Skript 22

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser
Skript zur Vorlesung Strafrecht AT
§ 22: Schuldfähigkeit
Im Gutachten ist auf eine mögliche Schuldunfähigkeit (ebenso wie auf Entschuldigungsgründe)
nur einzugehen, wenn der Sachverhalt dies eindeutig nahe legt. Ansonsten gilt ähnlich wie bei der
Rechtswidrigkeit, das ein schuldhaftes Handeln nur kurz festzustellen ist.
1. Kinder unter 14 Jahren sind schuldunfähig (§ 19 StGB)
Jugendliche (von 14 bis einschl. 17 Jahren) sind strafrechtlich nur unter der Voraussetzung
verantwortlich, dass sie zum Zeitpunkt der Tat nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung reif
genug sind, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (§ 3 JGG; sog.
„bedingte Schuldfähigkeit“, vgl. Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, 62 ff.).
Erwachsene: Schuldunfähig unter den Voraussetzungen von § 20 StGB.
2. § 20 StGB ist zweistufig aufgebaut:
a) Vier biologische Kriterien der Schuldunfähigkeit:
 krankhafte seelische Störung im Sinne von Geisteskrankheiten (vgl. BGHSt 14, 30;
Lackner/Kühl § 20 Rn. 3 ff.), deren somatische Ursache nachgewiesen sind (sog. exogene
Psychosen wie Paralyse) oder postuliert werden (sog. endogene Psychosen wie Schizophrenie
und manisch-depressives Irresein);
 tiefgreifende Bewusstseinsstörung im Sinne von schweren nichtkrankhaften
Bewusstseinstrübungen oder -einengungen, die zu einem Verlust der raum-zeitlichen
Orientierung führen (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 447 f.; Roxin AT I § 20/13 ff.); praktisch
bedeutsam sind hochgradige Affekte (vgl. BGHSt 11, 20 [24]; BGH NStZ 1990, 231; 1997, 333
f.);
 Schwachsinn im Sinne einer angeborenen oder auf seelischer Fehlentwicklung beruhenden
erheblichen Intelligenzschwäche ohne nachweisbare organische Ursachen (Schönke/SchröderPerron § 20 Rn. 18);
 schwere seelische Abartigkeit im Sinne von gravierenden Psychopathien, Neurosen und
Triebstörungen (vgl. BGHSt 37, 397; BGH StV 1993, 240; Rasch StV 1991, 130 f.).
b) Hierdurch bedingte psychologische Schuldunfähigkeit:
 Fehlende Einsichtsfähigkeit: Unfähigkeit, Unrechtsbewusstsein hinsichtlich der Tat zu erlangen;
 fehlende Steuerungsfähigkeit: Unfähigkeit zu einsichtsgemäßem Verhalten hinsichtlich der
konkreten Tat.
Näher zu dieser „kombinierten Methode“ Krümpelmann ZStW 88 (1976), 6 ff.; Schreiber NStZ
1981, 46 ff.
3. § 21 StGB: Möglichkeit der Strafmilderung, wenn der Täter aus den in § 20 StGB genannten
Gründen in seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit bei der Tatausführung erheblich vermindert
war (im Gutachten grds. nicht zu erwähnen).
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Der durch Alkohol (Drogen, Psychopharmaka) ausgelöste Rausch kann wegen seiner toxischen
Beeinträchtigung der Hirntätigkeit zu einer krankhaften seelischen Störung (exogene Psychose)
führen (vgl. BGHSt 43, 66 [69]; LK-Schöch § 20 Rn. 59 f.).
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Als Faustregel gilt: Eine Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB kommt ab einer
Blutalkoholkonzentration von 3 ‰ in Betracht; es sind jedoch stets die Umstände des Einzelfalles
zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1982, 243; 1996, 592 ff.).
Eine verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB ist umso naheliegender, je mehr die
Blutalkoholkonzentration 2 ‰ überschreitet (BGHSt 35, 308 [312]; 37, 231).
Allerdings kann umgekehrt nicht stets von Schuldfähigkeit ausgegangen werden, wenn die
Blutalkoholkonzentration weniger als 2 ‰ beträgt; erforderlich ist vielmehr stets eine
Gesamtwürdigung, bei der die Blutalkoholkonzentration ein gewichtiges Beweisanzeichen ist (vgl.
auch BGHSt 34, 29 ff.; 36, 286; BGH StV 1998, 538 f.).
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