebiets ausmacht und einen Großteil des russischen Öls und Gases, 100 Prozent seiner
Diamanten und die meisten anderen Edelsteine produziert. Die Sparmaßnahmen führten zu dramatischen Kürzungen der Lieferungen von Treibstoff
und notwendigen Verbrauchsgütern an die elf Millionen Einwohner Sibiriens.
Alexandre Nazarow zufolge, Gouverneur des Autonomen Bezirks Tschukotka
im äußersten Nordosten Russlands, wurde nur noch die Hälfte der Mittel aus
Moskau für die jährlichen Lieferungen in entlegene Gebiete ausgezahlt.
Konfrontiert mit einer drohenden Katastrophe, ist ganz Sibirien zu einer
neuen Grenzregion geworden, die von der Gnade ausländischer Öl- und
Bergbaugesellschaften abhängt.
17.
Die »Balkanisierung« Jugoslawiens
Als schwer bewaffnete US- und NATO-Truppen den Frieden in Bosnien sicherten, stellten Presse und Politiker die westliche Intervention im ehemaligen Jugoslawien als noble, wenn auch schmerzlich späte Reaktion auf den
Ausbruch ethnischer Massaker und Menschenrechtsverletzungen dar. Nach
dem Friedensabkommen von Dayton im November 1995 beeilte sich der
Westen, sein Selbstbild als Retter der Südslawen aufzupolieren und an den
»Wiederaufbau« der neu entstandenen »souveränen« Staaten zu gehen.
Die Gründe für den Krieg waren schnell gefunden, die öffentliche Meinung im Westen wurde geschickt getäuscht. Nach der landläufigen Auffassung, wie sie sich in den Schilderungen Warren Zimmermanns, des ehemaligen US-Botschafters in Jugoslawien, zeigte, war das Elend des Balkans
Ergebnis eines »aggressiven Nationalismus«, das unvermeidliche Resultat
von tief verwurzelten ethnischen und religiösen, historisch verankerten
Spannungen.26 Außerdem wurde viel Aufhebens vom »Machtspiel« auf dem
Balkan und vom Aufeinanderprallen politischer Persönlichkeiten gemacht:
Franjo Tudjman und Slobodan Milosevic, so sagte man, hätten BosnienHerzegowina in Stücke gerissen.27
Was unter der Flut von Bildern und eigennützigen Analysen verschüttet
wurde, sind die wirtschaftlichen und sozialen Gründe des Konflikts. Die tiefe
Wirtschaftskrise, die dem Krieg vorausging, ist lange vergessen. Die strategischen Interessen Deutschlands und der USA an der Auflösung Jugoslawiens bleiben unerwähnt, ebenso wie die Rolle der Auslandsgläubiger und
der internationalen Finanzorganisationen. In den Augen der globalen Medien
tragen die Westmächte keine Verantwortung für die Verarmung und Zerstörung einer Nation von 24 Millionen Menschen.
Doch durch ihre Beherrschung des globalen Finanzsystems trugen die
westlichen Mächte dazu bei, in Verfolgung ihrer nationalen und gemeinsamen strategischen Interessen die jugoslawische Wirtschaft auf die Knie zu
zwingen, und fachten die schwelenden sozialen und ethnischen Konflikte
des Landes an. Nun sind es die kriegsverwüsteten Nachfolgestaaten Jugoslawiens, die versuchen müssen, die Gunst der Gnadenbeweise der internationalen Finanzgemeinschaft zu erlangen.
Während sich die Welt noch auf Truppenbewegungen und Waffenstillstände konzentrierte, waren die internationalen Finanzorganisationen längst
eifrig dabei, die Auslandsschulden des ehemaligen Jugoslawien von den
Nachfolgestaaten einzutreiben und den Balkan in einen sicheren Hafen für
freies Unternehmertum zu verwandeln. Mit dem von NATO-Gewehren gesicherten bosnischen Friedensabkommen präsentierte der Westen Ende 1995
ein »Wiederaufbau«-Programm, das dieses geschundene Land seiner Souveränität in einem Maße beraubte, wie es in Europa seit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs nicht mehr geschehen war. Das Programm bestand
weitgehend daraus, aus Bosnien ein geteiltes Land unter militärischer Besatzung der NATO und unter westlicher Administration zu machen.
Neokolonie Bosnien. Mit dem Abkommen von Dayton, das eine bosnische
»Verfassung« schuf, installierten die USA und ihre europäischen Verbündeten in Bosnien eine voll ausgebildete Kolonialadministration. An ihrer Spitze
stand zunächst der UN-Sonderbeauftragte Carl Bildt, ein ehemaliger schwedischer Premierminister und EU-Vertreter in den bosnischen Friedensverhandlungen. Bildt erhielt volle Exekutivgewalt in allen Zivilangelegenheiten
mit dem Recht, die Regierungen der bosniakisch-kroatischen Föderation
Bosnien und Herzegowina sowie der Republika Srpska, der serbischen Gebietseinheit Bosniens zu überstimmen. Um keinerlei Zweifel aufkommen zu
lassen, bestimmte das Abkommen, dass der »Sonderbeauftragte die letzte
Autorität im Hinblick auf die Interpretation der Vereinbarungen ist«.28 Er
sollte mit dem Oberkommando der Internationalen Schutztruppe (IFOR)
ebenso zusammenarbeiten wie mit den Gläubigern und Kreditgebern.
Der UN-Sicherheitsrat hatte dem Sonderbeauftragten auch eine internationale Polizeitruppe unterstellt.29 Zum Kommandeur dieser 1700 Polizisten
aus 15 Ländern wurde der Ire Peter Fitzgerald ernannt, der Erfahrungen bei
UN-Polizeieinsätzen in Namibia, El Salvador und Kambodscha hatte.
Die neue Verfassung, die dem Dayton-Abkommen als Anhang beigefügt
war, überantwortete die Herrschaft über die Wirtschaftspolitik dem IWF, der
Weltbank und der Osteuropabank (EBWE) mit Sitz in London. Der IWF wurde ermächtigt, den ersten Präsidenten der bosnischen Zentralbank zu ernennen, der, wie der Sonderbeauftragte, »kein Bürger von Bosnien und
Herzegowina oder eines Nachbarstaates« sein sollte. Unter der Regentschaft des IWF ist es der Zentralbank allerdings nicht erlaubt, Zentralbankfunktionen auszuüben: >In den ersten sechs Jahren… darf sie keine Kredite
durch Geldschöpfung gewähren und operiert in dieser Hinsicht als Währungsrat.<30 Bosnien ist es auch nicht erlaubt, seine eigene Währung einzuführen, und darf Banknoten nur dann ausgeben, wenn sie voll durch Devisen gedeckt sind. Somit kann das Land auch nicht seine internen Kapitalressourcen mobilisieren: Die Möglichkeit, den Wiederaufbau des Landes
durch eine unabhängige Geldpolitik selbst zu finanzieren, wurde von Anfang
an vereitelt.
Während die Zentralbank unter Vormundschaft des IWF steht, leitet die
Osteuropabank eine Kommission, die seit 1996 die Tätigkeit aller Staatsunternehmen in Bosnien beaufsichtigt, darunter in den Bereichen Energie,
Wasser, Post, Telekommunikation und Transport. Der Präsident der Bank
ernennt den Kommissionsvorsitzenden und ist für die Umstrukturierung des
öffentlichen Sektors verantwortlich, d.h. für den Verkauf von Staatsunternehmen und Kollektivbetrieben, sowie für die Beschaffung langfristiger Investitionsmittel.31
Während der Westen seine Unterstützung für die Demokratie verkündet,
ruht die tatsächliche politische Macht in Bosnien in den Händen einer
»Parallelregierung«, deren Leitungspositionen mit Ausländern besetzt sind.
Die westlichen Kreditgeber haben ihre Interessen in einer Verfassung
verankert, die in ihrem Namen hastig entworfen wurde. Sie taten dies ohne
die in ihrem Namen hastig entworfen wurde. Sie taten dies ohne verfassunggebende Versammlung und ohne Beratungen mit bosnischen Bürgerorganisationen. Ihre Pläne für den Wiederaufbau Bosniens sind besser dafür
geeignet, die Gläubiger des Landes zufrieden zu stellen, als auch nur die
grundlegendsten Bedürfnisse der Bosnier zu befriedigen. Die Neokolonialisierung Bosniens war ein logischer Schritt im Rahmen westlicher Bemühungen, das jugoslawische Experiment eines »Marktsozialismus« und der Arbeiterselbstverwaltung zu beseitigen und den Nachfolgestaaten das Diktat des
»freien Marktes« aufzuzwingen.
Die »stille Revolution« des Nationalen Sicherheitsrates. Der sozialistische Vielvölkerstaat Jugoslawien war einst eine regionale und durchaus
erfolgreiche Industriemacht. In den 60er und 70er Jahren betrug das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im Durchschnitt 6,1 Prozent, die Gesundheitsversorgung war frei, die Alphabetisierungsrate lag bei 91 Prozent, die
Lebenserwartung bei 72 Jahren. Aber nach einer Dekade westlicher »Wirtschaftshilfe« und einem Jahrzehnt des Zerfalls, Krieges, Boykotts und Embargos lag die Wirtschaft des ehemaligen Jugoslawien am Boden, war ihre
industrielle Basis zerstört.
Jugoslawiens Implosion war zum Teil das Werk der USA. Trotz der Blockfreiheit des Landes und seiner relativ intensiven Handelsbeziehungen mit
den EU-Staaten und den USA nahm die Reagan-Regierung die jugoslawische Wirtschaft in einer geheimen Direktive des Nationalen Sicherheitsrates
von 1984 (NSDD 133) mit dem Titel »US-Politik gegenüber Jugoslawien«
aufs Korn. 1990 wurde die zensierte Fassung einer früheren Direktive über
Osteuropa von 1982 (NSDD 64) veröffentlicht, die für »größere Anstrengungen« eintrat, »um eine >stille Revolution< zum Sturz der kommunistischen Regierungen und Parteien« zu fördern und die Länder Osteuropas in
eine marktorientierte Wirtschaft einzugliedern.32
Bereits 1980, kurz vor dem Tod Josip Titos, hatten sich die USA zusammen mit den anderen internationalen Gläubigern Belgrads zusammengetan,
um erste Wirtschaftsreformen in Jugoslawien zu erzwingen. Diese erste
Runde von Umstrukturierungen gab das Muster der folgenden vor.
Separatistische Tendenzen, die sich aus sozialen und ethnischen Unterschieden nährten, gewannen genau in dieser Periode brutaler Verarmung
der jugoslawischen Bevölkerung an Einfluss. Die Wirtschaftsreformen »richteten ein wirtschaftliches und politisches Chaos an… Langsameres Wachstum, die Anhäufung von Auslandsschulden und besonders die Kosten des
Schuldendienstes und die Abwertung führten zu einem Sinken des durchschnittlichen Lebensstandards der Jugoslawen… Die Wirtschaftskrise bedrohte die wirtschaftliche Stabilität… Sie drohte außerdem die schwelenden
ethnischen Spannungen zu verschärfen.«33
Diese Reformen, begleitet von Umschuldungsvereinbarungen mit staatlichen und privaten Gläubigern, dienten auch dazu, die bundesstaatlichen
Institutionen zu schwächen, indem sie politische Gegensätze zwischen Belgrad und den Regierungen der Bundesstaaten und autonomen Provinzen
schürten. »Die Premierministerin Milka Planinc, die das Programm durchführen sollte, musste dem IWF einen sofortigen Anstieg der Diskontsätze und
noch weitere Maßnahmen aus dem Arsenal der Reagonomics versprechen.«34 Und während der ganzen 80er Jahre verschrieben IWF und Weltbank Jugoslawien in regelmäßigen Abständen weitere Dosen ihrer bitteren
Medizin, während die Wirtschaft des Landes langsam ins Koma fiel.
Von Anfang an liefen die aufeinander folgenden IWF-Programme auf die
Auflösung des jugoslawischen Industriesektors hinaus. Nach der Anfangsphase der makroökonomischen Reform 1980 sank das Industriewachstum
bis 1987 auf 2,8 Prozent, stürzte zwischen 1987 und 1988 auf null Prozent
und verwandelte sich bis 1990 in ein negatives Wachstum von zehn Prozent.35 Die damit einhergehenden Effekte sind den Lesern dieses Buches
mittlerweile nur allzu vertraut: Auflösung des Wohlfahrtsstaates, wachsende
Auslandsverschuldung, sinkender Lebensstandard.
Im Herbst 1989, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, traf der jugoslawische Premierminister Ante Markovic in Washington mit Präsident Bush
zusammen, um Verhandlungen über ein neues finanzielles Hilfspaket abzuschließen. Im Gegenzug willigte Jugoslawien in noch umfassendere Wirtschaftsreformen ein, vor allem in die Beseitigung der von den Arbeitern
selbst verwalteten Betriebe in Kollektivbesitz.36 Die Belgrader Nomenklatura
hatte mit Unterstützung westlicher Berater den Boden für Markovics Mission
bereitet und schon vorher mit vielen der geforderten Reformen begonnen,
darunter mit einer weitgehenden Aufhebung ausländischer Investitionsbeschränkungen.
Die Schocktherapie zeigt Wirkung. Die Schocktherapie begann im Januar 1990 mit einer Sofortvereinbarung mit dem IWF und einem Strukturanpassungskredit der Weltbank. Obwohl die Inflation die Einkommen aufgezehrt hatte, ordnete der IWF die Einfrierung der Löhne auf dem Niveau von
Mitte November 1989 an. Die Preise stiegen weiterhin ungehemmt, und die
Reallöhne brachen in den ersten sechs Monaten von 1990 um 41 Prozent
ein.37 Und die Staatseinnahmen, die als Transferzahlungen an die Republiken hätten gehen sollen, wurden stattdessen für den Schuldendienst Belgrads beim Pariser und Londoner Club verwendet. Die Republiken und autonomen Provinzen blieben weitgehend auf sich gestellt.
Mit einem Schlag hatten die Reformen den Zusammenbruch der jugoslawischen Haushaltsstruktur herbeigeführt und die föderalen politischen Institutionen tödlich getroffen. Durch die Kappung der Finanzadern zwischen
Belgrad und den Republiken fachten die Reformen separatistische Tendenzen an, die sich aus ethnischen Spannungen speisten und durch die
schwierige Wirtschaftslage Auftrieb erhielten. Die vom IWF ausgelöste
Haushaltskrise schuf somit vollendete Tatsachen: Sie führte de facto zur
wirtschaftlichen Spaltung Jugoslawiens und ebnete den Weg für Kroatiens
und Sloweniens formale Abspaltung im Juni 1991.
Daneben trafen die von Belgrads Gläubigern verlangten Reformen ins
Herz der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung. »Das Ziel«, so ein Beob-
achter, »bestand darin, die jugoslawische Wirtschaft massiv zu privatisieren
und den öffentlichen Sektor aufzulösen. Man warb besonders um die kommunistische Parteibürokratie, vor allem um das Militär und den Geheimdienst, und stellte politische und wirtschaftliche Unterstützung in Aussicht,
unter der Bedingung einer umfassenden Beseitigung der sozialen Absicherung der jugoslawischen Arbeitnehmer.«38 Es war ein Angebot, das ein verzweifeltes Jugoslawien angesichts seines zunehmenden Minuswachstums
nicht ablehnen konnte: 1991 ging das Bruttoinlandsprodukt um weitere 15
Prozent zurück, die Industrieproduktion fiel sogar um 21 Prozent.39 Das
1989 verabschiedete Unternehmensgesetz sah die Umwandlung der Kollektivbetriebe in privatkapitalistische Unternehmen vor. Die Arbeiterräte und
Leitungskollektive sollten durch so genannte »Sozialausschüsse« unter Kontrolle der Eigentümer – und ihrer Gläubiger – ersetzt werden.40
Die jugoslawischen Industrieunternehmen waren sorgfältig begutachtet
worden. Im Rahmen der von IWF und Weltbank geförderten Reformen
wurden die Kredite für den Industriesektor eingefroren, um den Abwicklungsprozess zu beschleunigen. Diese Abwicklungsmechanismen – so genannte exit mechanisms – waren in einem 1989 verabschiedeten Unternehmensfinanzierungsgesetz geregelt: War ein Unternehmen 30 Tage hintereinander bzw. 30 Tage innerhalb eines Zeitraums von 45 Tagen zahlungsunfähig, musste binnen zweier Wochen ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden.41 Dieser Mechanismus erlaubte es Gläubigern – darunter nationalen und internationalen Banken – in schöner Regelmäßigkeit, ihre Darlehen in Mehrheitsanteile an den insolventen Unternehmen umzuwandeln.
Der Staat durfte dabei nicht intervenieren. Konnte kein Vergleich erzielt
werden, war die Einleitung eines Konkursverfahrens vorgeschrieben, bei
dem gewöhnlich die Beschäftigten leer ausgingen.
Nach offiziellen Angaben mussten 1989 schon 248 Firmen Konkurs anmelden oder wurden liquidiert. Das betraf 89.400 Arbeiter. In den ersten
neun Monaten des Jahres 1990, direkt nach Einführung des IWFProgramms, teilten weitere 889 Unternehmen mit insgesamt 525.000 Arbeitern dasselbe Schicksal.42 In weniger als zwei Jahren hatten die Abwicklungsmechanismen der Weltbank folglich 614.000 von insgesamt 2,7 Millionen Industriearbeitern der Arbeitslosigkeit überantwortet. Am stärksten
waren Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und der Kosovo von Unternehmenskonkursen und Entlassungen betroffen. Viele Kollektivbetriebe
versuchten, dem Bankrott dadurch zu entgehen, dass sie die Löhne nicht
auszahlten. Eine halbe Million Arbeitnehmer, etwa 20 Prozent der Beschäftigten in der Industrie, erhielt in den ersten Monaten von 1990 keinen Lohn.
Die Angaben über die Unternehmensschließungen von 1989 und 1990 belegen den schieren Umfang und die Brutalität des Wegbrechens der industriellen Basis in Jugoslawien in den Monaten vor der Abspaltung Kroatiens
und Sloweniens Mitte 1991, und doch zeigen sie nur einen Ausschnitt zu
Beginn des »Bankrottprogramms«, das sich in den jugoslawischen Nachfolgestaaten in den Jahren nach dem Dayton-Abkommen unvermindert fortsetzte.
Kasten 17.1
Das Konkursprogramm der Weltbank in Osteuropa
Die Konkursprogramme, die Bulgarien, Rumänien und Ungarn aufgezwungen wurden, sind exakte Kopien des Programms, das 1989 in Jugoslawien
vorexerziert wurde.
In Rumänien zielte das Konkursprogramm von 1991 darauf ab, 6000
Staatsunternehmen durch Liquidation, Konkurs oder Privatisierung aufzulösen. Staatliche Subventionen wurden beseitigt, Währungsabwertung und
Preisliberalisierung fachten die Inflation an; der Anstieg der Energiepreise
und Zinsen verstärkte den wirtschaftlichen Niedergang. Nach Quellen der
Weltbank wurde zwischen 1991 und 1994 etwa eine Million Arbeitnehmer
entlassen, nachdem Bukarest das Konkursprogramm eingeführt hatte.
Der Weltbank zufolge zeichnet sich »ein wohl konzipiertes Konkursrecht
durch geregelte Verfahren sowohl für die Liquidation als auch für die Umstrukturierung von Problemfirmen aus, die eine geordnete Abwicklung für
scheiternde Unternehmen sichern. Ein solches Recht bietet kranken, aber
potentiell lebensfähigen Firmen einen Anreiz zur Umstrukturierung. Und es
fördert den Kreditzustrom von schützenden Kreditgebern.« Im Rahmen des
ungarischen Konkursgesetzes von 1992 waren Manager von Unternehmen
mit Zahlungsrückständen von mehr als 90 Tagen gezwungen, die Umstrukturierung oder Liquidation ihrer Firmen in die Wege zu leiten. Stimmten die
Gläubiger dem Umstrukturierungsplan nicht zu, wurde die Firma liquidiert.
17.000 ungarische Unternehmen gingen im Lauf der Jahre 1992 und 1993
in Liquidation, 5000 wurden umstrukturiert. Auch hier war Massenarbeitslosigkeit die Folge.
Die Weltbank räumt bereitwillig die »Härten« des Bankrottprogramms ein:
»Die bulgarischen Privathaushalte mussten im Allgemeinen große Einbußen
ihres Einkommens und der Sozialleistungen hinnehmen. Einige Schlüsselindikatoren im Gesundheitsbereich haben sich verschlechtert: Die Kindersterblichkeit ist gestiegen und die Lebenserwartung von Männern ist um
zwei Jahre gefallen.« In Russland, wo die Lebenserwartung von Männern in
weniger als fünf Jahren von 64 auf 58 Jahre gesunken ist, schreibt die
Weltbank diesen Trend wie beiläufig »einem ursächlichen Zusammenhang
zwischen schlechteren Lebensbedingungen, Stress und Alkoholkonsum« zu.
Weltbank, From Plan to Market. World Development Report 1997, Washington, D.C. 1997, S. 91
Die Weltbank schätzte, dass von den im September 1990 verbliebenen
7531 Unternehmen immer noch 2435 Verluste schrieben.43 Diese 2435 Firmen mit einer Gesamtbelegschaft von 1,3 Millionen Arbeitnehmern wurden
im Rahmen des Unternehmensfinanzierungsgesetzes als »insolvent« eingestuft und waren nun ebenfalls mit der sofortigen Einleitung eines Konkursverfahrens bedroht. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass bereits vor dem
September 1990 600.000 Arbeitnehmer entlassen worden waren, legen
diese Zahlen nahe, dass die internationalen Finanzorganisationen etwa 1,9
Millionen Beschäftigte von insgesamt 2,7 Millionen als »überschüssig« einstuften. Die insolventen Firmen stammten vor allem aus dem Energiesektor,
der Schwer-, Textil- und Metallverarbeitenden Industrie sowie der Forstwirtschaft. Sie gehörten zu den größten Unternehmen des Landes und repräsentierten in jenem September 49,7 Prozent der verbliebenen Gesamtbelegschaft im Industriesektor.44
Die Realeinkommen befanden sich im freien Fall, die Arbeitslosigkeit
nahm überhand, in der Bevölkerung verbreitete sich eine Atmosphäre von
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Der jugoslawische Präsident Borislav
Jovic warnte, dass die Reformen »entschieden ungünstige Auswirkungen
auf die Gesamtsituation der Gesellschaft haben… Die Bürger haben den
Glauben an den Staat und seine Institutionen verloren… Eine weitere Vertiefung der Wirtschaftskrise und die Zunahme sozialer Spannungen würde
politische Sicherheit entscheidend verschlechtern.«45
Die politische Ökonomie der Sezession. Eine Minderheit der jugoslawischen Bevölkerung schloss sich zusammen, um einen aussichtslosen Kampf
gegen die Zerstörung ihrer Wirtschaft und Politik zu führen. »Der Widerstand der Arbeiter«, so ein Beobachter, »überwand die ethnischen Trennlinien, als sich Serben, Kroaten, Bosnier und Slowenen mobilisierten… Schulter an Schulter mit ihren Arbeitskollegen.«46 Aber der wirtschaftliche Kampf
verschärfte auch die bereits angespannten Beziehungen unter den Republiken und mit der Bundesregierung.
Serbien lehnte den Sparplan rundheraus ab, und an die 650.000 Arbeiter
begehrten gegen die Bundesregierung auf, um Lohnerhöhungen zu erzwingen.47 Die anderen Republiken gingen andere und zuweilen widersprüchliche Wege.
Im relativ wohlhabenden Slowenien unterstützten separatistische Führer
wie der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Joze Pucnik, die Reformen: »Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, kann ich
sozial schädlichen Entwicklungen wie wachsender Arbeitslosigkeit und der
Beschneidung der Rechte von Arbeitnehmern in unserer Gesellschaft nur
zustimmen, da sie notwendig sind, um den wirtschaftlichen Reformprozess
voranzubringen.«48 Gleichzeitig wehrten sich jedoch die führenden slowenischen Politiker gegen die Bemühungen der Bundesregierung, die wirtschaftliche Autonomie ihrer Republik zu beschneiden. Dem Kroaten Franjo
Tudjman und dem Serben Slobodan Milosevic ging es eher um die Versuche
Belgrads, die strengen Reformen im Namen des IWF durchzusetzen.49 Aber
trotz ihrer unterschiedlichen Überzeugungen in wirtschaftspolitischen Fragen taten sie sich doch im Widerstand gegen die Bundesregierung zusammen.
Die ersten freien Wahlen im Mai 1990 gewannen in allen Republiken separatistische Koalitionen aus gewendeten Kommunisten oder frisch bekehrten Nationalisten. So wie der wirtschaftliche Zusammenbruch die separatistischen Bestrebungen verstärkt hatte, verschärfte der Separatismus umgekehrt die Wirtschaftskrise. Die Zusammenarbeit unter den Republiken
kam zum Erliegen. Aus reinem Machtkalkül schürten die frisch installierten
Republikführungen bewusst die sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze:
»Die republikanischen Oligarchien, die alle ihre eigenen Visionen einer >nationalen Renaissance< hatten, entschieden sich – statt zwischen einem eigenständigen jugoslawischen Markt und der Hyperinflation zu wählen – für
den Krieg, der die wirklichen Ursachen der Wirtschaftskatastrophe nur verschleierte.«50
Das gleichzeitige Auftauchen von Milizen, die nur ihren separatistischen
Führern loyal ergeben waren, beschleunigte den Abstieg ins Chaos. Diese
Milizen, verdeckt finanziert von den USA und Deutschland, fragmentierten
mit ihren eskalierenden Gräueltaten die Reste der bundesstaatlich orientierten Arbeiterbewegung und spalteten die Bevölkerung nach ethnischen
Grenzen. Und als sich die Republiken untereinander an die Kehle sprangen,
stürzten die Wirtschaft und die Nation in einen teuflischen Abgrund.
Die Sparmaßnahmen hatten die Grundlage für die Rekolonialisierung
Südeuropas gelegt. Ob dafür Jugoslawien unbedingt auseinander brechen
musste, ob also wahrhaftig eine »Balkanisierung« des Balkans auf der Tagesordnung stand, war unter den Westmächten umstritten. Deutschland
drängte auf Unterstützung der Separatisten, während die USA, besorgt,
eine nationalistische Pandorabüchse zu öffnen, zunächst für den Erhalt Jugoslawiens plädierten.
Nach dem Wahlsieg von Franjo Tudjman und seiner rechtsgerichteten
Demokratischen Union in Kroatien im Mai 1990 gab der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher der in fast täglichem Kontakt zu seinem Kollegen in Zagreb stand, grünes Licht für die Abspaltung Kroatiens. Deutschlands Unterstützung war nicht passiv; es übte diplomatischen Druck aus
und drängte seine westlichen Verbündeten, Slowenien und Kroatien anzuerkennen. Deutschland wollte sich unter seinen Alliierten freie Hand verschaffen, »um wirtschaftliche Dominanz über Mitteleuropa zu gewinnen«.51
Washington andererseits »befürwortete eine lose Einheit und ermutigte
die demokratische Entwicklung«. Der US-Außenminister James Baker richtete Tudjman und dem slowenischen Präsidenten Milan Kucan aus, »dass
die USA eine einseitige Abspaltung nicht ermutigen oder unterstützen würden… Wenn sie aber gehen müssten, sollte dies durch eine Verhandlungslösung geschehen.«52 In der Zwischenzeit hatte der US-Kongress ein Gesetz
verabschiedet, das alle Finanzhilfen an Jugoslawien unterband und auch von
IWF und Weltbank verlangte, alle Kredite an Belgrad einzufrieren. Die CIA
bezeichnete das Gesetz beiläufig als »unterschriebenen Totenschein« für
Jugoslawien. Und das US-Außenministerium bestand darauf, dass die jugo-
slawischen Republiken, die als tatsächliche politische Einheiten angesehen
wurden, »getrennte Wahlen abhalten, bevor einzelnen Republiken weitere
Hilfe gewährt werden konnte«.53
Dayton und die Folgen. Nach dem Dayton-Abkommen vom November
1995 wandten die westlichen Kreditgeber ihre Aufmerksamkeit den jugoslawischen Nachfolgestaaten zu. Jugoslawiens Auslandsschulden waren
akribisch auf die einzelnen Republiken aufgeteilt worden, die nun im Würgegriff getrennter Umschuldungen und Vereinbarungen über Strukturanpassungen steckten.54
Unter den Geberländern und internationalen Institutionen herrschte Einigkeit, dass die bisherigen makroökonomischen Reformen des IWF, die
Jugoslawien aufgezwungen worden waren, ihr Ziel nicht ganz erreicht hatten und eine weitere Schocktherapie erforderlich wäre, um die »wirtschaftliche Gesundheit« der Nachfolgestaaten wiederherzustellen. Kroatien, Slowenien und Mazedonien stimmten Kreditpaketen zu, um ihren Anteil an den
jugoslawischen Schulden zu übernehmen, was eine Fortsetzung des unter
Ante Markovic begonnenen Konkursprogramms erforderte. Das nur allzu
vertraute Muster herbeigeführter Fabrik- und Bankenschließungen und der
Verarmung der Bevölkerung setzt sich seit 1996 unvermindert fort. Und wer
musste die IWF-Diktate ausführen? Die Führer der neuen souveränen Staaten, die vorbehaltlos mit den Gläubigern zusammenarbeiten.
In Kroatien war die Regierung unter Tudjman gezwungen, bereits 1993
auf der Höhe des Bürgerkrieges eine Vereinbarung mit dem IWF zu unterzeichnen. Im Tausch gegen frische Kredite vor allem zur Bedienung der
Auslandsschulden Zagrebs stimmte die Regierung Kroatiens weiteren Fabrikschließungen und Konkursen zu, was die Löhne auf ein erbärmliches
Niveau trieb. Die offizielle Arbeitslosenrate stieg von 15,5 Prozent 1991 auf
19,1 Prozent 1994.55
Zagreb führte auch ein weit strengeres Konkursgesetz ein, zusammen
mit Verfahren zur »Entflechtung« großer staatlicher Versorgungsunternehmen. In ihrer Absichtserklärung an IWF und Weltbank versprach die kroatische Regierung, den Bankensektor mithilfe der Osteuropa- und der Weltbank zu restrukturieren und völlig zu privatisieren, um den kroatischen Kapitalmarkt für westliche institutionelle Anleger und Maklerfirmen zu öffnen.
Die Regierung in Zagreb kann nun durch finanz- und geldpolitische Mittel
keine eigenen produktiven Ressourcen mobilisieren. Die massiven Haushaltskürzungen, die die Vereinbarung forderte, vereitelten nach dem Krieg
die Möglichkeit eines eigenen Wiederaufbaus. Dieser lässt sich nur durch frische ausländische Kredite finanzieren – ein Prozess, der Kroatiens Verschuldung bis weit ins 21. Jahrhundert hinein garantiert.
Mazedonien folgte einem ähnlichen wirtschaftspolitischen Pfad. Im Dezember 1993 stimmte die Regierung in Skopje zu, die Reallöhne zu drücken
und die Kredite einzufrieren, um vom IWF eine Anleihe zu erhalten. Ungewöhnlich war, dass sich auch der milliardenschwere Spekulant George Soros
an der internationalen Unterstützergruppe – bestehend aus den Niederlanden und der Baseler Bank für internationalen Zahlungsausgleich – beteilig-
te. Das Geld der Unterstützergruppe war jedoch nicht für den Wiederaufbau
gedacht, sondern sollte Skopje nur in die Lage versetzen, seine rückständigen Schulden an die Weltbank zu begleichen.56
Im Tausch gegen eine Umschuldung musste die Regierung des mazedonischen Premierministers Branko Crvenkovski außerdem der Liquidation der
verbliebenen »insolventen« Unternehmen zustimmen und die »überschüssigen« Beschäftigten entlassen – das war etwa die Hälfte aller mazedonischen Industriearbeiter. Wie der stellvertretende Finanzminister Hari Kostov nüchtern anmerkte, war es angesichts der astronomischen Höhen, in
denen sich die Zinsraten durch die von den Gläubigern geforderte Bankenreform bewegten, »wortwörtlich unmöglich, ein Unternehmen im Land zu
finden, das in der Lage war…, kostendeckend zu arbeiten«
Insgesamt war die wirtschaftliche Therapie des IWF in Mazedonien eine
Fortsetzung des »Bankrottprogramms«, das 1989/90 im jugoslawischen
Bundesstaat begonnen worden war. Die profitabelsten Unternehmen wurden an der mazedonischen Börse verkauft, aber diese Versteigerung führte
zum Kollaps der Industrie und wuchernder Arbeitslosigkeit.
Und das globale Kapital applaudierte. Trotz der sozialen Krise und der
Abwicklung eines erheblichen Teils der Wirtschaft informierte der mazedonische Finanzminister Ljube Trpevski die Presse 1996 stolz, dass Weltbank
und IWF Mazedonien im Hinblick auf die Übergangsreformen zu den erfolgreichsten Ländern zählten.58 Der Leiter der IWF-Delegation in Mazedonien, Paul Thomsen, pflichtete ihm bei und nannte die Ergebnisse des Stabilisierungsprogramms »beeindruckend«, besonders die »effiziente Lohnpolitik« der Regierung in Skopje. Freilich bestanden seine Unterhändler darauf,
dass trotz dieser Leistungen noch weitere Haushaltskürzungen erforderlich
seien.
Doch in Bosnien war die westliche Intervention am gravierendsten. Die
neokoloniale Administration, erzwungen durch das Dayton-Abkommen und
gestützt durch die Feuerkraft der NATO, stellte sicher, dass Bosniens Zukunft in Washington, Berlin und Brüssel bestimmt wurde, statt in Sarajewo.
Die bosnische Regierung schätzte die Wiederaufbaukosten nach dem Abkommen von Dayton auf 47 Mrd. Dollar. Die westlichen Kreditgeber hatten
anfänglich drei Milliarden Dollar Wiederaufbaukredite in Aussicht gestellt,
von denen nur ein Teil tatsächlich gewährt wurde. Zudem war ein Teil des
frischen Geldes als Ausgleich dafür vorgesehen, dass Bosnien laut dem Dayton-Abkommen den IFOR-Truppen zivile Einrichtungen zur Verfügung stellt.
Frische Kredite tilgen alte Schulden. Die Zentralbank der Niederlande
hatte großzügig einen Überbrückungskredit von 37 Mio. Dollar bereitgestellt, um Bosnien zu erlauben, seine Zahlungsrückstände an den IWF zu
begleichen. Ohne diese Tilgung hätte der IWF kein frisches Geld bewilligt.
Aber in einem grausamen und absurden Paradox werden die ersehnten
IWF-Kredite aus dem neu geschaffenen Notfallfonds für Nachkriegsländer
nicht für den Wiederaufbau verwendet. Stattdessen dienen sie dazu, die
niederländische Zentralbank auszuzahlen, die zunächst für die Begleichung
der Zahlungsrückstände an den IWF eingesprungen war.59
So türmen sich die Schulden, und von dem neuen Geld fließt kaum etwas
in den Wiederaufbau der kriegszerrütteten bosnischen Wirtschaft.
Während der Wiederaufbau auf dem Altar der Schuldenrückzahlung geopfert wird, zeigen westliche Regierungen und Unternehmen größeres Interesse an den Bodenschätzen ihres neuen Protektorats. Mit der Entdeckung
von Energiereserven hat die Teilung Bosniens zwischen der Föderation von
Bosnien-Herzegowina und der bosnisch-serbischen Rebublika Srpska durch
das Dayton-Abkommen eine neue strategische Bedeutung bekommen.
Kroaten und bosnische Serben haben Hinweise auf Kohle- und Ölvorkommen an der Ostseite des Dinarischen Gebirges, das die kroatische Armee
mit Unterstützung der USA in der letzten Offensive vor dem DaytonAbkommen von den Krajinaserben zurückeroberte. Vertreter Bosniens berichteten, dass kurz darauf mehrere ausländische Firmen, nicht zuletzt
Amoco, Probeuntersuchungen durchführten.60
Im serbischen Teil Kroatiens gleich jenseits der Save in der Nähe von
Tuzla, dem Hauptquartier der US-Militärzone, liegen außerdem Ölfelder von
beträchtlicher Größe. Erste Erkundungen wurden bereits während des Krieges durchgeführt, aber die Weltbank und die multinationalen Konzerne ließen die Regierungen vor Ort im Dunkeln, vermutlich, um zu verhindern,
dass sie sich potentiell wertvolle Gebiete unter den Nagel rissen.
Da ihre Aufmerksamkeit der Schuldenrückzahlung und der möglichen
Energiegoldgrube gilt, konzentrieren die USA und Deutschland ihre Anstrengungen – mit 70.000 NATO-Soldaten, die zur »Sicherung des Friedens« bereitstehen – auf die Teilung Bosniens, die somit den wirtschaftlichen und strategischen Interessen des Westens dient.
Lokale Politiker und westliche Interessen teilen sich die Beute der ehemaligen jugoslawischen Wirtschaft und haben die sozialen und ethnischen
Gegensätze des alten Jugoslawien schon in der Struktur der Teilung verankert. Die dauerhafte Fragmentierung dieses Exstaates nach ethnischen
Trennlinien vereitelt den Widerstand der Jugoslawen aller Ethnien gegen die
Rekolonialisierung ihrer Heimat.
Aber was ist so neu daran? Ein scharfsinniger Beobachter merkte schon
1995 an: »Alle gegenwärtigen Führer in den ehemaligen jugoslawischen
Republiken waren kommunistische Parteifunktionäre, und alle wetteiferten
darum, die Forderungen von Weltbank und IWF zu erfüllen, um sich besser
für Investitionskredite zu qualifizieren und somit die eigene Macht sichern
zu können.«61
Nach Bosnien nun der Kosovo. Wirtschaftliche und politische Verwerfungen begleiteten die verschiedenen Phasen des Balkankrieges von der ersten
militärischen Intervention der NATO in Bosnien 1992 bis zur Bombardierung
Jugoslawiens aus »humanitären« Gründen 1999. Bosnien und der Kosovo
sind nur Etappen einer Rekolonialisierung des Balkans. Das Muster der
NATO-Intervention in Bosnien unter dem Dayton-Abkommen wiederholte
sich im Kosovo unter dem formalen Mandat der UN-»Friedensmission«.
Im Nachkriegskosovo gehen Staatsterror und »freier« Markt Hand in
Hand. In engen Konsultationen mit der NATO hatte die Weltbank akribisch
die Konsequenzen einer eventuellen Militärintervention zur Besetzung des
Kosovo sondiert. Schon ein Jahr vor Ausbruch des Krieges dachte sie über
mögliche Nachkriegsszenarien nach.62 Das legt nahe, dass sie von der NATO
bereits in einem frühen Stadium über die Militärplanung auf dem Laufenden
gehalten wurde.
Während die Bomben noch fielen, erhielten Weltbank und Europäische
Kommission ein besonderes Mandat zur »Koordinierung der Wirtschaftshilfe«. Jugoslawien wurde von möglicher Hilfe nicht grundsätzlich ausgenommen, es wurde jedoch ausdrücklich festgelegt, dass Belgrad erst dann Wiederaufbaukredite erwarten konnte, »sobald sich die politischen Bedingungen dort ändern«.63
Nach den Bombardierungen wurden dem Kosovo Marktreformen aufgezwungen, die weitgehend den Bestimmungen der Vereinbarung von Rambouillet folgten, welche ihrerseits nach dem Modell des Dayton-Abkommens
gestaltet worden waren. Artikel 1 (Kapitel 4a) des Rambouillet-Abkommens
bestimmte, dass die Wirtschaft des Kosovo »den Prinzipien des freien Marktes« genügen sollte.
Zusammen mit den NATO-Truppen fiel unter der Schirmherrschaft der
Weltbank eine Armee von Rechtsanwälten und Beratern in den Kosovo ein.
Ihr Auftrag: die Vorbedingungen für die Investition ausländischen Kapitals
zu schaffen und einen raschen Übergang des Kosovo zu einer »blühenden,
offenen und transparenten Marktwirtschaft« zu gewährleisten. Die Gebergemeinschaft rief die provisorische Regierung der UCK dazu auf, »transparente, effektive und dauerhafte Institutionen zu etablieren«.64 Die intensiven
Beziehungen zwischen der UCK, dem organisierten Verbrechen und dem
Drogenhandel auf dem Balkan sah die internationale Gemeinschaft nicht als
Hindernis für die Entwicklung demokratischer Verhältnisse und eine »gute
Regierungsführung« (good governance).
In der Zwischenzeit wurden die jugoslawischen Staatsbanken in Pristina
geschlossen. Die D-Mark wurde als offizielles Zahlungsmittel eingeführt,
und die Commerzbank übernahm beinahe das gesamte Bankensystem und
damit die völlige Kontrolle über die Geschäftsbankentätigkeit im Kosovo
einschließlich der Geldtransfers und Devisentransaktionen.65
Unter der westlichen Militärbesatzung sollen die reichen mineralischen
Bodenschätze und Kohlevorräte zu Schleuderpreisen an ausländisches Kapital versteigert werden. Bereits vor der Bombardierung hatten westliche Investoren ihre begehrlichen Blicke auf den riesigen Trepca-Industriekomplex
gerichtet, »die wertvollste Immobilie auf dem Balkan mit einem Wert von
fünf Milliarden Dollar«.66 Der Trepca-Komplex birgt nicht nur Kupfer und
große Zinkreserven, sondern auch Kadmium, Gold und Silber. Zu ihm gehören mehrere Schmelzen, 17 Metallverarbeitungsstätten, ein Kraftwerk und
Jugoslawiens größtes Batteriewerk. Im Nordkosovo gibt es außerdem Kohle- und Braunkohlevorräte in einer Größenordnung von 17 Mio. Tonnen.
Kaum einen Monat nach der militärischen Besetzung des Kosovo gab der
Leiter der UN-Mission im Kosovo, Bernard Kouchner, folgenden Erlass heraus: »Der Mission obliegt es, alles bewegliche und unbewegliche Eigentum
einschließlich der Bankkonten und anderer Besitztümer, die der Föderativen
Republik Jugoslawien oder der Republik Serbien oder irgendeinem ihrer Organe gehören oder in ihrem Namen registriert sind und sich auf dem Territorium des Kosovo befinden, zu verwalten.«67
Man verlor keine Zeit: Ein paar Monate später nach der militärischen Besetzung des Kosovo gab die International Crisis Group, eine von dem Finanzier George Soros unter
stützte Denkfabrik, ein Papier heraus, das der UN-Mission im Kosovo empfahl, »den Industriekomplex Trepca so schnell wie möglich von den Serben
zu übernehmen«, und erklärte, wie dies geschehen sollte.68 Und im August
2000 schickte Kouchner eine schwer bewaffnete Truppe von »Friedenshütern« (mit Gasmasken gegen toxische Dämpfe), um den Komplex
unter dem Vorwand zu besetzen, er stelle wegen übermäßiger Emissionen
eine Umweltgefahr dar.
Mittlerweile haben die Vereinten Nationen den gesamten Trepca-Komplex
einem westlichen Konsortium übergeben. Mit im Trepca-Geschäft war Morrison Knudsen International, heute mit Raytheon Engineering and Construction zur Washington Group fusioniert, einer der mächtigsten Maschinenbauund Baufirmen der Welt sowie eine bedeutende Rüstungsfirma. Juniorpartner bei dem Geschäft sind TEC Ingénierie aus Frankreich und die schwedische Beratungsgruppe Boliden Contech.
Ein Mafiaprotektorat: Triumph des Neoliberalismus. Während der Finanzier George Soros Geld in den Wiederaufbau des Kosovo investierte,
richtete die George Soros Foundation for an Open Society einen Ableger in
Pristina ein, die Kosovo Foundation for an Open Society (KFOS), Teil von
Soros’ Netzwerk »gemeinnütziger Stiftungen« im Balkan, in Osteuropa und
der ehemaligen Sowjetunion. Zusammen mit dem Treuhandfonds der Weltbank für kriegszerstörte Länder leistet die Soros-Stiftung gezielte Unterstützung »beim Aufbau lokaler Verwaltungen, damit sie ihren Kommunen in
transparenter, fairer und verantwortlicher Weise dienen können«.69 Da die
meisten dieser lokalen Verwaltungen in der Hand der UCK sind, die ausgedehnte Verbindungen zum organisierten Verbrechen unterhält, dürfte dieses
20 Mio. Dollar schwere Programm kaum sein erklärtes Ziel erreichen.
Die »kräftige Medizin« zur wirtschaftlichen Genesung, die dem Kosovo
durch die Auslandsgläubiger aufgezwungen wurde, gibt der in Albanien bereits fest verwurzelten kriminellen Wirtschaft, die sich aus Armut und wirtschaftlichen Verwerfungen nährt, einen zusätzlichen Schub. Da Albanien
und der Kosovo im Zentrum des Drogenhandels auf dem Balkan stehen,
wird der Kosovo seine ausländischen Gläubiger auch mit schmutzigem Geld
bezahlen. Drogendollar werden in den Schuldendienst des Kosovo fließen
und auch die Kosten des Wiederaufbaus finanzieren: für ausländische Investoren ein lukratives Geschäft.
