Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser Skript zur Vorlesung Strafrecht AT 5. Teil: Unterlassungsdelikte § 35: Unterlassungsdelikt/Grundlagen I. „Echte“ und „unechte“ Unterlassungsdelikte Zwischen „echten“ und „unechten“ Unterlassungsdelikten besteht folgender Unterschied: Bei den sog. echten Unterlassungsdelikten sind die Haftungsvoraussetzungen für das Unterlassen bereits im Deliktstatbestand festgelegt. Hier wird also der objektive Deliktstatbestand durch die Nichtvornahme der gesetzlich genannten Tätigkeit verwirklicht (vgl. BGHSt 14, 280 [281]; Jescheck/Weigend § 58 III 2); so nennt z.B. § 323c StGB die Voraussetzungen, unter denen das Unterlassen von Hilfeleistungen strafbar ist (vgl. auch §§ 123 Abs. 1 Alt. 2 StGB; 138 StGB; Vernachlässigung einer Pflicht nach § 225 Abs. 1 StGB). Von unechten Unterlassungsdelikten spricht man dagegen, wenn unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 StGB die Verwirklichung eines (beliebigen) Deliktstatbestands durch Unterlassen dem Begehen gleichzustellen ist. Während sich die Strafbarkeit des Totschlags durch Begehen unmittelbar aus dem entsprechend formulierten Tatbestand des § 212 StGB ergibt, ist die Strafbarkeit des Totschlags durch Unterlassen § 212 i.V.m. § 13 StGB zu entnehmen. *** II. Abgrenzung Begehen und Unterlassen 1. Verhältnis von Tun und Unterlassen: Die Frage, wie Tun und Unterlassen nach der Tatbestandslösung voneinander abzugrenzen sind, wird unterschiedlich beantwortet: Die naturalistisch-ontologisch ausgerichteten Abgrenzungslehren stellen auf den kausalen (bzw. sozial-sinnhaften) Energieeinsatz ab, so dass Tun bei kausaler Erfolgsherbeiführung und Unterlassen bei entsprechender Nichtkausalität des Verhaltens anzunehmen ist (vgl. Jescheck/Weigend § 58 II 2; Otto/Brammsen Jura 1985, 530 [531]; Roxin ZStW 74 [1962], 411 [413 ff., 415]; Stoffers GA 1993, 262 ff.; Struensee Stree/Wessels-FS 133 [143 ff.]). Kritik: Auf das Kausalitätskriterium kann nur beim vollendeten Delikt zurückgegriffen werden; beim Versuch versagt es. Nach den normativen Abgrenzungslehren soll der Schwerpunkt (bzw. soziale Sinn) des Täterverhaltens maßgeblich sein (BGHSt 6, 46 [59]; 40, 257 [265 f.]; Geilen JZ 1968, 151; Schmidt Engisch-FS 348 ff.; Schönke/Schröder-Stree/Bosch Vor § 13 Rn. 158). Kritik: Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit lässt sich schwerlich ohne Vorgriff auf weitere Deliktsmerkmale (z.B. Vorsatz/Fahrlässigkeit) ausmachen (vgl. Otto § 9/2). Konkurrenzlösung: erst im Rahmen der Konkurrenzen ist zu prüfen, welche der Tatbestandsverwirklichungen zurücktritt. Regeln der (materiellen) Subsidiarität (Jakobs 28/1 ff., 4). 2. Einzelfragen: a) Das Fahrlässigkeitsdelikt ist dadurch gekennzeichnet, dass der Täter einen Sorgfaltsverstoß begeht, der häufig wiederum in der Nichtvornahme von Sicherungsmaßnahmen liegt. Das Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts ergibt sich in diesem Fall jedoch nicht aus dem Unterlassen der 1 Sicherungsmaßnahme, sondern vielmehr (erst) aus der aktiven Vornahme der jeweiligen Tätigkeit trotz fehlender Sicherung, wodurch ein rechtlich missbilligtes Risiko entsteht. Fall 1: Ein Fabrikant händigt infizierte Ziegenhaare, ohne sie zu reinigen, zur Herstellung von Pinseln aus. Hierdurch erkranken Arbeiterinnen an Milzbrand (RGSt 63, 211; hierzu Engisch Gallas-FS 163 [184 ff.]).). § 222 I. Tb Erfolg, Handlung, Kausalität (+) Sorgfaltspflichtverletzung: Aushändigen der Haare ohne Desinfektion Vorhersehbarkeit und Pflichtwidrigkeitszusammenhang (+) II. RW III. Schuld: individuelle Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit (+) (Zumutbarkeit