Die EU verkauft ihre Seele

Unter Strom
Armut janz weit draußen
Das erste Elektroauto für den
Normalverbraucher ist da. Seite 2
Im Zentrum Berlins ist nur noch wenig
Platz für Geringverdiener. Seite 11
Edelmetall
auf Reisen
Hugo Chavez hat
Venezuelas GoldReserven ins Land
geholt, Nicolás
Maduro verkauft
sie wieder. Kann
er den Bankrott
so aufhalten?
Seite 9
Foto: dpa/Tesla Motors
Montag, 4. April 2016
71. Jahrgang/Nr. 78
Berlinausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
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STANDPUNKT
Teure Sturheit
Vincent Körner über Deutschlands
Rolle im Konflikt mit Athen
Es mag ein Aspekt am Rande sein,
den das IWF-Gesprächsprotokoll,
seine Echtheit vorausgesetzt,
deutlich macht: die verzwickte
Lage, in die sich Deutschland im
Schuldenstreit mit Griechenland
hineinmanövriert hat. So spekuliert IWF-Europa-Vertreter Thomson darüber, dass der Währungsfonds gegenüber der deutschen
Kanzlerin die Frage aufwerfen
müsse, was für sie teurer werden
würde: wenn sich der IWF nicht
am dritten Kreditprogramm für
Griechenland beteiligt, obwohl
Merkel dies vor dem Bundestag
für sicher erklärt und damit um
Zustimmung geworben hatte,
oder eine teilweise Entschuldung
Griechenlands, die der Währungsfonds zur Bedingung für einen Einstieg in das Kreditprogramm macht. IWF-GriechenlandUnterhändlerin Velculescu stimmt
im dokumentierten Gespräch zu,
auf diese Weise den Druck auf
Deutschland zu erhöhen. »Genau!«, verzeichnet das Protokoll.
Die Bundesregierung stimmte
dem Kreditdeal unter der Maßgabe zu, dass auch der IWF sich daran beteilige. Dies ist inzwischen
sogar in Athen akzeptiert worden,
der Währungsfonds wartet aber
auf das Ja der Europäer zu deutlichen Schuldenerleichterungen für
Griechenland. Kanzlerin Angela
Merkel hatte einen Schuldenschnitt kategorisch abgelehnt. Die
schwierige Frage ist nun, wie es
zu Erleichterungen unterhalb
dessen kommen kann – etwa
durch Verlängerung der Rückzahlungsfristen oder Senkung der
Zinsbelastungen. Sicher scheint,
dass sich das sture deutsche Beharren auf einer reinen Sparpolitik für Griechenland nicht auszahlen dürfte. Im Gegenteil.
UNTEN LINKS
Verschwiegenheit ist ein hohes
Gut. Doch der Verschwiegene
steht auf verlorenem Posten.
Facebook, Twitter oder die Kantine sind ihm schauderhafte Orte.
Auch der Verschwiegene freilich
sucht nach Gleichgesinnten, also
anderen Verschwiegenen. Das ist
aus naheliegenden Gründen nicht
einfach, immerhin braucht es dafür einen Offenbarungseid. Guido
Westerwelle war so ein Verschwiegener, wie man auf der
Trauerfeier für den einstigen Außenminister am Wochenende erfuhr. Aus dem Munde des Kanzlerin persönlich erfuhr man es
und bei der Gelegenheit, dass
auch sie eine Vertreterin der verschweigenden Zunft ist. Nichts
aus ihren vertraulichen Gesprächen, lobte Angela Merkel in bewegten Worten, sei je an Dritte
gelangt. Leider hat die Verschwiegenheit auch ihren Preis.
Auf Westerwelles Grabkreuz
stand ein falsches Geburtsdatum.
Reden ist Silber, aber miteinander Verschweigen wäre hier Gold
gewesen. Klar: Über Twitter erfuhr man es zuerst. uka
ISSN 0323-4940
Die EU verkauft ihre Seele
Heftige Gefechte in
Berg-Karabach
Scharfe Kritik am Pakt über Zwangsabschiebungen von Flüchtlingen in die Türkei
Gewaltexplosion im Südkaukasus
forderte mehr als 30 Todesopfer
Eriwan. Nach den schwersten Kämpfen um
die Region Berg-Karabach seit über 20 Jahren hat die internationale Gemeinschaft vor
einer Eskalation des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan gewarnt. Trotz
einer von Baku ausgerufenen Waffenruhe
dauerten die Gefechte nach armenischen Angaben auch am Sonntag an. Mindestens 30
Soldaten wurden getötet, 18 armenische und
12 aserbaidschanische. Auch zwei Zivilisten
sollen Opfer der Kämpfe geworden sein. Die
UNO, die USA, Russland und die Bundesregierung dringen auf ein Ende der Gewalt. Die
sogenannten Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vermittelt in dem Konflikt und
plant für Dienstag ein Krisentreffen in Wien.