In mehreren Dosen seit den 80er Jahren verabreicht, hat diese Wirtschaftsmedizin mit Rückendeckung der NATO dazu beigetragen, Jugoslawien zu zerstören. Doch die Medien übersahen oder leugneten dabei geflissentlich die zentrale Rolle des Neoliberalismus. Stattdessen stimmten sie in
den Chor zum Lobpreis des »freien Marktes« als Grundlage für den Wiederaufbau einer vom Krieg verwüsteten Wirtschaft ein. Die sozialen und politischen Auswirkungen der wirtschaftlichen Umstrukturierung in Jugoslawien
sind sorgsam aus der kollektiven Wahrnehmung gelöscht worden. Die Meinungsmacher präsentieren in ihrem ganz eigenen Dogmatismus stattdessen
kulturelle, ethnische und religiöse Differenzen als einzige Ursache von Krieg
und Vernichtung. In Wirklichkeit sind sie die Konsequenz eines viel tiefer
gehenden Prozesses wirtschaftlicher und politischer Zerstückelung.
Dieses falsche Bewusstsein maskiert nicht nur die Wahrheit, sondern
hindert uns auch daran, historische Geschehnisse richtig zu begreifen.
Letztlich verzerrt es die wahren Quellen sozialer Konflikte. Im Hinblick auf
das ehemalige Jugoslawien verdunkelt es die historischen Grundlagen der
südslawischen Einheit, Solidarität und Identität in einer vordem multiethnischen Gesellschaft.
Auf dem Balkan steht das Leben von Millionen von Menschen zur Disposition. Die Wirtschaftsreformen von IWF und Weltbank, verbunden mit der
militärischen Eroberung durch die UN-»Friedenshüter«, haben den Lebensunterhalt der Menschen zerstört und das Recht auf Arbeit ad absurdum geführt. Sie haben die Grundbedürfnisse nach Nahrung und Wohnung für viele
uneinlösbar werden lassen. Sie haben die Kultur und nationale Identität
degradiert. Im Namen des globalen Kapitals sind Grenzen neu gezogen, ein
neuer Rechtskodex geschrieben, Industrien zerstört, das Finanz- und Bankensystem vernichtet und Sozialprogramme beseitigt worden. Wieder einmal hat sich bewiesen, dass keiner Alternative zum globalen Kapital, sei es
der jugoslawische Marktsozialismus oder ein nationaler Kapitalismus, ein
Existenzrecht zugestanden wird.
TEIL VI
Die Neue Weltordnung
18.
Strukturanpassung in den Industrieländern
In praktisch allen Sektoren der westlichen Wirtschaft werden Produktionsstätten geschlossen und Arbeitnehmer entlassen. Bauern in Nordamerika
und Westeuropa droht der Bankrott. Unternehmen der Luftfahrt- und Maschinenbauindustrie werden umstrukturiert, die Kohlebergwerke in Deutschland und Großbritannien geschlossen, die Autoproduktion wird nach Osteuropa und in die Dritte Welt ausgelagert. Die Rezession in der Industrie wiederum schlägt auf das Dienstleistungsgewerbe durch: Deregulierung und
der Zusammenbruch großer Fluglinien, der Konkurs großer Einzelhandelsketten, der Kollaps der Immobilienreiche in Tokio, Paris und London waren
die Folge. Und der Sturz der Immobilienwerte hat zu Kreditausfällen geführt, was wiederum das gesamte Finanzsystem erschütterte. In der Reagan-Thatcher-Ära ging die Rezession mit mehreren Bankrottwellen kleiner
Unternehmen, dem Zusammenbruch lokaler Banken (z.B. in der Sparkassenkrise in den USA) und einer Flut von Unternehmensfusionen einher die
den Absturz der Börse am »Schwarzen Montag«, dem 19. Oktober 1987,
noch verstärkte. In den 90er Jahren trat die globale Wirtschaftskrise mit
einer Fusionswelle von Großkonzernen in eine neue Phase, die in einem
weltweiten Finanzcrash gipfelte.
Der Ausverkauf des Staates. Im Zentrum der Krise der westlichen Industrieländer stehen die öffentlichen Schuldenmärkte, wo täglich Hunderte
von Milliarden Dollar in Staatsanleihen gehandelt werden. Die enorme Zunahme der Staatsverschuldung hat der Finanzwirtschaft und den Banken
politische Druckmittel an die Hand gegeben, mit denen sie die Wirtschaftsund Sozialpolitik auch der hoch entwickelten Länder diktieren können. Es ist
zur Routine geworden, dass Kreditinstitute – ohne formale Beteiligung von
IWF und Weltbank – in der EU und den USA Aufsichtsfunktionen durchsetzen, zu denen sie nicht legitimiert sind. Seit den 90er Jahren enthalten die
in den Industrieländern durchgeführten Wirtschaftsreformen viele der
Grundkomponenten der Strukturanpassungsprogramme, die schon vorab in
der Dritten Welt erprobt worden sind. Von den Finanzministern wird zunehmend erwartet, dass sie großen Investmenthäusern und Geschäftsbanken
Bericht erstatten. Ziele für die Rückführung von Haushaltsdefiziten werden
diktiert. Der Wohlfahrtsstaat steht auf der Kandidatenliste der Auslaufmodelle.
Die Schulden von Staatsunternehmen, öffentlichen Versorgern, staatlichen, regionalen und kommunalen Regierungen werden von den Finanzmärkten hochnot-peinlich kategorisiert und »bewertet« (z.B. von den Rating-Agenturen Moody´s Investors Service und Standard & Poor´s). Als Moo-
dy´s 1995 etwa die schwedischen Staatsanleihen herabstufte, beeinflusste
das die Entscheidung der sozialdemokratischen Regierung, Sozialprogramme, darunter Kindergeld und Leistungen der Arbeitslosenversicherung, zu
kürzen.1 In ähnlicher Weise war Moody´s Kredit-Rating von Kanadas öffentlicher Verschuldung ein wesentlicher Faktor bei der Entlassung von Staatsbediensteten und der Schließung von Krankenhäusern in den Provinzen. Die
kanadischen Provinzen – denen eine angemessene Eigenfinanzierung fehlt –
waren gezwungen, Gesundheits-, Bildungs- und Sozialleistungen zu kürzen.
Im Rahmen des von der Wall Street aufgezwungenen kanadischen Privatisierungsprogramms kamen große Teile des Staatseigentums unter den
Hammer. So wurde z.B. das gesamte seit dem 19. Jahrhundert aufgebaute
Schienennetz für die bescheidene Summe von zwei Milliarden Dollar auf den
internationalen Kapitalmärkten verkauft – etwas weniger als der Preis, der
für den Kauf des kanadischen Brauereikonzerns Labatt verlangt wurde.2
Dieser Ausverkauf des Staates beschränkt sich jedoch nicht nur auf die
Privatisierung von öffentlichen Versorgern, Fluglinien, Telefongesellschaften
und Eisenbahnen. Das Konzernkapital trachtet auch danach, das Gesundheits- und Erziehungswesen zu privatisieren und somit alle ehemals staatlichen Aufgabenbereiche kontrollieren zu können. Für die WTO ist »Investition« ein schier grenzenloser Begriff, unter den alle kulturellen und sportlichen Aktivitäten sowie alle kommunalen Dienstleistungen usw. fallen, sofern sie sich auch nur im entferntesten für eine Umwandlung in profitorientierte Unternehmungen eignen. Schon wetteifern die Konzerne um die
Übernahme der Wasserversorgung, um Stadtwerke, Autobahnen, das Straßennetz der Innenstädte, Nationalparks und anderes mehr.
Der Prozess der »Schuldenkonversion« ist ein zentrales Merkmal der Krise. Seit den frühen 80er Jahren haben Konzerne und Geschäftsbanken einen bequemen Weg gefunden, große Schuldensummen zu tilgen und in öffentliche Schulden umzuwandeln. Sie können so ihre Verluste systematisch
auf den Staat abwälzen. Während der Fusionswelle in den späten 80er Jahren ist die Last der Unternehmensdefizite durch den Kauf bankrotter Firmen
auf den Staat verlagert worden, indem man diese Firmen zumachte und die
Verluste steuerlich abschrieb. Die Geschäftsbanken können ihre faulen Kredite ebenfalls regelmäßig abschreiben und in Vorsteuerverluste umwandeln.
Die Rettungspakete für angeschlagene Unternehmen und Geschäftsbanken
basieren also auf dem Prinzip der Abwälzung von Unternehmensschulden
auf die Staatskasse.
Darüber hinaus sind staatliche Subventionen nicht in die Schaffung neuer
Arbeitsplätze geflossen, sondern von großen Firmen benutzt worden, um
ihre Megafusionen zu finanzieren, arbeitskräftesparende Technologien einzuführen und ihre Produktion in die Dritte Welt zu verlagern. Also ist es zu
guten Teilen der Staat, der für die Kosten der Unternehmensumstrukturierungen aufkommt und dadurch sowohl zur steigenden Eigentumskonzentration als auch zum Abbau industrieller Arbeitsplätze beiträgt. Die
Bankrotte kleiner und mittlerer Unternehmen und die damit verbundenen
Entlassungen von Beschäftigten – die ja auch Steuerzahler sind – haben
ihrerseits ein erheblich geschmälertes Steueraufkommen zur Folge.
Dass die Steuersysteme hochgradig regressiv sind, hat sich mittlerweile
bitter gerächt, weil darin eine wesentliche Ursache der öffentlichen Verschuldung liegt. Die Unternehmenssteuern sind in den letzten Jahren ständig gesenkt, zugleich aber die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen
mit höheren Einkommens- und Verbrauchssteuern belastet worden, deren
Erträge dann in den öffentlichen Schuldendienst umgelenkt worden sind.3
Während der Staat Steuern von seinen Bürgern eintrieb, zollte er dem Big
Business seinen »Tribut« in Form von Steuergeschenken und Subventionen.
Die Steuerkrise ist begünstigt worden durch die neuen Banktechnologien
und durch die Flucht von Unternehmensgewinnen in Steueroasen auf den
Bahamas, in der Schweiz, den Kanalinseln, in Luxemburg und anderswo. So
stehen z.B. die Kaimaninseln, eine britische Kronkolonie in der Karibik, auf
der Rangliste der großen Finanzzentren der Welt – im Hinblick auf die Größe
der Konten, von denen die meisten Scheinfirmen gehören oder anonyme
Besitzer haben – an fünfter Stelle.4 Die Ausweitung des Haushaltsdefizits in
den USA in den 80er und 90er Jahren steht in direkter Beziehung zur massiven Steuerflucht und zur Verschiebung unversteuerter Unternehmensgewinne ins Ausland. Umgekehrt werden mit den Riesensummen, die auf den
Kaimaninseln und den Bahamas deponiert sind und zum Teil von kriminellen
Organisationen kontrolliert werden, Investitionen in den USA getätigt.
Die beschenkten Gläubiger und die Geldschöpfung. So ist ein Teufelskreis in Gang gekommen: Die Empfänger staatlicher Geschenke sind nun
zugleich die Gläubiger des Staates. Die öffentlichen Schulden, mit denen die
Finanzministerien das Big Business gepäppelt haben, werden von Banken
und Finanzinstituten erworben, die sich weiterhin staatlicher Subventionen
erfreuen. Eine absurde Situation: Der Staat finanziert seine eigene Verschuldung, indem seine Geschenke in den Kauf von Staatsanleihen zurückfließen. Der Staat ist so in die Zange geraten zwischen mächtigen Wirtschaftslobbys auf der einen Seite, die dafür sorgen, dass die staatlichen Geschenke nicht versiegen, und privaten Finanzhäusern als Gläubigern auf der
anderen Seite. Und weil Privatbanken und Finanzinstitute einen großen Anteil der öffentlichen Schulden halten, können sie Druck auf die Regierung
ausüben, um noch mehr öffentliche Ressourcen in Form von weiteren Geschenken und Subventionen für sich herauszuschlagen.
Außerdem sind in den meisten OECD-Ländern die Zentralbankstatuten
geändert worden, um die Forderungen der Finanzeliten zu erfüllen. Jetzt
sind sie in aller Regel nominell unabhängig und dem staatlichen Einfluss
entzogen – praktisch also zunehmend auf die Gnade privater Gläubiger angewiesen. Die Zentralbank kann dem Staat unter ihren neuen Statuten keinen Kredit mehr einräumen. Artikel 104 des Maastrichter Vertrags z.B. bestimmt, dass die Kreditgewährung im Ermessen der Zentralbank liegt, die
Zentralbank also nicht gezwungen werden kann, solche Kredite zu gewäh-
ren.5 Diese Statuten führen daher direkt zur Vergrößerung der öffentlichen
Verschuldung bei privaten Finanz- und Bankinstituten.
In der Praxis operiert die Zentralbank, die nun weder der Regierung noch
der Legislative Rechenschaft schuldig ist, als autonome Bürokratie unter
dem Einfluss privater Finanz- und Bankinteressen. In den USA wird das
Zentralbankensystem von einer Hand voll Privatbanken dominiert, die Aktionäre der zwölf regionalen Zentralbanken sind. In der EU steht die Europäische Zentralbank in Frankfurt unter der Vorherrschaft vor allem der
deutschen Bankgiganten Deutsche und Dresdner Bank sowie einiger weiterer europäischer Finanzinstitute.
Das bedeutet, dass von Geldpolitik als einem Mittel staatlicher Intervention keine Rede mehr sein kann. Geldpolitik ist weitgehend eine Sache der
Privatbanken, und Geldschöpfung – zu der ganz wesentlich die Verfügungsgewalt über reale Ressourcen gehört – findet innerhalb eines inneren Kreises des internationalen Bankensystems statt und dient allein der Anhäufung
privaten Reichtums. Mächtige Finanzakteure haben nicht nur die Fähigkeit,
Geld zu schöpfen und ohne Behinderung frei zu bewegen, sondern können
auch die Zinssätze manipulieren und den Niedergang großer Währungen
beschleunigen, wie der spektakuläre Sturz des englischen Pfundes 1992
erwiesen hat. Das bedeutet in der Praxis, dass die Zentralbanken nicht länger in der Lage sind, die Geldschöpfung im Allgemeininteresse der Gesellschaft zu regulieren, um etwa Produktionsanreize zu schaffen oder die Beschäftigung zu fördern.
Keine Wahl zwischen Marionetten und Mittätern. Im Zeichen des Neoliberalismus ist die westliche Sozialdemokratie in eine schwierige Lage geraten: Ihre Vertreter in hohen Ämtern agieren zunehmend als Marionetten
oder bürokratische Handlanger im Namen des Finanzestablishments. Hinter
den Kulissen üben die Gläubiger des Staates ebenso diskret wie tatkräftig
politische Macht aus. Es hat sich ein einheitlicher Wirtschaftsdiskurs, eine
Wirtschaftsideologie herausgebildet, ein Konsens, der das gesamte politische Spektrum umfasst. Das Schicksal der öffentlichen Politik wird auf den
US-amerikanischen und europäischen Märkten für Auslandsanleihen ausgehandelt, politische Optionen werden mechanisch mit den gleichen glatten
Wirtschaftsslogans präsentiert: »Wir müssen das Haushaltsdefizit reduzieren!« – »Wir müssen die Inflation bekämpfen!« – »Die Wirtschaft ist überhitzt, wir müssen auf die Bremse treten!«
In den USA lassen sich Demokraten und Republikaner nicht mehr voneinander unterscheiden. In der EU sind gerade »sozialistische« Regierungen
– ganz zu schweigen von den Grünen in Deutschland – zu Verfechtern der
»kräftigen Medizin« zur wirtschaftlichen Genesung geworden, wie sie IWF
und Weltbank überall propagieren. Sozialdemokraten, New Labour und die
ehemaligen Kommunisten – allesamt ergebene Diener des Finanzestablishments. Durch ihre progressive Rhetorik und ihre Verbindungen zu den Gewerkschaften sind sie noch »effektiver«, wo es um die Kürzung der Sozialbudgets und die Entlassung von Arbeitnehmern geht – noch gewieftere und
willfährigere politische Makler der Interessen des Finanzestablishments als
ihre liberalen oder konservativen Gegenspieler.
Die Interessen des Finanzestablishments durchdringen auch, besonders
in den USA, die höchsten Ränge der Finanzministerien und der BrettonWoods-Organisationen
IWF
und
Weltbank:
Der
ehemalige
USFinanzminister Robert Rubin war hoher Bankmanager bei Goldman Sachs,
der ehemalige Präsident der Weltbank, Lewis Preston, Chef von J.P. Morgan, sein jetziger Nachfolger James Wolfensohn namhafter Investmentbanker aus der Wall Street.
Während Finanziers in der Politik mitmischen, steigen ehemalige Politiker
und hochrangige Vertreter internationaler Finanzorganisationen selbst in die
Wirtschaft ein. Nach seinem Abschied als Direktor der WTO ging Peter Sutherland zu Goldman Sachs an die Wall Street. Nicholas Brady – während
der Reagan-Ära republikanischer Senator, unter George Bush Finanzminister – beteiligte sich am lukrativen Bankgeschäft in einer Steueroase: Durch
seine private US-Firma Darby Overseas ist er Teilhaber an einem auf den
Kaimaninseln registrierten Konsortium. Seine Firma »will in den peruanischen Geschäftsbankensektor investieren, der als hohes Risiko eingestuft
wird und auf einen Brady-Plan zur Umschuldung wartet… Darby Overseas
wurde vor einem Jahr (1993) von Brady, dessen Sekretär im Finanzministerium, Hollis McLoughlin, und Daniel Marx, dem ehemaligen argentinischen
Finanzstaatssekretät gegründet… Der wichtigste Akteur hinter dem Konsortium, das für die Übernahme von Interbanc gegründet wurde, ist Carlos
Pastor, Perus Wirtschaftsminister in den frühen 80er Jahren.«6
Gezeichnet von Interessenkonflikten und als Folge seiner ambivalenten
Beziehung zu privaten Wirtschafts- und Finanzinteressen steckt das staatliche System des Westens in einer Krise. Unter diesen Bedingungen ist die
parlamentarische Demokratie zu einem bloßen Ritual geworden. Den Wählern stehen keine Alternativen offen. Der Neoliberalismus ist zum integralen
Bestandteil des politischen Programms aller großen politischen Parteien geworden. Wie in einem Einparteienstaat haben Wahlergebnisse heute praktisch keine Auswirkungen mehr auf den tatsächlichen Gang der staatlichen
Wirtschafts- und Sozialpolitik.
19.
Die globale Finanzkrise
Seit das Bretton-Woods-System fester Wechselkurse 1971 zusammenbrach,
hat sich in mehreren Phasen eine neue globale Finanzwirtschaft herausgebildet. Die Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre, die grob mit der ReaganThatcher-Ära zusammenfiel, trat eine Lawine von Unternehmenszusammenschlüssen, Firmenübernahmen und Bankrotten los. Diese Veränderungen
haben den Weg bereitet für eine neue Generation von Finanziers in Handelsbanken, bei institutionellen Investoren, Maklerfirmen, großen Versicherungsgesellschaften und anderen. Im Rahmen dieses Prozesses wuchsen die
Funktionen der Geschäftsbanken mit jenen der Investmentbanken und Maklerfirmen zusammen.7
Diese Geldmanager spielen eine machtvolle Rolle auf den Finanzmärkten,
sind jedoch zunehmend den unternehmerischen Funktionen in der realen
Wirtschaft entrückt. Zu ihren Aktivitäten gehören alle möglichen spekulativen Transaktionen: Warentermingeschäfte, der Handel mit Derivaten und
die Manipulation der Devisenmärkte. Große Finanzakteure sind regelmäßig
an Depots »heißen Geldes« in den aufstrebenden Märkten Lateinamerikas,
Südostasiens und Osteuropas beteiligt, ganz zu schweigen von Geldwäsche
und der Gründung spezialisierter Privatbanken in etlichen Steueroasen, die
reiche Klienten »beraten«. In diesem globalen Finanznetz wird Geld in der
flüchtigen Form elektronischer Überweisungen mit großer Geschwindigkeit
von einer Steueroase in die nächste transferiert. Legale und illegale Geschäftsaktivitäten sind zunehmend miteinander verflochten. So konnten
große Summen unversteuerten Reichtums angehäuft werden. Begünstigt
durch die Deregulierung der Finanzmärkte hat das organisierte Verbrechen
seinen Einflussbereich auch auf das internationale Banking ausgedehnt.8
Die Wall-Street-Crashs von 1987 und 1997. Am 19. Oktober 1987,
dem »Schwarzen Montag«, ereignete sich der größte Kurssturz in der Geschichte der New Yorker Börse – schlimmer noch als der berühmte
»Schwarze Freitag« vom 28. Oktober 1929, der den Zusammenbruch der
Wall Street und den Beginn der großen Depression markierte. In der ersten
Handelsstunde am Montagmorgen lösten sich 22,6 Prozent des Wertes von
US-Aktien in Luft auf. Der Einbruch der Wall Street ließ das gesamte Finanzsystem erbeben und erschütterte auch die europäischen und asiatischen Aktienmärkte.
Der Wall-Street-Crash von 1987 diente dazu, »klar Schiff« zu machen.
Nur die Tüchtigsten sollten überleben. Nach der Krise kam es zu einer massiven Konzentration finanzieller Macht. Diese Transformationen waren die
Geburtsstunde der »institutionellen Spekulanten«, mächtiger Investmentakteure, die seriöse Geschäftsinteressen hintanstellten und häufig hintertrieben. Mit einer Vielzahl von Instrumenten eignen sich diese institutionellen
Akteure Reichtum aus der realen Wirtschaft an. Häufig diktieren sie das
Schicksal von Unternehmen, die an der New Yorker Börse notiert sind. Völlig von unternehmerischen Funktionen der realen Wirtschaft losgelöst, haben sie die Macht, große Industrieunternehmen in den Bankrott zu treiben.
Bereits 1993 monierte ein Bericht der Deutschen Bundesbank, dass der
Handel mit Derivaten eine »Kettenreaktion auslösen und das Finanzsystem
als Ganzes« gefährden könnte.9 Und obwohl doch eigentlich ein Verfechter
der Deregulierung der Finanzmärkte, sah sich der Präsident der amerikanischen Notenbank, Alan Greenspan, zu der Warnung veranlasst, dass Gesetze nicht ausreichten, um »in einer Hightech-Welt, wo Transaktionen mit
einem Knopfdruck erfolgen, eine Wiederholung der Barings-Krise zu verhindern«.10 Greenspan zufolge können sich durch »die Effizienz der globalen
Finanzmärkte… im Finanzsystem Fehler mit einer größeren Geschwindigkeit
ausbreiten als noch vor einer Generation denkbar«.11 Freilich wird der Öffentlichkeit nicht offenbart, dass diese »Fehler« Ergebnis groß angelegter
Spekulationen und die Quelle einer beispiellosen Anhäufung von privatem
Reichtum sind.
Bis 1995 hatte der tägliche Umsatz an den Devisenmärkten mit seinen
1300 Mrd. Dollar die offiziellen Weltdevisenreserven von geschätzten 1202
Mrd. Dollar übertroffen.12 Im Klartext: Institutionelle Spekulanten verfügen
bei weitem über größere Devisenbestände als die Zentralbanken mit ihren
beschränkten Möglichkeiten. Ob diese nun einzeln oder gemeinsam handeln
– sie sind nicht in der Lage, die Spekulationsflut einzudämmen.
Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem »Schwarzen Montag« von
1987, am 27. Oktober 1997, wiederum einem Montag, stürzten die Aktienmärkte auf der ganzen Welt erneut in Turbulenzen. Der Dow Jones sackte
steil um 554 Punkte, ein Wertverlust von 7,2 Prozent, der zwölfttiefste
Sturz an einem Tag in der Geschichte der New Yorker Börse. Am Donnerstag zuvor, dem 23. Oktober, war bereits die Hongkonger Börse um 10,41
Prozent gestürzt, als Investmentfondsmanager und Pensionsfonds rasch
große Mengen von Standardwerten abstießen. Dieser eher periphere Erdrutsch in Hongkong setzte sich bei Handelseröffnung am Montagmorgen mit
6,7 Prozent unvermindert fort – und fand nun sein New Yorker Nachbeben.
Da die großen Börsen der Welt rund um die Uhr durch direkte Computerschaltungen miteinander verbunden sind, schwappten die Kurseinbrüche
schnell auf die europäischen und die anderen asiatischen Aktienmärkte über
und breiteten sich im gesamten Finanzsystem aus. Die europäischen Börsen
gerieten völlig durcheinander, in Frankfurt, Paris und London mussten große
Verluste verbucht werden. Hongkong reagierte darauf am Dienstag mit einem weiteren Einbruch von 13,7 Prozent – dem größten dort jemals verzeichneten Kurssturz.
Zu dieser Kapitalvernichtung an den Finanzmärkten wäre es ohne den
computerisierten Handel nicht gekommen. Das elektronische Handelssystem der New Yorker Börse konnte ohne Wartezeiten mehr als 300.000 Orders am Tag bewältigen; im Durchschnitt 375 in der Sekunde, was einer
Tageskapazität von über zwei Milliarden Aktien entspricht. Da sich seine
Geschwindigkeit und der bewältigte Handelsumfang seit 1987 verzehnfacht
hatte, war nun das Risiko finanzieller Instabilität beträchtlich größer.
Tabelle 19.1: Die größten Kursstürze an einem Tag an der New Yorker Börse <Dow Jones lndustrial Average)
Datum
19. Oktober 1987
28. Oktober 1929
29. Oktober 1929
6. November 1929
12. August 1932
26. Oktober 1987
21. Juli 1933
18. Oktober 1937
27. Oktober 1997
5. Oktober 1932
24. September 1931
31. August 1998
Kursverfall in Prozent
22,6
12,8
11,7
9,9
8,4
8,0
7,8
7,6
7,2
7,2
7,1
6,4
Quelle: New York Stock Exchange
Zehn Jahre zuvor, nach dem Kurscrash von 1987, hatte die Wall Street
dem US-Finanzministerium geraten, sich nicht in die Finanzmärkte einzumischen. Frei von staatlichen Eingriffen sollten die New Yorker und Chicagoer
Börse ihre eigenen Regulierungsverfahren einführen. Sie bestanden weitgehend darin, den Computerhandel durch Leistungsschalter, so genannte circuit breakers, zeitweise auszusetzen.13
1997 erwies sich dieser Mechanismus als völlig ungeeignet, um die Kapitalvernichtung abzuwenden. Am Montag, dem 27. Oktober 1997, wurde der
Handel zum ersten Mal für 30 Minuten ausgesetzt, nachdem der Dow Jones
um 350 Punkte gefallen war. Nach der halbstündigen Unterbrechung breitete sich unter den Händlern Panik und Verwirrung aus. Sie begannen, große
Aktienpakete abzustoßen, was den Zusammenbruch der Kurse beschleunigte. Im Verlauf der folgenden 25 Minuten fiel der Dow um weitere 200 Punkte, der Handel wurde erneut ausgesetzt – womit dann zugleich der Börsentag an der Wall Street beendet war.
Kasten 19.1
Gefährliche Zuversicht in den späten 20er Jahren: Durch Laissez-faire
zur Prosperität
In den Monaten vor dem Schwarzen Freitag am 29. Oktober 1929 war
der Handel an der Wall Street gefährlich volatil. Laissez-faire war unter
den Präsidenten Calvin Coolidge und Herbert C. Hoover die Losung des
Tages. Die Möglichkeit einer Kernschmelze der Finanzmärkte wurde nie
ernsthaft in Erwägung gezogen. Professor Irving Fisher von der YaleUniversität hatte 1928 apodiktisch erklärt, dass »nichts geschehen kann,
was einem Crash ähnelt«. Die Illusion wirtschaftlicher Prosperität hielt
sich hartnäckig noch mehrere Jahre nach dem Oktober 1929. 1930 erklärte Fisher zuversichtlich, dass »die Aussichten zumindest für die unmittelbare Zukunft fantastisch« seien, und die angesehene Harvard Economic Society sah die Produktion im Jahr 1930 »entschieden auf dem
Weg der Erholung«.
Zitate aus John Kenneth Galbraith, The Great Crash 1929, Boston 1997
Kasten 19.2
Gefährliche Zuversicht in den späten 90er Jahren: Die herrschende Wirtschaftslehre verteidigt deregulierte Finanzmärkte
Klingt das nicht vertraut? Nach dem Crash von 1997 herrschte die gleiche Selbstzufriedenheit wie während der Euphorie Ende der 20er Jahre.
Mit ganz ähnlichen Worten wie seinerzeit Irving Fisher leugnete die orthodoxe ökonomische Lehre Ende der 90er Jahre nicht nur die Existenz
einer Wirtschaftskrise, sondern auch die Möglichkeit eines Zusammenbruchs der Finanzmärkte. Für den Nobelpreisträger Robert Lucas von der
Universität Chicago basieren die Entscheidungen der wirtschaftlichen Akteure auf »rationalen Erwartungen«, was die Möglichkeit von »systematischen Fehlern« ausschließe, die den Aktienmarkt in die falsche Richtung lenken könnten. Es ist von einer gewissen Ironie, dass genau zu einer Zeit, in der die Finanzmärkte in Aufruhr gerieten, die Königlich
Schwedische Akademie 1997 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften an zwei amerikanische Ökonomen vergab, für ihre »neuartige
Formel für die Bewertung von Aktienoptionen und Derivaten, die von
Tausenden von Händlern und Investoren benutzt wird« – und, wie man
hinzufügen sollte, auch von Hedgefonds-Managern bei ihren Spekulationsgeschäften auf dem Aktienmarkt.
Zitate aus Greg Burns, »Two Americans Share Nobel in Economics«, in:
Chicago Tribune, 15. Oktober 1997
Asienkrise und Rubelsturz. Historisch gesehen war die Finanzkrise von
1997 weit gravierender und zerstörerischer als alle vorangehenden Finanzcrashs. Sowohl die Aktien- als auch die Devisenmärkte zog sie in Mitleidenschaft. Bei der Krise von 1987 waren die nationalen Währungen noch relativ
stabil geblieben. Im Gegensatz zu den Zusammenbrüchen von 1929 und
1987 zeichnete sich jedoch die Finanzkrise von 1997/98 durch den gleichzeitigen Kollaps von Währungen und Aktienmärkten aus. Eine beinahe symbiotische Beziehung zwischen Börsen und Devisenmärkten hatte sich entwickelt: Institutionelle Spekulanten waren nicht nur an der Manipulation der
Aktienkurse beteiligt, sie hatten sich auch die Fähigkeit angeeignet, die De-
visenreserven der Zentralbanken zu plündern, souveräne Regierungen zu
unterlaufen und ganze Volkswirtschaften zu destabilisieren.
Im Laufe des Jahres 1997 führten Währungsspekulationen in Thailand,
Indonesien, Korea, Malaysia und den Philippinen zu einem Transfer von Milliarden von Dollar an Zentralbankreserven in private Hände. Mehrere Beobachter haben auf die bewusste Manipulation der Aktien- und Devisenmärkte
durch Investmentbanken und Maklerfirmen hin gewiesen.14 Ironischerweise
boten dieselben westlichen Finanzinstitute, die die Zentralbanken der Länder der Dritten Welt geplündert hatten, danach den südostasiatischen Notenbanken ihre »Hilfe« an. Die ING Barings-Bank z.B. wohlbekannt für ihre
Spekulationsgeschäfte, machte im Juli 1997 der Zentralbank der Philippinen
die großzügige Offerte, ihr einen Kredit über eine Milliarde Dollar zu gewähren. In den darauf folgenden Monaten fielen die meisten dieser geliehenen
Devisenreserven wieder den internationalen Spekulanten zu, als die philippinische Zentralbank in einem verzweifelten Versuch zur Stützung des Pesos große Dollarmengen auf dem Terminmarkt verkaufte.
Analysten und Wirtschaftsprofessoren gleichermaßen hatten die Gefahren
einer globalen Finanzkrise in den Wind geschlagen und auf die »gesunden
Fundamentaldaten« hingewiesen. Die Führer der G7-Staaten schwiegen vor
lauter Angst, die »falschen Signale« zu geben. Die Analysten der Wall
Street sprachen weiterhin unbeholfen von »Marktkorrekturen«, mit wenig
Einsicht in die grundlegenden wirtschaftlichen Zusammenhänge.
Für den Sturz der New Yorker Börse am 27. Oktober 1997 wurden beiläufig »strukturell schwache Wirtschaften« in Südostasien verantwortlich gemacht, die bis kurz zuvor als kommende Tiger galten und nun als lahme
Enten dargestellt wurden. Der Ernst der Finanzkrise wurde heruntergespielt: Alan Greenspan, der US-Notenbankchef, beruhigte die Wall Street,
indem er mit der Autorität seines Amtes auf den »ansteckenden Charakter
von Volkswirtschaften« hinwies, die »ihre Schwäche von Land zu Land
verbreiten«. Nach Greenspans Verdikt vom 28. Oktober waren US-Broker
und Ökonomen nun einhellig der Meinung, die Wall Street habe sich die
»Hongkonggrippe« eingefangen.
In der unsicheren Zeit der Erholung der New Yorker Börse nach der
»asiatischen Grippe« von 1997 – weitgehend angefacht durch eine panische
Flucht aus japanischen Aktien – fielen die Finanzmärkte ein paar Monate
später erneut und erreichten mit dem spektakulären Absturz des russischen
Rubels im August 1998 einen neuen dramatischen Wendepunkt. Der Dow
Jones fiel am 31. August 1998 um 554 Punkte – der zweitgrößte Kursverfall
in der Geschichte der New Yorker Börse – , was im Laufe des Septembers
zu einem dramatischen Kursverfall an den Börsen auf der ganzen Welt führte. Im Laufe weniger Wochen hatten sich 2300 Mrd. Dollar Buchgewinne am
US-Markt verflüchtigt.
Der freie Fall des Rubels im August 1998 trieb die größten Geschäftsbanken Moskaus in den Bankrott und eröffnete die Möglichkeit einer Übernahme des russischen Finanzsystems durch eine Hand voll westlicher Banken
und Investmenthäuser. Außerdem beschwor die Krise die Gefahr einer mas-
siven Zahlungsunfähigkeit Moskaus gegenüber seinen Gläubigern herauf, zu
denen nicht zuletzt die Deutsche und die Dresdner Bank gehörten. Seit Beginn der makroökonomischen Reformen in Russland nach der Schocktherapie des IWF 1992 gingen russische Vermögenswerte von etwa 500 Mrd.
Dollar – darunter Fabriken des militärisch-industriellen Komplexes, Infrastruktur und natürliche Ressourcen – durch Privatisierung und erzwungene
Bankrotte in die Hand westlicher Kapitalisten über. In der brutalen Phase
nach dem Kalten Krieg wurde so ein ganzes Wirtschafts- und Sozialsystem
beseitigt (s. Kapitel 16).
Land für Land fällt an die Wall Street. Statt die Finanzmärkte nach dem
Sturm zu zähmen, hat Washington ein Gesetz durch den Senat gebracht,
das die Macht der großen Finanzdienstleister und der ihnen angeschlossenen Hedgefonds beträchtlich erhöht. Mit dem im November 1999 (kaum
eine Woche vor der historischen WTO-Konferenz in Seattle) verabschiedeten Financial Modernization Act hat der US-Gesetzgeber die Bahn
für eine umfassende Deregulierung des US-Bankensystems frei gemacht.
Nach langen Verhandlungen sind alle Beschränkungen, denen die mächtigen Wall-Street-Banken bislang unterlagen, mit einem Federstrich zurückgenommen worden. Die neuen Regeln – vom US-Senat ratifiziert und von
Präsident Clinton gebilligt – stellen es den Geschäftsbanken, Investmentfirmen, Hedgefonds, institutionellen Anlegern, Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften völlig frei, sich mit wechselseitigen Kapitalbeteiligungen
zu verflechten und jeweils die ganze Bandbreite der Finanzgeschäfte abzudecken.
Damit ist das Glass-Steagall-Gesetz von 1933 außer Kraft gesetzt, eine
Säule der New-Deal-Politik von Franklin D. Roosevelt, das in Reaktion auf
den Sumpf aus Korruption, Finanzmanipulationen und Insider-Handel erlassen worden war, in dem nach dem Wall-Street-Crash von 1929 über 5000
Banken versunken waren.15 Die Kontrolle der gesamten Finanzdienstleistungsindustrie der USA einschließlich Versicherungsgesellschaften, Pensionsfonds und Investmenthäusern ist damit effektiv auf eine Hand voll Finanzkonzerne übergegangen – die zugleich Gläubiger und Anteilseigner von
Hightech-Unternehmen, Rüstungsfirmen, großen Öl- und Bergbaukonzernen
usw. sind. Darüber hinaus können nun die Finanzgiganten als Anleihegaranten der öffentlichen Schulden von Bund, Bundesstaaten und Kommunen die
Politiker noch stärker in ihren Würgegriff nehmen und ihren dominierenden
Einfluss auf die öffentliche Politik verstärken.
Im Zentrum dieses globalen »Superfinanzmarktes« stehen unangefochten die Wall-Street-Giganten, die sich nicht nur ihre unmittelbaren Konkurrenten vom Halse halten und maßgeblichen Einfluss auf die Realökonomie
ausüben, sondern auch tiefe Breschen in die Bastionen der Notenbank
schlagen können. Denn deren Aufsichtsmacht ist durch den Financial Modernization Act beträchtlich geschwächt worden. Der neue rechtliche Rahmen erlaubt es den Finanzriesen tatsächlich, unter Umgehung der Noten-
bank und in stillschweigendem Einverständnis untereinander, die Zinsen
nach ihrem Belieben festzusetzen.
Eine neue Ara der Rivalität auf den Finanzmärkten ist angebrochen. Dem
amerikanischen Finanzkapital geht es in seiner Neuen Weltordnung letztlich
darum, konkurrierende europäische und japanische Bankkonzerne aus dem
Feld zu schlagen und bestenfalls mit einem exklusiven Club deutscher und
britischer Bankgiganten strategische Allianzen zu schließen.
Tatsächlich genehmigte das US-Kontrollgremium, das Federal Reserve
Board, in Verletzung bestehender Gesetze noch vor Verabschiedung des
Financial Modernization Act 1999 mehrere Mammutfusionen im Bankensektor – darunter die der Nations Bank mit der Bank America sowie der Citibank mit der Travelers Group. Citibank, die größte Bank der Wall Street,
und Travelers Group Inc. ein Finanzdienstleister und Versicherungskonzern,
dem auch das große Investmenthaus Solomon Smith Barney gehört, legten
ihre Unternehmen 1998 in einer 72-Mrd.-Dollar-Fusion zusammen.
Es kam auch zu strategischen Unternehmenszusammenschlüssen zwischen amerikanischen und europäischen Banken, mit denen sich entscheidende Spieler wie die Deutsche Bank – die sich mit Banker’s Trust zusammenschloss – und der Schweizer Bankkonzern Credit Suisse – der mit First
Boston fusionierte – in den US-amerikanischen Finanzmarkt einkauften. Die
Hong Kong Shanghai Banking Corporation, ein Bankriese mit Sitz in Großbritannien, der bereits eine Partnerschaft mit Wells Fargo und der Wachovia
Corporation eingegangen war, erwarb die Republic New York Bank des verstorbenen Edmond Safra in einem Neun-Milliarden-Dollar-Deal.16
Nunmehr konkurrieren rivalisierende europäische Banken, die vom inneren Kreis der Wall Street ausgeschlossen blieben, in einem zunehmend unfreundlichen globalen Finanzumfeld. Banque Nationale de Paris erwarb die
Société Générale de Banque und Paribas und stieg in die Reihen der weltgrößten Banken auf. Auch sie plant, sich in größerem Maßstab in den nordamerikanischen Markt einzukaufen.
Die Deregulierung des Finanzmarktes in den USA begünstigt eine beispiellose Konzentration von globaler Finanzmacht. Und sie bildet die Vorgabe für die globale Finanz- und Handelsreform unter Schirmherrschaft von
IWF und WTO. Die Bestimmungen sowohl des Allgemeinen Abkommens
über den Dienstleistungsverkehr (GATS) als auch des Abkommens über
Finanzdienstleistungen (FTA) im Rahmen der WTO streben die Aufhebung
der verbleibenden Barrieren für den freien Fluss des Finanzkapitals an. Das
bedeutet, dass Merrill Lynch, Citigroup und Deutsche Bank hingehen können, wo immer es ihnen beliebt, um Nationalbanken und Finanzinstitute
überall auf der Welt in den Bankrott zu treiben. In der Praxis ist dies bereits
durch die Sofortprogramme von IWF und Weltbank zur Privatisierung und
Abwicklung von Staatsbetrieben in etlichen Entwicklungsländern geschehen.
Die Megabanken sind unter der Garantie in die Finanzmärkte eingedrungen,
dass sie de facto operieren können wie nationale Unternehmen. Ohne sich
auf die WTO-Bestimmungen des FTA stützen zu müssen, sind Wall-StreetBanken z.B. in Korea, Pakistan, Argentinien oder Brasilien praktisch zu ein-
heimischen Instituten geworden, nach Gesetzen, die im Sinne der Vorgaben
von IWF und Weltbank umgestaltet wurden (siehe Kapitel 21 und 22).
Die US-amerikanischen und europäischen Finanzgiganten müssen also
nicht erst auf die Einführung des GATS warten, um weltweit den Bankensektor dominieren und maßgeblichen Einfluss auf nationale Regierungen
ausüben zu können. Der Prozess der globalen Deregulierung der Finanzmärkte ist in vieler Hinsicht eine vollendete Tatsache. Unterstützt vom IWF
– der Länder regelmäßig zwingt, ihren heimischen Bankensektor für ausländische Investitionen zu öffnen –, kann die Wall Street fast überall inländische Privatkundenbanken, Aktienhandelsfirmen und Versicherungsgesellschaften übernehmen und umstrukturieren. Citigroup und andere WallStreet-Größen sind auf eine globale Shoppingtour gegangen, um in Asien,
Lateinamerika und Osteuropa Banken und Finanzinstitute zu Billigpreisen
aufzukaufen. So übernahm Citigroup in Argentinien mit einem Schlag die
Banco Mayo Cooperativo Ltda. mit ihren 106 Filialen und wurde damit zur
größten Bank des Landes.
20.
Der Wirtschaftskrieg
Die Asienkrise von 1997 hat sich längst zu einer globalen Wirtschaftskrise
ausgewachsen, immer tiefer stürzen die Finanzmärkte und Volkswirtschaften in die Rezession. Angestachelt wurden die internationalen Geldmanager,
deren spekulative Angriffe zu dieser Entwicklung beigetragen haben, durch
den IWF, dem die bisherige Deregulierung der internationalen Kapitalflüsse
noch nicht reicht. Nachdem das mächtige Finanzkapital die Handlungsmöglichkeiten nationaler Regierungen geschwächt hat, diesem Wirtschaftskrieg
wirkungsvoll zu begegnen, arbeitet es hinter den Kulissen daran, noch größere Kontrolle über die Bretton-Woods-Institutionen zu erlangen und noch
größeren Einfluss auf die internationale Finanzarchitektur zu gewinnen.