sorgfaltsgemäßen Verhaltens) Sonstige Schuldmerkmale (Schuldfähigkeit, Entschuldigungsgründe usw.) Ergebnis: § 222 (+) *** b) Sofern sich ein Erfolg auf voneinander unabhängige Handlungen oder Unterlassungen zurückführen lässt, ist jede Tatbestandsverwirklichung gesondert zu prüfen. Hier lassen sich grds. nur im Bereich der Konkurrenzen erfolgsbezogene Verhaltensweisen ausschließen. Daher ist zunächst zu fragen, ob jeweils alle Voraussetzlungen für ein Begehungs- und ein Unterlassungsdelikt erfüllt sind. Wird dies bejaht, so ist im Rahmen der Konkurrenzen eine eventuelle Verdrängung von Tatbeständen zu untersuchen. Fall 2: A fährt aufgrund alkoholbedingter Unaufmerksamkeit den Radfahrer R an und lässt den Verletzten auf der Straße liegen, so dass dieser, womit A rechnete, an den erlittenen Verletzungen stirbt. A) § 222 (+) I. Tb: • Erfolg, Handlung, Kausalität (+) • Sorgfaltspflichtverletzung, Vorhersehbarkeit und Pflichtwidrigkeitszusammenhang (+) II. RW III. Schuld: • Individuelle Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit (+) IV. Ergebnis: § 222 (+) B) §§ 212, 13 I. oTb 1. Erfolg (+) 2. Unterlassen der • zur (effektiven) Erfolgsabwendung objektiv geeigneten und • dem Täter möglichen Handlung = Verständigung eines Notarztes (+) 3. Kausalität (+) 4. Garantenstellung (+), da Ingerenz II. sTb: Vorsatz (+) 2 III. RW IV. Schuld • Zumutbarkeit gebotenen Handelns: (+) • Sonstige Schuldmerkmale (Schuldfähigkeit, Entschuldigungsgründe usw.) V. Ergebnis: § 212, 13 (+) C) Gesamtergebnis: § 222 und §§ 212, 13 in Tatmehrheit (§ 53 StGB, so BGHSt 7, 287 (288 f.) oder (sachgerecht:) Subsidiarität von § 222 *** c) Abbruch eigener Rettungsbemühungen (Otto § 9/6 ff.): Sofern in Notsituationen eine bereits begonnene Rettungsmaßnahme wieder abgebrochen wird, stellt sich die Frage, ob hierin ein Unterlassen (nämlich der weiteren Ausführung der Rettung) oder aber ein aktives Tun (als Vereitelung der in Gang gesetzten Rettungschance) zu sehen ist. Die allg. Meinung differenziert danach, ob der Täter bereits eine vollendete Rettungsmöglichkeit geschaffen hat, welche er nunmehr (aktiv) zerstört (Testfrage: Hätte das Opfer durch das vorangegangene Wirken bereits gerettet werden können?); dann aktive Tatbegehung oder aber eine konkrete Rettungsmöglichkeit bisher ohnehin nicht existierte, so dass in dem schlussendlichen Abbruch der Rettungsmaßnahme insgesamt nur ein Unterlassen gesehen werden kann. Beachte: Von der oben vorgestellten Konstellation ist der Fall zu unterscheiden, dass der Täter (aktiv) Rettungsbemühungen von dritter Seite hintertreibt. Hier liegt unstr. eine Strafbarkeit wegen aktiver Begehung vor (Stichwort: Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs, hier im Skript § 10 III 6). Fall 3: A droht zu ertrinken. B eilt zu einem in der Nähe befindlichen Rettungsring. Als er diesen dem A zuwerfen will, erkennt er in ihm einen Gegner. Daraufhin unterlässt er die Rettung. A ertrinkt. Hier: Noch keine konkrete Rettungschance eröffnet. § 212 durch Unterlassen? Keine Garantenstellung (–). Unterlassen nach § 323c (+). Fall 4: A droht zu ertrinken. B eilt zu einem in der Nähe befindlichen Rettungsring und wirft ihn dem A zu. Jetzt erkennt B in A einen Gegner. Kurz bevor A den Ring ergreifen kann, zieht B ihn zurück. A ertrinkt. Hier: Konkrete Rettungschance bereits vorhanden und aktiv vereitelt. § 212 (+) durch Begehen. Zur speziellen Problematik des Abschaltens medizinischer Geräte vgl. BGHSt 40, 257; LG Ravensburg NStZ 1987, 229; Jakobs 7/64; Küper JuS 1971, 474 [476 f.]; Roxin NStZ 1987, 345 [348 ff.], m.w.N. 3
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