Die Gefechte in dem von Baku und Eriwan
beanspruchten Gebiet im Südkaukasus, die
in der Nacht zum Samstag begonnen hatten,
waren die heftigsten seit der Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens
zwischen Aserbaidschan und Armenien im
Jahr 1994. AFP/nd
Seite 7
Stoiber fordert
CDU-Kurswechsel
Union steckt mit 33 Prozent im
Umfragetief / AfD liegt bei 13 Prozent
Foto: AFP/Bulent Kilic
Berlin. Er sei »optimistisch, dass die Verteilung
klappt«, sagte EU-Parlamentspräsident Martin
Schulz am Wochenende. Diese Frau aus dem
Flüchtlingslager Idomeni an der griechischmazedonischen Grenze scheint solche Zuversicht nicht zu teilen. Hunderte protestieren seit
Tagen auf den Ägäis-Inseln Lesbos und Chios
gegen Massenabschiebungen in die Türkei, in
ihren Augen »Deportationen«. Sie sollten am
Montag beginnen, nachdem das Athener Parlament dem Deal zwischen EU und Ankara seinen Segen gegeben hat. Doch die Stimmung
ist explosiv, nicht nur unter den Migranten.
Auch in der Türkei brodelt es; in der Hafenstadt Dikili lehnten Demonstranten die Rückführungsaktion lautstark ab.
Danach will man all jene zurückschicken, die
seit 20. März in Griechenland eingetroffen sind,
kein Asyl beantragen oder keines erhalten. 500
Menschen sollen heute von Beamten der EUGrenzschutzagentur Frontex auf Schiffe verfrachtet werden. Im Gegenzug verspricht die
Union, für jeden in die Türkei abgeschobenen
Syrer einen anderen auf legalem Wege aufzunehmen. Bis zu 72 000 Menschen will man so
Zuflucht gewähren – aber auch in vielen EU-
Staaten wächst der Widerstand. In Hannover
werden heute die ersten 35 Migranten erwartet. Die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth verlangte, auf die Abschiebungen zu
verzichten; die EU verschließe die Augen vor
der Verzweiflung der Flüchtlinge und verkaufe
ihre Seele. LINKEN-Parteichefin Katja Kipping
nannte das Abkommen eine »Verabredung zum
Sterbenlassen«. Scharfe Kritik kam auch vom
UN-Flüchtlingssonderberichterstatter
Peter
Sutherland: »Massenabschiebungen ohne
Rücksicht auf individuelle Rechte sind illegal.«
nd/Agenturen
Seite 5
Berlin. Aufgrund der schlechten Ergebnisse
bei den jüngsten Landtagswahlen hat der
CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber von
der CDU einen Strategiewechsel gefordert.
»Ja, es geht auch um eine Kursänderung«, erklärte der Bayer im »Spiegel«. Die Positionen
seiner Partei müssten wieder Positionen der
CDU werden. »Wenn Grüne und LINKE die
Flüchtlingspolitik von Angela Merkel loben
und die CSU dafür hart angreifen, dann geht
das für die Union nicht gut.«
Die Union steckt derweil im Umfragetief.
In der jüngsten Emnid-Umfrage für die »Bild
am Sonntag« sackte sie gegenüber der Vorwoche um einen Punkt auf 33 Prozent ab –
der niedrigste Wert seit Juni 2012. Auch andere Institute sehen CDU und CSU im Keller:
Im »Politbarometer« der Forschungsgruppe
Wahlen erzielten sie zuletzt mit 35 Prozent
ebenfalls ihren schwächsten Wert seit Juni
2012. Das Insa-Institut sieht die Union sogar
nur noch bei 32 Prozent. In der Emnid-Umfrage einen Punkt auf 13 Prozent zulegen kann
dagegen die AfD. dpa/nd
Seiten 4 und 6
IWF-Leak erzürnt griechische Regierung
Laut Gesprächsprotokoll soll Druck auf Athen erhöht werden / SYRIZA-Chef Tsipras verlangt Erklärungen
Ein von Wikileaks veröffentlichtes Gesprächsprotokoll sorgt
für Wirbel. Es offenbart großes
Misstrauen des IWF gegenüber
der Regierung in Athen wie auch
den europäischen Gläubigern.