Spekulative Angriffe durch die Manipulation der Marktkräfte. Der
weltweite Wettlauf um die Aneignung von Reichtum durch Finanzmanipulationen ist die treibende Kraft der Krise. Er ist auch die Quelle aller wirtschaftlichen Verwerfungen und des sozialen Elends. Die Manipulation der
Marktkräfte durch mächtige Finanzakteure ist eine Form des Finanz- und
Wirtschaftskriegs. Verlorene Territorien müssen nicht rekolonialisiert oder
durch Armeen zurückerobert werden. Im späten 20. Jahrhundert kann die
Eroberung von Nationen – die Kontrolle über ihre Produktivvermögen, ihre
Arbeitskräfte, natürlichen Ressourcen und Institutionen – in unpersönlicher
Weise von Konzernzentralen aus durchgeführt werden: Die Kommandos
werden an einem Computerterminal eingegeben oder per Handy erteilt,
erreichen umgehend die großen Finanzmärkte und können so unmittelbar
die Erschütterung ganzer Volkswirtschaften auslösen. In der Finanzkriegführung kommen auch komplexe Spekulationsinstrumente zum Einsatz, darunter die ganze Bandbreite des Derivatenhandels, der Devisentransaktionen,
Devisenoptionen, Hedgefonds, Indexfonds usw. Solche spekulativen Instrumente werden mit dem Ziel eingesetzt, finanziellen Reichtum anzuhäufen und Kontrolle über Produktivvermögen zu erlangen. »Diese gezielte Abwertung der Währung eines Landes durch Devisenhändler zu reinen Profitzwecken«‚ so Malaysias Premierminister Mahathir Bin Mohammed, »ist
eine gravierende Verletzung der Rechte unabhängiger Staaten.«17
Die Aneignung globalen Reichtums durch Marktmanipulation wird regelmäßig von den tödlichen wirtschaftspolitischen Interventionen des IWF gefördert, die die Volkswirtschaften auf der ganzen Welt beinahe gleichzeitig
erbarmungslos schwächen. Der Finanzkrieg kennt keine Grenzen; er beschränkt sich nicht darauf, die ehemaligen Feinde des Kalten Krieges zu
belagern. In Korea, Indonesien und Thailand haben institutionelle Spekulanten die Tresore der Zentralbanken geplündert, während die Notenbanken
vergebens ihre Währungen zu stützen versuchten. 1997 sind auf diese Wei-
se über 100 Mrd. Dollar asiatischer Devisenreserven »konfisziert« worden
und innerhalb von Monaten in private Hände übergegangen. Nach den Währungsabwertungen sind die Realeinkommen und die Beschäftigung in den
betroffenen Ländern praktisch über Nacht abgestürzt. Die dadurch verursachte Massenarmut trifft Länder, die in der Nachkriegszeit beträchtliche
wirtschaftliche und soziale Fortschritte erzielt hatten.
Der Finanzbetrug auf den Devisenmärkten hat die Volkswirtschaften
asiatischer Länder destabilisiert und so die Voraussetzungen für die darauf
folgende Plünderung ihres Produktivvermögens durch »Geierinvestoren«
aus dem Ausland geschaffen.18 In Thailand sind 56 Banken und Finanzinstitute auf Anordnung des IWF geschlossen worden. Über Nacht hat sich die
Arbeitslosigkeit praktisch verdoppelt.19 Auch in Südkorea hat die Intervention des IWF eine Kette tödlicher Bankrotte ausgelöst und zur Liquidation »in
Schwierigkeiten geratener« Handelsbanken geführt (siehe Kapitel 21).
In vieler Hinsicht markiert die weltweite Krise das Ende der Zentralbanken. Die nationale Souveränität über die Wirtschaft und das Vermögen der
Nationalstaaten, die Geldschöpfung zum Wohl der Gesellschaft zu kontrollieren, sind geschwächt. Die privaten Devisenreserven in den Händen institutioneller Spekulanten übersteigen die beschränkten Fähigkeiten der
Zentralbanken weltweit. Diese sind, ob sie einzeln handeln oder sich konzentriert zusammentun, nicht mehr in der Lage, sich gegen die Welle spekulativer Angriffe zu stemmen. Die Geldpolitik liegt in den Händen privater
Gläubiger, die in der Lage sind, staatliche Haushalte einzufrieren, die reguläre Auszahlung von Löhnen an Millionen von Staatsbediensteten zu vereiteln (wie in der ehemaligen Sowjetunion geschehen) und den Zusammenbruch von Produktion und Sozialprogrammen herbeizuführen.
Während sich die Krise vertieft, dehnen sich die spekulativen Angriffe auf
die Notenbankreserven auf Lateinamerika und den Nahen Osten aus, mit
vernichtenden wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen. Ein neuer Höhepunkt ist Anfang 1999 mit dem dramatischen Zusammenbruch der Börse
von Sao Paulo erreicht worden (siehe Kapitel 22).
Die Plünderung der Zentralbankreserven beschränkt sich jedoch keineswegs auf die Entwicklungsländer. Sie hat auch mehrere westliche Länder
getroffen, so Kanada und Australien, wo es den Notenbanken nicht gelungen ist, den Verfall ihrer nationalen Währungen aufzuhalten. In Kanada
musste sich die Zentralbank 1998 Milliarden von Dollar von privaten Finanziers leihen, um nach spekulativen Angriffen ihre Reserven aufzufüllen. Und
die geglückten Spekulationen gegen Korea sind nach Auffassung des Ökonomen Michael Hudson für ein paar westliche Investmentbanken die Generalprobe für die Übernahme des japanischen Finanzsektors gewesen, nachdem der Yen auf neue Tiefststände gefallen ist.20 Die großen Spieler sind
Goldman Sachs, Morgan Stanley, Deutsche Morgan Grenfell und andere. Sie
kaufen Japans faule Kredite zu einem Zehntel ihres Nominalwertes auf.
Direkt nach der Asienkrise 1997 übte Washington politischen Druck auf
Tokio aus und bestand auf »nichts weniger als auf der sofortigen Abstoßung
der faulen Kredite zu Schleuderpreisen – vorzugsweise an USamerikanische und andere ausländische >Geierinvestoren<. Um ihre Ziele
zu erreichen, üben sie sogar Druck auf Japan aus, seine Verfassung zu ändern, sein politisches System und das Kabinett umzubilden und sein Finanzsystem neu zu gestalten… Sobald ausländische Investoren die Kontrolle
über japanische Banken erringen, werden diese Banken damit beginnen, die
japanische Industrie zu übernehmen.«21
Brandstifter als Feuerwehr. In einer integrierten Finanzdienstleistungsindustrie sind die weltgrößten Banken und Investmenthäuser zugleich Gläubiger und institutionelle Spekulanten. Während der Asienkrise
trugen sie mit ihren spekulativen Angriffen direkt zur Destabilisierung nationaler Währungen bei und trieben so das Volumen der in Dollar ausgewiesenen Schulden in die Höhe. Nach der Krise erschienen sie wieder als Gläubiger um ihre Schulden einzutreiben, zu deren Schaffung sie durch die Manipulation der Devisenmärkte selbst beigetragen hatten. Schließlich werden
sie als wirtschaftliche und finanzpolitische »Berater« gerufen und mit der
Gestaltung der von der Weltbank unterstützten »Konkursprogramme« betraut, deren Nutznießer wiederum sie selbst sind. In Indonesien z.B. wurde
während der Straßenschlachten nach dem Rücktritt von Mohammed Suharto die vom IWF verordnete Privatisierung von Schlüsselsektoren der indonesischen Wirtschaft acht der weltgrößten Handelsbanken anvertraut, darunter Lehman Brothers, Credit Suisse-First Boston, Goldman Sachs und
UBS/SBC Warburg Dillon Read.22 Die größten Geldmanager der Welt setzen
erst Länder in Brand und werden dann im Rahmen eines »Rettungsplans«
des IWF als Feuerwehrleute gerufen, um das Feuer zu löschen. Sie entscheiden letztlich, welche Unternehmen geschlossen und welche zu Billigpreisen an ausländische Investoren versteigert werden.
Unter dem Ansturm wiederholter spekulativer Angriffe schlossen die
asiatischen Zentralbanken 1997 auf den Devisenterminmärkten MultiMilliarden-Verträge, in einem vergeblichen Versuch, ihre Währungen zu
schützen. Weil ihre eigenen Devisenreserven völlig erschöpft waren, sahen
sich die Notenbanken gezwungen, im Rahmen der IWF-Stützungsvereinbarung große Geldsummen zu leihen. Nach dem in der Mexikokrise 1994/95 entwickelten Verfahren diente das Stützungsgeld jedoch
nicht dazu, das Land aus seiner Notlage zu befreien. Tatsächlich kam es nie
in Korea, Thailand und Indonesien an, sondern war von vornherein dafür
vorgesehen, in die Kassen der institutionellen Spekulanten zurückzufließen,
um sicherzustellen, dass sie ihre milliardenschwere Beute auch einstreichen
konnten. So wurden aus den asiatischen Tigern – gezähmt von ihren Finanzherren – lahme Enten. Korea, Indonesien und Thailand sind dazu verurteilt, ihre massiven Dollarschulden noch bis weit ins dritte Jahrtausend
hinein mit sich herumzuschleppen.
Aber woher kommt das Geld, um solche Milliarden-Dollar-Operationen zu
finanzieren? Nur ein kleiner Teil stammt aus Eigenmitteln des IWF. Seit der
Stützungsaktion für Mexiko 1995 sind die G7-Staaten dazu aufgerufen, sich
mit großen Summen an den Stützungsaktionen des IWF zu beteiligen, was
zu einem erheblichen Anstieg ihrer Staatsverschuldung geführt hat. Was für
eine Pointe! Die Mehrverschuldung, die z.B. die USA zur Finanzierung dieser
Stützungsaktionen in Asien hinnehmen mussten, wurde von derselben
Gruppe von Wall-Street-Banken gezeichnet und garantiert, die an den spekulativen Angriffen beteiligt gewesen war.
Mit anderen Worte: Die Banken, bei denen der Staat Schulden aufnimmt,
um die Stützungsaktionen zu finanzieren, mit denen er einem Opfer beistehen will, haben nicht nur bereits die Beute unter sich aufgeteilt, sondern
bereichern sich jetzt auch noch an dem Versuch, ihnen – den Banken – diese Beute wieder zu entreißen.
Seit der Mexikokrise hat der IWF eine entscheidende Rolle bei der Sondierung der finanziellen Terrains gespielt, auf dem die globalen Geldmanager ihre spekulativen Überfälle durchführen. Die großen Banken sind dringend auf den Zugang zu Insider-Informationen angewiesen. Sie wollen einen möglichst direkten Zugang zu den Details der IWF-Verhandlungen mit
den Mitgliedsländern, um ihre Spekulationsangriffe noch effektiver führen
zu können, und rufen daher – unter Hinweis auf die nötige »Transparenz« –
den IWF auf, »wertvolle Erkenntnisse« über dessen Verhandlungen mit nationalen Regierungen »zu liefern, ohne vertrauliche Informationen preiszugeben«.23 Die sechs großen Geschäftsbanken der Wall Street, darunter
Chase Manhattan, Bank America, Citigroup und J.P. Morgan, sowie die großen Handelsbanken – Goldman Sachs, Lehman Brothers, Morgan Stanley
und Salomon Smith Barney – sind bereits bei den Beratungen über die
Klauseln der asiatischen Stützungsaktionen zu Rate gezogen worden. In
grausamer Ironie kontrollieren Spekulanten, nicht etwa gewählte Politiker,
das Krisenmanagement; in absurder Logik laden die G7-Finanzminister jene
Spekulanten, die die Finanzturbulenzen auslösen, dazu ein, Strategien zur
Entschärfung von Turbulenzen auf den Finanzmärkten zu entwickeln.
Obwohl theoretisch auf finanzielle Stabilität verpflichtet, geht es den
Banken in Wirklichkeit um den Zusammenbruch der nationalen Währungen.
In den Monaten vor der Asienkrise drängte das Institute of International
Finance (IIF) – eine Washingtoner Denkfabrik, die die Interessen von etwa
300 globalen Banken und Investmenthäusern vertritt – die Verantwortlichen
in den aufstrebenden Märkten, sie sollten »steigenden Wechselkursen, wo
nötig, entgegentreten«.24 Diese Forderung wurde auch dem IWF übermittelt
– verbunden mit der Bitte, sich ebenfalls für den Verfall nationaler Währungen einzusetzen.25
Tatsächlich hatte der IWF Indonesien kaum drei Monate vor dem dramatischen Kursverfall der Rupiah angewiesen, seine Währung nicht mehr zu
stützen. »Half der IWF, diese Krise zu beschleunigen?«, fragte Steve Forbes, amerikanischer Milliardär und Präsidentschaftskandidat. »Diese Organisation tritt für Offenheit und Transparenz in Volkswirtschaften ein, doch
sie wetteifert mit der CIA bei der Verschleierung ihrer Operationen. Hat der
IWF z.B. geheime Verhandlungen mit Thailand geführt und sich dabei für
die Abwertung ausgesprochen, die sofort diese katastrophale Kette von Ereignissen in Gang gesetzt hat?… Verschlimmerten die Rezepte des IWF die
Krankheit? Die Währung dieses Landes wurde auf absurde Tiefstände geprügelt.«26
Fiktive Ökonomie – realer Reichtum. In ihrem weltweiten Streben nach
Macht und Reichtum üben globale Banken und multinationale Konzerne weiter Druck aus, um die völlige Deregulierung der internationalen Kapitalflüsse und damit auch die ungehemmte Verschiebung von »heißem« und
»schmutzigem« Geld zu erreichen.27 Der IWF hat sich diese Forderungen zu
Eigen gemacht und sich 1998 formell verpflichtet, die Kapitalbewegungen
deregulieren zu wollen. Er will seine Satzung mit dem Ziel überarbeiten,
»die Liberalisierung der Kapitalbewegungen zu einem der Ziele des Fonds
zu machen und die Befugnisse des Fonds, soweit erforderlich, zu diesem
Zweck« auszudehnen.28 Michel Camdessus räumte zwar ein, dass »nach der
Öffnung ihres Kapitalverkehrs eine Reihe von Entwicklungsländern unter
spekulative Attacken geraten könnten«, wiederholte aber, dass sich dies
durch eine »solide makroökonomische Politik und robuste Finanzsysteme in
den Mitgliedsländern« vermeiden ließe – das Standardrezept des IWF für
wirtschaftliche Katastrophen.29
Währenddessen bleiben die tieferen strukturellen Ursachen der Wirtschaftskrise im Dunkeln. Geblendet vom neoliberalen Dogma, sind die Politiker unfähig, zwischen Lösungen und Ursachen zu unterscheiden. Die Öffentlichkeit wird in die Irre geführt. Begraben unter einer Flut von eigennützigen Medienberichten über die tödlichen Konsequenzen »wirtschaftlicher
Ansteckung«, finden ebenjene Marktmechanismen, die Ursache der Instabilität auf den Finanzmärkten sind, kaum Erwähnung.
Kasten 20.1
Die destabilisierenden Auswirkungen der Hedgefonds
Als »Interessengemeinschaft reicher Investoren« bezeichnet, wurden die
Hedgefonds vom Finanzestablishment geschaffen, um den Interessen
von Banken, Unternehmen und reichen Einzelpersonen zu dienen. Sie
sind zu einem integralen Bestandteil der Strukturen von Investmentbanken geworden und verfügen über ein ausgewiesenes Grundkapital von
etwa 300 Mrd. Dollar. Durch äußerst einträgliche Geschäfte ist dieses
Kapital jedoch mittlerweile in astronomische Höhen gestiegen: Vor dem
Zusammenbruch des Hedgefonds Long Term Capital Management
(LTCM) hatte sein Manager John Meriwether für jede Million eingetragenen Kapitals 500 Mio. Dollar investiert, insgesamt geschätzte 200 Mrd.
Dollar. Und diese Summe, für irgendwelche dunklen Investitionen in aufstrebenden Märkten, ist das Anlagevolumen nur eines einzigen Hedgefonds von insgesamt 4000! Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ein großer Teil des Hedgefonds-Geschäfts über Steueroasen abgewickelt und
nicht versteuert wird.
Die Hedgefonds-Manager haben allerbeste Verbindungen. Sie sind eng
mit großen Bankinteressen verbunden und üben beträchtlichen Einfluss
auf die Richtung der IWF-Reformen der G7-Staaten aus. Die Finanzminister und die Notenbanker dieser Staaten stimmen darin überein, dass es
unklug wäre, die Hedgefonds zu regulieren.
Die Hedgefonds sind in der Lage, Milliarden von Dollar über Nacht um die
ganze Welt zu transferieren, und stellen die Macht ganzer Staaten in den
Schatten. Ihre Operationen beruhen auf der Manipulation der Marktkräfte: Die Hedgefonds schöpfen große Reichtümer von der realen Wirtschaft
ab, was letztlich zur Anhäufung gewaltiger Schulden und zu der Schließung von Produktionsstätten führt.
Die dramatische Rettungsaktion eines Konsortiums der Wall Street für
den LTCM-Hedgefonds im September 1998, der urplötzlich Schulden in
Höhe von drei Milliarden Dollar verwaltete, ist nur die Spitze des Eisberges in einem globalen Spinnennetz von über 4000 Hedgefonds. John Meriwether, der LTCM leitet, war zuvor Manager bei Salomon Brothers.
In Kombination mit den Schwierigkeiten der peripheren Rentenmärkte
würde ein Scheitern der Hedgefonds auf die gesamte Struktur des westlichen Bankensektors zurückschlagen, einschließlich der 55 Bankenparadiese auf den Kaiman- und den Bermudainseln, in Luxemburg und anderswo. Die Instabilität der Aktienmärkte bedroht zudem die Zukunft von
Investmentfonds und Pensionsfonds:
Auch zu ihrem Portfolio gehören spekulative Investitionen.
Die Umstrukturierung der globalen Finanzmärkte und Finanzinstitutionen
hat – zusammen mit der Plünderung der Volkswirtschaften – die Anhäufung von riesigen Mengen privaten Reichtums ermöglicht. Ein großer Teil
davon verdankt sich rein spekulativen Transaktionen. Es besteht keine
Notwendigkeit mehr, Güter zu produzieren: Bereicherung findet zunehmend außerhalb der realen Wirtschaft, jenseits echter Wirtschaftstätigkeit in Produktion und Handel statt. 1996 waren »Erfolge am Aktienmarkt der Wall Street«, also Spekulationsgewinne, »hauptverantwortlich
für die exorbitante Zunahme von Milliardären«.3o
21.
Die Rekolonialisierung Koreas
In den letzten Novembertagen 1997 flog ein IWF-Team unter Leitung des
Troubleshooters Hubert Neiss nach Seoul. Sein Auftrag: eine Stützungsaktion nach mexikanischem Stil auszuhandeln, um die wirtschaftliche Stabilität
Südkoreas wiederherzustellen. Es war ein Präzedenzfall: Die bittere Medizin,
die der IWF gewöhnlich Ländern der Dritten Welt und Osteuropas verabreichte, wurde nun zum ersten Mal auf ein entwickeltes Industrieland angewandt. Und es war eilig:
Am 18. Dezember, also in gut drei Wochen, sollten Präsidentenwahlen
stattfinden, und es war nicht ausgemacht, mit wem man es dann zu tun
bekommen würde.
Washington hatte in Zusammenarbeit mit der US-Botschaft sorgfältig die
Bühne bereitet. Auf nicht sonderlich sanften Druck hin hatte Noch-Präsident
Kim Young Sam kaum eine Woche vor Ankunft der IWF-Mission seinen Finanzminister Kang Kyong Shik entlassen, weil dieser angeblich die Verhandlungen mit dem IWF behindert hatte. Sein Nachfolger Lim Chang Yuel war
wie zufällig ein ehemaliger IWF- und Weltbankmitarbeiter den Koreas Militärherrscher in den 80er Jahren zur Zeit des Ausnahmezustands nach Washington entsandt hatten. Auch der Wirtschaftsberater des Präsidenten, Kim
In Ho, wurde kurzfristig entlassen, weil er die »IWF-Option verächtlich zurückwies und sagte, Seoul würde die internationale Glaubwürdigkeit durch
eigene Anstrengungen wiederherstellen«.31
Finanzminister Lim machte sich, kaum ernannt, eilends auf den Weg
nach Washington zu Verhandlungen mit seinem ehemaligen Kollegen, dem
stellvertretenden IWF-Direktor Stanley Fischer. Merkwürdigerweise stand
dieser Termin schon fest, bevor Lim ins Kabinett berufen wurde.
Der neue Präsident knickt ein. Die Verhandlungen der Regierung mit
dem IWF, ob nun in Washington oder in Seoul, waren ein streng gehütetes
Geheimnis. Erst am Freitag, dem 21. November gab die Regierung offiziell
bekannt, dass sie sich um eine Stützungsaktion des IWF bemühe. Am nächsten Werktag, dem 24. November, stürzte die Börse wegen der befürchteten IWF-Maßnahmen und der dann zu erwartenden Unternehmensund Bankzusammenbrüche auf ein Zehnjahrestief – es war der »Schwarze
Montag von Seoul«. Dabei hieß es doch offiziell, dass die Intervention des
IWF dem Land helfen sollte, »Vertrauen und wirtschaftliche Stabilität wiederherzustellen«. Getreu die Anweisungen aus Washington befolgend, hob
Finanzminister Lim alle Devisenkontrollen auf, um »ausländische Investoren
zurückzuwerben« – und forderte damit unweigerlich weitere spekulative
Angriffe gegen den Besiegten heraus.32
Zwei Tage später, am 26. November, traf dann die erwähnte IWFDelegation unter Führung von Hubert Neiss auf dem Kimpo-Flughafen in
Seoul ein. Und gerade einmal vier Tage später am 30. November hatten
sich die Parteien auf eine vorläufige Vereinbarung geeinigt. Lim Chang Yuel
erklärte, etwaige Korrekturen würden »geringfügig sein und die Vereinbarung nicht substanziell« verändern.33 Tatsächlich gab es nichts, worüber
man sich noch hätte einigen müssen, schließlich war ja der Finanzminister
ein früherer IWF- und Weltbankmitarbeiter. Der Entwurf der Vereinbarung
war im IWF-Hauptquartier in Washington vor Ankunft der Delegation vorbereitet worden und die »politischen Lösungen« bereits in Konsultationen mit
der Wall Street und dem US-Finanzministerium beschlossene Sache.
Michel Camdessus flog am Morgen des 3. Dezember nach Seoul, um den
Deal abzuschließen. Der Präsident der Bank von Korea, Kyung Shik Lee,
und Finanzminister Lim unterschrieben eine formale »Absichtserklärung«,
die ebenfalls eilig mit der Hilfe von IWF-Vertretern entworfen worden war.34
Dass bei den Abschlussverhandlungen »inoffiziell« auch David Lipton, Unterstaatssekretär des US-Finanzministeriums, zugegen war, wurde der koreanischen Öffentlichkeit erst bekannt gegeben, als das 57-Mrd.-DollarPaket unterzeichnet und besiegelt war.35
Die IWF-Mission kam am 3. Dezember zu einem raschen Ende. Hubert
Neiss flog zurück nach Washington, wo am folgenden Tag, dem 4. Dezember, der Exekutivrat des IWF zusammentreten sollte, um die Abmachung zu
ratifizieren. Nach dessen Zustimmung räumte der stellvertretende Direktor
des IWF, Stanley Fischer, bei einer abschließenden Pressekonferenz ein:
»Es gibt einen neuen stellvertretenden Premier- und Finanzminister, Herrn
Lim, der in den 80er Jahren jedoch glücklicherweise als Exekutivdirektor
beim Fonds und auch bei der Weltbank gearbeitet hat. Daher ist er mit diesen Institutionen vertraut. Aber er kam erst vor zwei Wochen ins Amt… Er
hat sich, wie zu erwarten, als ein sehr harter Verhandlungsführer erwiesen.
Und ich glaube, dass die Vereinbarung, die erreicht wurde, sehr viel Mut
und sehr viel Weisheit für die Zukunft der koreanischen Wirtschaft beweist.«36
Mit dem Rückenwind der IWF-Ratifizierung konnte Finanzminister Lim
noch am selben Tag mit einer vorbereiteten Erklärung im Fernsehen vor
seine Landsleute treten und post festum um Entschuldigung bitten: »Ich
entschuldige mich im Namen der Mitarbeiter des Finanzministeriums beim
Volk… Die Währungskrise in den südostasiatischen Ländern hat zu unserer
Devisenkrise geführt. Wir haben nicht weise (auf die Krise) reagiert. Ich
entschuldige mich dafür dass wir das Stützungspaket des IWF akzeptieren
mussten.«37
Aber der Deal war noch nicht endgültig unter Dach und Fach. Der Präsidentschaftskandidat der Mitte-links-Opposition, Kirn Dae Jung, präsentierte
sich als entschiedener Gegner der IWF-Stützungsaktion und beschuldigte
die scheidende Regierung, einen massiven Ausverkauf der koreanischen
Wirtschaft zu betreiben: »Ausländische Investoren können ganz nach Belieben unseren gesamten Finanzsektor, einschließlich der 26 Banken, 27 Investmentfirmen, zwölf Versicherungsgesellschaften und 21 Handelsbanken,
von denen alle an der koreanischen Börse notiert sind, für nur 5,5 Billionen
Won aufkaufen, also für 3,7 Mrd. Dollar.«38
Dann die politische Kehrtwende: Kaum zwei Wochen später, nachdem er
den Präsidentschaftswahlkampf gewonnen hatte, war Kim Dae Jung zu einem unerschütterlichen Befürworter der bitteren IWF-Medizin geworden:
»Ich werde mutig den Markt öffnen, in einer Weise, dass ausländische Investoren mit Zuversicht investieren.« Bei einer Massenveranstaltung bekräftigte er seine unbeirrbare Unterstützung für den IWF: »Die Reform wird
schmerzhaft sein, aber wir sollten dieses Risiko als Chance sehen.«39
Auf politischen Druck der Wall Street und Washingtons war Kim Dae
Jung – ehemaliger Dissident, politischer Gefangener und entschiedener
Gegner der von den USA unterstützten Militärregimes von Park Chung Hee
und Chun Doo Hwan – noch vor seiner Amtseinführung als demokratisch
gewählter Präsident des Landes eingeknickt.
Sondersitzungen mit weit reichenden Folgen. Trotz Kim Dae Jungs
Unterstützung blieb für die Umsetzung der IWF-Vereinbarung noch allerlei
zu tun. Schließlich mussten neue Gesetze her um u.a. die beabsichtigten
Massenentlassungen ordnungsgemäß abzuwickeln. Man verlor keine Zeit.
Der Unterstaatssekretär des US-Finanzministeriums David Lipton flog abermals nach Seoul. Dieses Mal wurde seine Anwesenheit offiziell bekannt gegeben. Am 22. Dezember ließ sich Kirn Dae Jung zu einem Treffen mit Lipton herbei, in dem es um die Notwendigkeit ging, »Arbeitnehmer als Teil
der industriellen Umstrukturierung zu entlassen und die Wirtschaft wettbewerbsfähig zu machen«.40 Eine Sondersitzung des Parlaments wurde für
den 23. Dezember anberaumt, auf der Kirn grünes Licht von den Volksvertretern erhielt. Die vier wichtigsten Gesetze der Regierung zur Erfüllung der
IWF-Vereinbarung wurden eilends und praktisch ohne Debatte ratifiziert.41
Das südkoreanische Parlament verwandelte sich in ein reines Abnickgremium.
Nach
dieser
Sondersitzung
war
die
Zentralbank
so
regierungsunabhängig, wie sich das der IWF gewünscht hatte. Nun konnte der
koreanische Staat die Wirtschaftsentwicklung des Landes nicht mehr durch
eine eigene Geldpolitik finanzieren, d.h. durch heimische Kredite, ohne von
ausländischen Darlehen abhängig zu sein. Dabei war das System staatlich
unterstützter Kredite für Koreas dynamische Industrieentwicklung in den
vorangehenden 40 Jahren von großer Bedeutung gewesen.
Wie zur Belohnung für das erwiesene Wohlverhalten stufte die RatingAgentur Moody´s Investor Service, die im Namen der US-Bankeninteressen
agiert, die koreanischen Staats- und Unternehmensanleihen, darunter die
von 20 Banken, zu Junk-Bonds herab.42
Kasten 21.1
Ein 57-Mrd.-Dollar-Paket wird geschnürt
Chronologie 19. November bis 26. Dezember 1997
19. November Der scheidende Präsident Kirn Young Sam entlässt Finanzminister Kang Kyong Shik wegen »Behinderung der
Verhandlungen« mit dem IWF. Kang wird durch Lim Chang
Yuel ersetzt, einen ehemaligen Executive Director des IWF.
20. November Lim Chang Yuel eilt nach Washington zu Gesprächen mit
seinem früheren Kollegen, dem Deputy Managing Director
des IWF, Stanley Fischer.
21. November Die koreanische Regierung gibt offiziell bekannt, dass
sie eine Vereinbarung mit dem IWF anstrebt. Verhandlungsführer:
Lim Chang Yuel.
24.November Der »Schwarze Montag von Seoul«: Der koreanische Aktienmarkt stürzt wegen der erwarteten Sparmaßnahmen des
IWF-Pakets und befürchteter Unternehmens- und Bankenzusammenbrüche auf ein Zehnjahrestief.
26.November IWF-Delegation unter Führung von Hubert Neiss trifft in
Seoul ein.
27.November Zwischen der IWF-Mission und koreanischen Regierungsvertretern beginnen die Geheimgespräche.
30.November Nach vier Verhandlungstagen einigen sich IWF und Regierung auf eine »vorläufige Vereinbarung«.
1.Dezember Der Entwurf der Vereinbarung wird dem koreanischen Kabinett zur Billigung vorgelegt.
3.Dezember Der IWF-Chef Michel Camdessus trifft in Seoul ein, um die
Verhandlungen abzuschließen. In Gesprächen mit Camdessus
erklärt
der
Unterstaatssekretär
des
USFinanzministeriums, David Lipton, dass der Deal nicht zustande kommen kann, wenn nicht alle drei Präsidentschaftskandidaten der IWF-Stützungsaktion ihre Unterstützung zusichern.
4.Dezember Vom Exekutivausschuss des IWF wird der endgültige Text
der Vereinbarung ratifiziert und eine erste Tranche von 21
Mrd. Dollar bereitgestellt.
5.Dezember Präsidentschaftskandidat Kim Dae Jung erklärt seine Ablehnung der IWF-Vereinbarung und warnt die Öffentlichkeit
vor vernichtenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen.
18.Dezember Kim Dae Jung gewinnt die Präsidentschaftswahlen und erklärt umgehend seine bedingungslose Unterstützung des
IWF-Programms.
22.Dezember David Lipton trifft in Seoul ein und verlangt von Kim Dae
Jung, Massenentlassungen zuzustimmen.
23.Dezember Sondersitzung des Parlaments. Es billigt die vier wichtigsten Gesetze der Regierung zur Durchführung des IWFProgramms.
24.Dezember Wall-Street-Banker treffen sich zu einer weihnachtlichen
Notsitzung. Um Mitternacht stimmt der IWF der sofortigen
Anweisung von zehn Mrd. Dollar an Korea zu.
26.Dezember Kirn Dae Jung verpflichtet sich zu harten Maßnahmen:
»Die Unternehmen müssen ihre Löhne einfrieren oder kürzen. Sollte dies nicht ausreichen, sind Entlassungen unvermeidlich.«
Einen Tag nach der Sondersitzung des koreanischen Parlaments, also am
Heiligabend, fiel die letzte Entscheidung über den 57-Mrd.-Dollar-Deal in
New York. Die Topfinanziers der Wall Street von der Chase Manhattan, Bank
America, Citicorp und J.P. Morgan sowie die Repräsentanten der großen
New Yorker Handelsbanken Goldman Sachs, Lehrnan Brothers, Morgan
Stanley und Salomon Smith Barney wurden zu einem Treffen in der Zentralbank gebeten.43 Nahezu gleichzeitig kamen in Frankfurt hinter verschlossenen Türen etwa 80 europäische Gläubiger unter Vorsitz der Deutschen
Bank zusammen, während sich die zehn großen japanischen Banken, die
einen beträchtlichen Anteil der kurzfristigen koreanischen Schulden hielten,
in Tokio mit Kyung Shik Lee, dem Präsidenten der Bank von Korea, trafen.
Nachdem der IWF um Mitternacht grünes Licht von den Banken erhielt,
konnte er »sofort zehn Milliarden Dollar an Seoul anweisen, um die jetzt
massenhaft fällig werdenden kurzfristigen Kredite zu begleichen«.44
Diese Treffen an Weihnachten waren entscheidend. Die Banken bestanden darauf, dass die Milliarden-Dollar-Stützung – finanziert von den G7Staaten, dem IWF, der Weltbank und der Asian Developrnent Bank – unter
keinen Umständen zu positiven Kapitalzuflüssen nach Korea führen sollte.
Die Tresore der koreanischen Zentralbank waren geplündert. Gläubiger und
Spekulanten warteten begierig darauf, die Beute einzufahren. Das Stützungsgeld war folglich nur dafür vorgesehen, westliche und japanische Finanzinstitute sowie Devisenhändler auszuzahlen. Dieselben Institute, die
zuvor gegen den koreanischen Won spekuliert hatten, kassierten nun das
Stützungsgeld des IWF. Ein glatter Betrug also. Korea war dazu verurteilt,
diese Milliardenschulden bis zum Jahr 2006 zu bedienen.
Die Stützungsaktion des IWF unterminierte die wirtschaftliche Souveränität Koreas und etablierte de facto eine koloniale Administration unter einem
demokratisch gewählten Präsidenten. Sie stürzte das Land praktisch über
Nacht in eine tiefe Rezession. Die sozialen Auswirkungen waren vernichtend. Der Lebensstandard brach zusammen, die IWF-Reformen drückten die
Reallöhne und lösten massive Arbeitslosigkeit aus.
Die Vereinbarung hob alle Begrenzungen für ausländisches Eigentum auf
und öffnete den heimischen Bondmarkt für ausländische Investoren: »Aus-
ländische Finanzinstitute werden in unbeschränktem Umfang Anteile an
heimischen Banken erwerben können.«45 Auch die Zentralbank war faktisch
zerschlagen und ausgeplündert. Schon im November waren ihre Devisenreserven auf ein Allzeittief von 7,3 Mrd. Dollar gestürzt. Die Finanz- und Geldpolitik Koreas wird jetzt von den ausländischen Gläubigern diktiert.
Zerschlagung und Ausverkauf. Auf der Linie des IWF-Programms lag
nicht zuletzt die Zerstückelung der koreanischen Chaebol. Diese großen
Konglomerate wurden ausdrücklich aufgefordert, strategische Allianzen mit
ausländischen Firmen einzugehen – und damit den Weg für ihre Übernahme
und Kontrolle durch ausländisches Kapital zu ebnen. Ausgewählte koreanische Banken sollten für ausländische Käufer attraktiver werden, indem sie
ihre faulen Kredite an einen »öffentlichen Stützungsfonds« abgaben, an die
Korea Asset Management Corporation. Die Autogruppe KIA, einer der größten Konzerne Koreas, erklärte ihre Zahlungsunfähigkeit. Ein ähnliches
Schicksal ereilte die Halla Group, ein großer Autozulieferer sowie Schiff- und
Maschinenbaukonzern.
Direkt im Namen der Wall Street verlangte der IWF die Zerschlagung der
Daewoo Group einschließlich des Verkaufs der zwölf DaewooTochtergesellschaften, die »in Schwierigkeiten« waren. Daewoo Motors
stand zum freien Verkauf, die gesamte Autozuliefererindustrie des Landes
war in der Krise, Koreas größtes Geschäftsimperium Hyundai sollte »entflochten«, d.h. zerschlagen werden, damit das ausländische Kapital zu günstigen Preisen die »Scherben auflesen« konnte.
Die vom IWF aufgezwungene Einfrierung der Kredite hinderte die Zentralbank daran, den angeschlagenen Unternehmen zu Hilfe zu kommen.
Und die Geschäftsbanken »sperren sich zunehmend gegen Kredite an Unternehmen, um sich für die knappere Geldzufuhr der Zentralbank zu wappnen«.46 Mehr als 90 Prozent der Baufirmen standen kurz vor dem Bankrott
– mit Schulden von zusammengenommen 20 Mrd. Dollar bei heimischen
Finanzinstituten.47
Ein Fusions- und Übernahmeboom brach aus. Koreas Hightech-, Elektronik- und Fertigungsindustrie standen zum Verkauf. Westliche Unternehmen
gingen auf Einkaufstour und kauften Konzerne zu Billigstpreisen. Die Abwertung des Won – verbunden mit dem Absturz der Seouler Börse – hatte den
Dollarwert koreanischer Vermögenswerte dramatisch gesenkt.
Die Hanwha Group verkaufte ihre Ölraffinerien an Royal Dutch/Shell,
nachdem sie die Hälfte ihres Chemie-Joint-Venture an BASF verkauft hatte.
In wenigen Monaten war der Marktwert von Samsung Electronics, dem
weltgrößten Produzenten von Speicherchips, von 6,5 auf 2,4 Mrd. Dollar gefallen. »Es ist jetzt billiger, eines von diesen Unternehmen zu kaufen als
eine Fabrik – und man bekommt den ganzen Vertrieb, den Markennamen
und die ausgebildeten Arbeitskräfte gleich dazu.«48
Zu den vom IWF geforderten Marktreformen gehörte seltsamerweise
auch die »Verstaatlichung« der großen Geschäftsbanken Korea First Bank,
Seoul Bank, der mit der Hanil Bank fusionierten Commercial Bank of Korea,
der Korea Exchange Bank und der Cho Hung Bank49 – aber wohl nur deshalb, um sie auf diesem Umweg desto besser reprivatisieren zu können.
Die Korea First Bank und die Seoul Bank kamen sofort unter den Hammer. Den Verkauf übernahm eines der größten Investmenthäuser der Wall
Street: Morgan Stanley Dean Witter. Nur seriöse ausländische Investoren
sollten mitbieten dürfen.
Amerikanische Tycoons eilen zu Hilfe. Amerika kam Koreas angeschlagenen Banken »zu Hilfe«, doch die Auktion der Geschäftsbanken war ein
nur zu offensichtlicher Betrug und Ausverkauf. Für magere 454 Mio. Dollar
ging die Mehrheitsbeteiligung (51 Prozent) an der Korea First Bank in die
Hand von Newbridge Capital Ltd. über, eine auf hochgradig fremdkapitalfinanzierte Übernahmen spezialisierte US-Gruppe.50 Newbridge wurde
von dem US-Finanzier Richard Blum, dem Ehemann der kalifornischen Senatorin Dianna Feinstein, in Partnerschaft mit dem texanischen Milliardär
David »Bondo« Bonderrnan von der Texas Pacific Group kontrolliert. Bonderman seinerseits ist ein enger Geschäftspartner eines weiteren prominenten Tycoons aus Texas, Robert Bass, der sich ebenfalls an der Übernahme
der Korea First Bank beteiligte.
Mit einem Schlag hatte eine kalifornische Investmentfirma – erkennbar
ohne Erfahrung im Geschäftsbankensektor – die Kontrolle über eines der
ältesten koreanischen Bankinstitute mit 5000 Beschäftigten und einem modernen Filialnetz im ganzen Land erlangt. Und die westlichen Finanzmedien
applaudierten Newbridge Capital zu dem fairen Angebot, für die Korea First
Bank 500 Mrd. Won (454 Mio. Dollar) hinzublättern. Tatsächlich zahlten
Blum, Bonderman und Partner bei dem IWF-geförderten Betrug nicht einen
einzigen Dollar ihres eigenen Geldes. Die Korea First Bank fiel ihnen kostenlos in den Schoß.51
In ihrer Vereinbarung mit Newbridge gewährte die Regierung der Korea
First Bank so genannte Rückgabeoptionen (put back options), die den neuen Eigentümern eine Kompensation für alle faulen Kredite einräumte, die
vor dem Kauf angefallen waren. In der Praxis hieß das, dass die Regierung
in mehreren Tranchen insgesamt 17,3 Billionen Won in die Korea First Bank
schoss, also das Fünfunddreißigfache des Preises, den sie von Newbridge
Capital erhalten hatte. Eine neue Spielart der Wegelagerei: Eine völlig fiktive »Investition« von 454 Mio. Dollar hatte es Blum, Bonderman und Partner
ermöglicht, ein Regierungsgeschenk von 15,9 Mrd. Dollar einzustreichen.
Nicht schlecht! Und der Auktionator Dean Witter von Morgan Stanley kassierte bei diesem lukrativen Betrug auch noch fette Kommissionen sowohl
von der koreanischen Regierung als auch von den neuen amerikanischen
Eigentümern der Korea First Bank.
Und wie finanzierte die Regierung dieses Milliarden-Dollar-Geschenk? Natürlich durch niedrigere Löhne, massive Entlassungen von Staatsbediensteten, drastische Kürzungen der Sozialleistungen und mit Milliarden von Dollar
geliehenen Geldes.
Die koreanische Regierung war in einen Teufelskreis geraten. Das Milliardengeschenk zugunsten der Wall Street wurde mit Krediten der Wall Street,
des IWF und der Weltbank finanziert. Die Regierung finanzierte also ihre
eigene Verschuldung. Tatsächlich waren zwei Milliarden Dollar der kurz vor
dem Ausverkauf der Korea First Bank von der Weltbank bewilligten Kredite
dafür vorgesehen, amerikanischen Investoren zu »helfen«, sich im koreanischen Bankensektor Mehrheitsbeteiligungen zu verschaffen.
Die neuen amerikanischen Eigentümer der Korea First Bank waren von
einem zum anderen Tag Gläubiger der einst mächtigen, nun in die Knie gezwungenen koreanischen Konzerne geworden. Die koreanischen Manager
wurden entlassen. Neuer, von Newbridge ernannter Präsident der Korea
First Bank wurde Robert Barnum, ein erfolgreicher Finanzier aus der texanischen Finanzwelt mit engen Verbindungen zu dem Milliardär Robert Bass
aus Forth Worth und seiner Robert Bass Group. Ebenfalls an Bord war Micky
Kantor, ehemaliger US-Handelsminister und zuvor NAFTA-Verhandlungsführer unter George Bush, zusammen mit dem Immobilienmagnaten
Thomas Barrack aus Los Angeles, Vorsitzender von Colony Capital Inc. ehedem persönlicher Geldmanager von Robert Bass.52
Finanziert von der koreanischen Staatskasse, wurden die neuen texanischen und kalifornischen Eigentümer der Korea First Bank somit zu »heimischen Gläubigern« der angeschlagenen koreanischen Konzerne. Ohne einen
einzigen Dollar zu investieren, hatten sie nun die Macht, ganze Branchen
der koreanischen Industrie nach Belieben umzubilden, zu rationalisieren
oder zu schließen, einschließlich der Elektronik-, Auto-, Schwer- und Halbleiterindustrie. Das Schicksal der Arbeitnehmer der Chaebol lag ebenfalls in
Händen der neuen amerikanischen Eigentümer. Tatsächlich erforderten die
meisten Übernahmen und Entflechtungen der Chaebol nun die Zustimmung
der westlichen Finanzinteressen.
Wir wollen mit dieser Geschichte aber nicht den Eindruck erwecken, als
seien in Korea deutsche Geschäftsinteressen ganz leer ausgegangen. Als
Teil des IWF-Programms übernahm die Deutsche Bank das Management der
Seoul Bank, die zusammen mit der Korea First Bank »verstaatlicht« worden
war. Mittlerweile arbeitete Hubert Neiss, der die unheilvolle Stützungsaktion
im Dezember 1997 ausgehandelt hatte, nicht länger für den IWF: Er war
zum Präsidenten der Deutsche Bank Asia in Hongkong ernannt worden. Zu
seinen neuen Aufgaben gehört das Management der Seoul Bank, dessen
Bedingungen in dem IWF-Programm festgelegt sind, das er selbst als Mitglied des IWF in Washington ausgearbeitet hatte.53
In einem ähnlichen Deal erhielt die mit der Deutschen Bank konkurrierende Commerzbank die Managementkontrolle über die Korea Exchange
Bank.54 Auch die beiden deutschen Banken waren also über Nacht zu Gläubigern der Chaebol geworden, ohne auch nur eine einzige Mark zu investieren. Als Manager im Namen der koreanischen Regierung kontrollieren
Deutsche Bank und Commerzbank nun die Umschuldung der faulen Kredite
der Chaebol und die verschiedenen Übernahmeangebote für koreanische
Industrieunternehmen durch ausländisches Kapital.
… und morgen ganz Korea? 1945 wurde die Kolonialherrschaft der Japaner auf der koreanischen Halbinsel von der politischen und militärischen
Dominanz der USA verdrängt. General MacArthur setzte unter Syngman
Rhee, einem Koreaner, der in den USA im Exil gelebt hatte, eine proamerikanische Marionettenregierung ein.
Im Schatten dieses Regimes kontrollierten koreanische Wirtschaftsgruppen weitgehend die Wirtschaftspolitik. Das neue System indirekter Herrschaft bot einem »nationalen Kapitalismus« gedeihliche Entwicklungschancen. Die koreanischen Chaebol wurden schließlich zu einer machtvollen
Größe auf den internationalen Märkten.
Das Wachstum des koreanischen Kapitalismus war jedoch nur von relativ
kurzer Dauer. Bereits in den 80er Jahren führte die wirtschaftliche Globalisierung zu schrumpfenden Märkten und einer durch Überproduktion gekennzeichneten Weltwirtschaft (siehe Kapitel 3). In den 90er Jahren intensivierte sich die Rivalität und Konkurrenz zwischen den Konzernen. Die koreanischen Chaebol galten als Eindringlinge, die amerikanische, europäische
und japanische Konzerninteressen verletzten. Die Stützungsaktion des IWF
von 1997 diente deshalb bewusst dem Ziel, den koreanischen Kapitalismus
zu schwächen, die Wirtschaftseliten zu entmachten und die Industrien der
Chaebol zu konfiszieren.
Aber, den »Tiger zu zähmen« hieß auch, das 1945 eingeführte System
der indirekten Kolonialherrschaft aufzugeben. Mit Präsident Kim Dae Jung
wurde ein ganz neues Regierungssystem etabliert. Insofern markiert die
Unterzeichnung der Stützungsvereinbarung mit dem IWF im Dezember
1997 also auch eine wichtige Veränderung der Struktur des koreanischen
Staates.
Anfang Juni 2000, nur wenige Tage vor dem historischen Gipfel zwischen
Nord- und Südkorea, wurde abermals eine Verhandlungsdelegation des IWF
nach Seoul entsandt. Das Timing war gut gewählt: Der Besuch der IWFOffiziellen wurde von der koreanischen Presse kaum zur Kenntnis genommen. Fest hinter Präsident Kirn Dae Jung vereint, richteten die Südkoreaner ihren Blick hoffnungsvoll auf die mögliche Wiedervereinigung des
Landes. Andere politische Fragen traten in den Hintergrund.
Ungestört konnte das IWF-Team hinter den Kulissen letzte Hand an die
zweite IWF-Vereinbarung mit Südkorea legen, darunter eine Absichtserklärung, die der jetzige Finanzminister Lee Hun Jai noch vor seiner Abreise
nach Pjöngjang unterzeichnete.
Die zweite Vereinbarung ist noch tödlicher als die erste vom Dezember
1997. Ohne irgendeine öffentliche Debatte gesteht die südkoreanische Regierung dem IWF zu, die heimische Wirtschaft weiter bis 2003 im Würgegriff zu halten. Die zweite Vereinbarung, ein so genanntes Memorandum of
Economic and Financial Policies, legt weit detaillierter als das umstrittene
Stützungspaket von 1997 genau die zu ergreifenden Maßnahmen fest: die
Zerstückelung und Abwicklung des südkoreanischen Kapitalismus über einen Zeitraum von drei Jahren.55
Doch der IWF-Mission ging es um noch mehr. Gemeinsam mit der USBotschaft instruierte die Delegation Lee Hun Jai, der auf dem PjöngjangGipfel die Gespräche über die innerkoreanische Wirtschaftskooperation führen sollte, über die Wünsche des Westens. Lee ist ein treuer Günstling des
IWF: Bevor er seinen Posten als Finanzminister antrat, war er für die berüchtigte Financial Supervisory Comrnission verantwortlich, ein mächtiges,
vom IWF finanziertes Aufsichtsgremium, das sich darum kümmerte, die
Chaebol in den Bankrott zu treiben. Sorgfältig instruiert, sollte Finanzminister Lee nun unter dem Deckmantel »innerkoreanischer Wirtschaftszusammenarbeit« die amerikanischen Wirtschaftsinteressen zur Geltung
bringen. Washingtons verstecktes Ziel beim Wiedervereinigungsprozess ist
letztlich die Rekolonialisierung der gesamten koreanischen Halbinsel.
Im Rahmen des in Pjöngjang unterzeichneten innerkoreanischen Kooperationsabkommens verpflichtete sich die Regierung in Seoul zu Investitionen in Nordkorea. Der größte koreanische Konzern, Hyundai, sollte im Norden investieren und Fabriken bauen.
Aber da die koreanischen Chaebol – einschließlich Hyundai – von amerikanischen Unternehmen übernommen worden sind bzw. sukzessive übernommen werden, könnte sich die »innerkoreanische Wirtschaftskooperation« als verschleierte Form ausländischer Investitionen und als eine neue
Bereicherungsmöglichkeit für die Wall Street herausstellen: »Kim Dae Jungs
Strategie besteht darin, Pjöngjang bei seiner Entwicklung zu helfen, seine
billigen Arbeitskräfte zu nutzen, ein gutes Klima zu schaffen und eine Infrastruktur aufzubauen, die auch im südkoreanischen Interesse liegt… Jeder
muss den Anschein wahren, als würde dem nordkoreanischen Regime nichts
geschehen, dass es sich öffnen und gleichzeitig seine Macht behalten kann
und dass wir dabei helfen, Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu treffen… Aber letztlich hoffen wir, sie damit zu unterminieren. Es ist ein Trojanisches Pferd.«56
Die Regierung des Friedensnobelpreisträgers Kirn Dae Jung bat die Bühne für Washington bereitet. Mit dem US-Militär im Hintergrund könnte die
Wiedervereinigung, auf die alle Koreaner hoffen, zur Erzwingung so genannter »Marktreformen« in Nordkorea führen – ein Prozess, der in die Rekolonialisierung und die Verarmung der gesamten koreanischen Halbinsel unter
der Vorherrschaft des amerikanischen Kapitals münden würde.
22.
Der brasilianische Finanzbetrug
Am Schwarzen Mittwoch, dem 13. Januar 1999, gab die Börse von Sao Paulo den spekulativen Angriffen nach. Die Tresortüren der brasilianischen Zentralbank wurden weit aufgestoßen, die gleitende Anbindung des Real an den
US-Dollar war gebrochen.
Notenbankchef Gustavo Franco wurde von dem Wirtschaftsprofessor
Francisco Lopes ersetzt, der zusammen mit Finanzminister Pedro Malan eilends zu hochrangigen »Beratungen« mit dem IWF und dem USFinanzministerium nach Washington entsandt wurde. Ihr Wochenendtrip
war eine Vorbereitung auf das morgendliche Treffen mit den Gläubigern
Brasiliens ein paar Tage darauf in der New Yorker Zentralbank. Auf der
Frühstücksliste standen der Quantum Hedgefonds-Spekulant George Soros,
der Vizepräsident von Citigroup, Williarn Rhodes, Jon Corzine von Goldman
Sachs und David Komansky von Merrill Lynch.57 Dieses private Treffen hinter verschlossenen Türen war entscheidend, denn Rhodes war zugleich Vorsitzender des New York Banking Committee, des Zusammenschlusses der
privaten Gläubiger Brasiliens. Er hatte schon mit dem Präsidenten Fernando
Henrique Cardoso verhandelt, als dieser 1993/94 noch brasilianischer Finanzminister war. Die Umschuldung der brasilianischen Auslandsschulden –
zusammen mit der Durchführung des Real-Plans – war vom New York Banking Committee erzwungen worden. Dieses wirtschaftliche »Stabilisierungs«-Programm hatte dazu beigetragen, Brasiliens interne Schulden von
60 Mrd. Dollar 1994 auf mehr als 350 Mrd. Dollar 1998 hochzutreiben (siehe Kapitel 13).
Die »asiatische Grippe« und die präventive Wirtschaftsmedizin.
Währenddessen wurde die Öffentlichkeit mit Bedacht über die Gründe des
Kurssturzes getäuscht, indem man die Behauptung lancierte, die »asiatische
Grippe« breite sich aus. Beiläufig gaben die Medien auch Itamar Franco die
Schuld, dem »Schurken«-Gouverneur des brasilianischen Bundesstaates
Minas Gerais und ehemaligem Staatspräsidenten, weil er gegenüber der
Bundesregierung ein 90-tägiges Schuldenmoratorium verkündet hatte.58 Die
Drohung einer bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit der Bundesstaaten, so
wurde gesagt, zöge die »wirtschaftliche Glaubwürdigkeit« Brasilias in Zweifel.
Der brasilianische Nationalkongress wurde ebenfalls verantwortlich gemacht, weil er angeblich die tödliche Medizin des IWF nicht rasch und bedingungslos abgenickt hatte. Das IWF-Programm forderte Budgetkürzungen
in der Größenordnung von 28 Mrd. Dollar, einschließlich massiver Entlassungen von Staatsbediensteten, des Abbaus von Sozialprogrammen, des
Verkaufs von Staatseigentum, der Einfrierung von Transferzahlungen an die
Bundesstaaten und der Kanalisierung von Staatseinnahmen in den Schuldendienst.
Mit der Forderung nach einer restriktiven Geldpolitik zielten die internationalen Finanzorganisationen in Washington in Abstimmung mit der Wall
Street – wie immer – auch darauf, die industrielle Basis Brasiliens zu destabilisieren, den internen Markt zu übernehmen und das Privatisierungsprogramm zu beschleunigen. Der Eckzins für Tagesgeld wurde auf Anweisung
des IWF auf ungeheure 39 Prozent (p.a.) angehoben, was Kreditzinsen bei
Geschäftsbanken von 50 bis 90 Prozent im Jahr bedeutete. Die brasilianische Fertigungsindustrie, gelähmt durch unüberwindliche Schulden, wurde
in den Bankrott getrieben. Die Kaufkraft sackte ab; die Zinsen für Konsumentenkredite lagen bei 150 bis 250 Prozent, was zu massiven Kreditausfällen führte.59
Zwar konnte auf dem Finanzmarkt zeitweilig wieder Vertrauen hergestellt werden, doch der Real verlor mehr als 40 Prozent seines Wertes, was
zu einem sofortigen Anstieg der Preise für Treibstoff, Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs führte. Der Sturz der Währung trug dazu bei, den
Lebensstandard brutal zu senken, in einem Land mit 160 Millionen Einwohnern, von denen bereits mehr als 50 Prozent unter der Armutsschwelle leben.
Die Abwertung zog auch Sao Paulos Industriegürtel in Mitleidenschaft,
wo die (offizielle) Arbeitslosenrate auf 17 Prozent kletterte. In den Tagen
nach dem Schwarzen Mittwoch, dem 13. Januar 1999, kündigten multinationale Unternehmen wie Ford, General Motors und Volkswagen Kurzarbeit
und massive Entlassungen an.60
Auf den ersten Blick schien der Einbruch in Brasilien eine Wiederholung
der asiatischen Währungskrise von 1999 zu sein. Die tödliche Wirtschaftsmedizin des IWF ähnelte im Großen und Ganzen jener, die 1997/98 Korea,
Thailand und Indonesien verabreicht worden war. Doch es gab einen auffälligen Unterschied im zeitlichen Ablauf: In Asien waren die Stützungsaktionen des IWF sofort nach, nicht vor der Krise ausgehandelt worden. Der
IWF war den »asiatischen Tigern« also nach den spekulativen Angriffen »zu
Hilfe« gekommen, sobald die nationalen Währungen abgestürzt waren und
die Länder vor unüberwindlichen Schulden standen.
Im Gegensatz dazu wurde die Finanzoperation des IWF – Teil eines 90Mrd.-Dollar-Vorsorgefonds der G7-Staaten – im Falle Brasiliens im November 1998 genau zwei Monate vor dem Finanzcrash auf den Weg gebracht.
Die Wirtschaftsmedizin sollte der Vorbeugung, nicht der Therapie dienen.
Offiziell zielte sie darauf ab, ein Finanzdesaster abzuwenden. Die politischen
Architekten des Fonds, US-Finanzminister Robert Rubin und sein britischer
Kollege Gordon Brown, erklärten: »Wir müssen mehr tun…‚ um die Ausschläge der Booms und Einbrüche zu begrenzen, die die Hoffnung zerstören
und den Wohlstand mindern.«61
In der Praxis erreichte der Fonds genau das Gegenteil. Statt spekulative
Angriffe abzuwehren, trug er dazu bei, den Abfluss von Kapital zu beschleunigen. 20 Mrd. Dollar flossen innerhalb von zwei Monaten aus Brasilien ab,
nachdem der IWF das »Vorsorgepaket« im November gebilligt hatte – eine
Summe, die den massiven Haushaltskürzungen entsprach, die der IWF im
Vorhinein verlangte.
Kasten 22.1
Ein Marshallplan für Gläubiger und Spekulanten
Nach dem Zusammenbruch des russischen Rubels 1998 wurde ein Vorsorgefonds in Höhe von 90 Mrd. Dollar unter der Schirmherrschaft der
G7 und des IWF eingerichtet, um »verwundbare, aber im Wesentlichen
gesunde Volkswirtschaften« vor Währungs- und Aktienspekulationen zu
schützen. Der internationalen Gemeinschaft geschickt als rechtzeitige
»Lösung« der globalen Finanzkrise präsentiert, sollte der Vorsorgefonds
unter Verwaltung des IWF als Mittel dienen, »Finanzturbulenzen, die sich
in einem Ansteckungsprozess von Land zu Land ausbreiten«, entgegenzutreten. Brasilien sollte als erstes Land in den Genuss von Mitteln
des neuen Fonds kommen.
Der Vorsorgefonds wird in die Geschichte als größter Betrug der Nachkriegszeit eingehen. Statt Spekulanten abzuschrecken, vermindert allein
seine Existenz das Risiko spekulativer Operationen. Es überraschte daher
nicht, dass die globalen Banken und Investmenthäuser – durch ihre Hedgefonds wohl geübt in der Kunst der Finanzmanipulation – vorbehaltlos
die G7-Initiative unterstützten. Kaum von den Medien analysiert, wird
der Fonds die Kontrolle institutioneller Spekulanten über die globalen Finanzmärkte verstärken und ihnen einen wirkungsvolleren Hebel an die
Hand geben, um makroökonomische Reformen zu erzwingen.
Der Fonds wurde – aus der Tasche der Steuerzahler – mit einer schier
gewaltigen Geldsumme ausgestattet, um künftige spekulative Angriffe zu
finanzieren: Die 90 Mrd. Dollar stellen einen Marshallplan für institutionelle Spekulanten dar und gleichen auch in ihrer Größenordnung dem
echten Marshallplan (86,6 Mrd. Dollar in Preisen von 1995), der zwischen 1948 und 1951 dem Wiederaufbau Westeuropas diente.
Doch in scharfem Kontrast zum Marshallplan füllte das bei den Stützungsaktionen in Asien und Brasilien transferierte Geld die Taschen der
globalen Banken und führte zu einer beispiellosen Anhäufung von Reichtum. Nichts von
diesem Geld wird in den Wiederaufbau zerstörter Wirtschaften von Entwicklungsländern fließen. Der neue IWF-Fonds wird es internationalen
Banken und Finanzinstituten ermöglichen, rasch Schulden von Entwicklungsländern einzutreiben. Von den 90 Mrd. Dollar wurden 40 eingesetzt,
um sicherzustellen, dass Brasilien nach massiver Kapitalflucht gegenüber
seinen Gläubigern an der Wall Street nicht zahlungsunfähig wird.
Gebeutelt von Kapitalflucht, wurden die Zentralbankreserven Brasiliens
täglich um 400 Mio. Dollar erleichtert. Von den 75 Mrd. Dollar im Juli1998
schwanden die Reserven auf 27 Mrd. im Januar 1999. Die erste Tranche des
IWF-Kredits von über neun Milliarden Dollar – gewährt im November 1999 –
wurde bereits vergeudet, um Brasiliens notleidende Währung zu stützen.
Das Geld reichte kaum, um die Kapitalflucht eines einzigen Monats auszugleichen.
Einladung an Spekulanten. Die vom IWF finanzierte Operation diente
weitgehend dazu, Spekulanten in ihren tödlichen Überfällen zu bestärken.
Wenn das Geld des IWF-Vorsorgefonds erst eingetroffen ist und die Spekulanten das wissen, würde im Fall einer Devisenknappheit der brasilianischen
Zentralbank die Verfügbarkeit dieses Geldes Banken, Hedgefonds und institutionelle Investoren in die Lage versetzen, rasch eine milliardenschwere
Beute abzukassieren. Das im November unterzeichnete IWF-Programm trug
daher dazu bei, das Risiko solcher Angriffe zu reduzieren und die Spekulanten zu »beruhigen«.
Das Timing der Abwertung war Teil der IWF-List: Indem sie in den zwei
Monaten nach der IWF-Vereinbarung (13. November 1998) einen stabilen
Wechselkurs sicherstellte, erlaubte sie den Spekulanten, rasch zusätzliche
20 Mrd. Dollar einzustreichen.
Sowohl die Wall Street als auch die internationalen Finanzinstitutionen in
Washington wussten, dass eine Abwertung kurz bevorstand und das Präventivpaket nicht mehr als einen zeitweiligen Aufschub verschaffen würde.
Durch das IWF-Programm gewannen die Währungsspekulanten der Wall
Street Zeit. Die Zentralbank war von IWF und Wall Street instruiert, so lange wie möglich dagegenzuhalten. Durch diese List war es leichter, den
Reichtum des Landes zu plündern. Das Wirtschaftsteam des Finanzministeriums erklärte, man sei »überrascht« worden. Aber dort wusste man die
ganze Zeit, dass eine Abwertung bevorstand. Es war ein Ausverkauf. Im
Januar stimmte der IWF zu, die Währung sinken zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät, die Reserven der Zentralbank waren bereits
geplündert.
Vom Wirtschaftsgipfel in Davos machte sich Stanley Fischer, der Stellvertreter von Michel Camdessus und Hauptarchitekt des »präventiven« Kreditpakets, nach Brasilia auf, um die Bedingungen einer neuen Vereinbarung
auszuhandeln.
Die kurzfristigen Schulden waren in die Höhe geschossen, »neue politische Initiativen« erforderlich. Die mit dem IWF ein paar Monate zuvor ausgehandelten harten Sparmaßnahmen wurden als ungenügend angesehen,
um das Vertrauen dauerhaft wiederherzustellen. Neue Finanzziele wurden
festgesetzt. Nach dem bei den Stützungsaktionen in Asien abgesteckten
Muster sollte Brasilia »die Anstrengungen zur Privatisierung und zum Rückzug des Staates intensivieren und verbreitern«, die Liquidation der föderalen und staatlichen Banken in die Wege leiten und die Aneignung der Ener-
gie- und strategischen Sektoren Brasiliens, der öffentlichen Versorgen und
der Infrastruktur durch ausländisches Kapital beschleunigen.62
Währenddessen sollte die Zentralbank unter Anleitung des IWF völlig
umgestaltet werden. Die Notenbank war angewiesen worden, den Real mit
einem flexiblen Devisenregime zu stützen. Keine Devisenkontrollen waren
erlaubt. Eine zweite Tranche von neun Milliarden Dollar (des 41,5-Mrd.Kredits) hatte die Tresore der Zentralbank wieder – mit geborgtem Geld –
aufgefüllt und verlockte die Spekulanten, ihre tödlichen Angriffe fortzusetzen. Durch die IWF-Vereinbarung, die im Februar 1999 unterzeichnet wurde, hielt die Kapitalflucht unvermindert an. Das war sehr einträglich: Nach
dem Finanzcrash vom 13. Januar belief sich die Kapitalflucht auf 200 bis
300 Mio. Dollar am Tag.63
Kasten 22.2
Die Wall Street erwirbt Brasiliens riesiges Bergbaukonsortium
Die Investmentbanken der Wall-Street wurden mit der Aufgabe betraut,
im Rahmen des IWF-Privatisierungs- und »Bankrott« -Programms mit
dunklen Insider-Geschäften das Staatseigentum zu verkaufen. Merrill
Lynch z.B. übernahm im Namen der brasilianischen Regierung die Verantwortung für die Privatisierung der Companhia Vale do Rio Doce, eines
der weltgrößten Bergbauunternehmen. Aber Merrill Lynch repräsentierte
zugleich einen der aussichtsreichen Käufer, das Minenkonsortium AngloAmerican. In einem typischen Insider-Geschäft verbanden sich AngloAmerican und die Nations Bank (die heute mit der Bank America fusioniert ist) mit einem obskuren, unregistrierten, in einem Steuerparadies
ansässigen Investmentfonds namens Opportunity Asset Management
Fund, an dem auch die Citibank und der Megaspekulant George Soros als
Investoren beteiligt sind. Durch den Kauf der Companhia Vale do Rio Doce wird das Konsortium mehr als 80 Prozent der brasilianischen Stahlindustrie kontrollieren.
Die Erlöse aus dem Verkauf der Companhia werden unterdessen von der
Staatskasse in den Dienst der brasilianischen Auslandsschulden umgeleitet. Zufällig ist Citigroup, einer der neuen Eigentümer der Companhia,
zugleich einer der größten Gläubiger Brasiliens und leitet das Bankenkomitee, das für die Umstrukturierung der milliardenschweren brasilianischen Auslandsverschuldung verantwortlich ist.
In der Zwischenzeit waren ABN AMRO, Lloyds Bank, Hong Kong Shanghai Banking Corporation und Dresdner Bank emsig damit beschäftigt,
brasilianische Banken zu kaufen. Die HSBC erwarb annähernd 1000 Filialen von Banco Amerindus und wurde über Nacht zur zweitgrößten privaten Einzelhandelsbank in Brasilien.
Um den weiteren Erfolg der spekulativen Attacken sicherzustellen, wurde
Professor Francisco Lopes – der nach dem Schwarzen Mittwoch zum Präsidenten der Notenbank ernannt worden war – schon zwei Wochen später
wieder gefeuert und durch Arminio Fraga Neto ersetzt, einen ehemaligen
Berater von George Soros. Diese Ernennung erfolgte nach dem Arbeitsfrühstück von Finanzminister Malan mit Soros in der New Yorker Notenbank.
Der ehemalige brasilianische Präsident Itamar Franco bemerkte mit einem
Anflug von Humor: »Ich bin glücklich zu erfahren, dass der neue Zentralbankpräsident der Megaspekulant George Soros ist.«64
Wall-Street-Insidern ist vollends die Kontrolle über die Geldpolitik zugefallen. Brasiliens Auslandsgläubiger haben nun alle Möglichkeiten, den
Haushalt einzufrieren, die staatlichen Zahlungen einschließlich der Transfers
an die Bundesstaaten zu lähmen und wie in der früheren Sowjetunion die
regelmäßige Auszahlung der Gehälter im öffentlichen Sektor, darunter Millionen von Lehrern und Beschäftigten im Gesundheitsdienst, zu vereiteln.
Dieser »programmierte Bankrott« heimischer Produzenten ist durch die
Austrocknung der Kredite bewerkstelligt worden, ganz zu schweigen von
der Drohung Pedro Malans, eine weitere Handelsliberalisierung und massive
Importe durchzusetzen, um die heimische Industrie zu »größerer Wettbewerbsfähigkeit« zu zwingen. Verbunden mit Zinsraten von über 50 Prozent,
sind die Konsequenzen dieser Politik für viele heimische Produzenten
gleichbedeutend mit Bankrott: Die heimischen Preise sinken unter die Produktionskosten.
Die dramatische Schrumpfung der Binnennachfrage – durch gestiegene
Arbeitslosigkeit und die Abnahme der Reallöhne – führt außerdem zu weiterem Überangebot und wachsenden Lagerbeständen. Dieses erbarmungslose
Abwürgen der heimischen Industrie – bewerkstelligt durch die makroökonomische Reform – hat günstige Bedingungen für ausländisches Kapital geschaffen, um den internen Markt zu übernehmen, seinen Zugriff auf
die heimischen Banken zu vergrößern und das produktivste Staatsvermögen
zu Schnäppchenpreisen aufzukaufen.
Kurz gesagt: Alle Bedingungen sind erfüllt, die eine schnelle Rekolonialisierung der brasilianischen Wirtschaft erlauben. Die tödliche Wirtschaftsmedizin des IWF bedeutet ein wirtschaftliches, politisches und soziales Desaster. Eine »weiche Landung« ist nicht in Sicht: Die versteckte »Dollarisierung« wird am Ende offenkundig werden. Alles deutet darauf hin, dass der
US-Dollar die lateinamerikanischen Währungen über kurz oder lang auch
nominell ersetzen wird.
TEIL VII
Krieg und Globalisierung
23. Wer stand hinter den Terrorattacken?
Es ist bittere Ironie, dass der Hauptverdächtige für die Anschläge von New
York und Washington, der aus Saudi-Arabien stammende Osama Bin Laden,
während des sowjetischen Afghanistankrieges von der CIA rekrutiert wurde,
um gegen die sowjetischen Invasoren zu kämpfen.1
1979 wurde in Afghanistan die größte Geheimoperation in der Geschichte
der CIA durchgeführt: »Mit aktiver Unterstützung der CIA und des pakistanischen Geheimdienstes ISI (Inter Services Intelligence), der den afghanischen Dschihad in einen weltweiten Krieg aller muslimischen Staaten gegen
die Sowjetunion verwandeln wollte, schlossen sich zwischen 1982 und 1992
etwa 35.000 radikale Muslime aus 40 islamischen Ländern dem afghanischen Kampf an. Zehntausende weitere kamen, um in den pakistanischen
Koranschulen zu studieren. Mehr als 100.000 ausländische radikale Muslime
wurden schließlich direkt vom afghanischen Dschihad beeinflusst.«2
Die US-Unterstützung der Mudschaheddin wurde der Weltöffentlichkeit
als »notwendige Reaktion« auf die sowjetische Invasion von 1979 verkauft,
mit der die prokommunistische Regierung von Babrak Karmal gestützt werden sollte. Jüngste Belege legen jedoch nahe, dass die CIA ihre militärische
Geheimdienstoperation bereits vor der sowjetischen Invasion, nicht erst in
Reaktion darauf begann. Tatsächlich war Washington an einem Bürgerkrieg
gelegen – einem Bürgerkrieg, der dann mehr als 20 Jahre dauerte.
Die CIA fördert den islamischen Dschihad. Die Rolle der CIA bei der Unterstützung der Mudschaheddin bestätigt ein Interview mit Zbigniew Brzezinski, dem damaligen Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter:
»Brzezinski: Der offiziellen Geschichtsschreibung zufolge begann die CIA
1980, d.h. nachdem die Sowjetarmee am 24. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert war, die Mudschaheddin zu unterstützen. Aber die Realität, die bis heute streng geheim gehalten wird, ist eine ganz andere. Tatsächlich war es der 3. Juli 1979, an dem Präsident Carter die erste Direktive
unterschrieb, den Gegnern des prosowjetischen Regimes in Kabul verdeckt
beizustehen. Am selben Tag teilte ich dem Präsidenten in einer kurzen Notiz
mit, dass diese Hilfe meiner Meinung nach die Sowjets zu einer militärischen Intervention veranlassen würde.
Frage: Trotz dieses Risikos waren Sie für die verdeckte Aktion. Aber vielleicht wollten Sie ja selbst diesen sowjetischen Eintritt in den Krieg und haben versucht, ihn zu provozieren?
Brzezinski: Nicht ganz. Wir trieben die Russen nicht zu einer Intervention, aber es war uns bewusst, dass wir die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhten.
Frage: Als die Sowjets ihre Intervention damit rechtfertigten, dass sie
gegen eine geheime Einmischung der USA in Afghanistan vorgehen wollten,
glaubte man ihnen nicht. Daran war jedoch etwas Wahres. Sie bedauern
heute nichts?
Brzezinski: Was soll ich bedauern? Die Geheimoperation war eine hervorragende Idee. Sie hatte den Effekt, die Russen in die afghanische Falle
zu locken, und Sie möchten, dass ich das bedauere? An dem Tag, als die
Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: >Wir
haben jetzt die Gelegenheit, der UdSSR ihr Vietnam zu verschaffen.< Tatsächlich musste Moskau fast zehn Jahre lang einen für die Regierung unhaltbaren Krieg führen, ein Konflikt, der zur Demoralisierung und schließlich
zum Zusammenbruch des Sowjetreiches führte.
Frage: Und Sie bereuen auch nicht, dass Sie den islamischen Fundamentalismus unterstützten, indem sie künftigen Terroristen Waffen und
Beratung gaben?
Brzezinski: Was ist wichtiger für die Weltgeschichte? Die Taliban oder
der Zusammenbruch des Sowjetreiches? Ein paar aufständische Muslime
oder die Befreiung Zentraleuropas und das Ende des Kalten Krieges?«3
Wie Brzezinskis Darstellung bestätigt, war es die CIA, die ein militantes
islamistisches Netzwerk schuf. Der islamische Dschihad wurde zum integralen Bestandteil der geheimen CIA-Strategie – finanziert aus Mitteln, die zu
guten Teilen aus dem Drogenhandel des Drogendreiecks stammten:
»Im März 1985 unterzeichnete Präsident Reagan die Direktive 166 des
Nationalen Sicherheitsrats…. die verstärkte Militärhilfe an die Mudschaheddin autorisierte, und machte klar, dass der geheime Afghanistankrieg ein
neues Ziel hatte: die sowjetischen Truppen in Afghanistan durch verdeckte
Operationen zu besiegen und die Sowjets zum Rückzug zu bewegen. Die
neue verdeckte US-Hilfe begann mit einer dramatischen Zunahme der Waffenlieferungen – eine kontinuierliche Zunahme, die bis 1987 auf 65.000
Tonnen jährlich stieg – und einem unaufhörlichen Strom von Spezialisten
der CIA und des Pentagon, die zum geheimen Hauptquartier des pakistanischen Geheimdienstes an der Hauptstraße nahe Rawalpindi in Pakistan reisten. Dort trafen sich die CIA-Spezialisten mit Offizieren des pakistanischen Geheimdienstes, um bei der Planung von Operationen der afghanischen Rebellen zu helfen.«4
Die CIA spielte mit Hilfe des pakistanischen Geheimdienstes ISI eine
entscheidende Rolle bei der Ausbildung der Mudschaheddin. Diese Ausbildung ging einher mit Unterweisungen in den Islam. Koranschulen wurden
von wahhabitischen Fundamentalisten5 gegründet und von Saudi-Arabien
finanziert: »Es war die Regierung der USA, die den pakistanischen Diktator
General Mohainmed Zia-ul Haq dabei unterstützte, Tausende von Religionsschulen zu schaffen, aus denen die Taliban hervorgingen.«6 Dort wurde der
Islam als integrale soziopolitische Weltanschauung gelehrt und verkündet,
»dass der heilige Islam durch die atheistischen sowjetischen Truppen geschändet werde und das islamische Volk von Afghanistan seine Unabhän-
gigkeit durch den Sturz des linken, von Moskau gestützten afghanische Regimes wiederherstellen solle«.7
Der pakistanische Militär- und Geheimdienstapparat. Die CIA hatte
nicht direkt mit den Mudschaheddin zu tun, sondern benutzte für ihre verdeckte Unterstützung des islamischen Dschihad den pakistanischen Geheimdienst ISI als Vermittlungsstelle. Damit diese Operationen erfolgreich
sein konnten, achtete die Regierung in Washington sorgfältig darauf, die
Absichten, die sie selber mit dem Dschihad verfolgte – die Vernichtung der
Sowjetunion –, nicht deutlich werden zu lassen.
Nach Aussage des CIA-Mitarbeiters Milton Beardman trainierten die USA
dabei selbst keine arabischen Freiwilligen. Doch Abdel Monam Saidali vom
Kairoer Al-aram Center for Strategic Studies zufolge erhielten Bin Laden
und die »>afghanischen Araber< mit Billigung der CIA ein sehr fundiertes
Training«.8 Beardman bestätigte, dass sich Osama Bin Laden nicht bewusst
war, welche Rolle er zugunsten Washingtons spielte. Angeblich hätte der alQaida-Chef einmal gesagt: »Weder ich noch meine Brüder bemerkten je
Anzeichen amerikanischer Hilfe.«9
Angetrieben von Nationalismus und religiösem Eifer, waren sich die islamischen Krieger nicht bewusst, dass sie für Onkel Sam gegen die Sowjetarmee kämpften. Obwohl es Kontakte auf den höheren Ebenen der Geheimdiensthierarchien gab, hatten die islamischen Rebellenführer selbst
keine Verbindungen zu Washington oder der CIA.
Mit Rückendeckung der CIA und massiver US-Militärhilfe entwickelte sich
der pakistanische Geheimdienst ISI zu einem Staat im Staate, der »enorme
Macht über alle Belange der Regierung ausübte«.10 Die Anzahl der Mitarbeiter des ISI – Militär- und Geheimdienstoffiziere, Verwaltungsangestellte,
Geheimagenten und Informanten – wurde auf 150.000 geschätzt.
Die CIA-Operationen stärkten das pakistanische Militärregime unter General Zia-ul Haq: »Die Beziehungen zwischen der CIA und dem ISI waren
nach dem Sturz von Zulfikar Ali Bhutto (1977) und der Installation des Militärregimes immer wärmer geworden… Während eines Großteils des Afghanistankrieges war Pakistan noch sowjetfeindlicher als selbst die USA. Kurz
nachdem die Sowjetarmee 1980 in Afghanistan einmarschiert war, entsandte Zia-ul Haq seinen Geheimdienstchef, um die zentralasiatischen Staaten
der Sowjetunion zu destabilisieren. Die CIA, vorsichtiger als die Pakistanis,
stimmte seinem Plan erst im Oktober 1984 zu… Sowohl Pakistan als auch
die USA täuschten im Hinblick auf Afghanistan die Öffentlichkeit. Nach außen hin taten sie so, als strebten sie eine Verhandlungslösung an, während
sie sich im Geheimen einig waren, dass eine militärische Eskalation der beste Weg wäre.«11
Drogenhandel als Waffe im Kalten Krieg. Die Geschichte des Drogenhandels in Zentralasien ist eng mit den verdeckten Operationen der CIA
verflochten. Vor dem Afghanistankrieg war die Opiumproduktion in Afghanistan und Pakistan nur für kleine regionale Märkte bestimmt und eine eigene
Heroinproduktion gab es nicht.12 In einer Studie kam Alfred McCoy zu dem
Ergebnis: »Innerhalb von zwei Jahren nach Beginn der CIA-Operation in
Afghanistan wurde das pakistanisch-afghanische Grenzland zum weltgrößten Heroinproduzenten…‚ das 60 Prozent der US-Nachfrage befriedigte. In
Pakistan wuchs die Zahl der Heroinabhängigen von nahe null im Jahr 1979
auf 1,2 Millionen 1985 – ein weit stärkerer Anstieg als in jedem anderen
Land…. Wieder waren es CIA-Kollaborateure, die diesen Handel kontrollierten. Als die Mudschaheddin-Guerilla Teile von Afghanistan besetzte, befahl
sie den Bauern, Opium als Revolutionssteuer anzupflanzen. Auf der anderen
Seite der Grenze, in Pakistan, betrieben afghanische Führer und lokale Syndikate unter dem Schutz des pakistanischen Geheimdienstes Hunderte von
Heroinlabors. In diesem Jahrzehnt schwunghaften Drogenhandels gelang es
der US-Antidrogenbehörde in Islamabad nicht, große Beschlagnahmungen
oder Verhaftungen zu erwirken… US-Vertreter weigerten sich, entsprechende Anschuldigungen gegen ihre afghanischen Verbündeten untersuchen zu
lassen, da die US-Drogenpolitik in Afghanistan dem Krieg gegen den sowjetischen Einfluss untergeordnet wurde. 1995 gab der ehemalige Direktor der
Afghanistan-Operation, Charles Cogan, zu, dass die CIA tatsächlich den
Krieg gegen die Drogen dem Kalten Krieg geopfert hatte: >Unser Hauptziel
war, den Sowjets so viel Schaden wie möglich zuzufügen. Wir hatten nicht
die Ressourcen oder die Zeit für eine Untersuchung des Drogenhandels…
Ich glaube nicht, dass wir uns dafür entschuldigen müssen. Jede Situation
hat ihre Schattenseiten… Es gab Schattenseiten im Hinblick auf den Drogenhandel, ja. Aber das Hauptziel wurde erreicht. Die Sowjets verließen
Afghanistan.<« 13
Nach dem Ende des Kalten Krieges war Zentralasien nicht nur aufgrund
seiner reichen Ölreserven von strategischer Bedeutung, sondern auch deshalb, weil Afghanistan 75 Prozent des weltweit angebotenen Heroins produzierte, was Wirtschaftssyndikaten, Finanzorganisationen, Geheimdiensten
und dem organisierten Verbrechen Milliardengewinne sicherte. Mit der Auflösung der Sowjetunion kam es sogar zu einem weiteren Anstieg der Opiumproduktion. Die jährlichen Erlöse aus dem Drogenhandel des Drogendreiecks – zwischen 100 und 200 Mrd. Dollar – stellten annähernd ein Drittel des weltweiten Drogenumsatzes dar, den die UN auf 500 Mrd. Dollar
schätzten.14 Nach derselben UN-Schätzung erreichte die Opiumproduktion in
Afghanistan 1998 und 1999 ein Rekordhoch von 4600 Tonnen.
Mächtige Wirtschaftssyndikate im Westen und in der ehemaligen Sowjetunion, die mit dem organisierten Verbrechen verbunden sind, kämpften um
die strategische Kontrolle der Heroinhandelswege. Die Milliardenumsätze im
Drogenhandel werden in das westliche Bankensystem geschleust. Die meisten großen internationalen Banken waschen – zusammen mit ihren Tochtergesellschaften in den Steuerparadiesen – große Mengen von Drogendollar. Der internationale Drogenhandel stellt somit ein milliardenschweres
Geschäft dar, der vom Umfang her mit dem internationalen Ölhandel vergleichbar ist. Aus dieser Sicht ist die geopolitische Kontrolle über den Drogenhandel von ebenso strategischer Bedeutung wie die über die Ölpipelines.
Nach dem Verbot des Mohnanbaus, das die Taliban-Regierung 2000 verhängte, wurde die Nordallianz zur wichtigsten an Produktion und Vermarktung des Rohopiums beteiligten politischen Kraft. In dieser Hinsicht hat der
Afghanistankrieg der USA dazu beigetragen, den Opiumhandel unter der
von ihnen unterstützten Regierung der Nordallianz in Kabul wiederherzustellen.
Die nützlichen Taliban. Pakistans wohlbestückter Geheimdienstapparat
wurde nach dem Kalten Krieg nicht abgebaut. Die CIA unterstützte von Pakistan aus weiter den islamischen Dschihad. Man begann mit neuen Geheimoperationen in Zentralasien, dem Kaukasus und auf dem Balkan. Der
ISI »diente als Katalysator für die Auflösung der Sowjetunion und die Entstehung von sechs neuen muslimischen Republiken in Zentralasien«.15
In der Zwischenzeit missionierten Wahhabiten in den muslimischen Republiken und der Russischen Föderation, um dort die säkularen staatlichen
Institutionen zu unterwandern. Trotz seiner antiamerikanischen Ideologie
diente der islamische Fundamentalismus vor allem den strategischen Interessen der USA in der ehemaligen Sowjetunion.
Nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen 1989 ging der Bürgerkrieg
in Afghanistan unvermindert weiter. Die Taliban wurden von der pakistanischen Deobandi-Bruderschaft und deren politischer Partei, der JamiatUlema-i-Islam (JUI), unterstützt. 1993 trat die JUI in die Regierungskoalition von Premierministerin Benazir Bhutto ein und knüpfte Beziehungen zum
Militär und zum Geheimdienst. Als die afghanische Regierung von Gulbuddin
Hekmatyar 1995 stürzte, installierten die Taliban nicht nur eine extremistische islamische Regierung, sondern »gaben Teilen der JUI die Kontrolle
über Trainingscamps in Afghanistan«.16 Und die JUI spielte mit Unterstützung der saudischen Wahhabiten eine Schlüsselrolle auch bei der Rekrutierung von Freiwilligen für den Kampf auf dem Balkan und in der ehemaligen
Sowjetunion.
Jane Defense Weekly zufolge wurde »die Hälfte der Kämpfer und Ausrüstung der Taliban in Pakistan mithilfe des ISI organisiert«.17 Tatsächlich
scheinen beide Bürgerkriegsparteien nach dem sowjetischen Rückzug verdeckte Unterstützung durch den pakistanischen Geheimdienst erhalten zu
haben.18
Unterstützt vom militärischen Geheimdienst Pakistans, der seinerseits
von der CIA kontrolliert wurde, diente das islamistische Regime der Taliban
also den geopolitischen Interessen der USA. Der Drogenhandel der Region
wurde seit den frühen 90er Jahren auch benutzt, um die muslimische Armee Bosniens und die UCK zu finanzieren. Tatsächlich kämpften zur Zeit
der Anschläge vorn 11. September Mudschaheddin-Söldner in den Reihen
der UCK-Terroristen bei deren Einfällen in Mazedonien mit.
Das erklärt zweifellos, warum Washington gegenüber der Schreckensherrschaft der Taliban, unter der die Rechte der Frauen eklatant verletzt,
Mädchenschulen geschlossen, Frauen aus dem Staatsdienst entlassen und
die Strafgesetze der Scharia durchgesetzt wurden, die Augen verschloss.
Reguläre oder Geheimgespräche? Zwei Tage nach den Terrorangriffen
auf das World Trade Center und das Pentagon traf eine Delegation aus Pakistan zu hochrangigen Gesprächen im Außenministerium in Washington ein,
geführt vom ISI-Chef Mahmud Ahmed.19 Die meisten US-Medien vermittelten den Eindruck, dass Islamabad die Delegation auf Bitten Washingtons kurzfristig entsandt habe und die Einladung zu dem Treffen unmittelbar nach den tragischen Ereignissen vom 11. September an die Regierung
Pakistans ergangen sei. Aber so war es nicht!
Pakistans Chefspion, General Mahmud Ahmed, »war in den USA, als die
Angriffe stattfanden«.20 Der New York Times zufolge »war er zufällig im
Rahmen regulärer Konsultationen hier«.21 In der Woche vor den Terrorangriffen wurde nicht ein Wort über den Grund seines Besuchs bekannt.
Newsweek zufolge befand er sich »zur Zeit der Angriffe auf einem Besuch in
Washington und steckt dort, wie die meisten anderen, immer noch fest«, da
der internationale Flugbetrieb unterbrochen worden war.22
Tatsächlich war General Ahmed bereits am 4. September in den USA eingetroffen, eine ganze Woche vor den Angriffen.23 Behalten wir in Erinnerung, dass der Grund seines Treffens im Außenministerium am 13. September erst nach dem 11. September bekannt gegeben wurde, als die BushRegierung die Entscheidung traf, Pakistan formell um »Zusammenarbeit«
bei seiner Kampagne gegen den internationalen Terrorismus zu bitten.
Die Presse berichtete, dass Mahmud Ahmed am 12. bzw. 13. September
zwei Treffen mit dem stellvertretenden Außenminister Richard Armitage
hatte. Nach dem 11. September traf er auch Senator Joseph Biden, den
Vorsitzenden des mächtigen Senatsausschusses für Auswärtige Beziehungen. Wie mehrere Presseberichte bestätigen, führte er jedoch auch »reguläre Beratungsgespräche« mit US-Vertretern in der Woche vor dem 11. September, traf sich also mit seinen US-Kollegen bei der CIA und im Pentagon.24 Worum ging es bei diesen »regulären Gesprächen«? Standen sie in
irgendeiner Beziehung zu den folgenden Gesprächen nach dem 11. September über Pakistans Entscheidung, mit Washington zu kooperieren, die
am 12. und 13. September im Außenministerium hinter verschlossenen Türen stattfanden? Diskutierten pakistanische und US-amerikanische Regierungsvertreter den Plan für den Krieg?
Der neue, alte Verbündete. Am 9. September fiel Ahmad Shah Masud,
der Führer der Nordallianz, einem Anschlag zum Opfer. Die Nordallianz erklärte in einer offiziellen Stellungnahme, dass »eine Achse zwischen dem
pakistanischen ISI, Osama Bin Laden und den Taliban für die Planung der
Ermordung durch zwei arabische Selbstmordattentäter verantwortlich war.
Wir glauben, dass es sich um ein Dreieck aus Osama Bin Laden, ISI… und
den Taliban handelt«.25
Die Bush-Administration entschied sich in den Beratungen im Außenministerium nach dem 11. September dennoch dafür, direkt mit dem ISI zu-
sammenzuarbeiten – trotz dessen Verbindungen zu Osama Bin Laden und
den Taliban und seiner mutmaßlichen Rolle bei der Ermordung Masuds.
Über die perfide Rolle des pakistanischen Geheimdienstes schwiegen sich
die westlichen Medien weitgehend aus. Sie meldeten zwar die Ermordung
Masuds, erörterten aber nicht deren politische Bedeutung im Hinblick auf
den 11. September und die folgende Entscheidung, gegen Afghanistan in
den Krieg zu ziehen. Ohne jede kritische Auseinandersetzung wurde Pakistan unverhofft zum »Freund« und Verbündeten Amerikas erklärt.