Von Vincent Körner
Ein von der Enthüllungsplattform
Wikileaks veröffentlichtes Protokoll eines Gesprächs, das Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds (IWF) am 19. März
miteinander geführt haben sollen,
hat für Aufruhr gesorgt. Die Echtheit ist umstritten, wurde vom IWF
aber nicht explizit dementiert. In
einem Telefonat hatten sich laut
dem Protokoll der IWF-EuropaVertreter Poul Thomsen, die rumänische IWF-Griechenland-Unterhändlerin Delia Velculescu und
die bulgarische IWF-Haushaltsexpertin Iva Petrova über den Fortgang der Verhandlungen über
Schuldenerleichterungen
für
Griechenland und die Erfüllung
der umstrittenen Auflagen des
Kreditprogramms unterhalten. Für
Skepsis, was die Echtheit des Protokolls angeht, sorgen mehrere
Fehler, etwa falsch geschriebene
und vertauschte Namen.
Der Inhalt des Gespräches
scheint aber nicht abwegig. Deutlich wird das Misstrauen des Währungsfonds sowohl gegenüber der
Regierung in Athen als auch den
europäischen Gläubigern. So beschwert sich Thomsen darin, dass
die Gespräche mit der SYRIZA-geführten Regierung nur schleppend
vorankämen, aber auch darüber,
dass die Prognosen des IWF und
der EU über die wirtschaftliche
Leistungskraft Griechenlands voneinander abweichen.
Heikel ist eine Passage in dem
mutmaßlichen Gespräch, in dem
Thomsen sinngemäß erklärt, in der
Vergangenheit habe Griechenland
immer nur dann eine Entscheidung getroffen, wenn das Land
beinahe zahlungsunfähig war. Die
Frage sei nun, so Thomson, wie es
baldmöglichst zu den jetzt anstehenden Entscheidungen komme.
Velculescu sagt dem geleakten
Protokoll zufolge, sie stimme
Thomsen zu, dass es eines »Ereignisses« für eine Entscheidung zur
Frage der Schuldenerleichterungen bedürfe.
Dem Protokoll nach
bedarf es eines
»Ereignisses«, um
Griechenland zu
Entscheidungen zu
bewegen.
Unter dem Druck der internationalen Gläubiger und eines »Ereignisses«, nämlich auf Grundlage
von Entscheidungen der EZB geschlossener Banken und wegen
nicht ausbezahlter Kredittranchen
leer gelaufener Staatskassen, hatte
Athen im Juli zugestimmt, im Gegenzug für neue Kredite in Höhe
von 84 Milliarden Euro weit reichende Privatisierungen und ein-
schneidende Kürzungen vorzunehmen. Der IWF hat dem letzten
Kreditprogramm für das hochverschuldete Griechenland noch nicht
zugestimmt.
Die griechische Regierung verlangte inzwischen »Erklärungen«
vom IWF. SYRIZA-Chef Alexis Tsipras kündigte einen Brief an Christine Lagarde und die EU-Staatsund Regierungschefs an. Die FAZ
berichtet, dass es zum Kreditprogramm bereits eine Annäherung
zwischen Europäern und IWF gebe. »Demnach debattieren beide
Seiten noch darum, ob Griechenland weitere Einsparungen in Höhe von 3 Prozent (EU-Kommission) oder 4,5 Prozent (IWF) seiner
Wirtschaftsleistung
erreichen
müsse, um im Jahr 2018 einen um
Zinszahlungen bereinigten Haushaltsüberschuss
(Primär-Überschuss) von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erzielen.«
Bei einer Einigung könnten die
Verhandlungen über Schuldenerleichterungen womöglich Ende
April beginnen. Mit Agenturen
Podemos-Basis hat
nun das Wort
Referendum soll über Tolerierung
einer neuen Regierung entscheiden
Madrid. In die stockenden Bemühungen um
die Bildung einer neuen Regierung kommt in
Spanien gut drei Monate nach der Parlamentswahl Bewegung. Der Chef von Podemos (Wir können), Pablo Iglesias, räumte am
Samstag erstmals die Möglichkeit der Tolerierung einer Regierungskoalition der Sozialisten mit Ciudadanos (Bürger) durch seine
links davon stehende Partei ein. Dazu wolle
man die Mitglieder konsultieren, kündigte
der 37-jährige in Madrid an.
Sozialisten-Chef Pedro Sánchez hatte bereits im Februar einen Regierungspakt mit
Ciudadanos geschlossen. Im Parlament haben beide Parteien zusammen jedoch keine
Mehrheit. Die Kandidatur des 44-Jährigen für
das Amt des Ministerpräsidenten war Anfang März im Madrider Congreso bei zwei
Abstimmungen abgelehnt worden. Auch die
Podemos-Abgeordneten votierten damals
dagegen. Bei einer Enthaltung der PodemosAbgeordneten gäbe es für das sozialistisch-liberale Bündnis bei einem erneuten Versuch
rechnerisch eine einfache Mehrheit. dpa/nd