Niemand schien die allzu offenkundigen und plumpen Irreführungen hinter der »Kampagne gegen den internationalen Terrorismus« zu bemerken,
vielleicht mit Ausnahme eines neugierigen Journalisten, der Außenminister
Colin Powell zu Beginn einer Pressekonferenz am 13. September fragte:
»Sehen die USA Pakistan als Verbündeten, oder… als Ort, wo Terrorgruppen trainiert werden? Oder als Mischung von beidem?« Er bezog sich dabei
explizit auf Patterns of Global Terrorism, eine Veröffentlichung des Außenministeriums aus dem Vorjahr in der es heißt:
»Die USA bleiben besorgt über Berichte fortgesetzter pakistanischer Unterstützung für die Militäroperationen der Taliban in Afghanistan. Glaubwürdige Zeugnisse deuten darauf hin, dass Pakistan die Taliban weiterhin mit
Material, Treibstoff, finanzieller und technischer Unterstützung und Militärberatern versorgt. Pakistan hat pakistanische Staatsangehörige nicht daran
gehindert, nach Afghanistan zu gehen und für die Taliban zu kämpfen. Islamabad hat es zudem unterlassen, effektive Schritte gegen die Aktivitäten
der Koranschulen zu unternehmen, die zur Rekrutierung von Terroristen
dienen.«26
Die Kriegsvorbereitungen laufen an. Die Bush-Regierung suchte somit
die Kooperation derer, die direkt für die Unterstützung und Anstiftung der
Terroristen verantwortlich waren. Das klingt absurd, befindet sich aber in
Übereinstimmung mit den übergeordneten strategischen und wirtschaftlichen Zielen Washingtons in Zentralasien.
Der Inhalt des Treffens vom 13. September zwischen dem stellvertretenden US-Außenminister Richard Armitage und dem pakistanischen Geheimdienstdirektor Mahmud Ahmed wurde geheim gehalten. Präsident Bush
war an diesen entscheidenden Verhandlungen nicht einmal beteiligt. Armitage übergab Ahmed, wie Reuters berichtete, eine Wunschliste mit genau
festgelegten Schritten, die zu unternehmen Washington von Islamabad erbat. »Nach einem Telefongespräch zwischen Powell und dem pakistanischen
Präsidenten Pervez Musharraf erklärte der Sprecher des Außenministeriums,
Richard Boucher, dass Pakistan versprochen habe zu kooperieren.«27 Und
George W. Bush ließ noch am selben Tag verlautbaren, dass die pakistanische Regierung eingewilligt habe, »mit uns bei unserer Jagd auf diese Leute, die diesen unglaublichen, verabscheuungswürdigen Akt gegen Amerika
begangen haben, zusammenzuarbeiten und sich daran zu beteiligen«.28
Ebenfalls am 13. September gab der pakistanische Präsident Musharraf
bekannt, dass er seinen Geheimdienstchef Mahmud Ahmed nach Afghani-
stan schicken würde, um mit den Taliban über die Auslieferung Osama Bin
Ladens zu verhandeln. Der Chefspion wurde daraufhin eilig aus Washington
nach Islamabad zurückbeordert: »Auf Drängen Amerikas reiste Ahmed…
nach Kandahar in Afghanistan. Dort gab er die ihm aufgetragene Forderung
unverblümt weiter. >Liefern Sie Bin Laden ohne Bedingungen aus<, sagte
er dem Taliban-Führer Mohammad Omar, >oder Sie sehen einem sicheren
Krieg mit den USA und ihren Verbündeten ins Auge.<« 29
Ahmeds Treffen mit den Taliban während zweier verschiedener Missionen wurden als »gescheitert« dargestellt. Doch dieses Scheitern der Bemühungen um die Auslieferung von Osama Bin Laden war Teil von Washingtons Ziel, einen Vorwand für eine bereits vorbereitete militärische Intervention zu erhalten. Wäre Osama Bin Laden ausgeliefert worden, hätten die
USA ihre wichtigste Rechtfertigung für den Krieg gegen den internationalen
Terrorismus verloren. Und viel deutet darauf hin, dass dieser Krieg lange
vor dem 11. September geplant worden war – in Verfolgung übergeordneter
strategischer und wirtschaftlicher Ziele.
In der zweiten Septemberhälfte wurden eilig hochrangige Vertreter des
Pentagon und des Außenministeriums nach Islamabad entsandt, um letzte
Vorbereitungen für Amerikas Kriegspläne zu treffen. Und am Sonntag, dem
7. Oktober, kurz vor Beginn der Bombardierung großer Städte in Afghanistan durch die US-Luftwaffe, wurde Ahmed als pakistanischer Geheimdienstchef entlassen, wie es hieß, im Rahmen einer üblichen »Umbesetzung«.
Der ISI unter Verdacht. Einige Tage nach Ahmeds Entlassung erschien
ein von den westlichen Medien praktisch unbeachteter Bericht in der Times
of India, der Verbindungen zwischen Ahmed und dem mutmaßlichen Anführer der Terrorattacken in Amerika aufdeckte. Darin wird angedeutet, wer
die wahren Hintermänner der Terrorangriffe vom 11. September sein könnten:
»Während die Presseabteilung des pakistanischen Geheimdienstes ISI
behauptete, dass dessen ehemaliger Direktor Mahmud Ahmed nach seiner
Ablösung am Montag (dem 8. Oktober) in den Ruhestand gehen wolle, ist
die Wahrheit schockierender. Ausgezeichnete Quellen bestätigten am Dienstag (dem 9. Oktober), dass der General seinen Posten aufgrund der >Beweise< verlor, die Indien vorgelegt hatte, um seine Verbindungen zu einem
der Selbstmordattentäter zu belegen, die das World Trade Center in Schutt
und Asche legten. Die US-Behörden verlangten seine Entfernung aus dem
Amt, nachdem sie bestätigt fanden, dass Ahmed Umar Sheikh auf Veranlassung von General Ahmed von Pakistan aus 100.000 Dollar an Mohamed
Atta überwiesen hatte. Hohe Regierungsquellen bestätigten, dass Indien
beträchtlich dazu beigetragen hat, die Verbindung zwischen der Geldüberweisung und der Rolle zu belegen, die der entlassene ISI-Chef dabei spielte.
Ohne Details zu nennen, berichteten sie, dass indische Hinweise, darunter
Sheikhs Mobiltelefonnummer dem FBI halfen, die Verbindung aufzuspüren
und nachzuweisen.
Eine direkte Beziehung zwischen dem ISI und den Angriffen auf das
World Trade Center könnte enorme Auswirkungen haben. Die USA müssen
zwangsläufig den Verdacht hegen, dass möglicherweise andere pakistanische Armeekommandeure von der Sache wussten. Beweise für eine umfassendere Verschwörung könnten das Vertrauen der USA in Pakistans Bereitschaft erschüttern, sich an der Antiterrorkoalition zu beteiligen.«30
Dem FBI zufolge war Mohamed Atta, der zuvor in Hamburg gelebt hatte,
»der Kopf der Entführer des ersten Jets, der in das World Trade Center raste, und anscheinend der Anführer der Konspiration«.31
Der Artikel der Times of India basierte auf einem offiziellen Geheimdienstbericht der indischen Regierung, der an Washington weitergeleitet
worden war. Auch Agence France-Presse berichtete, dass einer hochrangigen Regierungsquelle zufolge »die >teuflische Verbindung< zwischen dem
General und der Geldüberweisung an Atta zu den Beweisen gehörte, die
Indien offiziell den USA übermittelte. >Die Beweise, die wir den USA zu
Verfügung gestellt haben, sind weit umfassender und weitreichender als nur
ein Stück Papier, dass einen Schurkengeneral mit einem üblen Akt des Terrorismus in Zusammenhang bringt<, so die Quelle.«32
Die FBI-Untersuchungen stützen die indische Geheimdienstinformation
über den Geldtransfer durch den pakistanischen Geheimdienst. Obwohl es
nicht die Rolle des pakistanischen ISI erwähnt, verweist das FBI dennoch
auf eine pakistanische Verbindung und auf »die mit Osama Bin Laden verbundenen Leute«, die Geldgeber hinter den Terroristen: »Im Hinblick auf
den 11. September erklärten die Bundesbehörden gegenüber ABC News,
dass sie nun über 100.000 Dollar aufgespürt haben, die von Banken in Pakistan auf Konten zweier Banken in Florida überwiesen wurden, die dem
mutmaßlichen Anführer der Entführer, Mohamed Atta, gehörten. Ebenfalls
heute Morgen berichtet das Magazin Time, dass einige Beträge von diesem
Geld in den Tagen kurz vor dem Angriff ankamen und direkt zu Personen
zurückverfolgt werden können, die mit Osama Bin Laden in Verbindung stehen. Das alles ist Teil der bislang erfolgreichen Bemühungen des FBI, den
Drahtzieher der Entführer, die Geldgeber, die Planer und den führenden
Kopf aufzuspüren.«33
Die Enthüllungen des Artikels in der Times of India belegen nicht nur eine Beziehung zwischen dem ISI-Chef Ahmed und dem Terroristenanführer
Atta, sie legen auch nahe, dass andere pakistanische Geheimdienstler Kontakte zu den Terroristen hatten. Darüber hinaus lassen sie vermuten, dass
die Angriffe vom 11. September kein vereinzelter Terrorakt einer al-QaidaZelle waren, sondern Teil einer koordinierten militärisch-geheimdienstlichen
Operation, die vom pakistanischen Geheimdienst ISI ausging.
Der Bericht der Times of India wirft auch Licht auf die Aktivitäten General Ahmeds in den USA und lässt es als gut möglich erscheinen, dass der
ISI in der Woche vor den Anschlägen in den USA Kontakte zu Mohamed
Atta hatte – genau in jenem Zeitraum, als sich der pakistanische Geheimdienstchef Ahmed und seine Delegation zu »regulären Konsultationen« mit
US-Vertretern im Land aufhielten. Es sei daran erinnert, dass Ahmed bereits
am 4. September in den USA eintraf.
Eine vertuschte Komplizenschaft? Der Ausschuss für Internationale Beziehungen des Repräsentantenhauses hat schon im Sommer 2000 den Verdacht erhärtet, dass die US-Unterstützung, die über den ISI an die Taliban
und Osama Bin Laden gelenkt wurde, fester Bestandteil der Politik der USRegierung seit Ende des Kalten Krieges war. Die Abgeordnete Dana Rohrbacher gab zu Protokoll: »Die USA waren die ganze Zeit eine feste Größe bei
der Unterstützung der Taliban und, lassen Sie mich hinzufügen, sind es
noch immer… Wir haben nun eine Militärregierung in Pakistan, welche die
Taliban bis an die Zähne bewaffnet… Lassen Sie mich erwähnen, dass unsere Hilfe immer in Taliban-Gebiete geflossen ist… Wir haben die Taliban unterstützt, weil all unsere Hilfe in Taliban-Gebiete ging. Und wenn Leute außerhalb versuchen, Hilfe in Gebiete zu lenken, die nicht von den Taliban
kontrolliert werden, wird dies vom US-Außenministerium vereitelt… Gleichzeitig leistete Pakistan große Versorgungsanstrengungen, aufgrund deren
schließlich die Niederlage fast aller Anti-Taliban-Kräfte in Afghanistan besiegelt wurde.«34
Die Beziehung der Bush-Regierung zum ISI einschließlich der »Beratungen« mit General Ahmed in der Woche vor dem 11. September werfen die
Frage nach einer möglichen Komplizenschaft und abgestimmten Vertuschungen auf. Während Ahmed mit Vertretern der CIA und des Pentagon
konferierte, hatte der ISI mutmaßlich Kontakte zu den Terroristen des 11.
September. Und da der ISI seinerseits seit Jahren mit Behörden der USRegierung in Verbindung stand, ist die Vermutung nicht abwegig, dass die
entscheidenden Personen im militärisch-geheimdienstlichen Apparat der
USA über die Kontakte des ISI zum Kopf der Terroristen, Mohamed Atta,
gewusst und es versäumt haben könnten, beizeiten einzuschreiten.
Ob dies den Tatbestand der Komplizenschaft erfüllt, muss noch mit Sicherheit geklärt werden. Das Mindeste, was man in diesem Stadium jedoch
erwarten könnte, wäre eine Untersuchung. Glasklar ist immerhin, dass dieser Krieg keine »Kampagne gegen den internationalen Terrorismus« ist. Es
ist – ganz im Gegensatz zu den Beteuerungen der US-Regierung – ein Eroberungskrieg mit vernichtenden Konsequenzen für die Zukunft der
Menschheit.
Bewusste Irreführung. Die amerikanische Regierung, die den internationalen Terrorismus für ihre Außenpolitik instrumentalisiert, hat einen großen
Krieg begonnen, der angeblich ebendiesem internationalen Terrorismus gelten soll. Die wichtigste Rechtfertigung für den Krieg ist daher ein reiner
Vorwand – die vielleicht größte Propagandalüge in der amerikanischen Geschichte. Die US-Regierung führt das amerikanische Volk bewusst in die
Irre, und der Kongress, der in seinen Berichten die Fakten doch eindeutig
dokumentiert hatte, zog mit.
Die Entscheidung zu dieser Täuschung fiel nur wenige Stunden nach den
Terrorangriffen auf das World Trade Center. Ohne jeglichen Beweis wurde
Osama Bin Laden sofort als Hauptverdächtiger bezeichnet. Zwei Tage später, am 13. September, als die FBI-Untersuchungen kaum begonnen hatten, erklärte Präsident Bush bereits, »die Welt zum Sieg« führen zu wollen.
Die gesamte Legislative der USA – mit nur einer abweichenden Stimme
eines ehrlichen und mutigen Abgeordneten – billigte den Entschluss der
Regierung, in den Krieg zu ziehen. Der historische Beschluss des USKongresses ermächtigte den Präsidenten, »alle notwendigen und angemessenen Gewaltmittel gegen jene Nationen, Organisationen oder Individuen
einzusetzen, die nach seinem Urteil die Terrorattacken am 11. September
2001 geplant, autorisiert, begangen oder Beihilfe dazu geleistet oder solchen Organisationen oder Individuen Unterschlupf gewährt haben, um zukünftige Akte des internationalen Terrorismus durch solche Nationen, Organisationen oder Individuen zu verhindern.«35
Zwar gibt es keine gesicherten Beweise, dass Behörden der USRegierung unmittelbar Beihilfe zu den Terrorangriffen auf das World Trade
Center und das Pentagon geleistet haben, aber sie haben immerhin, im
Verein mit der NATO, seit dem Ende des Kalten Krieges »solchen Organisationen« sehr wohl »Unterschlupf gewährt«.
Ironischerweise droht der Text der Kongressresolution den Förderern des
internationalen Terrorismus in den USA diverse Maßnahmen an – ein
»Rückschlag« ganz eigener Art. Die Resolution schließt nämlich eine Untersuchung des möglichen »Osamagate«-Skandals und angemessene Sanktionen gegen Behörden und/oder einzelne Vertreter der US-Regierung nicht
aus, die mit Osama Bin Ladens al-Qaida zusammengearbeitet haben.
24.
Staatsterrorismus und US-Außenpolitik
Es ist bittere Ironie, dass dieselben Organisationen, die hinter dem islamischen Dschihad stehen, der für die Terrorangriffe auf das World Trade Center und das Pentagon verantwortlich gemacht und von der Bush-Regierung
als »Gefahr für Amerika« bezeichnet wird, als entscheidende Werkzeuge der
militärisch-geheimdienstlichen Operationen der USA nicht nur auf dem Balkan und in der ehemaligen Sowjetunion dienen, sondern auch in Indien und
China.
Während die Mudschaheddin, ohne es zu wissen, zugunsten von Onkel
Sam kämpfen, hat die US-Bundespolizei FBI daheim einen Krieg gegen den
Terrorismus begonnen und arbeitet damit in mancher Hinsicht gegen die
CIA, die ja seit dem Afghanistankrieg den internationalen Terrorismus durch
verdeckte Aktionen unterstützt.
Mit den Beweisen der verdeckten CIA-Operationen seit Ende des Kalten
Kriegs konfrontiert, kann die US-Regierung ihre Verbindungen zu Osama
Bin Laden nicht länger leugnen. Die CIA räumt ein, dass Osama Bin Laden
im Kalten Krieg ein Kollaborateur oder »geheimdienstlicher Aktivposten«
war eine Beziehung, die weit zurückreichen soll.
Die These von den »Geistern, die wir riefen«. So genannte »geheimdienstliche Aktivposten« (intelligence assets) müssen, anders als echte Geheimagenten, selbst keine US-Interessen verfolgen; wichtig ist nur, dass sie
im Rahmen verdeckter CIA-Operationen in einer Weise handeln oder sich
verhalten, die den amerikanischen Interessen zuträglich ist. Solche Werkzeuge sind sich nie der genauen Funktionen und Rollen bewusst, die sie im
Dienste der CIA spielen. Damit solche verdeckten Operationen erfolgreich
sein können, macht sich die CIA verschiedene Handlanger und Frontorganisationen oder, wie im Falle Zentralasiens und der ehemaligen Sowjetunion,
Pakistans ausgedehnten militärisch-geheimdienstlichen Apparat zunutze.
In den meisten Berichten über den 11. September werden die Verbindungen der CIA zu Osama Bin Laden so dargestellt, als gehörten sie der
Vergangenheit des sowjetischen Afghanistankriegs an und hätten mit der
Gegenwart von ground zero nichts zu tun. Ein eklatantes Beispiel dieser
Verzerrung in den Medien ist die so genannte blowback-These. Danach haben sich die einstigen Werkzeuge, die »geheimdienstlichen Aktivposten«,
gegen ihre früheren Förderer gewandt, die gerufenen Geister erweisen sich
als Fluch.36 In einer verdrehten Logik werden US-Regierung und CIA als unglückliche Opfer dargestellt: »Die modernen Methoden, die den Mudschaheddin beigebracht wurden, und die Tausende von Tonnen Waffenmaterial,
welche die USA – und Großbritannien – ihnen lieferten, peinigen nun den
Westen, ein als >blowback< (Rückschlag) bekanntes Phänomen, bei dem
sich eine politische Strategie gegen ihre Urheber wendet.«37
Dennoch räumen die US-Medien ein, dass »die Machtergreifung der Taliban 1995 zum Teil das Ergebnis der US-Unterstützung für die islamistischen
Mudschaheddin im Krieg gegen die Sowjetunion in den 80er Jahren ist«.38
Zugleich jedoch lassen sie die von ihnen selbst festgestellten Tatsachen
bereitwillig außer Acht und kommen einhellig zu dem Schluss, dass die CIA
von Osama Bin Laden hereingelegt wurde, als hätte sich »der Sohn gegen
den Vater gerichtet«.
Die These von den bösen Geistern, die man nun nicht mehr loswerde, ist
zusammengedichtet. Alle verfügbaren Indizien belegen vielmehr, dass die
CIA ihre Verbindungen zum militanten islamischen Netzwerk nie abgebrochen hat.
»Bosniagate«: Die Neuauflage des Iran-Contra-Skandals. Wir erinnern uns an Oliver North und die nicaraguanischen Contras zur Zeit der
Präsidentschaft Reagans, als in dem verdeckten Krieg Washingtons gegen
die sandinistische Regierung die »Freiheitskämpfer« Waffen erhielten, die
aus dem Drogenhandel finanziert waren. Die USA machten sich die gleiche
Methode auf dem Balkan zunutze, um in den 90er Jahren die Mudschaheddin zu bewaffnen und auszurüsten, die in den Reihen der bosnischen Muslime gegen die jugoslawische Armee kämpften.
Wieder einmal diente dabei der ISI der CIA als Vermittler. Nach einer
Meldung der in London ansässigen International Media Corporation im Oktober 1994 berichteten verlässliche Quellen, »dass sich die USA heute in
direkter Verletzung der UN-Abkommen aktiv daran beteiligen, die muslimischen Kräfte in Bosnien-Herzegowina mit Waffen zu versorgen und auszubilden. US-Behörden liefern Waffen, die in… China, Nordkorea und dem Iran
hergestellt wurden. Die Quellen legen nahe, dass… der Iran, mit Wissen und
Billigung der US-Regierung, den bosnischen Streitkräften große Mengen von
Raketenwerfern und Munition geliefert hat, darunter 107-mm und 122-mm
Geschosse aus China und VBR-230-Raketenwerfer… aus dem Iran… Es wurde ferner berichtet, dass 400 Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden
(Pasdaran) mit großen Mengen an Waffen und Munition in Bosnien eingetroffen sind. Es wird vermutet, dass die CIA über die Operation vollständig
informiert war und davon ausgeht, dass die 400 für künftige Terroroperationen in Westeuropa entsandt worden sind.
Im September und Oktober gab es einen Strom von >afghanischen<
Mudschaheddin…. die heimlich im kroatischen Ploce südwestlich von Mostar
landeten, von wo aus sie mit falschen Papieren weiterreisten… und zu den
bosnischen Kräften in den Gebieten von Kurpres, Zenica und Banja Luka
stießen. Diese Verbände erzielten in jüngster Zeit militärische Erfolge. Sie
erhielten, Quellen in Sarajevo zufolge, Hilfe von einem UNPROFOR-Bataillon
aus Bangladesch, das Anfang September von einem französischen Bataillon
abgelöst wurde.
Die in Ploce gelandeten Mudschaheddin sollen von US-Spezialkräften begleitet worden sein, die mit Hightech-Kommunikationsgeräten ausgestattet
waren… Die Quellen berichten, dass die Mission der US-Truppen dazu dienen solle, in Kupres, Zenica und Banja Luka ein Kommando-, Kontroll-,
Kommunikations- und Aufklärungsnetzwerk aufzubauen, um die Offensive
der bosnischen Muslime zu koordinieren und zu unterstützen – im Zusammenspiel mit den Mudschaheddin und Kräften der bosnischen Kroaten. Einige Offensiven wurden kürzlich aus den UN-Schutzzonen in den Gebieten
Zenica und Banja Luka heraus durchgeführt… Die US-Administration beschränkt ihre Beteiligung nicht nur auf die heimliche Verletzung des UNWaffenembargos, das die UN über die Region verhängt haben. Sie entsandte darüber hinaus in den letzten zwei Jahren drei hochrangige Delegationen,
die vergeblich versuchten, die jugoslawische Regierung auf den Kurs der
US-Politik zu bringen. Jugoslawien ist der einzige Staat der Region, der sich
dem US-amerikanischen Druck nicht gebeugt hat.«39
Ironischerweise wurden die verdeckten militärisch-geheimdienstlichen
Operationen der US-Regierung in Bosnien von der Republikanischen Partei
umfassend dokumentiert. Ein langer, im Jahre 1997 veröffentlichter Kongressbericht des republikanischen Parteikomitees beschuldigte die ClintonRegierung, »geholfen zu haben, Bosnien in einen Stützpunkt militanter Islamisten zu verwandeln«, was zur Rekrutierung von Tausenden von Mudschaheddin aus der islamischen Welt durch das militante islamische Netzwerk geführt habe:
»Die vielleicht größte Bedrohung der SFOR-Mission – und, wichtiger
noch, die größte Gefährdung für das amerikanische Personal, das in Bosnien
dient – ist der Unwille der Clinton-Administration, dem Kongress und dem
amerikanischem Volk offen über die Mitwirkung an Waffenlieferungen aus
dem Iran an die muslimische Regierung in Sarajevo Auskunft zu geben.
Diese Politik, die Präsident Bill Clinton im April 1994 auf Drängen des designierten CIA-Direktors (und damaligen Chefs des Nationalen Sicherheitsrates) Anthony Lake und des US-Botschafters in Kroatien, Peter Galbraith,
persönlich billigte, spielte der Los Angeles Times zufolge (die vertrauliche
Geheimdienstquellen zitiert) >eine zentrale Rolle bei der dramatischen Zunahme des iranischen Einflusses in Bosnien<…
Zusammen mit den Waffen gelangten iranische Revolutionsgarden und
VEVAK-Geheimagenten in großer Zahl nach Bosnien, gemeinsam mit Tausenden von Mudschaheddin (>heiligen Kriegern<) aus der ganzen islamischen Welt. Daran beteiligt waren ebenfalls mehrere andere muslimische
Länder (darunter Brunei, Malaysia, Pakistan, Saudi-Arabien, der Sudan und
die Türkei) und eine Reihe von radikalen muslimischen Organisationen… Die
Third World Relief Agency (TWRA), eine im Sudan ansässige Organisation,
die zum Schein als Hilfsorganisation firmiert…. war ein wichtiges Glied bei
den Waffenlieferungen nach Bosnien… Die TWRA soll mit solchen festen
Größen des islamischen Terrornetzwerks wie Sheik Omar Abdel Rahman
(der als Drahtzieher hinter dem Bombenanschlag auf das World Trade Center von 1993 verurteilt wurde) und mit Osama Bin Laden verbunden sein,
einem wohlhabenden Exil-Saudi, der zahlreiche militante Gruppen finanzieren soll.«40
Der Kosovo und die dubiose UCK. Das Muster des Vorgehens in Bosnien,
das in dem eben zitierten Bericht beschrieben worden ist, wiederholte sich
im Kosovo. Mit Komplizenschaft der NATO und des US-Außenministeriums
wurden Mudschaheddin-Söldner aus dem Nahen Osten und Zentralasien
rekrutiert, um 1998 und 1999 in den Reihen der UCK zu kämpfen und vor
allem die Kriegsanstrengungen der NATO zu unterstützen.
Wie britische Militärquellen bestätigten, wurden 1998 die USamerikanische Defense Intelligence Agency (DIA) und der britische Geheimdienst MI6 zusammen mit »Angehörigen des 22nd Special Air Services
Regiment und drei privaten britischen und amerikanischen Söldnerfirmen«
mit der Aufgabe der Bewaffnung und Ausbildung der UCK betraut. »Während dieser verdeckten Operationen wurden aktive Angehörige des 22 SAS,
vor allem aus dem D-Bataillon, im Kosovo stationiert, bevor im März die
Bombardierung begann.«41
Auch türkische und afghanische Militärausbilder unterwiesen, finanziert
vom islamischen Dschihad, die UCK in Guerillataktiken.42 Und auch Bin Laden war in Albanien: »Er repräsentierte eine von mehreren Fundamentalistengruppen, die Kampfeinheiten in den Kosovo geschickt hatten… Bin Laden soll 1994 mit einer Operation in Albanien begonnen haben… Albanische
Quellen berichten, dass Sah Berisha, der damalige Präsident, Verbindungen
zu einigen Gruppen hatte, die sich später als fundamentalistische Extremisten herausstellten.«43
Frank Cilluffo, der Kriminalitätsexperte des Washingtoner Zentrums für
strategische und internationale Studien, erklärte in einer Aussage vor dem
Rechtsausschuss des US-Repräsentantenhauses: »Was der Öffentlichkeit
weitgehend verborgen geblieben ist, ist die Tatsache, dass die UCK einen
Teil ihrer Einnahmen aus dem Verkauf von Drogen bezieht. Albanien und
Kosovo liegen im Herzen der Balkanroute, die das Drogendreieck von Afghanistan und Pakistan mit den Drogenmärkten in Europa verbindet. Diese
Route hat einen Wert von geschätzten 400 Mrd. Dollar im Jahr und wickelt
80 Prozent des für Europa bestimmten Heroinhandels ab.«44
Ralf Mutschke von Interpol erklärte, ebenfalls vor dem Rechtsausschuss
des US-Repräsentantenhauses: »Das US-Außenministerium stufte die UCK
als terroristische Organisation ein, die ihre Operationen mit Geld aus dem
internationalen Heroinhandel sowie Krediten aus islamischen Ländern und
von Einzelpersonen finanziert, darunter vermutlich Osama Bin Laden. Eine
weitere Verbindung zu Bin Laden ist die Tatsache, dass der Bruder eines
Anführers einer ägyptischen Dschihad-Organisation, der zugleich als Militärkommandeur von Osama Bin Laden fungiert, während des Kosovokrieges
eine Elitetruppe der UCK führte.«45
Obwohl der US-Kongress die UCK-Verbindungen zu Osama Bin Laden,
zum internationalen Terrorismus und zum organisierten Verbrechen hinreichend dokumentiert hatte und folglich jeder Volksvertreter in diesem Hohen
Hause die Fakten hätte zur Kenntnis nehmen können, war die damalige USAußenministerin Madeleine Albright vor der Bombardierung Jugoslawiens
eifrig darum bemüht, der UCK politische Legitimität zu verschaffen. Die paramilitärische Armee erhielt von einem auf den anderen Tag den Status
einer echten »demokratischen Kraft« im Kosovo und durfte bei den gescheiterten »Friedensverhandlungen« von Rambouillet Anfang 1999 eine zentrale
Rolle spielen.
Zu jener Zeit erklärte Senator Jo Lieberman trotz besseren Wissens kategorisch: »Für die UCK zu kämpfen heißt, für Menschenrechte und amerikanische Werte zu kämpfen.« Aber wenige Stunden nach den Raketenangriffen auf Afghanistan am 7. Oktober 2001 rief derselbe Jo Lieberman zu
Vergeltungsluftschlägen gegen den Irak auf: »Wir befinden uns in einem
Krieg gegen den Terrorismus… Wir können nicht bei Bin Laden und den Tahiban Halt machen.«
Fortsetzung in Mazedonien. Nach dem Krieg von 1999 in Jugoslawien
weitete die UCK ihre Terroraktivitäten auf Südserbien und Mazedonien aus.
Zugleich wurde sie unter der neuen Bezeichnung »Kosovo-Schutz-Truppe«
(KPC) von der UNO anerkannt, was die Möglichkeit »legitimer« Finanzierung
durch die Weltorganisation und bilaterale Kanäle eröffnete, darunter USMilitärhilfe.
Und kaum zwei Monate nach dieser offiziellen Anerkennung der KPC im
September 1999 bereiteten ihre Kommandeure, ausgestattet mit UNRessourcen, bereits die Angriffe auf Mazedonien vor – als logische Fortführung ihrer terroristischen Aktivitäten im Kosovo. Der Tageszeitung Dnevnik
aus Skopje zufolge etablierte die KPC ein »sechstes Operationsgebiet« in
Südserbien und Mazedonien: »Quellen, die auf Anonymität bestehen, behaupten, dass bereits im März 2000 Hauptquartiere der KosovoSchutzbrigaden (die mit der KPC verbündet sind) in Tetovo, Gostivar und
Skopje eingerichtet wurden. Auch in Debar und Struga (an der Grenze zu
Albanien) werden Hauptquartiere vorbereitet.«46
Der BBC zufolge wurden die Guerilleros zu jener Zeit noch immer von
westlichen Spezialkräften trainiert, was bedeutet, dass sie der KPC halfen,
ebendieses sechste Operationsgebiet zu eröffnen.47
Unter den ausländischen Söldnern, die 2001 in Mazedonien in den Reihen der selbst ernannten Befreiungsarmee der Albaner kämpften, fanden
sich Mudschaheddin aus dem Nahen Osten und den zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion ebenso wie hochrangige USMilitärberater einer privaten Söldnertruppe, die beim Pentagon unter Vertrag steht, sowie » Glücksritter « aus Großbritannien, den Niederlanden und
Deutschland. Einige dieser westlichen Söldner hatten zuvor bei der UCK im
Kosovo und in der muslimischen bosnischen Armee gekämpft.
Es ist bittere Ironie, dass so die alte UCK im neuen KPC-Gewande und
die mazedonische Befreiungsarmee der Albaner nicht nur von Osama Bin
Ladens al-Qaida, sondern auch von der NATO und der UN-Mission im Kosovo unterstützt und finanziert werden. Tatsächlich stellt das militante isla-
mische Netzwerk einen integralen Bestandteil der verdeckten militärischgeheimdienstlichen Operationen Washingtons in Mazedonien und Südserbien dar, wobei abermals der pakistanische Geheimdienst als Vermittlungsstelle benutzt wird.
Diverse islamistische Gruppen sorgen für die Rekrutierung von Mudschaheddin für den Kampf der albanischen Befreiungsarmee in Mazedonien, USMilitärberater geben ihre Weisheiten an fundamentalistische Krieger weiter,
westliche Söldner aus NATO-Ländern kämpfen Seite an Seite mit Mudschaheddin, die im Nahen Osten und in Zentralasien angeworben wurden.
Wohlgemerkt: All dieses fand statt nicht während des Kalten Krieges,
sondern im Mazedonien des Jahres 2001. Zu jener Zeit hatten die USMedien noch keinen Anlass, einen »Rückschlag« zu bejammern: Die unheilige Allianz zwischen den US-Geheimdiensten und ihren islamistischen »Aktivposten« funktionierte ohne Fehl und Tadel. Am deutlichsten hat wohl die
mazedonische Nachrichtenagentur auf die Komplizenschaft zwischen dem
Gesandten der USA, Botschafter James Pardew, und den Terroristen der
mazedonischen Befreiungsarmee hingewiesen.48
Pardews Hintergrund ist in der Tat sehr aufschlussreich. Er begann seine
Karriere auf dem Balkan 1993 als hochrangiger Geheimdienstoffizier beim
gemeinsamen Oberkommando, verantwortlich für die Kanalisierung von USHilfe an die muslimische bosnische Armee. Oberst Pardew war damit beauftragt, die bosnischen Streitkräfte aus der Luft zu versorgen, was als »zivile Hilfe« deklariert wurde. Später sickerte durch – bestätigt vom Kongressbericht des republikanischen Parteikomitees –, dass die USA damit das
Waffenembargo verletzt hatten. Und James Pardew spielte eine wichtige
Rolle als Teil eines Teams von Geheimdienstvertretern, das eng mit Anthony Lake, dem Chef des Nationalen Sicherheitsrats, zusammenarbeitete.
Später, 1995, nahm Pardew als Vertreter des US-Verteidigungsministeriums
an den Dayton-Verhandlungen teil. Und 1999, vor der Bombardierung Jugoslawiens, ernannte ihn Präsident Clinton zu seinem Sonderbeauftragten,
zuständig für die militärische Stabilisierung der Region und die Umsetzung
der Kosovo-Beschlüsse. Eine seiner Aufgaben war es, der UCK Hilfe zukommen zu lassen.
So setzte sich das in Bosnien erprobte Muster des Vorgehens erst im Kosovo und später in Mazedonien fort.
Der Krieg in Tschetschenien. Die wichtigsten Rebellenführer in Tschetschenien, Shamil Basajew und Emir Al-Khattab, wurden in von der CIA
finanzierten Camps in Afghanistan und Pakistan ausgebildet. Yossef Bodansky zufolge, Direktor der vom US-Kongress eingesetzten Spezialtruppe
zur Terrorisniusbekämpfung, wurde der Tschetschenienkrieg 1996 während
eines geheimen Treffens von Hisbollah-Vertretern aus mehreren Ländern im
somalischen Mogadischu geplant.49 An dem Treffen nahmen Osama Bin Laden sowie hochrangige iranische und pakistanische Geheimdienstler teil. Die
Verstrickung des pakistanischen Geheimdienstes in Tschetschenien geht
folglich »weit über die Versorgung der Tschetschenen mit Waffen und
Know-how hinaus: Tatsächlich haben der pakistanische Geheimdienst und
seine radikalislamistischen Handlanger die Kontrolle über diesen Krieg.«50
Die wichtigsten Ölpipelines Russlands verlaufen durch Tschetschenien
und Dagestan. Zwar verurteilt Washington offiziell den islamischen Terrorismus, aber die indirekten Nutznießer des Tschetschenienkriegs sind die
angloamerikanischen Ölkonzerne, die um die Kontrolle der Ölressourcen
und Pipelines in der Kaspischen Senke wetteifern.
Die beiden wichtigsten tschetschenischen Rebellenarmeen mit zusammen etwa 35.000 Mann – die eine geführt von Shamil Basajew, die andere
von Emir Al-Khattab – wurden vom ISI unterstützt, der auch eine Schlüsselrolle bei ihrer Organisation und Ausbildung spielte.
»(1994) sorgte der pakistanische Geheimdienst ISI dafür dass Basajew
und seine Vertrauensleute im Amir-Muawia-Camp in der afghanischen Provinz Khost – Anfang der 80er Jahre von der CIA und dem ISI eingerichtet
und vom berühmten afghanischen Kriegsherrn Gulbuddin Hekmatyar geleitet – islamistisch indoktriniert und im Guerillakrieg ausgebildet wurden. Im
Juli 1994 kam Basajew dann in das Lager Markaz-i-Dawar in Pakistan, um
sich weiter in Guerillataktik ausbilden zu lassen. Basajew traf in Pakistan die
höchstrangigen Militärs und Geheimdienstler: Verteidigungsminister General
Aftab Shahban Mirani, Innenminister General Naserullah Babar und den
Leiter der Abteilung des ISI für die Unterstützung islamischer Bewegungen,
General Javed Ashraf (heute alle im Ruhestand). Solche Verbindungen zu
höchsten Ebenen erwiesen sich für Basajew bald als sehr nützlich.«51
Nach seiner Ausbildung und Indoktrination erhielt Basajew die Aufgabe,
im ersten Tschetschenienkrieg 1995 den Angriff gegen die Truppen der
Russischen Föderation zu führen. Seine Organisation knüpfte zudem ausgedehnte Kontakte zu Verbrechersyndikaten in Moskau und Verbindungen
zum organisierten Verbrechen Albaniens und der UCK. 1997 und 1998 begannen nach Auskunft des russischen Geheimdienstes »die tschetschenischen Warlords damit, über mehrere Maklerfirmen, die zur Tarnung in Jugoslawien registriert waren, Immobilien im Kosovo zu kaufen«.52
Basajews Organisation war auch in eine Reihe von illegalen Geldbeschaffungsaktionen verstrickt: Drogenhandel, Anzapfen und Sabotage russischer
Pipelines, Entführungen, Prostitution, Handel mit Dollarblüten und Schmuggel von Nuklearmaterial.53 Neben der ausgedehnten Geldwäsche flossen die
Erlöse aus verschiedenen illegalen Aktivitäten in die Rekrutierung von Söldnern und den Waffenkauf.
Während des Trainings in Afghanistan knüpfte Shamil Basajew Kontakt
zu dem aus Saudi-Arabien stammenden erfahrenen MudschaheddinAnführer Al-Khattab, der als Freiwilliger in Afghanistan gekämpft hatte.
Kaum ein paar Monate nach Basajews Rückkehr nach Grosny lud er AlKhattab Anfang 1995 ein, einen Stützpunkt in Tschetschenien aufzubauen,
um Mudschaheddin auszubilden. Der BBC zufolge wurde Al-Khattabs Entsendung nach Tschetschenien »von der in Saudi-Arabien ansässigen International Islamic Relief Organisation arrangiert, einer von Moscheen und
reichen Individuen finanzierten militanten religiösen Organisation, die Mittel
nach Tschetschenien schleuste.«54
Der Kaschmirkonflikt. Parallel zu diesen verdeckten Operationen auf dem
Balkan und in der ehemaligen Sowjetunion förderte der pakistanische Geheimdienst ISI seit den 80er Jahren mehrere islamische Aufstände im indischen Kaschmir. Obwohl offiziell von Washington verurteilt, fanden auch
diese Operationen des ISI mit stillschweigender Billigung der US-Regierung
statt. Zeitgleich mit dem Genfer Friedensabkommen und dem sowjetischen
Rückzug aus Afghanistan half der ISI bei der Gründung der militanten Hisbollah-Mudschaheddin im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir.55
Die Terrorattacke vom Dezember 2001 auf das indische Parlament, die
Indien und Pakistan an den Rand eines Krieges brachte, wurde von zwei
von Pakistan aus operierenden Rebellengruppen durchgeführt, Lashkar-eTaiba (»Armee der Reinen«) und Jaish-e-Muhammad (»Armee Mohammeds«), die beide die Unterstützung des ISI genießen.
Dieser zeitlich auf den US-Krieg in Afghanistan abgepasste Anschlag war
der vorläufige Höhepunkt eines in den 80er Jahren begonnenen, mit Drogengeldern finanzierten und vom ISI angestifteten Prozesses.56 Es muss
nicht eigens erwähnt werden, dass die vom ISI unterstützten islamischen
Auf stände den geopolitischen Interessen der USA dienen, da sie zur
Schwächung und Spaltung der Einheit Indiens beitragen.
Die versuchte Destabilisierung Chinas. Ebenfalls bedeutsam für das
Verständnis von Amerikas neuem Krieg ist die Unterstützung des ISI für
islamische Aufstände an der chinesischen Westgrenze zu Afghanistan und
Pakistan. Tatsächlich stehen diverse islamische Bewegungen in den muslimischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion in engem Kontakt mit den
Bewegungen der Turkmenen und Uiguren in der Uigurischen Autonomen
Region Sinkiang.
Diese Separatistengruppen – zu denen die so genannte Ostturkmenische
Terroristenarmee, die Islamische Reformpartei, die Ostturkmenische Nationale Einheitsallianz, die Uigurische Befreiungsorganisation und die Zentralasiatische Uigurische Dschihad-Partei gehören – sind ebenfalls von Osama
Bin Ladens al-Qaida und dem ISI unterstützt worden.57 Das erklärte Ziel
dieser islamischen Aufständischen ist die Errichtung »eines islamischen Kalifats in der Region«.58
Ein solches Kalifat würde die territoriale Souveränität Chinas verletzen.
Die Ziele der separatistischen Bewegungen an Chinas Westgrenze, die auch
Gelder von verschiedenen wahhabitischen Stiftungen aus den Golfstaaten
erhalten, decken sich mit den strategischen Interessen der USA in Zentralasien. Eine mächtige Lobby in den USA sorgt außerdem für die Unterstützung separatistischer Kräfte in Tibet. Durch die verdeckte Förderung der
Abspaltung der Uigurischen Autonomen Region Sinkiang mithilfe des pakistanischen Geheimdienstes verfolgt Washington das Ziel, die Volksrepublik
China auf breiter Front politisch zu destabilisieren und territorial aufzubre-
chen. Diesem Ziel dienen auch die Militärstützpunkte, die die USA in Afghanistan und verschiedenen ehemaligen Sowjetrepubliken direkt an der Westgrenze Chinas errichtet haben, sowie die Militarisierung des Südchinesischen Meeres und der Formosastraße.
25.
Die verborgenen Ziele des Krieges
Amerikas neuer Krieg dient dazu, das globale Marktsystem auszuweiten und
den US-Konzernen zugleich neue Räume zu öffnen. Die von den USA in enger Verbindung mit Großbritannien geführte militärische Invasion in Afghanistan nützt, den Interessen der britisch-amerikanischen Ölgiganten und
den fünf großen Rüstungsproduzenten der USA: Lockheed Martin, Raytheon, Northrop Grumman, Boeing und General Dynamics. Das Zusammenrükken von London und Washington und das enge Verhältnis zwischen dem
britischen Premierminister und dem amerikanischen Präsidenten decken
sich mit der Integration britischer und amerikanischer Geschäftsinteressen
in den Bereichen des Bankenwesens und der Öl- und Verteidigungsindustrie. So fusionierte BP mit der amerikanischen Ölgesellschaft Amoco zum
größten Ölkonzern der Welt, und nach dem Jugoslawienkrieg von 1999
wurde der britische Rüstungsgigant British Aerospace Systems voll in die
US-amerikanische Waffenbeschaffung einbezogen.
Kriegsplanungen. Die Planung von Amerikas neuem Krieg begann mindestens drei Jahre vor den tragischen Ereignissen vom 11. September. Zu
Beginn des Jugoslawienkrieges von 1999 wurde die Erweiterung des westlichen Militärbündnisses mit dem NATO-Beitritt von Ungarn, Polen und der
Tschechischen Republik verkündet. Diese Erweiterung richtete sich gegen
Jugoslawien und Russland.
Und im April, kaum einen Monat nach der Bombardierung Jugoslawiens,
gab die Clinton-Regierung die Erweiterung der NATO in den direkten Machtbereich der ehemaligen Sowjetunion bekannt. Zeitgleich mit den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der NATO-Gründung kamen nämlich die Staatschefs Georgiens, der Ukraine, Usbekistans, Aserbaidschans und Moldawiens
im Andrew-Mellon-Auditorium in Washington zusammen. Sie waren zu den
dreitägigen Feiern der NATO eingeladen worden, um GUUAM zu unterzeichnen, einen regionalen militärischen Bündnisvertrag, dessen Geltungsbereich
die strategisch wichtige Öl- und Gasregion um das Kaspische Meer umfasst,
wobei Moldawien und die Ukraine dem Westen Pipelinerouten für den Ölexport anboten.59 Georgien, Aserbaidschan und Usbekistan gaben unmittelbar
danach bekannt, dass sie die Verteidigungsgemeinschaft der Gemeinschaft
Unabhängiger Staaten (GUS) verlassen würden, die den Rahmen der militärischen Kooperation zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken bildet.
Kasten 25.1
Einem BBC-Bericht zufolge, der kurz nach den Angriffen des 11. September veröffentlicht wurde, erklärten bereits Mitte Juli 2001, während
des Treffens einer UN-Kontaktgruppe, die afghanische Belange verhandelte, hochrangige US-Vertreter dem ehemaligen pakistanischen Außenminister Niaz Naik, »dass Mitte Oktober (2001) militärische Aktionen
gegen Afghanistan vorgesehen seien… Das übergeordnete Ziel, so Naik,
sollte darin bestehen, das Taliban-Regime zu stürzen… Naik wurde mitgeteilt, dass Washington seine Operation von Stützpunkten in Tadschikistan aus beginnen würde, wo bereits amerikanische Berater stationiert seien. Bin Laden würde >getötet oder gefangen genommen< werden. Er erfuhr weiter; dass Usbekistan ebenfalls an der Operation teilnehmen würde… Falls es wirklich zu dieser militärischen Aktion komme,
müsse sie spätestens Mitte Oktober vor den Schneefällen in Afghanistan
beginnen. Er sagte, dass er keinen Zweifel hege, dass nach den Bombardierungen des World Trade Center dieser bereits bestehende US-Plan
als Grundlage diene und in zwei oder drei Wochen umgesetzt werden
würde. Er sagte ferner, dass es zweifelhaft sei, ob Washington seinen
Plan selbst dann aufgeben würde, wenn Bin Laden sofort von den Taliban
ausgeliefert würde.«
George Arney, »US Planned Attack on Taliban«, BBC,
18. September 2001
Der GUUAM-Vertrag – unter dem Schirm der NATO und finanziert mit
westlicher Militärhilfe – zielt darauf ab, die GUS weiter zu zerstückeln, im
Dienste britisch-amerikanischer Erdölinteressen Russland von den Öl- und
Gasvorkommen der kaspischen Region auszuschließen und Moskau politisch
zu isolieren.
Die Seidenstraßenstrategie. Einen Monat zuvor, am 19. März, 1999, also
fünf Tage vor dem Beginn der Bombardierung Jugoslawiens, hatte der USKongress das so genannte Seidenstraßenstrategiegesetz (Silk Road Strategy Act) verabschiedet, das die umfassenden wirtschaftlichen und strategischen Interessen der USA in einer riesigen Region definiert, die sich vom
Mittelmeer bis nach Zentralasien erstreckt. Die Seidenstraßenstrategie umreißt den Ausbau des amerikanischen Wirtschaftsimperiums in einem breiten geografischen Korridor:
»Die alte Seidenstraße, einst die wirtschaftliche Lebensader Zentralasiens und des Südkaukasus, verlief durch einen Großteil des Territoriums der
Länder Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Tadschi-
kistan, Turkmenistan und Usbekistan… Vor hundert Jahren war Zentralasien
die Arena eines großen Machtspiels zwischen dem zaristischen Russland,
dem britischen Kolonialreich, dem napoleonischen Frankreich sowie dem
persischen und Osmanischen Reich. Militärbündnisse zählten in diesem
Kampf um Reichsausdehnung, bei dem keines der Reiche die Oberhand gewinnen konnte, wenig. Hundert Jahre später hat der Zusammenbruch der
Sowjetunion ein neues Machtspiel in Gang gesetzt, bei dem an die Stelle
der Interessen der Ostindischen Kompanie jene von Ölgesellschaften wie
Unocal und Total und vielen anderen Unternehmen getreten sind. Heute
liegt unser Augenmerk auf den Interessen eines neuen Mitstreiters in diesem Spiel: die USA. Die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken, aus denen Zentralasien besteht – Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und
Usbekistan – ‚ sind begierig darauf, Beziehungen zu den USA aufzubauen.
Kasachstan und Turkmenistan besitzen große Öl- und Gasreserven in und
um das Kaspische Meer, die sie dringend ausbeuten wollen. Usbekistan hat
Öl- und Gasvorkommen…«60
Die US-Politik zielt mit ihrer Seidenstraßenstrategie darauf, ihre Wettbewerber im Ölgeschäft, darunter Russland, den Iran und China, zu schwächen und schließlich zu destabilisieren:
»Zu den erklärten Zielen der US-Politik im Hinblick auf die Energieressourcen in dieser Region gehört es, die Unabhängigkeit der Staaten und
ihre Verbindungen zum Westen zu fördern, Russlands Monopol über die Ölund Gastransportrouten zu brechen, die Sicherheit der Energieversorgung
des Westens durch breitere Streuung der Produzenten zu fördern, den Bau
von Ost-West-Pipelines zu ermutigen, die nicht durch den Iran verlaufen,
sowie zu verhindern, dass der Iran gefährlichen Einfluss auf die Wirtschaften Zentralasiens gewinnt…
Zentralasien bietet offenbar beträchtliche neue Investitionsmöglichkeiten
für eine große Bandbreite von US-amerikanischen Unternehmen, die ihrerseits als wertvoller Stimulus für die wirtschaftliche Entwicklung der Region
dienen können. Japan, die Türkei, der Iran, Westeuropa und China streben
alle danach, wirtschaftliche Entwicklungschancen wahrzunehmen und die
russische Vorherrschaft in der Region herauszufordern. Es kommt wesentlich darauf an, dass die Politiker der USA bei der Gestaltung einer Politik,
die den Interessen des Landes und der US-Wirtschaft dient, verstehen, um
wie viel es in Zentralasien geht.«61
Während die Seidenstraßenstrategie die Bühne für die Eingliederung der
ehemaligen sowjetischen Republiken in das amerikanische Wirtschaftsimperium bereitet, definiert das Militärbündnis GUUAM die »Kooperation« im
Verteidigungsbereich, darunter die Stationierung von US-Truppen in ehemaligen Sowjetrepubliken. Im Rahmen dieses Abkommens haben die USA
eine Militärbasis in Usbekistan eingerichtet, die als Stützpunkt für die Invasion Afghanistans 2001 diente.
Gestützt durch die Militärmacht der USA, soll das Seidenstraßengesetz
US-Firmen und Finanzinstituten eine riesige geografische Region öffnen. Der
erklärte Zweck besteht darin, die »politische und wirtschaftliche Liberalisierung« der betreffenden Länder zu fördern – unter anderem durch »Marktre-
formen« unter Aufsicht von IWF, Weltbank und WTO – , um so Anreize für
internationale private Investitionen zu schaffen und den Handel und andere
Formen wirtschaftlichen Austausches zu erhöhen.62
Ziel der Seidenstraßenstrategie ist es somit, in einer Region, die sich
vom Schwarzen Meer bis an die chinesische Grenze erstreckt, eine von den
USA kontrollierte »Freihandelszone« aus acht ehemaligen Sowjetrepubliken
zu errichten. Dieser ausgedehnte Korridor – der bis vor kurzem zur wirtschaftlichen und geopolitischen Sphäre Moskaus gehörte, würde schließlich
die gesamte Region in einen Flickenteppich amerikanischer Protektorate
verwandeln. Die Seidenstraßenstrategie stellt folglich die Fortsetzung der
US-Außenpolitik während des Kalten Krieges dar.
Ölpolitik. Afghanistan hat in vieler Hinsicht strategische Bedeutung. Es
grenzt nicht nur an den Seidenstraßenkorridor, der den Kaukasus mit der
Westgrenze Chinas verbindet, sondern liegt auch am strategischen Kreuzungspunkt der eurasischen Ölpipelines und Öltransportrouten sowie in direkter Nachbarschaft von fünf Atommächten: China, Russland, Indien, Pakistan und Kasachstan. Es stellt darüber hinaus eine Landbrücke für eine
mögliche Ölpipeline aus der ehemaligen
Sowjetrepublik Turkmenistan durch Pakistan zum Arabischen Meer dar über
die der Ölkonzern Unocal anfänglich mit der Taliban-Regierung verhandelt
hatte:
»Die ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens – Turkmenistan, Usbekistan und besonders das >neue Kuwait< Kasachstan – verfügen über riesige Öl- und Gasvorkommen. Aber Russland hat den USA die Genehmigung
verweigert, diese durch russische Pipelines zu befördern, und Iran gilt als
gefährliche Route. Blieb nur Afghanistan. Die US-Ölgesellschaft Chevron –
bei der die Sicherheitsberaterin von Bush, Condoleezza Rice, in den 90er
Jahren einen Direktionsposten innehatte – ist stark in Kasachstan engagiert.
1995 unterzeichnete Unocal, die andere US-Ölgesellschaft (ehemals Union
Oil Company of California), einen Vertrag für den Export von Gas im Wert
von acht Milliarden Dollar durch eine drei Milliarden Dollar teure Pipeline,
die von Turkmenistan durch Afghanistan nach Pakistan verlaufen sollte.«63
Die Öl- und Gasreserven des eurasischen Korridors sind beträchtlich,
mindestens von der Größe der Vorkommen im Persischen Golf, und folglich
dazu angetan, die Abhängigkeit der USA von der unruhigen Golfregion zu
reduzieren.
Aber für die Bush- wie zuvor schon für die Clinton-Regierung stehen die
politischen und militärischen Bedingungen in der Region – sprich: die Präsenz und der Einfluss Russlands – der Absicht im Wege, diese Energievorkommen auf den Weltmarkt zu bringen:
»In beiden Regionen wetteifern ausländische Staaten um Einfluss. Nicht
nur Russland, sondern auch China, die Türkei, der Iran, Pakistan und SaudiArabien sind an diesem Wettbewerb beteiligt, häufig in unkonstruktiver
Weise. Wenn wir und unsere Verbündeten mit diesen Realitäten zweiter und
dritter Ordnung nicht fertig werden, werden wir den Nutzen aus den
Realitäten erster Ordnung verlieren. Das Öl und Gas auf den Markt zu
täten erster Ordnung verlieren. Das Öl und Gas auf den Markt zu bringen
wird dann nur sporadisch möglich, wenn nicht ganz unmöglich und weit
kostspieliger sein. Gleichzeitig könnte die sich daraus ergebende politische
Instabilität beide Regionen in einen Hexenkessel von Bürgerkriegen und
politischer Gewalt stürzen und unweigerlich die Nachbarstaaten mit hineinziehen. Wir kennen dieses Muster, welches das militärische Eingreifen der
USA erfordert, bereits aus dem Persischen Golf und könnten einen solchen
Konflikt selbst dann, wenn wir militärischen Beistand leisten würden, politisch kaum durchstehen, sofern Russland, China, der Iran, die Türkei, Pakistan und einige der arabischen Staaten jenseits des Kaukasus oder Zentralasiens darin verwickelt wären.«64
Die erfolgreiche Umsetzung der Seidenstraßenstrategie hat also die Militarisierung des eurasischen Korridors zur Voraussetzung, um die Kontrolle
über die ausgedehnten Öl- und Gasvorkommen zu gewinnen und die Pipelines zugunsten britisch-amerikanischer Ölkonzerne zu schützen. »Ein erfolgreiches internationales Ölmanagement ist eine Kombination wirtschaftlicher,
politischer und militärischer Arrangements, um die Produktion und den
Transport des Öls zu den Märkten zu unterstutzen.«65
Ein ehemaliger Politikexperte der CIA drückt es so aus: »Wer immer die
Kontrolle über bestimmte Pipelines und bestimmte Investitionen in der Region hat, verfügt über ein gewisses Maß an geopolitischer Macht. Ein solcher Einfluss ist selbst eine Art Rohstoff… Für weite Teile der Dritten Welt ist
das ein neuer Gesichtspunkt im Umgang mit Ressourcen. Es geht nicht
mehr um die alte Geschichte von Hitler-Deutschland, das im Zweiten Weltkrieg den Kaukasus zu erobern versuchte, um das Öl für seine eigenen
Zwecke zu benutzen.«66
Seitdem George W. Bush als Präsident in Washington residiert, genießen
die US-Ölkonzerne den Vorteil, unmittelbar an der Planung von militärischen und geheimdienstlichen Operationen zu ihren Gunsten beteiligt zu
sein. Dies gewährleisten nicht nur die mächtige texanische Öllobby, sondern
auch die Besetzung von Verteidigungs- und außenpolitischen Schlüsselpositionen mit ehemaligen Managern aus der Ölindustrie:
»Präsident George W. Bushs Familie ist seit 1950 führend im Ölgeschäft
tätig. Vizepräsident Dick Cheney war während der 90er Jahre Vorstand von
Halliburton, der größten Öldienstleistungsgesellschaft der Welt. Die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice saß im Aufsichtsrat von Chevron,
die einen Tanker mit ihrem Namen ehrte. Handelsminister Donald Evans
war länger als ein Jahrzehnt Chef von Tom Brown Inc. einer Gasgesellschaft
mit Förderstätten in Texas, Colorado und Wyoming. Aber es geht nicht nur
um personelle Verbindungen. Die Bin-Laden-Familie und andere Mitglieder
von Saudi-Arabiens ölreicher Elite trugen selbst dann noch beträchtlich zu
mehreren Unternehmen der Bush-Familie bei, als die amerikanische Energieindustrie Bush ins Amt verhalf. Von den zehn lebenslangen Unterstützern, die George W Bushs Wahlkampfkasse füllen, kommen sechs aus dem
Ölgeschäft oder haben Verbindungen dazu.«67
Strategische Pipelinerouten. In dem Bestreben, die Kontrolle Moskaus
über das kaspische Öl zu schwächen, wurden mehrere Pipelinerouten ins
Auge gefasst. Die Baku-Supsa-Pipeline – eingeweiht am 17. Juni 1999 während des Krieges in Jugoslawien und vom GUUAM-Vertrag militärisch geschützt – umgeht das russische Territorium völlig. Das Öl wird durch Pipelines von Baku zum georgischen Hafen Supsa gepumpt, von wo aus es mit
Tankern zum Piwdenni-Hafen in der Nähe von Odessa in der Ukraine gebracht wird. Zur Erinnerung: Sowohl Georgien als auch die Ukraine sind
Alliierte des GUUAM-Abkommens.
Die Finanzierung des Piwdenni-Terminals wurde – in Abstimmung mit
der neofaschistischen Regierung von Präsident Leonid Kutschma – durch
westliche Kredite gesichert. Von dort kann das Öl durch Anschluss an den
bereits vorhandenen südlichen Zweig der Druzhba-Pipeline, die durch die
Slowakei, Ungarn und die Tschechische Republik verläuft, weitertransportiert werden.
Die NATO-Erweiterung, verkündet kurz vor Einweihung der Baku-SupsaRoute, stellt den Schutz der Verbindungspipelines von den kaspischen Öllagerstätten durch Ungarn und Tschechien sicher. So wird die gesamte Pipelineroute von der westlichen Militärallianz geschützt.
Die Pipeline aus sowjetischer Zeit verbindet Baku am Kaspischen Meer
über Grosny mit Noworossisk am Schwarzen Meer. Weil auch die Ölleitung
aus Kasachstan in Noworossisk endet, liegt Tschetschenien an der Kreuzung
zweier von Russland kontrollierten strategischen Pipelinerouten. Während
der Sowjetära war Noworossisk auch der Endhafen für die Pipeline aus Kasachstan. Entscheidend für westliche Pipelinepläne ist es nun, mit dem
aserbaidschanischen und dem kasachischen Öl den Hafen von Noworossisk
zu umgehen.
Unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges ermutigte Washington
auf verschwiegene Weise die beiden wichtigsten Rebellengruppen Tschetscheniens, ihre Republik von der Russischen Föderation loszusagen. Wie
bereits erläutert, sind die islamischen Aufstände in Tschetschenien von
Osama Bin Ladens al-Qaida und dem pakistanischen Geheimdienst unterstützt worden.
1994 begann Moskau einen Krieg, um die strategische Pipeline zu schützen, die von den tschetschenischen Rebellen bedroht wurde. Im August
1999 wurde die Pipeline zeitweise außer Betrieb gesetzt, als die tschetschenische Rebellenarmee in Dagestan einfiel und dadurch den Kreml veranlasste, russische Truppen nach Tschetschenien zu schicken.
Die Belege deuten darauf hin, dass die CIA hinter den tschetschenischen
Rebellen stand und sich den ISI als Vermittler zunutze machte. Washington
ist interessiert daran, die Kontrolle der russischen Ölgesellschaften und des
russischen Staates über die Pipelinerouten durch Tschetschenien und Dagestan zu schwächen. Wenn sich diese beiden Republiken von der Russischen
Föderation abspalten würden, ließe sich ein Großteil des Territoriums zwischen dem Kaspischen und Schwarzen Meer unter den »Schutz« des westlichen Militärbündnisses bringen und fielen so alle existierenden und ge-
planten Pipelinerouten und Transportwege dieser Region den britischamerikanischen Ölkonzernen zu.
Konkurrierende Ölinteressen. In Aserbaidschan wurde eine USfreundliche Regierung installiert. Unter Präsident Heydarn Alijew, der sich
durch die Vergabe einflussreicher Positionen an die Mitglieder seines Klans
an der Macht hält, ebnete sie BP-Amoco alle Wege. In Aserbaidschan soll
eine Investition von bescheidenen acht Milliarden Dollar westlichen Ölgesellschaften Profite in Höhe von 40 Mrd. einbringen.68 BP-Amoco war besonders
eifrig darum bemüht, die Konkurrenzgebote der russischen Ölgesellschaft
Lukoil auszustechen. Dem von diesem Konzern beherrschten britisch-amerikanischen Konsortium gehören auch Unocal, McDermott und Pennzoil sowie
die türkische TPAO an. Unocal war, wie bereits angeführt, der wichtigste
Bieter um das Pipeline-Projekt durch Afghanistan zum Arabischen Meer.
Das BP-Amoco-Konsortium besitzt 60 Prozent der Anteile an der Azerbaijan International Operating Company (AIOC). 1997 unterzeichnete der
damalige US-Vizepräsident Al Gore einen weiteren milliardenschweren Ölvertrag, der Chevron die Kontrolle über riesige Ölreserven sicherte. Chevron
ist über das Joint Venture Tengizchevroil auch in der nordkaspischen Region
Kasachstans engagiert.
Die britisch-amerikanischen Ölkonzerne, die von der Militärmacht der
USA unterstützt werden, konkurrieren mit dem französisch-belgischen Ölmulti Total-Fina-Elf, der seinerseits mit der italienischen ENI verbunden ist,
einem großen Spieler auf den reichen nordostkaspischen KashaganÖlfeldern Kasachstans. Es geht um viel: Kasachstan allein soll über Ölvorkommen verfügen, die »so groß sind, dass sie selbst die Nordseeölreserven
übertreffen«.69
Dem konkurrierenden europäischen Konsortium jedoch fehlt ein bedeutsamer Anteil an den wichtigsten Pipelinerouten aus der kaspischen Region
über das Schwarze Meer und den Balkan nach Westeuropa. Der entscheidende Korridor ist weitgehend in den Händen der britisch-amerikanischen
Rivalen.
Total-Fina-Elf hat in Partnerschaft mit ENI große Investitionen im Iran
getätigt und zusammen mit der russischen Gazprom und der malaysischen
Petronas ein Joint Venture mit der National Iranian Oil Company gegründet.
Washington versuchte mehrfach diesen französischen Handel mit Teheran
zu verhindern, da er einen offenen Bruch der Sanktionen gegen Iran und
Libyen darstellt. Das alles legt nahe, daß sich Europas große Ölkonzerne mit
ihren eher kooperativen Strategien potentiell auf Konfliktkurs mit den britisch-amerikanischen Konzernen befinden, die es offenkundig darauf anlegen, die russischen Gesellschaften wie Lukoil und Rosneft schließlich zu
übernehmen, Russland vom Kaspischen Becken abzuschneiden und sich bei
alldem die kontinentaleuropäischen Konkurrenten vom Hals zu halten.
Deshalb richtet sich die Militarisierung des eurasischen Korridors als integraler Bestandteil der US-Außenpolitik nicht nur direkt gegen Russland,
sondern auch gegen die konkurrierenden europäischen Ölinteressen jenseits
des Kaukasus und in Zentralasien.
26.
Amerikas Kriegsmaschine
Der Jugoslawienkrieg von 1999, der mit dem GUUAM-Abkommen und der
NATO-Erweiterung zusammenfiel, markierte einen wichtigen Wendepunkt in
den Ost-West-Beziehungen.
Für Alexander Arbatow, den stellvertretenden Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, waren die amerikanischrussischen Beziehungen durch die NATO-Bombardierungen Jugoslawiens
»auf dem schlechtesten, ernstesten und bedrohlichsten Stand seit der Berliner Blockade und der Kuba-Krise… START II ist tot, die Zusammenarbeit
mit der NATO auf Eis gelegt, die Zusammenarbeit in der Raketenabwehr
geplatzt und die Bereitschaft Moskaus im Hinblick auf die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen auf dem Tiefpunkt. Überdies ist die anti-amerikanische Stimmung in Russland handfest, tief greifend und verbreiteter
denn je. Der Spruch, mit dem das Vorgehen der NATO charakterisiert wird,
>heute Serbien, morgen Russland<, ist im Bewusstsein der russischen
Menschen tief verwurzelt.«70
Trotz der versöhnlichen Erklärungen von Präsident Boris Jelzin auf dem
G8-Gipfel in Köln 1999 gab das russische Militär offen seinem Misstrauen
gegenüber den USA Ausdruck: »Die Bombardierung Jugoslawiens könnte
sich in naher Zukunft als Probe für ähnliche Schläge gegen Russland erweisen.«71
Mary-Wynne Ashford, Kopräsidentin der Organisation Internationale Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs (IPPNW), warnte, dass die Russen bestrebt seien, sich in Europa zu integrieren, nun aber ihre Hauptbedrohung
im Westen sähen. Außenpolitische Vertreter Moskaus hätten ihrer Organisation erklärt, dass Russland keine andere Wahl habe, als sich zur Verteidigung auf seine Atomwaffen zu verlassen, weil seine konventionellen Verteidigungskräfte zu schwach seien. Die Veränderungen in Russlands Haltung
gegenüber dem Westen, seine Rückbesinnung auf die nukleare Abschrekkung sowie der Vertrauensverlust in das Völkerrecht, so Ashford, »machen
uns für eine Katastrophe anfällig ... Diese Krise lässt es dringlicher denn je
erscheinen, Atomwaffen aus der Alarmbereitschaft zu nehmen. Wer sagt,
die russischen Drohungen seien reine Rhetorik, dem halte ich entgegen,
dass alle Kriege rhetorisch beginnen.«72
Aufrüstung nach 1999. Seit 1999 hat Washington sein Waffenarsenal
erheblich aufgestockt. Im Streben nach unangefochtener Hegemonie wurden die Verteidigungsausgaben auf über 300 Mrd. Dollar erhöht, eine
Summe, die dem gesamten Bruttoinlandsprodukt der Russischen Föderation
von annähernd 325 Mrd. Dollar entspricht. Und dieser gewaltige Betrag für
die amerikanische Kriegsmaschine schließt noch nicht einmal das riesige
Budget der CIA ein, die sowohl aus offiziellen als auch aus geheimen Quellen finanziert wird, um ihre verdeckten Operationen durchführen zu können.
Das offizielle Budget der CIA übersteigt 30 Mrd. Dollar, zehn Prozent des
russischen Bruttoinlandsprodukts. Nicht eingerechnet sind die milliardenschweren Erlöse aus dem Drogenhandel, die CIA-Tarnorganisationen zufließen.
Aus dem Gesamtverteidigungsbudget flossen Milliarden von Dollar in die
Aufstockung des amerikanischen Atomarsenals. Eine neue Generation von
Raketen mit Mehrfachsprengköpfen wurde entwickelt, die in der Lage sind,
mit einem einzigen Raketenabschuss Atomsprengköpfe auf zehn verschiedene Städte zu lenken. Diese Raketen zielen heute auf Russland. Die USA
halten weiterhin an ihrer Erstschlagsstrategie fest, die den Verlautbarungen
nach so genannte Schurkenstaaten abschrecken soll, sich tatsächlich aber
direkt gegen Russland und China richtet.
Außerdem wurde eine neue Generation von taktischen Nuklearwaffen
entwickelt, die in konventionellen Kriegen einsetzbar sind. Bereits unter der
Clinton-Regierung rief das Pentagon nach dem Einsatz von atomaren Bunkerbomben, die, da sie unterirdische Ziele vernichten sollen, angeblich keine radioaktive Gefährdung für die Zivilbevölkerung darstellen: »Vertreter
des Militärs und Leiter der US-Nuklearwaffenlabors drängen die USA, eine
neue Generation kleiner Atomwaffen zu entwickeln…, die in konventionellen
Konflikten mit Staaten der Dritten Welt eingesetzt werden könnten.«73
Die während der Präsidentschaft Clintons begonnene militärische Aufrüstung hat neuen Schwung bekommen. Die Terrorangriffe vom 11. September verleihen der Ausweitung der Kriegswirtschaft eine neue Legitimität und
der amerikanischen Rüstungsindustrie einen kräftigen Wachstumsschub.
Die Bush-Regierung lenkt Milliarden von Dollar in die Entwicklung neuer
Waffensysteme, darunter die des F-22-Raptor-Kampfjets und des JointFighter-Programms. Zur Strategischen Verteidigungsinitiative gehören nicht
nur der umstrittene Raketenabwehrschirm, sondern auch offensive, lasergelenkte Langstreckenwaffen, die jeden Punkt auf der Welt erreichen können
– ganz zu schweigen von einer möglichen Kriegführung durch Ionosphärenheizer, deren Erforschung sich das High Altitude Aural Research Program
widmet. Durch Klimamanipulationen ließen sich damit – zu minimalen Kosten und ohne den geringsten Einsatz von Soldaten und Ausrüstung – ganze
Volkswirtschaften destabilisieren, ohne dass der Feind überhaupt davon
erfährt.74
Die Einkreisung Chinas. Nach dem Jugoslawienkrieg von 1999 verstärkte
die Clinton-Regierung ihre militärische Unterstützung für Taiwan, was zu
einer beträchtlichen Aufrüstung in der Formosastraße führte. Taiwans Luftwaffe war zuvor bereits mit einigen F-16-Kampfjets von Lockheed ausgerüstet worden. Clinton und seine Sprecher argumentierten, dass Taiwan
militärische Hilfe brauche, um im Rahmen der Washingtoner Politik des
»Friedens durch Abschreckung« die »militärische Balance mit der Volksrepublik China« aufrechtzuerhalten.75
Die USA lieferten an Taiwan Zerstörer mit modernsten Boden-LuftRaketen, Torpedos und Tomahawk-Cruise-Missiles, um die Aktionsfähigkeit
der taiwanesischen Marine in der Formosastraße zu verbessern. Im Jahr
2000 reagierte Peking auf diese militärische Aufrüstung mit dem Kauf seines ersten russischen Zerstörers, der mit SS-N-22-Torpedos bestückt ist,
die in der Lage sind, die modernste Verteidigung von US-amerikanischen
oder japanischen Flottenverbänden zu durchbrechen.
Taiwan seinerseits forscht mit amerikanischer Unterstützung daran,
»taktische ballistische Raketen zu entwickeln, die Ziele auf dem chinesischen Festland treffen können… Es wird vermutet, dass der Zweck dieser
Raketen darin besteht, die Schlagkraft der chinesischen Armee zu schwächen«, darunter die Raketenstellungen und andere militärische Infrastruktur
wie Flughäfen und Häfen.76 Diese Aufrüstung der taiwanesischen Marine im
Südchinesischen Meer ist wohl abgestimmt mit der militärischen Präsenz
des US-Militärs in Pakistan, Afghanistan und in mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken an der Westgrenze Chinas.
China ist umzingelt: Das US-Militär ist im Südchinesischen Meer und in
der Formosastraße präsent, auf der koreanischen Halbinsel, im Japanischen
Meer ebenso wie in Zentralasien an der Westgrenze der Uigurischen Autonomen Region Sinkiang. In Usbekistan, das Mitglied des GUUAM-Abkommens mit der NATO ist, hat das US-Militär angeblich »vorübergehend«
Stützpunkte eingerichtet, Tadschikistan und Kirgistan stellen der USLuftwaffe Militärflughäfen zur Verfügung.
Washington, London, Paris und Berlin. Der Jugoslawienkrieg hat Washington und London einander so nahe gebracht wie nie zuvor. Im Januar
2000 unterzeichneten US-Verteidigungsminister William Cohen und sein
britischer Kollege Geoffrey Hoon eine Erklärung über Rüstungsgüter und
industrielle Zusammenarbeit, um »die Kooperation bei der Waffenbeschaffung und beim Schutz geheimer Technologien zu verbessern« sowie
gleichzeitig »den Weg für mehr gemeinsame Rüstungs-Joint-Ventures und
mögliche Fusionen in der Industrie zu erleichtern«.77
Washington beabsichtigte damit die Bildung einer »transatlantischen
Brücke, mit der das US-Verteidigungsministerium seine Globalisierungspolitik nach Europa tragen kann… Unser Ziel ist es, die Kooperationsfähigkeit
und Effektivität der Kriegführung durch engere Verbindungen zwischen Rüstungsunternehmen der USA und der Verbündeten zu verbessern«.78
Das versteckte Ziel der transatlantischen Zusammenarbeit von Briten
und Amerikanern besteht darin, die französisch-deutschen Rüstungskonzerne zurückzudrängen und die Dominanz des militärisch-industriellen Komplexes der USA im Bündnis mit britischen Rüstungsfirmen sicherzustellen. Das
Abkommen wurde unterzeichnet, kurz nachdem British Aerospace (BAe)
und GEC Marconi zu British Aerospace Systems (BAeS) fusionierten. Zu diesem Zeitpunkt war BAe bereits eng mit den größten amerikanischen Rüstungskonzernen Lockheed Martin und Boeing liiert.79
Während der militärisch-industriellen Komplex Großbritanniens zunehmend mit dem US-amerikanischen zusammengeht, zeigen sich Risse zwischen Washington und Berlin. Seit den frühen 90er Jahren fördert die deutsche Regierung die Konsolidierung sowohl der von Daimler, Siemens und
Krupp dominierten einheimischen als auch der (kontinental)europäischen
Rüstungsindustrie. Bereits 1996 gründeten Paris und Bonn eine gemeinsame Rüstungsagentur wobei sie sich ausdrücklich gegen die Teilnahme
Großbritanniens aussprachen. Frankreich und Deutschland kontrollieren nun
den mit Lockheed Martin konkurrierenden Airbus-Konzern, an dem BAeS
mit immerhin 20 Prozent beteiligt ist. Sie arbeiten auch beim Satellitenprogramm Ariane zusammen, an dem die DASA den Hauptanteil hat.
Ende 1999 fusionierte in Reaktion auf die Allianz von BAeS und Lockheed
Martin die französische Aerospace-Matra mit Daimlers DASA zum größten
europäischen Rüstungskonzern. Im Sommer 2000 wurde die European Aeronautic Defence and Space Co. (EADS) gegründet, in der sich DASA, Matra
und die spanische CASA zusammenschlossen. EADS und ihre britischamerikanischen Rivalen konkurrieren um die Waffenlieferungen an die neuen osteuropäischen NATO-Mitglieder.
Obwohl EADS bei der Raketenproduktion mit BAeS kooperiert und Geschäftsbeziehungen zu den großen fünf US-Rüstungskonzernen unterhält,
zeichnet sich eine Spaltung der westlichen Rüstungs- und Raumfahrtindustrie in zwei unterschiedliche Gruppen ab: die von Frankreich und Deutschland dominierte EADS einerseits und die sechs führenden amerikanischen
Rüstungskonzerne Lockheed, Raytheon, General Dynamics, Boeing, Northrop Grumman sowie die mächtige BAeS andererseits.
Die französisch-deutsche Allianz in der Militärproduktion des EADSKonzerns öffnet der Eingliederung Deutschlands, das offiziell keine Nuklearwaffen hat, in das französische Atomrüstungsprogramm Tür und Tor.
Schon jetzt produziert EADS eine große Bandbreite ballistischer Raketen,
darunter die M 51, eine ballistische Rakete mit Nuklearsprengköpfen zur
Bestückung von Unterseebooten der französischen Marine.80
Euro gegen Dollar. Die neue europäische Gemeinschaftswährung akzentuiert die strategischen und politischen Gegensätze zwischen Euroland einerseits sowie Großbritannien und den USA andererseits. Londons vorläufige
Entscheidung gegen den Euro befindet sich in Übereinstimmung mit der
Integration britischer Finanz- und Bankeninteressen in jene der Wall Street.
Die wackelige Annäherung von britischem Pfund und US-Dollar ist, mit anderen Worten, integraler Bestandteil der neuen britisch-amerikanischen
Achse, die bereits in der Öl- und in der Rüstungsindustrie erhärtet worden
ist.
Es geht um die Rivalität zwischen zwei konkurrierenden globalen Währungen, Euro und US-Dollar, wobei das britische Pfund zwischen der kontinentaleuropäischen und der amerikanischen Währungen hin- und hergerissen wird. Die beiden Finanz- und Geldsysteme konkurrieren weltweit um die
Kontrolle über Geldschöpfung und Kreditvergabe. Dieser Zwist hat durchaus
weit reichende geopolitische und strategische Konsequenzen.
Sowohl in Europa als auch in den USA wird die Geldpolitik, obwohl formal
unter staatlicher Aufsicht, weitgehend vom privaten Bankensektor kontrolliert. Die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt wird, obwohl
sie offiziell unter Aufsicht der EU steht, von einer Hand voll europäischer
Banken, darunter den größten deutschen Banken und Wirtschaftskonzernen
kontrolliert. Die US-Notenbank ist zwar formell dem Staat unterstellt, aber
anders als die EZB werden die zwölf bundesstaatlichen Zentralbanken der
USA, von denen die wichtigste die New Yorker Zentralbank ist, von ihren
Anteilseignern kontrolliert: von privaten Bankhäusern. Das Finanzestablishment der Wall Street bestimmt folglich weitgehend die Geldschöpfung
durch die Kontrolle des US-Zentralbankensystems.
In Osteuropa, der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan und bis hinein nach Zentralasien konkurrieren Dollar und Euro miteinander um die
Kontrolle über nationale Währungssysteme und damit über die betreffenden
Länder selber. Während der US-Dollar in der ganzen westlichen Hemisphäre
dominiert, kämpfen Euro und Dollar in der ehemaligen Sowjetunion, in Zentralasien, den Subsaharastaaten und dem Nahen Osten um die Vorherrschaft.
Auf dem Balkan und in den baltischen Staaten fungieren die lokalen
Zentralbanken weitgehend im Kolonialstil nur noch als bloße Währungsräte
und benutzen alle den Euro als Stützwährung. Somit kontrollieren Deutschland und europäische Finanzinteressen die Geldschöpfung und das Kreditwesen dieser Länder. Die Anbindung nationaler Währungen an den Euro –
statt an den US-Dollar – heißt also, dass sowohl die Landeswährungen als
auch die jeweiligen Geldsysteme in den Händen deutscher und europäischer
Bankeninteressen sind.
Der Euro dominiert bereits das deutsche »Hinterland«: Osteuropa, die
baltischen Staaten und den Balkan, während der US-Dollar im Kaukasus
und Zentralasien die Oberhand hat. Und mit Ausnahme der Ukraine ist auch
in den Ländern des GUUAM-Abkommens der Dollar zumeist stärker als der
Euro.
Die »Dollarisierung« der nationalen Währungen ist fester Bestandteil der
Seidenstraßenstrategie der USA. Wenn es gelänge, in diesem riesigen Gebiet zwischen Mittelmeer und chinesischer Westgrenze den Dollar durchzusetzen, wäre die Vorherrschaft des amerikanischen Notenbankensystems –
sprich: der Wall Street – hier perfekt. Diese wirtschaftsimperialistischen
Bestrebungen werden von der Militarisierung des eurasischen Korridors unterstützt.
Obwohl amerikanische und deutsch-europäische Bankeninteressen um
die Kontrolle von Volkswirtschaften und Währungssystemen streiten, haben
sie sich zugleich darauf geeinigt, die »Beute« zu teilen, d.h. jeweilige Einflusssphären abzustecken. Auf dem Balkan hat Deutschland die Kontrolle
über die nationalen Währungen in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo ge-
wonnen, während die USA mit ihrem Stützpunkt im Kosovo eine dauerhafte
militärische Präsenz in der Region etabliert haben.
Bündnisübergreifende Kooperationen. Die Gegensätze zwischen britisch-amerikanischen und französisch-deutschen Rüstungsproduzenten –
und innerhalb der westlichen Militärallianz – wirken sich offenbar zunehmend zugunsten einer militärischen Kooperation zwischen Russland einerseits sowie Frankreich und Deutschland andererseits aus. So verständigten
sich z.B. Ende 1998 Paris und Moskau auf gemeinsame Infanterieübungen
und bilaterale Militärkonsultationen. Moskau seinerseits sucht deutsche und
französische Partner, um seinen militärisch-industriellen Komplex weiterzuentwickeln.
Anfang 2000 flog der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping zu
Beratungen mit seinem russischen Kollegen nach Moskau. Dabei wurde ein
bilaterales Abkommen über 33 militärische Kooperationsprojekte unterzeichnet, darunter die Ausbildung von Militärspezialisten in Deutschland.81
Diese Übereinkunft wurde außerhalb des NATO-Rahmens und ohne vorherige Konsultationen mit Washington getroffen.
Auch Indien unterzeichnete mit Russland Ende 1998 eine langfristige
militärische Kooperationsvereinbarung, der dann einige Monate später ein
weiteres Abkommen zwischen Indien und Frankreich folgte. Letzteres enthält Klauseln über den Transfer von französischer Militärtechnologie und
Investitionen französischer Konzerne in die indische Rüstungsindustrie, unter anderem in den Bereichen ballistischer Raketen und Nuklearsprengköpfe, in denen französische Unternehmen über Know-how verfügen. Diese
französisch-indische Zusammenarbeit hat unmittelbare Auswirkungen auf
die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan und die strategischen Interessen der USA in Zentral- und Südostasien. Während die USA Pakistan Militärhilfe gewähren, wird Indien von Frankreich und Russland unterstützt.
Frankreich und die USA stehen im indisch-pakistanischen Konflikt erkennbar auf entgegengesetzten Seiten. Während Pakistan und Indien nach
dem 11. September an der Schwelle zu einem Krieg stehen, hat die USLuftwaffe praktisch die Kontrolle des pakistanischen Luftraums und mehrerer militärischer Einrichtungen des Landes übernommen. Während der heftigsten Luftangriffe in Afghanistan unternahmen Frankreich und Indien im
November 2001 gemeinsame Militärübungen im Arabischen Meer. Ebenfalls
nach dem 11. September erhielt Indien umfangreiche Waffenlieferungen
aus Russland im Rahmen der vereinbarten indisch-russischen Militärkooperation.
Moskaus neue Sicherheitsdoktrin und der Wunsch nach Gemeinsamkeit. Nach dem Kalten Krieg avancierten für die US-Außenpolitik Zentralasien und der Kaukasus zu einer strategisch relevanten Region. Doch
besteht das Ziel nun nicht länger in der Eindämmung des Kommunismus,
sondern darin, Russland und China daran zu hindern, konkurrierende kapitalistische Mächte zu werden.
Der Jugoslawienkrieg und der kurz danach ausbrechende Krieg in Tschetschenien im September 1999 waren ein entscheidender Wendepunkt in den
russisch-amerikanischen Beziehungen. Er führte auch zur Annäherung zwischen Russland und China, die in einem bilateralen Militärabkommen ihren
Ausdruck fand.
Die versteckte Hilfe der USA für die tschetschenischen Rebellengruppen
waren der russischen Führung bekannt. In der Öffentlichkeit oder auf diplomatischer Ebene wurde das Thema jedoch nie erwähnt. Auf dem Höhepunkt der Terrorangriffe allerdings beschuldigte der russische Verteidigungsminister Igor Sergejew Washington offen, die tschetschenischen Rebellen zu unterstützen. Nach einem Treffen hinter verschlossenen Türen mit
dem russischen Oberkommando im November 1999 erklärte Sergejew, dass
der Konflikt in Tschetschenien, der von »ausländischen Kräften provoziert«
worden sei, den nationalen Interessen der USA diene, und fügte hinzu, dass
»die Politik des Westens eine Herausforderung Russlands darstellt, mit dem
Ziel, die internationale Position Russlands zu schwächen und es von geostrategischen Regionen auszuschließen«.82
Nach dem Tschetschenienkrieg von 1999 formulierte der damalige Übergangspräsident Wladimir Putin Anfang 2000 eine neue nationale Sicherheitsdoktrin, die in einem entsprechenden Gesetz verankert wurde. Damit
vollzog sich ein von den internationalen Medien kaum zur Kenntnis genommener Wechsel in den Ost-West-Beziehungen. Moskau unterstrich darin
seine Absichten, den russischen Staat zu stärken, militärisch aufzurüsten
und auch staatliche Kontrollen über ausländisches Kapital wieder einzuführen. Das Dokument führt explizit die »fundamentalen Bedrohungen« für die
eigene nationale Sicherheit und Souveränität an: die »Stärkung militärischpolitischer Blöcke und Allianzen«, womit vor allem das GUUAM-Abkommen
gemeint war, »die Osterweiterung der NATO« sowie die mögliche Einrichtung »ausländischer Militärstützpunkte und eine bedeutende militärische
Präsenz in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen«.83
Die USA wurden zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber das Dokument
bezieht sich immerhin auf »den Ausbruch und die Eskalation von Konflikten
nahe den Grenzen der Russischen Föderation und den Außengrenzen der
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten«, stellt mit Nachdruck fest, dass »der
internationale Terrorismus eine offene Kampagne zur Destabilisierung Russlands« führe, und behält sich angemessene Aktionen vor, »um geheimdienstliche und subversive Aktivitäten ausländischer Staaten gegen die Russische Föderation abzuwehren und zu unterbinden«. Kaum vorstellbar, dass
die russische Führung dabei nicht die verdeckten Operationen der CIA im
Sinne hatte.
Im Sinne seiner neuen Sicherheitsdoktrin setzt Moskau auch die wirtschaftliche und finanzielle Kontrolle über Schlüsselbereiche seines militärisch-industriellen Komplexes auf die Tagesordnung. So wurde z.B. die Bildung »eines einzigen Unternehmens für die Entwicklung und Produktion
aller Flugzeugabwehrsysteme« in Zusammenarbeit mit den russischen Rüstungsunternehmen ins Auge gefasst.84 Die vorgeschlagene Rezentralisie-
rung der russischen Verteidigungsindustrie war auch eine Reaktion auf die
Fusionen großer westlicher Rüstungsproduzenten. Auch die Entwicklung
neuer Produktions- und Forschungskapazitäten wurde in Erwägung gezogen, um Russlands militärisches Potential zu stärken und seine Fähigkeit zu
verbessern, mit westlichen Rivalen auf dem globalen Markt zu konkurrieren.
Das Dokument zur nationalen Sicherheit senkt zudem die Einsatzschwelle für Atomwaffen für den Fall, dass die Existenz des Landes bedroht wäre:
»Russland behält sich das Recht vor, alle ihm zu Verfügung stehenden Kräfte und Mittel einschließlich der Atomwaffen einzusetzen, falls eine bewaffnete Aggression eine Bedrohung für die Existenz der Russischen Föderation
als unabhängiger souveräner Staat darstellen sollte.«85 Das schließt auch
einen atomaren Erstschlag als Reaktion auf einen konventionellen Angriff
nicht aus.
In Reaktion auf die »Star Wars«-Initiative Washingtons gab Moskau die
Entwicklung eines eigenen »Abwehrschirms« gegen Raketen und Atomwaffen durch eine neue Generation interkontinentaler ballistischer Raketen, der
so genannten Topol M (SS-27), bekannt. Diese mit einem einzigen Nuklearsprengkopf ausgerüsteten neuen Raketen sind heute voll einsatzbereit. »Die
Topol M ist leicht und mobil und insbesondere dafür geeignet, von einem
Fahrzeug abgefeuert zu werden. Ihre Beweglichkeit schützt sie besser gegen einen Erstschlag als eine Rakete in einem Silo.«86
Seit seinem Amtsantritt als gewählter Präsident ist Wladimir Putin jedoch bemüht, die neue nationale Sicherheitsdoktrin zum Teil wieder rückgängig zu machen und ihre Umsetzung auszusetzen. Gegenwärtig sind die
außenpolitischen Leitlinien der Putin-Regierung verwirrend und unklar. Es
gibt erhebliche Differenzen innerhalb der politischen Führung und des Militärs. An der diplomatischen Front suchte der neue Präsident die Annäherung an Washington und das westliche Militärbündnis. Doch wäre es voreilig, daraus folgern zu wollen, dass Putins Diplomatie bereits eine Umkehrung der nationalen Sicherheitsdoktrin aus dem Jahr 2000 bedeutet.
Dennoch zeichnet sich nach dem 11. September, weitgehend auf Putins
Betreiben, eine bedeutsame Wende in der russischen Außenpolitik ab. Der
Kreml akzeptiert nun gegen den Willen der russischen Staatsduma die
Osterweiterung der NATO in die baltischen Staaten, was die Einrichtung von
NATO-Luftstützpunkten an der russischen Westgrenze mit sich bringen wird.
Zugleich wurde die russische Militärkooperation mit Peking, die nach dem
Jugoslawienkrieg von 1999 vereinbart wurde, praktisch auf Eis gelegt:
»China beobachtet offenkundig mit großer Sorge, dass Russland diese Positionen aufgibt. China ist auch über die Präsenz der US-Luftwaffe in der Nähe seiner Grenzen zu Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan beunruhigt…
Alles, was Putin durch die spektakuläre Verbesserung der russischen Beziehungen zu China, Indien, Vietnam, Kuba und einigen anderen Ländern gewonnen hat, ist über Nacht zunichte geworden. Augenscheinlich gilt jetzt
wieder ein primitives Konzept >gemeinsamer menschlicher Werte< à la
Gorbatschow, d.h. die Unterordnung der russischen Interessen unter jene
des Westens.«87
Es ist bittere Ironie, dass der russische Präsident Amerikas Kampagne
gegen den internationalen Terrorismus unterstützt, die sich letztlich gegen
Moskau richtet, d.h. darauf abzielt, Russlands strategische und wirtschaftliche Interessen am eurasischen Korridor zu hintertreiben und ehemalige Sowjetrepubliken in amerikanische Protektorate zu verwandeln: »Es wird
deutlich, dass die von Putin letztes Jahr (2000) beiläufig geäußerte Absicht,
der NATO beitreten zu wollen, eine lange gereifte Idee einer – im Verhältnis
zu den Positionen von Gorbatschow und Jelzin – weit umfassenderen Integration in die Weltgemeinschaft widerspiegelt. Tatsächlich ist die Absicht
die, Russland in das wirtschaftliche, politische und militärische System des
Westens zu zwängen – und sei es als Juniorpartner und um den Preis, eine
unabhängige Außenpolitik zu opfern.«88
Nachwort
Nach dem 11. September steht die Welt an einer wichtigen historischen
Wegscheide. Die Kampagne gegen den internationalen Terrorismus stellt
einen Eroberungskrieg mit vernichtenden Konsequenzen für die Zukunft der
Menschheit dar. Dieser von den USA und Großbritannien geführte Kreuzzug
verstoßt gegen das Völkerrecht und stellt eine »flagrante Verletzung des
Wortlauts der Charta der Vereinten Nationen dar. Tatsächlich ist er nicht
nur illegal, sondern kriminell. Er erfüllt den Tatbestand dessen, was bei den
Nürnberger Prozessen als schwerstes Verbrechen galt: Verschwörung gegen
den Weltfrieden.«1
Dies bedeutet, dass die Bush-Regierung die internationalen Abkommen
gegen Kriegsverbrechen einschließlich der Genfer Konvention in eklatanter
Weise bricht – und alle Staats- und Regierungschefs der westlichen Militärallianz stimmen zu. Dieselben politischen Führer, die für die Toten unter der
afghanischen Zivilbevölkerung verantwortlich sind, waren zudem im Rahmen neuer Antiterrorgesetze in ihren jeweiligen Ländern umstandslos dazu
bereit, »Terrorismus« und »Kriegsverbrechen« neu zu definieren.
Die tatsächlichen Protagonisten des Staatsterrorismus – unsere gewählten Politiker – können nun durch »legal« gebildete Tribunale willkürlich entscheiden, wer als Kriegsverbrecher und Terrorist betrachtet wird. Es ist bittere Ironie, dass die eigentlichen Kriegsverbrecher die Macht ihrer Staatsämter mißbrauchen, um zu entscheiden, wer verfolgt werden darf Durch
den Abbau des Rechtsstaats und die Einrichtung von Willkürgerichten entziehen sie sich zudem der Verfolgung als Kriegsverbrecher. So bewegen wir
uns auf ein System totalitärer Staaten zu, in dem unter dem Deckmantel
der Demokratie Kriegsverbrecher ganz legal politische Macht ausüben.
Der Ausbruch dieses Krieges fällt mit einer weltweiten Wirtschaftskrise
zusammen, die zur Verarmung von Millionen von Menschen führt. Während
die zivile Wirtschaft einbricht, fließen umfangreiche finanzielle Ressourcen in
Amerikas Kriegswirtschaft. Die USA entwickeln mithilfe ihres militärischindustriellen Komplexes modernste Waffensysteme, um auf der ganzen Welt
ihre militärische und wirtschaftliche Dominanz durchzusetzen, nicht nur gegenüber China und Russland, sondern auch gegenüber der EU, die in vieler
Hinsicht der globalen Hegemonie der USA im Wege steht.
Hinter der US-Kampagne gegen den internationalen Terrorismus steht
die Militarisierung großer Weltregionen, die zu dem führt, was man am besten als »Amerikanisches Imperium« beschreiben kann. Das verschwiegene
Ziel dieses Krieges ist die Rekolonialisierung nicht nur Chinas und der Länder des ehemaligen Ostblocks, sondern auch des Iran, des Irak und des
indischen Subkontinents – eine Rekolonialisierung, bei der es darum geht,
zugunsten eines grenzenlos globalisierten Marktsystems souveräne Staaten
in offene Territorien zu verwandeln. Und zur Erzwingung mörderischer
Marktreformen sind dann eben auch militärische Mittel nicht ausgeschlossen. Krieg und Globalisierung gehen Hand in Hand.
Dieser Krieg, dessen Ziele 1999 in der Seidenstraßenstrategie definiert
wurden, zerstört eine ganze Weltregion, einst Wiege alter Zivilisationen, die
Westeuropa mit dem Fernen Osten verbanden. Unter dem Deckmantel des
Kampfes gegen den »Terrorismus« oder gegen »das Böse« machen sich die
USA faktisch die islamistische Opposition in der ehemaligen Sowjetunion, im
Nahen Osten, in China und Indien zunutze, um diese Länder zu destabilisieren. So zerstören Krieg und der so genannte freie Markt die Zivilisation und
stürzen Gesellschaften überall auf der Welt in bitterste Armut.
Obwohl innerhalb des westlichen Militärbündnisses tiefe Gegensätze aufgebrochen sind, unterstützten alle NATO-Partner die von den USA und
Großbritannien geführten Operationen. Innerhalb dieser riesigen Region, die
sich von Osteuropa und dem Balkan bis an die Westgrenze Chinas erstreckt,
scheinen sich vor allem Deutschland und Amerika auf ihre jeweiligen Einflusssphären geeinigt zu haben. Diese Aufteilung muss historisch verstanden werden. Sie ähnelt in vieler Hinsicht der Einigung zwischen den europäischen Mächten auf dem Berliner Kongress 1878 über die territoriale Aufteilung der Kolonien. In ähnlicher Weise war auch die Kolonialpolitik im Hinblick auf China vor dem Ersten Weltkrieg unter den imperialistischen Mächten sorgfältig koordiniert und abgestimmt.
China steht gerade heute wieder auf der Tagesordnung, weil sich nun
endlich die Chance aufgetan hat, das nationale Finanzsystem und die Geldpolitik auch dieses bislang eher abgeschotteten Landes zu dominieren. Mit
der Aufnahme Chinas in die WTO 2001 ist das dortige Bankensystem für
westliche Banken und Finanzinstitute »geöffnet« worden. Über kurz oder
lang wird das staatliche Bankensystem, das jetzt noch Tausenden von Industrieunternehmen und landwirtschaftlichen Erzeugern Kredite sichert, beseitigt werden. Ironischerweise hat das staatliche Kreditwesen bislang Chinas
Rolle als größte Industriekolonie des Westens, als Produzent von Billiglohnwaren für den europäischen und amerikanischen Markt, noch gefördert.
Die Deregulierung des staatlichen Kreditwesens wird zu einer tödlichen
Welle von Bankrotten führen, die mit größter Wahrscheinlichkeit die chinesische Wirtschaft verwüsten werden. Die Umstrukturierung der chinesischen
Finanzinstitute könnte in wenigen Jahren zur Destabilisierung der Landeswährung führen und den Weg für eine umfassendere wirtschaftliche und
politische Kolonialisierung durch westliches Kapital ebnen. Zusammen mit
der Liberalisierung des Handels und der Deregulierung der Landwirtschaft
und Industrie nach den Bestimmungen der WTO sind in China damit massive Arbeitslosigkeit und soziale Unruhen vorprogrammiert. Die von den
USA unterstützten verdeckten Operationen in Tibet und der Uigurischen
Autonomen Region Sinkiang zugunsten separatistischer Gruppierungen tragen dazu bei, politische Instabilität zu fördern, was wiederum dem Prozess
der Dollarisierung nützt.
Das ist der vorerst letzte Akt eines Dramas, das unter dem Titel »Globalisierung« läuft, um nach Möglichkeit zu verdecken, dass es sich dabei um
die Selbstinszenierung des »Amerikanischen Imperiums« handelt. In einem
Jahr vielleicht – oder auch nur in einem halben – muss gewiss eine neue
(und abermals vorläufige) Schlussszene hinzugefügt werden. Sie deutet sich
jetzt schon an in der Rhetorik von der »Achse des Bösen«.
Anmerkungen
Vorwort zur deutschen Ausgabe
1 PBS News Hour, http://www.pbs.org/newshour/bb/military/terroristattack/government.html
2 New York Times, 12. September 2001
3 Time Magazine, 15. November 1999
4 Alexander Yanov, »Dangerous Lady. Political Sketch of the Chief Foreign Policy Adviser to
George Bush«, in: Moscow News, 12. Juli 2000, nachzulesen auf der Website des Centre for
Research on Globalisation unter: http://www.globalresearch.ca/articles/AN109A.html
5 Peter Roff, James Chapin, »Face-off. Bush’s Foreign Policy Warriors«, United Press International, 18.Juli 2001, nachzulesen unter der Website des Centre for Research on Globalisation unter: http://www.globalresearch.ca/articles/ROF111A.html
6 Vgl. Alfred McCoy, »Drug Fallout. The CIA´s Forty Year Complicity in the Narcotics Trade«,
in: The Progressive, 1. August 1997
7 Michael Ratnes »Moving Toward a Police State (Or Have We Arrived?). Secret Military Tribunals, Mass Arrests and Disappearances, Wiretapping and Torture«, Centre for Research
on Globalization, unter: http://www.globalresearch.ca/articles/RAT111A.html
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Zit. in Michel Chossudovsky, »Tactical Nuclear Weapons Against Afghanistan?«, Centre for
Research on Globalisation unter: http://www.globalresearch.ca/articles/CHO112C.html
Einleitung
1 Vgl. „The Wind in the Balkans“, in: The Economist, 8. Februar 1997, S.12
2 Vgl. Jonathan C. Randal, „Reform Coalition Wins Bulgarian Parliament“, in: The Washington
Post, 20. April 1997, S. A 21
3 Koreanischer Gewerkschaftsverband, „Unbridled Freedom to Sack Workers Is No Solution at
All“, Kommunique, Seoul, 13. Januar 1998
4 Vgl. Eric Ekholm, „On the Road tu Capitalism. China Hits a Nasty Curve: Joblessness“, in:
New York Times, 20. Januar 1998
5 Vgl. Weltbank, 1990 World Development Report, Washington 1990
6 Earl Silber, Steven Ashby, »UAW and the >Cat< Defeat« in: Against the Current,
Juli/August 1992
7 Mike Davis’ »Realities of the Rebellion«, in: Against the Current, Juli/August 1991, S. 17
8 vgl. International Labor Organization, Second World Employment Report, Genf 1996
9 vgl. die jährliche Liste der reichsten Menschen der Welt in Forbes Magazine unter:
http://www.forbes.com/tool/toolbox/billnew/
10 Charles Laurence, »Wall Street Warriors Force Their Way Into the Billionaires Club«, Daily
Telegraph, 30. September 1997
11 vgl. »Increased Demand Transforms Markets«, in: Financial Times, 21. Juni 1995, S. II
12 vgl. Financial Times, 7. Juni 1996, S. III
13 vgl. Peter Bosshard, »Cracking the Swiss Banks«, in: The Multinational Monitor, November
1992
14 vgl. Proceedings on the United Nations Conference on Crime Prevention, Kairo, Mai 1995;
außerdem Jean Hervé Deiller, »Gains annuels de 1000 milliards pour l’Internationale du
crime«, La Presse, Montreal, 30. April 1996
15 Daniel Brandt, »Organized Crime Threatens the New World Order«, Namebase Newsline,
Ohio, Nr. 8, Januar/März 1995
16 Nachrichtenmeldung von Reuters, 25. Januar 1995
17 Zitat in Michel Chossudovsky, Towards Capitalist Restoration. Chinese Socialism After Mao,
London 1986, S. 134
Teil 1: Globale Armut und makroökonomische Reform
1
So die Ergebnisse einer Untersuchung des Centre on Hunger, Poverty and Nutrition Policy
der Tufts University
2 The Financial Times, 3. März 1989
3 Nach Befragungen des Autors in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt im Januar 1991.
4 Für den Wortlaut vgl. »The Final Act. Establishing the World Trade Organization« auf der
Website der Welthandelsorganisation, http://www.wto.org/
5 »Let Good Times Roll«, in: Financial Times, Leitartikel zur Wirtschaftsprognose der OECD,
31. Dezember 1994
6 vgl. Weltbank, World Development Report 1990, Poverty, Washington, DC. 1990
7 In ungefährer Entsprechung mit der Schätzperiode des Weltbankreports von 1990 schätzte
das Bureau of the Census 1986 den Anteil der Armen in den USA auf 18,2 Prozent; vgl.
Bruce E. Kaufman, The Economics of Labor and Labor Markets, 2. Auflage, Orlando 1989,
S. 649
8 vgl. Weltbank, World Development Report 1990. Poverty, Washington, D.C. 1990
9 vgl. ebd. Tabelle 9.2, Kapitel 9
10 United Nations Development Programme, Human Development Report
1997, New York 1997, S. 2
11 Ebd. S. 5
12 Vgl. US Bureau of the Census, Current Population Reports, Series P60-198, Poverty in the
United States 1996, Washington 1997
13 Ebd. S. 7
14 Nach der offiziellen Definition von Statistics Canada, Ottawa 1995. Vgl. die Rangfolge der
Staaten nach dem Entwicklungsindex des UNDP, in: Human Development Report 1997, S.
161, Tabelle 6
15 Vgl. Weltbank, World Debt Tables, mehrere Ausgaben, Washington D.C.
16 Die Auszahlung der Kredite erfolgt normalerweise in mehreren Tranchen. Die Freigabe jeder
Tranche hängt von der Umsetzung genau festgelegter Wirtschaftsreformen ab.
17 Diese Kredite stellen so genannte »Zahlungsbilanzhilfe« dar.
18 Weltbank, Adjustment in Africa, Washington 1994, S. 9
19 Carlo Cottarelli, Limiting Central Bank Credit to the Government, IWF, Washington, D.C.
1993, S. 3
20 Mohsin Khan, »The Macroeconomic Effects of Fund Supported Adjustment Programs«, IMF
Staff Papers, Bd. 37, Nr. 2, 1990, S. 196, S. 222
21 Weltbank, Adjustment in Africa, Washington 1994, 5. 17
22 So z.B. schon vor 15 Jahren Giovanni Cornia et al. in ihrer großen UNICEF-Untersuchung
mit dem Titel Structural Adjustment with a Human Face, New York 1987
23 Vgl. Madrid Declaration of Alternative Forum. The Other Voices of the Planet, Madrid, Oktober 1994
24 Weltbank, Toward Gender Equality. The Role of Public Policy, United Nations Forth Conference on Women, Peking 1995; vgl. auch Weltbank, Advanced Gender Equality. From Concept to Action, Peking 1995
25 Weltbank, The Gender Issue as Key to Development, Washington, Document HCO, 95/01;
1995, S. 1
26 Vgl. Weltbank, Letting Girls Learn, World Bank Discussion Paper Series, Washington 1995
27 Vgl. »In zwei Jahren über den Berg«, in: Der Spiegel, Nr. 19, 1991, S. 194
28 Der Fob-(free on board-)Preis ist der aufschlagfreie Ausfuhrpreis. (A.d.Ü.)
Teil II: Afrika
1
2
3
Vgl. International Labor Organization, Generating Employment and Incomes in Somalia,
lobs and Skills Program for Africa, Addis Abeba 1989, S. 5
Ebd. S. 16
Vgl. Hossein Farzin, »Food Aid: Positive and Negative Effects in Somaha?«, in: The Journal
of Developing Areas, Januar 1991, S. 265
4
Der ILO zufolge hatte die staatliche Agrarentwicklungsgesellschaft Somalias historisch eine
bedeutende Rolle bei der Sicherung hoher Erzeugerpreise gespielt: »Die Entwicklungsgesellschaft ermutigte eine zu hohe, keine zu niedrige Produktion von Mais und Sorghum.«
International Labor Organization, Generating Employment and Incomes in Somalia, Jobs
and Skills Program for Africa, Addis Abeba 1989, S. 9. Zahlen der Weltbank legten dagegen
eine Steigerung der Mais- und Sorghumproduktion nach der Deregulierung des Getreidepreises 1983 nahe.
5 Vgl. African Rights, Somalia. Operation Restore Hope. A Preliminary Assessment, London,
Mai 1993, S. 18
6 Weltbank, Subsahara Africa. From Crisis to Sustainable Growth, Washington, DC. 1989, S.
98
7 Ebd. S. 98-101. Natürlich schadet die Überweidung der Umwelt, aber das Problem lässt sich
nicht durch die Verminderung des Lebensunterhalts der Hirten lösen.
8 Leshie Crawford, »West Africans Hurt by EC Beef Policy«, Financial Times, 21. März 1993
9 Die Zahlen für die 70er Jahre stammen aus Weltbank, World Development Report 1992, die
von 1993 aus Food and Agricultural Organization, Food Supply Situation and Crop Prospects
in Subsaharan Africa, Special Report, Nr. 1, Rom, April 1993, S. 10.
10 Vgl. Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen, »Afrique australe, la sécheresse
du siècle«, Genf, Juli 1992
11 Vgl. »Tobacco, the Golden Leaf«, Southern African Economist, Mai 1993, S. 49ff.
12 Vgl. Weltbank, World Development Report 1992, Kapitel 5
13 Das System der Exportquoten im Rahmen der International Coffee Organization (ICO) wurde nach der Konferenz in Florida im Juli 1989 aufgehoben. Der Fob-Preis sank in Mombasa
von 1,31 Dollar pro Pfund im Mai 1989 auf 0,60 Dollar im Dezember. Vgl. Marchés
tropicaux, 18. Mai 1990, S. 1369, u. 29. Juni 1990, S. 1860
14 Vgl. Jean Rumiya, Le Rwanda sous le régime du mandat belge (1916 – 193 1), Paris 1992,
S. 220 – 226; Andre Guichaoua, Destins paysans et politiques agraires en Afrique centrale,
Paris 1989
15 Vgl. Ferdinand Nahimana, Le Rwanda. Emergence d’un litat, Paris 1993
16 Vgl. New African, Juni 1994, S. 16
17 Vgl. United Nations Conference on the Least Developed Countries, Country Presentation by
the Government of Rwanda, Genf 1990, 5. 5; République Rwandaise, Ministère des
Finances et de l’Economie, L’Economie rwandaise. 25 ans d’efforts (1962 – 1987), Kigali
1987
18 Vgl. die Studie von A. Guichaoua, Les paysans et l’investissement-travail au Burundi et au
Rwanda, Bureau International du Travail, Genf 1987
19 Vgl. United Nations Conference on the Least Developed Countries, Country Presentation by
the Government of Rwanda, Genf 1990, S. 2
20 Vgl. Weltbank, World Debt Tables 1993 – 94, Washington, D.C. S. 383
21 Vgl. Myriam Gervais, »Etude de la pratique des ajustements au Niger et au Rwanda«, in:
Labor, Capital and Society, Bd. 26, Nr. 1, 1993, S. 36
22 Diese Zahl ist eine vorsichtige Schätzung. Vgl. Economist Intelligence Unit, Country Profile,
Rwanda/Burundi 1993/1994, London 1994, S. 10
23 1993 empfahl die Weltbank eine weitere Abwertung um 30 Prozent, um die Schulden des
Fonds d’Égahisation zu beseitigen.
24 Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes schätzte, dass 1993 mehr als eine Million
Menschen in Ruanda vom Hunger betroffen waren; vgl. Marchés tropicaux, 2. April 1993, S.
898. Nach einem FAO-Kommuniqué vom März 1994 war die Nahrungsmittelproduktion
1993 um 33 Prozent gefallen; vgl. Marchés tropicaux, 25. März 1994, S. 594.
25 Für diese Verwendung der Zahlungsbilanzhilfe gibt es keine offiziellen Berichte. Human
Rights Watch in Washington zufolge vereinbarte Kigali mit Ägypten die Lieferung von Militärausrüstung im Wert von sechs Mio. Dollar. Der Handel mit Südafrika hatte einen Wert
von 5,9 Mio. Dollar. Vgl. Marchés tropicaux, 28. Januar 1994, S. 173
26 Vgl. New African, Juni 1994, S. 15, sowie das Interview mit Colette Braeckman über die
französische Militärhilfe in Archipel, Nr. 9, Juli 1994, S. 1
27 Vgl. Marchés tropicaux, 26. Februar 1992, S. 569
28 Vgl. Marchés tropicaux, 8. Oktober 1993, S. 2492
29 Africa Direct, Aussage beim UN-Tribunal über Ruanda,
http://www.junius.co.uk/africa-direct/tribunal.html
30 Vgl. »Africa’s New Look«, in: Jane’s Foreign Report, 14. August 1997
31 Vgl. Jim Mungunga, »Uganda Foreign Dept Hits Shs 4 Trillion«, in: The Monitor, Kampala,
19. Februar 1997
32 Vgl. Michel Chossudovsky, Pierre Galand, L’usage de la dette exterieure de Rwanda, la
responsabilité des créanciers, Delegationsbericht, United Nations Development Programme,
Government of Rwanda, Ottawa/Brüssel 1997. Daraus auch alle folgenden Angaben und Zitate.
33 Die verzeichneten Importe hatten die Größenordnung von 500.000 Kilo, das sind annähernd
eine Million Macheten.
34 Vgl. Weltbank, »Rwanda« ‚ unter: http://www.worldbank.org/afr/rw2.html
35 Für die Beschäftigten des öffentlichen Sektors wurde für 1998 eine Höchstzahl von 38.000
festgelegt, 2600 weniger als 1997. Vgl. die Absichtserklärung (Letter of Intent) der ruandischen Regierung einschließlich der Begleitnote an den Managing Director des IWF, Michel
Camdessus, Washington.
36 Lynne Duke, »Africans Use US Military Training in Unexpected Ways«, in: Washington Post,
14. Juli 1998, S. A 01
37 Vgl. Musengwa Kayaya, «US. Company to Invest in Zaire», in: Pan African News, 9. Mai
1997
38 Internationaler Währungsfonds, Zaire. Hyperinflation 1990 – 1996, Washington, D.C. April
1997
39 Vgl. Alain Shungu Ngongo, »Zaire-Economy: How to Survive On a Dollar a Month«, in:
International Press Service, 6. Juni 1996
40 Zit. in Therese LeClerc, »Who Is Responsible for the Genocide in Rwanda?«‚ in: World
Socialist Website unter: http://www.wsws.org/index.shtml, 29. April 1998
41 Paul Mugabe, »The Shooting Down of the Aircraft Carrying Rwandan President Habyarimana«, Aussage vor der International Strategic Studies Association, Alexandria (Virginia),
24. April 2000
42 Wayne Madsen, »UN and Canada Complicit in Rwanda Cover-Up: Americans and RPF
Planned and Launched Aircraft Attack«‚ in: L’Observatoire de l’Afrique Centrale, Bd. 3, Nr.
35, 25. September bis 1. Oktober 2000, http://www.obsac.com/OBSV3N3S-Madsen.html. Vgl.
auch »Tutsi Informants Killed Rwandan President«, in: Ottawa Citizen, 2. März 2000
43 Ebd.
44 Linda Melvern, »Betrayal of the Century«, in: Ottawa Citizen, 8. April 2000
45 Scott Peterson, »Peacekeepers Will Not Halt Carnage, Say Rwanda Rebels«, in: Daily Telegraph, 12. Mai 1994
46 Vgl. »Ten Years Ago», in: Weekly Mail and Guardian, Johannesburg, 23. Juni 1995
47 Vgl. Stefaans Brummer, »The Web of Stratcoms«, in: ebd. 24. Februar 1995; Antifa Info
Bulletin, Bd. 1, Nr. 1, 23. Januar 1996
48 »Uma nova visao para os Afrikaners«, in: Mediafax, Maputo, 20. Februar 1995
49 Vgl. «Trade Block Planned for Eastern Regions«, in: Weekly Mail and Guardian, 12. Mai
1995
50 Vgl. »The Boers are Back», South Africa: Programme Support Online, Nr. 4, 1996; »Boers
Seek Greener Pastures», in: Los Angeles Times, 2. September 1995
51 »The Boers are Back«, a.a.O.
52 Zit. in Joseph Hanlon, Supporting Peasants in Their Fight for Land, London, November 1995
53 »The Second Great Trek«, a.a.O.
54 Interview des Autors mit Vertretern der South African High Commission, die für das Projekt
der südafrikanischen Landwirtschaftskammer zuständig ist, Maputo, Juli 1996
55 Vgl. das entsprechende Arbeitspapier der Conferencia Nacional de Terras, Maputo, Juli 1996
56 Vgl. Hanlon, a.a.O. S. 1
57 Zit. in »EU Backs Boers Trek», a.a.O.
58 Vgl. »The Agreement on Basic Principles and Understanding Concerning the Mosagrius Development Programme«, Maputo, Mai 1996
59 Interviews mit Vertretern der South African High Commission, die für das Mosagrius-Projekt
verantwortlich sind. Daraus auch die folgenden Zitate.
60 Interview mit südafrikanischen Agrarexperten der South African High Commission, Maputo,
Juli 1996
61 Vgl. Eddie Koch, Gaye Davis, »Hanekom’s Bill to Bury Slavery«, Weekly Mailand Guardian,
2. Juni 1995
62 Vgl. »FMI nao concorda«, in: Mediafax, Maputo, 26. September 1995, S. 1
63 »FMI nao concorda«, Mediafax, Maputo, 26. September 1995, S. 1
64 »EU Backs Boers Trek to Mozambique «‚ Johannesburg, Weekly Mail and Guardian,
1.Dezember 1995
65 Interview mit Vertretern der South African High Commission, Maputo, Juli 1996. Daraus
auch die folgenden Zitate.
66 Eddie Koch, »The Texan Who Plans a Dream Park Just Here«, in: Mail and Guardian, 18.
Januar 1996
67 »0 A, B, C do projecto dc Blanchard«, in: Mediafax, Maputo, 19. Februar 1996, S. 1
68 Vgl. Philip van Niekerk, »Land for Peace. TM Group Pursues Mozambique Heaven«, in: The
Boston Globe, 4. Dezember 1994
69 Artikel 35,2 der Mosagrius-Vereinbarung
70 Hanlon, a.a.O. S. 9
71 Food and Agriculture Organization (FAO), Special Report. FAQ! WFP Crop Assessment Mission to Ethiopia, Rom, Januar 2000. Daraus auch die folgenden Angaben.
72 Vgl. Philip Sherwell, Paul Harns, »Guns Before Grain As Ethiopia Starves«, in: Sunday Telegraph, 16. April 2000
73 IWF, Ethiopia. Recent Economic Development, Washington 1999
74 Vgl. Pioneer Hi-Bred International »General GMO Facts« unter:
http://www.pioneer.com/usa/biotec/value_of_products/productvalue.htm
75 United States Agency for International Development, »Mission to Ethiopia. Concept Paper.
Back to the Future«, Washington, Juni 1993
76 Pressemitteilung des Carter Center, Atlanta (Georgia), 31. Januar 1997
77 Vgl. Declan Walsh, »America Find Ready Market for GM [genetically modified] Food«, in:
The Independent, 30. März 2000, S. 18
78 Ebd.
79 Zit. in ebd.
80 Vgl. Maja Wallegreen, »The World’s Oldest Coffee lndustry in Transition«, in: Tea & Coffee
Trade Journal, 1. November 1999
81 Laeke Mariam Demissie, »A Vast Histonical Contribution Counts for Little. West Reaps
Ethiopia’s Genetic Harvest«, in: World Times, … .Oktober 1998
82 Ebd.
83 Vgl. CIMMYT-Forschungsplan und Budget 2000 – 2002 unter ww.cimmyt.mx/about/
People-mtp2002.htm#
84 Laeke Mariam Demissie, a.a.O.
85 Vgl. »When Local Farmers Know Best«, in: The Economist, 16. Mai 1998
86 Vgl. Laeke Mariam Demissie, a.a.O.
87 Gageh Omaar, »Hunger Stalks Ethiopia’s Dry Land««, BBC, 6. Januar 2000.
Teil III: Süd- und Südostasien
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Vgl. M.K. Pandhe, Surrender of India’s Sovereignty and Self-Reliance, Neu-Delhi 1991,S. 2
Interview mit einem Großindustriellen in Bombay, Januar 1992
Interview mit Finanzminister Manmohan Singh, Neu-Delhi, Januar 1992
Interviews mit Führern der Landarbeiterorganisationen in Tamil Nadu, Februar 1992
»Around a Kiln. The Child Laborers of Dhone«, in: Frontline, 13. März 1992, S. 52
Aus der exzellenten Studie von K. Nagaraj et. al. »Starvation Deaths in Andhra Pradesh«,
in: Frontline, 6. Dezember 1991, S. 48
Ebd.
Interview mit einem großen Diamantenexporteur in Bombay, Januar 1992
Der Bericht der Narasimhan-Kommission, India. Financial Sector Report, nimmt sich wie
eine Kopie der Vorschläge der Weltbank aus; vgl. S. Sanhans Analyse des Berichts in Indian
Express, 8. Dezember 1991.
Für die Mehrheit der ländlichen und städtischen Bevölkerung beträgt das Haushaltseinkommen (für fünf bis sechs Familienmitglieder) weniger als 1.000 Rupien im Monat, das entspricht einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als sieben Rupien am Tag (weniger als 30
US-Cents).
Dem National Nutrition Monitoning Bureau zufolge legen die zwischen 1977 und 1989
durchgeführten Studien eine Verbesserung der schweren Mangelernährung unter Kindern
nahe. Obwohl die extreme Armut diesen Zahlen zufolge in Indien zurückgegangen war,
blieb die durchschnittliche Anmut sehr hoch. Vgl. »Starvation Deaths and Chronic Depnivation«, in: Frontline, 6. Dezember 1991, S. 81. Chronischer Hunger wird definiert als
Ernährungssituation, die über einen langen Zeitraum zu geringe Energiemengen liefert.
12 Interview mit Tata Exports in Bombay, Januar 1992
13 Interview mit dem Vertreter des IWF in Neu-Delhi, Januar 1992. Daraus auch die folgenden
Zitate.
14 Vgl. Praful Bidwani, Times of India, 18. Dezember 1991
15 Der berühmte Cartoonist Laxman in Times of India, wieder abgedruckt in Structural Adjustment. Who Really Pays, Public Interest Research Group, Neu-Delhi, März 1992, S. 44
16 Vgl. Economic Times, 28. Februar 1992, S. 1
17 Vgl. die Studie von Lawrence Lifschultz, Bangladesh. The Unfinished Revolution, London
1979, Teil II
18 Nach einem Bericht des US-Außenministeriums, der 1978 veröffentlicht wurde. Vgl. Lawrence Lifschultz, a.a.O. S. 109
19 Interview mit dem Oppositionsführer in Dhaka, Februar 1992
20 Interview mit einem Weltbankberater in Dhaka, 1992. Daraus auch das folgende Zitat.
21 Vgl. Mosharaf Hussein, A.T.M. Aminul Islam, Sanat Kumar Saha, Floods in Bangladesh.
Recurrent Disaster and People’s Survival, Dhaka 1987
22 Vgl. Rehman Sobhan, The Development of the Private Sector in Bangladesh. A Review of
the Evolution and Outcome of State Policy, Research Report Nr. 124, Bangladesh Institute
of Development Studies, S. 4f.
23 Interview mit dem Repräsentanten des IWF in Dhaka, 1992
24 Vgl. Salma Choudhuni, Pratima Paul-Majumder, The Conditions of Garment Workers in
Bangladesh. An Appraisal, Bangladesh Institute of Development Studies, Dhaka 1991
25 Vgl. Weltbank, Staff Appraisal Report Bangladesh. Fourth Population and Health Project,
Washington, DC. 1991
26 Vgl. Gerard Viratelle, »Drames naturels, drames sociaux au Bangladesh«, in: Le Monde
diplomatique, Juni 1991, S. 6f.
27 Die Abwertungen von 1984/85 auf Anraten des IWF reduzierten den Wert des vietnamesischen Dong um das Zehnfache, etwa die Größenordnung der Abwertung, die sich 1973 in
Südvietnam ereignete. Der Dong war 1984 nach dem offiziellen Umtauschkurs 0,10 Dollar
wert; ein Jahr später betrug sein Wert 0,01 Dollar.
28 Aufschlüsselung und Zusammensetzung der internationalen Hilfen und Kredite, die auf der
Geberkonferenz gewährt wurden, findet sich in Vietnam Today, Singapur, Bd. 2, Heft 6,
1994, S. 58
29 Interview mit Nguyen Xian Oanh in Ho-Chi-Minh-Stadt, April 1994
30 Von Mitte 1991 bis Mitte 1992 stellten etwa 4.000 Unternehmen den Betrieb ein, davon
wurden 1259 aufgelöst. Einige der Unternehmen, die den Betrieb einstellten, wurden mit
anderen Staatsunternehmen fusioniert.
31 Im Sektor der Staatsbetriebe führte der Beschluss Nr. 176, der 1989 verabschiedet wurde,
zwischen 1987 und 1992 zur Entlassung von 975.000 Arbeitern (36 Prozent der Beschäftigten). Das Wachstum der Beschäftigung im privaten Sektor reichte nicht aus, um die freigesetzten Arbeitskräfte aufzunehmen. Vgl. Weltbank, Viet Nam. Transition to Market Economy, S. 6Sf.
32 Interview mit einem Regierungsvertreter, Hanoi, April 1994
33 Vgl. Weltbank, Viet Nam, a.a.O. 5. 246. Zu beachten ist, dass Statistiken in der Landeswährung nicht als verlässlich gelten.
34 Interview mit dem Ministerium für Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie, Hanoi, April
1994
35 Vgl. Weltbank, Vietnam. Population, Health and Nutrition Sector Review, Washington, DC.
1993, Tabelle 3.6, S. 47
36 Vgl. Weltbank, Viet Nam, a.a.O. 5. 182
37 Vgl. Weltbank, Vietnam, Population, Health and Nutrition Sector Review, a.a.O. S. 42
38 Interviews in der Provinz Dong Nai und mit Mitgliedern des landwirtschaftlichen Forschungsinstituts in Ho-Chi-Minh-Stadt, April 1994
39 Interviews mit Bauern in der Gemeinde Da Ton im Distrikt Gia Lam in der Nähe von Hanoi,
April 1994
40 Vgl. Weltbank, Viet Nam, a.a.O. S. 144. Daraus auch das folgende Zitat.
41 Interview mit dem Minister für Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie, Hanoi, April
1994
42 Vietnamesisches Erziehungsministerium, UNDP, UNESCO, Education and Human Resources
Analysis, Bd. 1, Hanoi 1992, S. 39
43 Vgl. ebd. S. 65
44 Ebd. S. 60
45 Weltbank, Viet Nam, a.a.O. S. 145
46 Zahlen des Gesundheitsministeniums, zit. in: Weltbank, Vietnam. Population, Health and
Nutrition Sector Review, a.a.O. Tabelle 4.6, S. 159
47 Ebd. S. 89
48 Interview in der Gemeinde Phung Thuong im Distrikt Phue Tho in der Provinz Ha Tay in
Nordvietnam
49 Weltbank, Viet Nam, S. 169
50 Ebd. 5. 171
Teil IV: Lateinamerika
1
Um an einer Umschuldung im Rahmen des Brady-Plans – nach dem früheren USFinanzminister Nicholas Brady – teilzunehmen, müssen Entwicklungsländer ein wirtschaftliches Reformprogramm vorlegen. Brady-Bonds sind Anleihen, die der Restrukturierung von
Staatsschulden in Entwicklungsländern dienen. Die Bonds sind Teil eines Maßnahmenkatalogs von 1989 zur Lösung des Schuldenproblems von Entwicklungsländern. Danach sollen
die Gläubigerbanken den Schuldnerländern einen Teil ihrer Verbindlichkeiten erlassen und
ihnen die Möglichkeit geben, Darlehen gegen Anleihen mit niedrigeren Zinsen oder längeren
Laufzeiten (meist 25 bis 30 Jahre) zu tauschen. (A.d.Ü.)
2 Vgl. Simon Fisher, Stephen Fidler, »Friction Likely as Brazil Reopens Debt Talks«, in: Financial Times, 10. Oktober 1990
3 Vgl. Christina Lamb, »Brazil Issues Angry Protest at Suspension of Development Loans«, in:
Financial Times, 4. April 1991
4 Vgl. Luiz Carlos Bresser Pereira, »0 FMI e as carrocas«, Folha de Sao Paulo, 27. Juli 1991,
S. 1ff.
5 In einem Interview mit Jornal do Brasil, zit. in Estado de Sao Paulo, 23. Juni 1991
6 Vgl. 0 Globo, 27. Juni 1991
7 Vgl. José Meirelles Passos, »FMI e EUA apoiam programa brasileira«, in: O Globo, 7.
Dezember 1991
8 Zit. in Stephen Fidler, Christina Lamb, »Brazil Sets Out Accord on 44 Billion Debt«, in: Financial Times, 7. Juli 1992
9 Pedro Malan, Collors Unterhändler, bestätigte im März aus seinem Washingtoner Büro, dass
802 Banken, darunter die Chase Manhattan und Lloyds Bank, bereits der Umschuldungsformel zugestimmt hätten. Doch praktisch war das Veto des Beraterkomitees über die Gewährung von multilateralen Krediten an Brasilien noch immer in Kraft. Vgl. Fernando Rodrigues, »Bancos aderem ao acordo da divida externa«, Folha de Sao Paulo, 16. März 1993
10 Vgl. Claudia Sofatle, »Missao do FMI volta sem acordo«, in: Gazeta Mercantil, 17. März
1993
11 Vgl. Financial Times, 20. August 1993
12 Der restliche Teil dieses Kapitels wurde in Zusammenarbeit mit Micheline Ladouceur verfasst.
13 Die Gehaltsobergrenze wurde durch die Provisorische Maßnahme Nr. 382 festgelegt, vgl. 0
Globo, 8. Dezember 1993, S. 2 – 11
14 Zit. in Folha de Sao Paulo, 3. März 1994
15 Interview mit Finanzminister Fernando Henrique Cardoso, Brasilia, August 1993
16 Vgl. Veja, Dezember 1993
17 Vgl. Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada, 0 Mapa do Fome II: Informacoes sobre a
indigência por municipios da Federacao, Brasilia 1993
18 Interviews in Pirambu, Fortaleza, Juli 1993
19 Interviews mit Landarbeitern in der Region Monsenhor Tabosa, Ceara, Juli 1993
20 Vgl. Celia Maria Correa Linhares, Maristela de Paula Andrade, »A acao oficial e os conflitos
agrarios no Maranhao«, Desenvolvimento e Cidadania, Nr. 4, 1992
21 Vgl. Panewa, Bd. VI, Nr. 18, November/Dezember 1993, und Bd. VII, Nr. 19, Januar 1994
22 Vgl. Cuanto. Peru en numeros, September 1990
23 Diese Angaben basieren auf offiziellen Statistiken; vgl. Peru en Numeros1991, Anuario
estadistico, Kapitel 21, und Cuanto, 13. Juli 1991, Suplemento
24 Vgl. Carlos Malpica, El poder económico en el Peru, Bd. 1, Lima 1989
25 Die Expansion der landwirtschaftlichen Produktion wurde durch die Stärkung der Gesamtnachfrage und des Grundverbrauchs (consumo popular) erzielt statt durch eine Wechselkursanpassung für Importe von Grundnahrungsmitteln und die Beseitigung von Subventionen, die im Wesentlichen den agrarindustriellen Monopolen zugute gekommen wären. Das
wies darauf hin, dass sich die Landwirtschaft durch die Aufrechterhaltung der städtischen
Nachfrage stärken ließ.
26 Vgl. Weltbank, Peru. Policies to Stop Hyperinflation and Initiate Economic Recovery, Washington 1989, S. 10
27 Vgl. Drago Kisic, Veronica Ruiz de Castilla, »La economia peruana en el contexto internacional«, CEPEI, Bd. 2, 1. Januar 1989, S. 58f.
28 Vgl. Peru Economico, August 1990, S. 26
29 Der Missbrauch des subventionierten »MUC [mercado unido de cambios]-Dollar« ist ausführlich dokumentiert: Die Zentralbank erhielt Anträge auf Zuteilung von MUC-Dollar zum
Zweck des Warenimports, die Importe wurden nicht oder nur teilweise ausgeführt und das
Geld dann mit beträchtlichem Profit in echte Devisen oder zurück in die heimische Währung
getauscht. Vgl. z.B. »Quien volo con los MUC«, in: Oiga, Nr. 468, 5. Februar 1990, S. 18f.
30 Vgl. Kisic, Ruiz, a.a.O. S. 60
31 Vgl. Fernando Rospigliosi, »Izquierdas y clases populares: democracia y subversion en el
Peru«, in: Julio Cotler (Hg.), Glases populares, crisis y democracia en America Latina, Lima
1989, S. 127
32 Vgl. »Plan de Gobierno de Cambio 90: una propuesta para el Peru«, in: Pagina Libre, 21.
Mai 1990, S. 17 – 24
33 Nach Interviews des Autors mit Beschäftigten im Gesundheitsdienst in Peru, Juli 1991
34 Für weitere Details vgl. »Peru: Situación economica«, in: Situación latinoamericana, Bd. 1,
Nr. 2, April 1991, S. 122 – 128
35 Das Honorar der Berater von 500 – 700 Dollar am Tag einschließlich einer täglichen »Versorgungspauschale» von 130 Dollar war nur geringfügig niedriger als das jährliche ProKopf-Einkommen Perus.
36 Berichten von Amnesty International zufolge wurden zwischen 1982 und 1989 annähernd
3000 Menschen ohne Gerichtsverhandlung erschossen (die so genannten desaparecidos
oder »Verschwundenen»). Amnesty wies auch darauf hin, dass die gängige Praxis illegaler
Inhaftierung und Folter durch die Sicherheitskräfte kaum je vor den Gerichten geahndet
wurde. Vgl. Pagina Libre, 17. März 1990, S. A 2; vgl. a. La Republica, 11. Februar 1990, S.
14
37 Vgl. die Geheimdokumente, die der Journalist Cesar Hildebrandt im TV-Magazin »En Persona« im Juli 1991 aufdeckte. Der Bericht führte zur Absetzung der Sendung und zur Einschränkung der meisten politischen Fernsehsendungen.
38 Vgl. Alerta Agraria, Juni 1991, S. 2
39 United States Senate, Committee on Governmental Affairs, Cocaine Production, Eradication
and the Environment. Policy, Impact and Options, Washington, August 1990, S. 51
40 Für eine Übersicht vermuteter CIA-Unterstützung von Drogengeldwäsche in Indochina und
dem Goldenen Dreieck seit den frühen 50er Jahren vgl. Alfred W. MacCoy, The Politics of
Heroin in Southeast Asia, New York 1972
41 Für weitere Details vgl. Juan Antonio Morales, »The Costs of the Bolivian Stabilization Program«, Arbeitspapier Nr. 01/89, Universidad Catolica Boliviana 1989, La Paz, S. 4
42 Interview mit Gonzaio Sanchez de Lozada, in: Careta, Nr. 1094, 5. Februar 1990, S. 87
43 Morales, a.a.O. S. 6
44 Ebd. S. 9a
45 Vgl. ebd. S. 6; ders. »Impacto de los ajustes estructurales en la agricultura campesina
boliviana«, Arbeitspapier der Universidad Catolica Boliviana, La Paz 1989
46 Für weitere Details vgl. Morales, ebd. S. 14, Tabelle 7
47 Für Details über die Beteiligung wichtiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens am Drogenhandel vgl. Amalia Barron, »Todos implicados en el narcotrafico«, in: Cambio, Nr. 16, 8.
August 1988
48 Vgl. Henry Oporto Castro, »Bolivia. El complejo coca-cocaina», in: Garcia Sayan (Hg.),
Coca, cocaina y narcotrafico, Lima 1989, S. 177
49 Vgl. G. Lora, Politica y burguesia narcotraficante, La Paz 1988
Teil V: Die ehemalige Sowjetunion und die Balkanländer
1 Interview mit einem Ökonomen der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau,
Oktober 1992. Daraus auch das folgende Zitat.
2 Interviews mit mehreren Ökonomen der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau,
September 1992
3 Basierend auf eigenen Berechnungen der Preissteigerungen von 27 Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs sowie von langlebigen Gebrauchsgütern zwischen Dezember
1991 und Oktober 1992
4 Interview mit dem Leiter der IWF-Vertretung in Moskau, September 1992
5 Weltbank, Russian Economic Reform. Crossing the Threshold of Structural Reform, Washington, DC. 1992, S. 18
6 Interview mit einem Berater der Weltbank, Moskau 1992
7 Interview mit einem Ökonomen der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau,
September 1992
8 Interview in einer Moskauer Poliklinik und mit Beschäftigten aus verschiedenen Wirtschaftssektoren in Moskau und Rostow am Don, September/Oktober 1992; vgl. Jean-Jacques Marie, »Ecole et santé en ruines«, in: Le Monde dipiomatique, Juni 1992, S. 13 9 Für weitere
Details vgl. Jean Jacques Marie, a.a.O.
10 Interview mit einem Vertreter des IWF, Moskau, September 1992
11 Vgl. Delovoi Mir (Business World), Nr. 34, 6. September 1992, S. 14
12 Interview mit einem gewöhnlichen russischen Bürger, Rostow am Don, Oktober 1992
13 Vgl. Internationaler Währungsfonds u.a. A Study of the Soviet Economy, Bd. 1, Paris 1991,
Teil II, Kapitel 2
14 Paraphrase des Satzes: »Adam biss in den Apfel, und darauf kam über das Menschengeschlecht die Sünde« in Karl Marx’ Das Kapital, Bd. 1, 24. Kapitel (MEW 23, S. 741)
15 »Ruble Plunges to New Low«, in: Moskow Times, 2. Oktober 1992, S. 1
16 Vgl. Paul Klebnikov, »Stalin’s Heirs«, in: Forbes, 27. September 1993, S. 124 – 134
17 Die Regierung hat 1992 angeblich Exportlizenzen über das Doppelte der amtlich registrierten Rohölausfuhren ausgestellt.
18 Interview mit dem Manager einer westlichen Geschäftsbank, Moskau, Oktober 1992
19 Vgl. Tim Beardsley, »Selling to Survive«, in: Scientific American, Februar 1993, S. 94 – 100
20 Zitiert in Financial Times, 23. September 1993, S. 1. Daraus auch das folgende Zitat.
21 Financial Times, 5. Oktober 1993
22 Vgl. Leyla Boulton, »Russia’s Breadwinners and Losers«, in: Financial Times, 13. Oktober
1993, S. 3
23 Vgl. Chris Doyle, »The Distributional Consequences of Russia’s Transition«, Diskussionspapier Nr. 839, Center for Economic Policy Research, London 1993. Diese Schätzung der
Preisbewegung von Gütern des täglichen Bedarfs zwischen Dezember 1991 und Oktober
1992 entspricht meiner eigenen. Die stark manipulierten offiziellen Statistiken räumen einen Rückgang der Kaufkraft von 56 Prozent seit Mitte 1991 ein.
24 Vgl. The Wall Street Journal, 12. Oktober 1993, S. A 17; Alian Saunderson, »Legal Wrangie
Holds Up Russian Dept Deal«, in: The European, 14. – 17. Oktober 1993, S. 38
25 Vgl. Financial Times, 1. August 1994, S. 1
26 Vgl. »The Last Ambassador. A Memoir of the Collapse of Yugoslavia«, in: Foreign Affairs,
Bd. 74, Nr. 2, 1995
27 Für eine Kritik vgl. Milos Vasic et al. »War Against Bosnia«, in: Vreme News Digest Agency,
13. April 1992
28 Dayton Peace Accords, Agreement on High Representative, Artikel 1 und II, 16. Dezember
1995
29 Vgl. Dayton Peace Accords, Agreement on Police Task Force, Artikel II
30 Dayton Peace Accords, Agreement on General Framework, Artikel VII
31 Ebd. Agreement on Public Corporations, Artikel 1, 10
32 Sean Gervasi, »Germany, the US, and the Yugoslav Crisis«, in: Covert Action Quarterly, Nr.
43, Winter 1992/93, S. 42
33 Ebd.
34 Dimitrije Boarov, »A Brief Review of Anti-Inflation Programs. The Curse of Dead Programs«,
in: Vreme News Digest Agency, Nr. 29, 13. April 1992
35 Vgl. Weltbank, Industrial Restructuring Study. Overview, Issues, and Strategy for Restructuring, Washington, D.C. Juni 1991, 5. 10 u. 14
Vgl. Gervasi, a.a.O. 5. 44
37 Vgl. Weltbank, Industrial Restructuring Study, a.a.O. S. VIII
38 Ralph Schoenman, »Divide and Rule Schemes in the Balkans«, in: The Organizer, 11. September 1995
39 Vgl. Judit Kiss, »Dept Management in Eastern Europe«, in: Eastern European Economics,
Mai/Juni 1994, S. 59
40 Vgl. Barbara Lee, John Nellis, Enterprise Reform and Privatization in Socialist Economies,
Weltbank, Washington, DC. 1990, S. 20f.
41 Ebd. S. 33
42 Ebd. S. 33 f. Die Zahlen stammen vom jugoslawischen Bundessekretariat für Industrie und
Energie.
43 Ebd. S. 13, Anhang 1, S. 1
44 Die Weltbank schätzte die »überschüssigen Arbeitskräfte« in der Industrie auf 20 Prozent
der Erwerbsbevölkerung von 8,9 Millionen, annähernd 1,8 Millionen. Diese Zahl liegt beträchtlich unter der tatsächlichen Zahl von überschüssigen Arbeitskräften, wenn man die
Beschäftigten der als insolvent eingestuften Unternehmen hinzuzählt. Vgl. Weltbank, Yugoslavia. Industrial Restructuring, Anhang 1
45 British Broadcasting Service, »Borislav Jovic Tells SFRY Assembly Situation Has Dramatically Deteriorated«, 27. April 1991
46 Schoenman, a.a.O.
47 Vgl. Gervasi, a.a.O. S. 44
48 Zit. in Federico Nier Fischer, »Eastern Europe: Social Crisis«, Inter Press Service, 5. September 1990
49 Vgl. Klas Bergman, »Markovic Seeks to Keep Yugoslavia One Nation«, in: Christian Science
Monitor, 11. Juli 1990, S. 6
50 Dimitrije Boarov, »A Brief Review of Anti-Inflation Programs«, a.a.O.
51 Vgl. Gervasi, a.a.O. S. 64
52 Zimmermann, a.a.O.
53 Jim Burkholder, »Humanitarian Intervention? Veterans For Peace«, ohne Datum, unter:
http://www.veteransforpeace.org/
54 Im Juni 1995 hatte der IWF im Namen der Kreditbanken und westlichen Regierungen vorgeschlagen, die Schulden wie folgt zu verteilen: Serbien und Montenegro 36 Prozent, Kroatien 28 Prozent, Slowenien 16 Prozent, Bosnien-Herzegowina 16 Prozent und Mazedonien
fünf Prozent.
55 Vgl. »Zagreb’s About Turn«, in: The Banker, Januar 1995, S. 38
56 Vgl. Weltbank, Macedonia. Financial and Enterprise Sector, Public Information Department,
28. November 1995
57 Zit. in MAK News, 18. April 1995
58 Vgl. MILS News, 11. April 1995
59 Vgl. »IMF to Admit Bosnia on Wednesday«, Meldung von United Press International, 18.
Dezember 1995
60 Vgl. Frank Viviano, Kenneth Howe, »Bosnia Leaders Say Nations Sit Atop Oil Fields«, in:
The San Francisco Chronicle, 28. August 1995; Scoot Cooper, »Western Aims in ExYugoslavia Unmasked«, in: The Organizer, 24. September 1995
61 Schoenman, a.a.O.
62 Vgl. Weltbank, Development News, Washington, 27. April 1999
63 Vgl. »World Bank Group Response to Post Conflict Reconstruction in
Kosovo. General Framework For an Emergency Assistance Strategy«, unter:
http://www.worldbank.org/html/extdr/kosovo/kosovo-st.htm
64 Weltbank, »The World Bank’s Role in Reconstruction and Recovery in Kosovo«‚ unter:
http://www.worldbank.org/html/extdr/pb/pbkosovo.htm
65 Vgl. International Finance Corporation, »International Consortium Backs Kosovo’s First
Licensed Bank«, unter: http://www.ifc.org/ifc/pressroom/Archive/2000/00-90/00-90.html, Pressemitteilung, Washington, 24. Januar 2000
66 New York Times, 8. Juli 1998, Bericht von Chris Hedges
67 Zit. in Diana Johnstone, »How lt Is Done. Taking Over the Trepca Mines. Plans and Propaganda«, unter: http://www.emperors-clothes.com/articles/Johnstone/howitis.htm, 28. Februar 2000
68 Ebd. Für den Bericht der International Crisis Group siehe www.emperorsclothes.com/articles/Johnstone/icg.htm
69 Weltbank,
KFOS,
»World
Bank
Launches
First
Kosovo
Project«,
unter:
http://www.worldbank.org/html/extdr/extme/097.htm, 16. November 1999, News Release Nr.
2000/097/ECA
Teil VI: Die Neue Weltordnung
1
Vgl. Hugh Carnegy, »Moody’s Deals Rating Blow to Sweden«, in: The Financial Times, 6.
Januar 1995, S. 16; ders. »Swedish Cuts Fail to Convince Markets«, in: The Financial
Times, 12. Januar 1995, S. 2
2 Zahlen in kanadischen Dollar; vgl. La Presse, 6. Mai 1995, S. F 2
3 In den USA sank der Beitrag der Unternehmen zu den Einnahmen des Bundes von 13,8
Prozent 1980 (einschließlich der Besteuerung von außerordentlichen Gewinnen) auf 8,3
Prozent 1992. Vgl. US Statistical Abstract 1992
4 Schätzung von Jack A. Blum, präsentiert bei der Konferenz »Jornadas: Drogas, desarrollo y
estado de derecho«, Bilbao, Oktober 1994; vgl. ders. Alan Block, »Le blanchiment de
l’argent dans les Antilles«, in: Alain Labrousse, Alain Wallon (Hg.), La planéte des drogues,
Paris 1993
5 Vgl. C. Cottarelli, Limiting Central Bank Credit to the Government, International Monetary
Fund, Washington 1993, S. 5
6 Sally Bowen, »Brady Investment in Peru«, in: The Financial Times, 22. Juli 1994
7 In den USA war die Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanken jahrzehntelang
durch das Glass-Steagall-Gesetz geregelt, das 1933 während der Weltwirtschaftskrise erlassen wurde, um die Einlagen von Kleinsparern nicht durch die Vergabe riskanter oder
spekulativer Kredite zu gefährden. Dieses Gesetz ist 1999 vom Kongress aufgehoben worden.
8 Für eine detaillierte Analyse der Rolle des organisierten Verbrechens im Bank- und Finanzwesen vgl. Alain Labrousse, Alain Wallon (Hg.), La planéte des drogues, Paris 1993; Observatoire géopolitique des drogues. La drogue, nouveau désordre mondial, Paris 1993
9 Zit. in Martin Khor, »Baring and the Search for a Rogue Culprit«, in: Third World Economics,
Nr. 108, 1. – 15. März 1995, S. 10
10 Ebd. Zur Erinnerung: Im Februar 1995 musste die traditionsreiche britische Privatbank
Barings aufgeben, nachdem ihr Broker Nick Leeson mit Fehlspekulationen in Singapur Riesensummen versenkt hatte. Barings wurde dann von dem niederländischen Banken- und
Versicherungskonzern ING aufgekauft.
11 Bank for International Settlements Review, Nr. 46, 1997
12 Vgl. Martin Khor, «SEA Currency Turmoil Renews Concern on Financial Speculation«, in:
Third World Resurgence, Nr. 86, Oktober 1997, S. 14f.
13 Vgl. »Five Years On the Crash Still Echoes«, in: The Financial Times, 19. Oktober 1992
14 Philip Wong, Mitglied der von Peking einberufenen gesetzgebenden Versammlung Hongkongs, beschuldigte den New Yorker Aktienhändler Morgan Stanley, den Markt kaputtzuspekulieren, um sich danach billig wieder einzukaufen. Vgl. «Broker Cleared of Manipulation«, in: Hong Kong Standard, 1. November 1997
15 Vgl. Martin McLaughlin, «Clinton Republicans Agree to Deregulation of US Banking System«, World Socialist Website, unter: http://www.wsws.org/index.shtml, 1. November 1999
16 Vgl. The Financial Times, 9. November 1999, S. 21
17 Erklärung bei einem Treffen der Gruppe der 15, Malaysia, 3. November 1997, zit. in: South
China Morning Post, 3. November 1997
18 Vgl. Michael Hudson, Our World, 23. Dezember 1997; ders. Bill Totten, »Vulture Speculators«, in: Our World, Nr. 197, 12. August 1998
19 Vgl. Nicola Bullard, Walden Bello, Kamal Malhotra, »Taming the Tigers. The IMF and the
Asian Crisis«, Sonderausgabe über den IWF, Focus on Trade, Nr. 23, Focus on the Global
South, März 1998
20 Vgl. Hudson, a.a.O.
21 Michael Hudson, »Big Bang Is Culprit Behind Yen’s Fall«, in: Our World, Nr. 187, 28. Juli
1998; vgl. auch die gemeinsame Erklärung auf der Pressekonferenz von USAußenministerin Madeleine Albright und dem japanischen Außenminister Keizo Obuchi in
Tokio am 4. Juli 1998, enthalten in einer offiziellen Pressemitteilung des USAußenministeriums vom 7. Juli 1998
22 Vgl. Nicola Bullard et al. a.a.O.
23 Das IIF schlägt vor, dass globale Banken und Investmenthäuser zu diesem Zweck »rotieren
und in einem neutralen Prozess (zur Sicherung der Vertraulichkeit) ausgewählt« (werden
könnten). Ein »regelmäßiger Meinungsaustausch« würde, so das Institut, kaum dramatische Überraschungen offenbaren, die ausschlaggebenden Einfluss auf die Entwicklung der
Märkte haben würden. »In dieser Ära der Globalisierung müssen sowohl Marktteilnehmer
als auch multilaterale Institutionen entscheidende Rollen spielen. Je besser sie sich verstehen, desto größer die Aussichten für ein besseres Funktionieren der Märkte und Stabilität
der Finanzmärkte.« Brief von Charles Dallara, Managing Director des IIF, an Philip
Maystadt, Vorsitzender des IMF Interim Committee, Washington, 8. April 1998
24 Institute of International Finance, Report of the Mulitlateral Agencies Group. IIF Annual
Report, Washington 1997
25 Vgl. den Brief des Managing Director des Institute of International Finance, Charles Dallara,
an Philip Maystadt, Vorsitzender des IMF-Interim Committee vom April 1997, zit. in: Institute of International Finance, 1997 Annual Report, Washington 1997
26 Steven Forbes, »Why Reward Bad Behavior«, in: Forbes Magazine, 4. Mai 1998
27 Zur Erinnerung: »Heißes Geld« ist spekulatives Kapital, »schmutziges Geld« sind die Erlöse
des organisierten Verbrechens, die regelmäßig im internationalen Finanzsystem gewaschen
werden.
28 Internationaler Währungsfonds, »Communiqué of the Interim Committee of the Board of
Governors of the International Monetary Fund«, Pressemitteilung Nr. 98/14, Washington,
16. April 1998. Der umstrittene Vorschlag zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs wurde zuerst im April 1997 vorgetragen.
29 Vgl. Communiqué of the IMF Interim Committee, Hongkong, 21. September 1997
30 Charles Laurence, »Wall Street Warriors Force Their Way Into the Billionaires Club«, in:
Daily Telegraph, 30. September 1997.
31 Agence France-Presse, 19. November 1997
32 Willis Witter, »Economic Chief Sacked in South Korean Debt Crisis. Emergency Measures
Are Introduced«, in: Washington Times, 20. November 1997
33 Associated Press, 30. November 1997
34 Vgl. Internationaler Währungsfonds, »Korea. Request for Stand-by Arrangement«, Washington, 3. Dezember 1997. Der Text der IWF-Vereinbarung von 1997 zusammen mit dem
»Memorandum on the Economic Program« sickerte an die koreanische Presse durch und ist
unter: http://www.chosun.com/feature/imfreport.html verfügbar.
35 Vgl. «New Illness, Old Medicine«, in: The Economist, New York, 13. Dezember 1997, S. 65
36 Transkription einer IWF-Pressekonferenz, Washington, 5. Dezember 1997
37 Wiederholte Ausstrahlung mit englischer Übersetzung in »The News Hour with Jim Lehrer«,
MacNeil/Lehrer Productions, 4. Dezember 1977
38 Zit. in Michael Hudson, »Draft for Our World«, in: Our World, 23. Dezember 1997
39 National Public Radio, 19. Dezember 1997
40 John Burton, «Korea Bonds Reduced to Junk Status«, in: The Financial Times, 23. Dezem
ber 1997, S. 3
41 Vgl. Choe Seung Chul, »Assembly Opens to Legislate Key Financial Reforms«, in: Korea
Herald, 23. Dezember 1997
42 John Burton, a.a.O.
43 Vgl. Financial Times, 27. u. 28. Dezember 1997, S. 3
44 Agence France-Presse, 26. Dezember 1997
45 Internationaler Währungsfonds, «Korea. Request for IMF Standby«, a.a.O. 5. 44
46 Sah Dong Seok, »Credit Woes Cripple Business Sectors«‚ in: Korea Times, 28. Dezember
1997
47 Song Jung Tae, »Insolvency of Construction Firms Rises in 1998«, in: Korea Herald, 24.
Dezember 1997
48 Vgl. Michael Hudson, a.a.O.
49 Vgl. Catherine Lee, »The Wrong Medicine. Nationalization of Commercial Banks in South
Korea«, in: The Banker, Dezember 1998
50 Vgl. Michael Zielenziger, »A Rebounding But Unreformed South Korea Making Investors,
Officials Nervous«, Knight Ridder Tribune News Service, 11. Juni 1999
51 Vgl. «More Tax Money for KFB«, in: Korea Herald, 17. August 2000, S. 1
52 Vgl. Asia Pulse, 21. Januar 2000
53 Vgl. »Who, What, Where«, in: The Asian Banker Journal, 18. Mai 2000
54 «Commerzbank Pledges Active Role in Cleaning Up Korea Exchange Bank«, in: Business
Korea, 8. August 2000
55 Vgl. den Text des Memorandums und der Absichtserklärung, 14. Juni, Ministry of Finance,
Seoul, 2000, veröffentlicht in Republic of Korea Economic Bulletin, Juni 2000, unter:
http://www.epic.kdi.re.kr/home/ecobul/indexlist.htm; ebenfalls veröffentlicht vom IWF unter:
http://www.imf.org/external/NP/LOI/2000/kor/01/INDEX.HTM. Das Memorandum räumt der Deutschen Bank Managementrechte über die Korea First Bank ein.
56 Los Angeles Times, 16. Juni 2000
57 Vgl. Estado de Sao Paulo, 21. Januar 1999
58 Vgl. Financial Times, 18. Januar 1999, S. 4
59 Vgl. Estado de Sao Paulo, 21. Januar 1999
60 Vgl. Larry Rohter, »Crisis Whipsaws Brazilian Workers«, in: New York Times, 16. Januar
1999
61 Zit. in Financial Times, 31. Oktober/1. November 1998
62 Vgl. »Joint Statement of the Ministry of Finance of Brazil and the IMF Team«, Newsletter
Nr. 99/5, IWF, Washington, 4. Februar 1999
63 Vgl. Estado de Sao Paulo, 21. Januar 1999
64 »Itamar: Soros presidara o BC«, Agenzia Estado, Ultimas noticias, 2. Februar 1999
Teil VII: Krieg und Globalisierung
1
Vgl. Hugh Davies, »International Informers Point the Finger at Bin Laden. Washington on
Alert for Suicide Bombers«, in: The Daily Telegraph, 24. August 1998
2 Ahmed Rashid, «The Taliban. Exporting Extremism«, in: Foreign Affairs, November/Dezember 1999
3 «The CIA’s Intervention in Afghanistan. Interview with Zbigniew Brzezinski, President
Jimmy Carter’s National Security Adviser«, in: Le Nouvel Observateur, 15.–21. Januar
1998, wiederveröffentlicht vom Centre for Research on Globalization unter
http://www.globalresearch.ca/articles/BRZ110A.html
4 Steve Coll, Washington Post, 19. Juli 1992
5 Wahhabiten sind Anhänger einer puritanischen Bewegung des Islam, heute die herrschende
religiöse Doktrin in Saudi-Arabien. (A.d.Ü.)
6 Erklärung der Revolutionary Association of the Women of Afghanistan, unter:
http://www.globalresearch.ca/articles/RAW109A.html
7 Dilip Hiro, »Fallout from the Afghan Dschihad«, Inter Press Services, 21. November 1995
8 National Public Radio, »Weekend Sunday«, 16. August 1998
9 Ebd.
10 Dipankar Banerjee, »Possible Connection of ISI with Drug Industry«, in: India Abroad, 2.
Dezember 1994
11 Diego Cordovez, Selig Harrison, Out of Afghanistan. The Inside Story of the Soviet Withdrawal, New York 1995. S. a. die Kritik des Buches von International Press Services, 22.
August 1995.
12 Vgl. Alfred McCoy, »Drug Fallout. The CIA’s Forty Year Complicity in the Narcotics Trade«,
in: The Progressive, 1. August 1997
13 Vgl. Alfred McCoy, «Drug Fallout. The CIA’s Forty Year Complicity in the Narcotics Trade«,
in: The Progressive, 1. August 1997
14 Vgl. Douglas Keh, Drug Money in a Changing World, Technical Document Nr. 4, 1998, UNDP
Wien, S. 4; Report of the International Narcotics Control Board für 1999, E/INCB/1999/1,
Wien 1999, S. 49ff; Richard Lapper, »UN Fears Growth of Heroin Trade«, Financial Times,
24. Februar 2000
15 International Press Services, 22. August 1995
16 Ahmed Rashid, »The Taliban. Exporting Extremism«, in: Foreign Affairs, November/Dezember 1999, S. 22
17 Zit. in Christian Science Monitor, 3. September 1998
18 Vgl. Tim McGirk, »Kabul Learns to Live With Its Bearded Conquerors«, in: The Independent,
6. November 1996
19 The Guardian, 15. September 2001
20 Reuters, 13. September 2001
21 The New York Times, 13. September 2001
22 Newsweek, 14. September 2001
23 Vgl. The Daily Telegraph, 14. September 2001
24 The New York Times, 13. September 2001
25 Erklärung der Nordallianz vom 14. September 2001, zit. von Reuters, 15. September 2001
26 US-Außenministerium, Patterns of Global Terrorism unter:
http://www.state.gov/ s/ct/rls/pgtrpt/2000, Washington 2000
27 Reuters, 13. September 2001
28 Presidential Papers, Bemerkungen während eines Telefongesprächs mit dem New Yorker
Bürgermeister Rudolph Giuliani und dem New Yorker Gouverneur George Pataki und Erklärungen gegenüber Reportern, 13. September 2001
29 The Washington Post, 23. September 2001
30 The Times of India, 9. Oktober 2001
31 The Weekly Standard, Bd. 7, Nr. 7, Oktober 2001
32 Agence France-Presse, 10. Oktober 2001
33 ABC News, »This Week«, 30. September 2001
34 US House of Representatives, Stellungnahme der Abgeordneten Dana Rohrbacher, Anhörung des Ausschusses für Internationale Beziehungen über «Global Terrorism and South
Asia«, Washington, 12. Juli 2000
35 The White House Bulletin, 14. September 2001
36 »What we’ve created blows back in our face«, United Press International, 15. September
2001
37 The Guardian, 15. September 2001
38 United Press International, 15. September 2001
39 Bericht der International Media Corporation, Defense and Strategy Policy, »US Commits
Forces and Weapons to Bosnia«, 31. Oktober 1994
40 Pressemitteilung des US-Kongresses, Republican Party Committee, US Congress, »ClintonApproved Iranian Arms Transfers Help Turn Bosnia into Militant Islamic Base«, 16. Januar
1997, nachzulesen unter: http://www.globalresearch.ca/articles/DCH1O9A.html
41 The Scotsman, 29. August 1999
42 Vgl. Truth in Media, «Kosovo in Crisis«, 2. April 1999, unter www.truthinmedia.org/
43 Sunday Times, 29. November 1998
44 US Congress, Aussage von Frank J. Cilluffo vor dem House Judiciary Committee, 13. Dezember 2000
45 Aussage von Ralf Mutschke von Interpol vor dem House Judicial Committee, 13. Dezember
2000
46 Newsletter des Macedonian Information Centre, Skopje, 21. März 2000, veröffentlicht von
der BBC, 24. März 2000
47 Vgl. BBC, 29. Januar 2001, unter:
http://news.bbc.co.uk/hilenglish/world/europe/newsid_1142000/1142478.stm
48 Vgl. United Press International, 9. Juli 2001, und für weitere Details Michel Chossudovsky,
»Washington Behind Terrorist Assaults in Macedonia«, unter:
http://www.globalresearch.ca/articles/CHO1O8B.html
49 Vgl. Levon Sevunts, »Who’s Calling the Shots? Chechen Conflict Finds Islamic Roots in
Afghanistan and Pakistan«, in: The Gazette, 26. Oktober 1999
50 Ebd.
51 Ebd.
52 Vitaly Romanov, Viktor Yadukha, »Chechen Front Moves tu Kosovo Segodnia«, Moskau, 23.
Februar 2000
53 Vgl. The European, 13. Februar 1997, ITAR-TASS, 4.–5. Januar 2000
54 BBC, 29. September 1999
55 Vgl. K. Subrahmanyam, «Pakistan Is Pursuing Asian Goals«, in: India Abroad, 3. November
1995
56 Vgl. Murali Ranganathan, »Human Rights Report Draws Flak«, in: News India, 16. September 1994
57 Nach offiziellen chinesischen Quellen, zit. von United Press International, 20. November
2001
58 Defense and Security, 30. Mai 2001
59 Vgl. Financial Times, 6. Mai 1999, S. 2
60 US Congress, Transcript of the House of Representatives, HR 1152, 19.März 2001
61 Anhörung über US-Interessen in den zentralasiatischen Republiken am 12. Februar 1998,
House of Representatives, Subcommittee on Asia and the Pacific, Committee on International Relations, unter: http://commdocs.house.gov/committees/intlrel/hfa48119.000/hfa48119-Of.htm
62 Silk Road Strategy Act, lO6th Congress, 1st Session, S. 579, »To Amend the Foreign Assistance Act of 1961 to Target Assistance to Support the Economic and Political Independence
of the Countries of the South Caucasus and Central Asia«, US Senate, Washington, 10.
März 1999
63 Lara Marlowe, »US Efforts to Make Peace Summed Up by >Oil<«, in: Irish Times, 19. November 2001
64 William E. Odorn, »US Policy Toward Central Asia and the South Caucasus«, in: Caspian
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65 Robert V. Baryiski, »The Caspian Oil Regime. Military Dimensions«, in: ebd. Bd. 1, Nr. 2,
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66 Graham Fuller, »Geopolitical Dynamics of the Caspian Region«, in: ebd. Bd. 3, Nr. 2, Herbst
1997
67 Damien Caveli, «The United States of Oil«, unter: http://www.salun.com/,
19.
November 2001
68 Vgl. Richard Hottelet, »Tangled Web of an Oil Pipeline«, in: The Christian Science Monitor,
1. Mai 1998
69 Richard Giragosian, »Massive Kashagan Oil Strike Renews Geopolitical Offensive in Caspian«, in: The Analyst, 7. Juni 2000
70 Mary-Wynne Ashford, »Die Bombardierungen erzeugen neue Furcht vor dem Atomkrieg«,
in: The Victoria Times Colonist, 13. Mai 1999, S. A15, zugänglich unter:
http://dju-hamburg.de/atom.htm; Übersetzung leicht verändert (A.d.Ü.)
71 Viktor Tschetschewatow, ein russischer Drei-Sterne-General, zitiert in: The Boston Globe, 8.
April 1999
72 Mary-Wynne Ashford, a.a.O.
73 Federation of American Scientists unter: http://www.fas.org/faspir/2001
74 Michel Chossudovsky, »Washington’s New World Order Weapons Have the Ability to Trigger
Climate Change«, unter: http://www.globalresearch.ca/articles/CHO2O1A.html; Jeane Manning
und Nick Begich, Löcher im Himmel. Der geheime Ökokrieg mit dem Ionosphärenheizer
HAARP, Zweitausendeins 1996
75 Mother Jones, »Taiwan Wants Bigger Slingshot«, unter:
http://www.mujunes.com/arms/taiwan.html
76 Agence France-Presse, 12. Dezember 2001
77 Reuters, 5. Februar 2000
78 Vago Muradian, »Pentagon Sees Bridge to Europe«, Defense Daily, Bd. 204, Nr. 40, 1.
Dezember 1999
79 Ebd.
80 »BAe, EADS Hopeful That Bush Will Broaden Transatlantic Cooperation«, in: Defense Daily
International, 29. Oktober 2001
81 Vgl. Interfax, 1. März 2000
82 New York Times, 15. November 1999
83 Nachzulesen unter: http://www.fas.org/nuke/guide/russia/doctrine/gazeta012400.htm auf der Website der Federation of American Scientists
84 Mikhail Kozyrev, »The White House Calls for the Fire«, in: Vedomosti, 1. November 1999,
S. 1
85 Zit. in Nicolai Sukov, »Russia’s New National Security Concept. The Nuclear Angle«, Center
for Non Proliferation Studies, unter: http://cns.miis.edu/pubs/reports/sokov2.htm, Januar 2000
86 BBC, »Russia Deploys New Nuclear Missiles«, 27. Dezember 1998
87 V. Tetekin, «Putin’s Ten Blows«, auf der Website von Centre for Research on Globalization,
unter http://www.globalresearch.ca/articles/TET112A.html
88 Ebd.
Nachwort
1 Michael Mandel, »This War Is Illegal and Immoral. lt Will Not Prevent Terrorism«, Science
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Glossar
Bretton Woods. In diesem amerikanischen Städtchen fand 1944 jene Währungs- und Finanzkonferenz der UNO statt, auf der feste Wechselkurse zwischen den Teilnehmerstaaten sowie
die Gründung der –>Weltbank und des –>IWF beschlossen wurden. Beide Organisationen
werden daher auch als »Bretton-Woods-Institutionen« bezeichnet.
CGIAR: Consultative Group on International Agricultural Research; Konsultativgruppe
für internationale Agrarforschung. Ein 1971 auf Anregung der –>Weltbank gegründeter und
von der –>FAO und dem –>UNDP unterstützter Zusammenschluss der (z.Z. 17) international führenden Agrarforschungszentren. Dieses Netzwerk wird von 43 Staaten (auch der
BRD), 12 internationalen Organisationen sowie Stiftungen getragen. Die CGIAR entwickelt
vor allem (lizenzpflichtige) Hochertragssorten für Weizen, Reis und Mais (auch mit gentechnischen Methoden), was in der Dritten Welt der Kommerzialisierung der ehedem subsistenzorientierten Landwirtschaft Vorschub leistet.
CIA: Central Intelligence Agency. 1947 gegründete oberste Geheimdienstbehörde der USA.
Über ihren eigentlichen Auftrag hinaus (Beschaffung, Koordination und Auswertung sicherheitsrelevanter Informationen, Abwehr der Auslandsspionage) befasste sich die CIA im OstWest-Konflikt mit der (oft illegalen) Planung und Durchführung subversiver Operationen.
Seit dem Ende des Kalten Krieges gelten als neue Aufgabenfelder: Bekämpfung des internationalen Terrorismus und des Rauschgifthandels, Beobachtung und Beeinflussung regionaler
Konflikte und der Entwicklungen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, Überwachung
der Aktivitäten von »Schurkenstaaten«.
CIMMYT: Centro Internacional de Mejoramiento de Maiz y Trigo; International Maize
and Wheat Improvement Center; Internationales Mais- und Weizenforschungsinstitut. Eines der 17 Agrarforschungsinstitute der –>CGIAR mit Sitz in Mexiko, ursprünglich aufgebaut von der Rockefeller und der Ford Foundation.
Osteuropabank bzw. EBWE: Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.
1991 gegründete internationale Bank zur Unterstützung der Staaten Mittel-, Osteuropas und
der ehemaligen UdSSR beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft mit Sitz in London.
Zu den Mitgliedern bzw. Anteilseignern der Osteuropabank gehören u.a. die 15 EU-Staaten,
die Europäische Investitionsbank (EIB), die Europäische Kommission und die USA.
FAO: Food and Agriculture Organization. 1945 gegründete UN-Sonderorganisation für
Ernährung, Landwirtschaft, Fischerei und Forstwesen mit Sitz in Rom. Aufgaben: Sicherung
der weltweiten Nahrungsmittelversorgung, Bekämpfung von Hungersnöten, Durchführung
von Entwicklungsprojekten, Genehmigung von Nahrungsmittelhilfen im Rahmen des Welternährungsprogramms.
FTAA: Free Trade Area of the Americas. 1994 auf dem OAS-Gipfel in Miami (Florida) von
34 Staaten vereinbarte Freihandelszone für den gesamten amerikanischen Kontinent (außer
Kuba), die bis 2005 als Gegengewicht zum Europäischen Binnenmarkt realisiert werden soll.
G 7/G 8: Gruppe der Sieben bzw. der Acht. Ursprünglich informelle Treffen, heute hoch
gerüstete Weltwirtschaftsgipfel der Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrienationen; seit 1975 G 6: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, USA;
1976 Beitritt Kanadas, seither G 7; 1994 Kooptation Russlands, seither G 8.
GATS: General Agreement on Trade in Services; Allgemeines Abkommen über den
Dienstleistungsverkehr. 1994 geschlossenes multilaterales Abkommen zur Liberalisierung
des internationalen Dienstleistungsaustauschs, das neben dem –>GATT und dem –>TRIPS
zum Regelsystem der –>WTO gehört. Während das Rahmenabkommen allgemeine Grundprinzipien (Meistbegünstigung, Transparenz, Nichtdiskriminierung, freier Marktzugang) fixiert, sind in Anhängen sektorspezifische (z.B. für die Bereiche Finanzdienstleistungen, Telekommunikation, Zivilluftfahrt) und länderspezifische Besonderheiten geregelt.
GATT: General Agreement on Tariffs and Trade; Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen. 1948 in Kraft getretenes Abkommen zur Erleichterung des internationalen Handels. Das GATT, das zu den Sonderorganisationen der UN gehörte, wurde 1996 durch die
–>WTO abgelöst. In acht großen Verhandlungsrunden wurden immer neue Zölle gesenkt
und andere Handelshemmnisse abgebaut. Die letzte GATT-Runde, die »Uruguay-Runde«
(1986 – 93), bezog erstmals auch den Agrar- und den Textilhandel mit ein, verabschiedete
das –>GATS und das –>TRIPS und führte schließlich zur Gründung der WTO als Rechtsnachfolgerin des GATT.
GUUAM. Bündnis der fünf ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien. Konstituiert ausgerechnet auf dem NATO-Gipfel 1999 in Washington, will diese regionale Sicherheitsallianz »auf niedrigem Niveau« mit der NATO zusammenarbeiten. Es geht dabei um die Eindämmung des russischen Einflusses, die »Wiederbelebung der Seidenstraße« als geopolitisches Projekt und über neue Ölpipelines aus
dem kaspischen Raum in den Westen.
IDA: International Development Association; Internationale Entwicklungsorganisation. Eine 1959 gegründete Sonderorganisation der UN und selbstständige Schwesterorganisation der –>Weltbank mit Sitz in Washington und z.Z. knapp über 160 Mitgliedsländern. Die IDA finanziert Entwicklungsprojekte, v.a. Infrastrukturprojekte in den ärmsten
Entwicklungsländern, zu günstigeren Konditionen als die Weltbank (Laufzeit der zinslosen
Kredite in der Regel 40 Jahre, Rückzahlung in eigener Währung möglich). Die Mittel stammen aus Beiträgen der Mitgliedsstaaten und Gewinnen der Weltbank.
IRRI: International Rice Research Institute; Internationales Reisforschungsinstitut.
Eines der 17 Agrarforschungsinstitute der –>CGIAR mit Sitz auf den Philippinen, das von der
Rockefeller Foundation und von der –>Weltbank unterstützt wird.
IWF: International Monetary Fund; Internationaler Währungsfonds. Eine 1945 aufgrund
des Abkommens von –>Bretton Woods gegründete Sonderorganisation der UN zur Überwachung des internationalen Währungssystems mit Sitz in Washington und z.Z. mehr als 180
Mitgliedsländern. Ziele: Förderung der internationalen Zusammenarbeit in der Währungspolitik und des Welthandels sowie Hilfe bei Zahlungsbilanzproblemen. Die Gewährung von Krediten ist durchweg mit wirtschaftspolitischen Auflagen verbunden, die stets auf Marktöffnung
und Deregulierung abzielen. Jedes IWF-Mitgliedsland hat (nach Maßgabe seines ökonomischen Gewichts) ein quotiertes Stimmrecht, wobei den USA aufgrund ihres Stimmenanteils
eine Sperrminorität zukommt.
LDC: Less developed countries / LLDC: Least developed countries. Seit 1970 gültige
UN-Kategorisierungen für Entwicklungsländer. Am wenigsten entwickelte Länder haben
demzufolge ein Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von weniger als 473 Dollar, einen Anteil der
Industrieproduktion am BIP von höchstens 10 Prozent und eine Analphabetenquote von
mehr als 80 Prozent. Weniger entwickelten Ländern geht es etwas besser.
LIC: Low income countries / LMIC: Low middle income countries. Kategorisierungen
der –>Weltbank für Entwicklungsländer nach Maßgabe hauptsächlich des Bruttoinlandsprodukts. Als niedriges Einkommen gilt ein Pro-Kopf-BIP von maximal 785 Dollar, als mittleres
Einkommen eines von 3125 Dollar.
Londoner Club. Nach dem Vorbild der Umschuldungsverhandlungen im –>Pariser Club geht
es in diesem Ausschuss um die ungedeckten Kredite der Geschäftsbanken. Im Londoner
Club sind also die privaten Gläubiger, sprich: Banker, vertreten.
Mercosur:
Mercado Común del Cono Sur; Gemeinsamer Markt im südlichen Lateinamerika. Eine 1991 von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gegründete, 1995 in
Kraft getretene Wirtschaftsunion mit Sitz in Montevideo. Ziele sind die Bildung eines gemeinsamen Marktes durch stufenweisen Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen sowie
die Koordinierung der Wirtschaftspolitik.
NAFTA: North American Free-Trade Area; Nordamerikanische Freihandelszone. Ein
1992 verabredetes und 1994 in Kraft getretenes Abkommen zwischen den USA, Kanada und
Mexiko. Durch stufenweisen Abbau der Zolltarife und Quoten soll die Freihandelszone für
gewerbliche Güter, Dienstleistungen sowie den Kapitalverkehr bis 2010 verwirklicht werden.
Besonderheit ist ein asymmetrischer Zollabbau zwischen Mexiko und den beiden nordamerikanischen Staaten wegen des starken Wirtschaftsgefälles. Das Abkommen sieht ferner eine
Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte, die Erleichterung von Investitionen, einheitliche
Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums und ein gegenseitiges Mitspracherecht bei
der Formulierung von Normen und technischen Vorschriften vor.
OECD: Organization for Economic Co-operation and Development; Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Eine 1960/61 gegründete Organisation der führenden (derzeit 29) Industrieländer mit beratender Funktion zur Koordinierung
vor allem von deren Wirtschafts-, Währungs- und Außenwirtschaftspolitiken. Die OECD hat
keine exekutiven Vollmachten, sondern ist eher eine Plattform des wechselseitigen Austauschs. Ihr Pariser Sekretariat (knapp 2000 Beschäftigte) sowie die über 150 Ausschüsse
erarbeiten ständig Analysen, Empfehlungen und Informationen – darunter die jährlichen
Länderberichte und die halbjährlichen Konjunkturausblicke. Größte Beitragszahler sind die
USA und Japan.
Pariser Club. Sammelbegriff für jeweils ad hoc einberufene Umschuldungsverhandlungen
zwischen einem Schuldnerland und seinen Gläubigerländern, wobei es dann immer um öffentlich garantierte Kredite und Entwicklungshilfedarlehen geht. Der Pariser Club ist also
keine feste Organisation, sondern eine Summe von Verfahrensregeln für akute Schuldenkrisen, die sich seit 1956 sukzessive herausgebildet haben. Die französische Regierung stellt
traditionellerweise die Konferenzräume und andere Ressourcen zur Verfügung.
TRIPS: Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights; Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum. Als internationales Abkommen über Urheber-, Patent- und verwandte Schutzrechte neben dem
–>GATT und dem –>GATS der dritte Pfeiler im Regelsystem der –>WTO. Die hier festgelegten Mindeststandards für den Schutz der Rechte am geistigen Eigentum sind vor allem auf
die Belange des internationalen Handels abgestellt.
UNCTAD: United Nations Conference on Trade and Development; Konferenz der UNO
für Handel und Entwicklung. 1964 gegründetes Spezialorgan der UN-Generalversammlung mit Sitz in Genf und alle vier Jahre an wechselnden Orten stattfindenden Kon-
ferenzen. Ursprünglich vor allem der Förderung des Handels und dem Technologietransfer
zwischen Industrie- und Entwicklungsländern verpflichtet, scheint sich die UNCTAD nunmehr
eher als Dialogforum für Probleme der Globalisierung und Fragen der Armutsbekämpfung zu
verstehen.
UNDP: United Nations Development Programme; Weltentwicklungsprogramm, Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. 1965 gegründetes UN-Spezialorgan zur
Finanzierung und Koordinierung der technischen Zusammenarbeit im Rahmen der multilateralen Entwicklungshilfe mit Sitz in New York. Dem UNDP sind verschiedene Programme und
Sonderfonds zugeordnet.
Weltbank bzw. IBRD: International Bank for Reconstruction and Development; Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. 1944 in –>Bretton Woods geplante, 1945 gegründete, seit 1946 tätige Sonderorganisation der UNO mit Sitz in Washington
und derzeit mehr als 180 Mitgliedsländern. Nominelle Ziele der Weltbank sind die Reduzierung der Armut und die Verbesserung des Lebensstandards durch die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung. Das Stimmrecht der Mitgliedsländer entspricht ihrem Anteil am Weltbankkapital. 5 der 24 Direktoren werden von den 5 Mitgliedsstaaten mit den höchsten Kapitalanteilen ernannt, Präsident ist immer ein US-Bürger. Neben projektgebundenen Krediten
vergibt die Weltbank Programm- und seit der Schuldenkrise auch Strukturanpassungskredite
zu marktüblichen Zinsen mit einer Laufzeit von 15 bis 20 Jahren. Zur Weltbankgruppe gehört auch die –>IDA.
WTO: World Trade Organization; Welthandelsorganisation. 1994 in Marrakesch gegründete Sonderorganisation der UNO für den Welthandel mit Sitz in Genf und mehr als 140 Mitgliedsländern. Im Gegensatz zu den eher losen –>GATT-Runden bildet die WTO einen umfassenden vertraglichen und institutionellen Rahmen für die Liberalisierung des Welthandels.
Für alle Entscheidungen innerhalb der WTO gilt das Konsensprinzip, aber neue Mitgliedsländer müssen alle bisherigen Entscheidungen (wie den Abbau von Zöllen) vorbehaltlos akzeptieren.
Über den Autor
Professor Michel Chossudovsky lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Universität Ottawa. Er las als Gastdozent in Westeuropa, Lateinamerika und
Südostasien und war als Berater für zahlreiche Regierungen und Institutionen in Entwicklungsländern tätig sowie für Organisationen der Vereinten
Nationen. Sein Buch wurde bereits in sieben Sprachen übersetzt. Chossudovsky veröffentlicht regelmäßig in Le Monde diplomatique, Third World
Resurgence und weiteren Zeitschriften. Seine Artikel werden in über 20
Sprachen übersetzt.