Lokale Entwurzelung in Etappen

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Lokale Entwurzelung in Etappen
Die Chefredaktoren des «St.Galler Tagblatts» und der «Neuen Luzerner
­Zeitung» sind künftig einem gemeinsamen «Leiter Publizistik der
­Regionalmedien» unterstellt. Das ist faktisch eine Entmachtung durch die
NZZ-Mediengruppe. Dass die bisherigen Chefredaktoren umgehend
ihren Rücktritt bekannt gaben, kommentiert die Umstrukturierung am besten:
Sie können nicht hinter diesem strategischen Entscheid stehen. Aus
gutem Grund.
Beim Tagblatt-Verbund bleibt kein Stein auf dem anderen. Seit einigen Jahren wird heftig «umstrukturiert», «rationalisiert» und «konzentriert». Sämtliche
Entwicklungen werden der Öffentlichkeit als Massnahmen verkauft, die zu mehr Qualität und einer
regionalen Stärkung führen sollen. In Tat und Wahrheit entfernt man sich aber seit sechs Jahren immer
Löcher in die Kasse dürfte auch die seit drei Jahren
erscheinende «Ostschweiz am Sonntag» reissen.
Das «Tagblatt» hat im
Jahr 2014 erstmals
rote Zahlen geschrieben.
Eine Besserung ist
nicht in Sicht.
mehr von der Leserschaft. Das wird sich rächen: Seit
geraumer Zeit werden Stimmen laut, die nach einem
neuen Konkurrenzprodukt schreien, das dem Monopolisten an der Fürstenlandstrasse das Leben noch
schwerer machen soll. Natürlich stampft man ein
­solches Projekt nicht von heute auf morgen aus dem
Boden. Aber die Weichen dazu sind gestellt – und
zwar vom Tagblatt aus.
Die Reise beginnt vor sechs Jahren
Der Ursprung dazu findet sich schon im Jahre 2010,
als die Thurgauer Zeitung von der Tamedia an eine
Tochtergesellschaft der NZZ-Gruppe überging. Der
Kanton Thurgau wird seither aus demselben Hause mit Informationen bedient wie die restliche Ostschweiz. Die Medienvielfalt ging verloren.
In der Folge wurde in der Chefetage der NZZ-Mediengruppe, zu welcher neben der St.Galler Tagblatt AG
unter anderem auch die Luzerner Medien Holding
AG gehört, ausgiebig an einer neuen Medienwelt
getüftelt. Mit welchen Mitteln lassen sich Synergien
nutzen? Wo kann man Abstriche machen, ohne Leserschaft zu verlieren? Wie stark darf man der Ostschweiz die Entscheidungskompetenzen entreissen,
ohne dass sämtliche hier wirkenden Journalisten ihre
Büros fluchtartig verlassen?
Zürich und Luzern am Steuer
Das Ganze ist ein mehrstufiges Verfahren. Eines, das
auch mit den aktuellen Entwicklungen noch nicht
Wie geht das
Klötzchenspiel der NZZMediengruppe weiter?
zu Ende – vor allem nicht zu Ende gedacht – ist. Bereits Ende 2014 kam mit der Person von Jürg Weber
eine neue Person ins Spiel, die aufzeigte, wohin die
künftige Reise führen würde. Damals schloss die
NZZ-Mediengruppe die Tagblatt-Medien und die LZ-­
Medien unter einheitlicher Leitung im Geschäftsbereich Regionalmedien zusammen.
Über die Klinge springen musste Daniel Ehrat, der
seit 2011 verantwortlich für alle Medien der St.Galler
Tagblatt AG war. Er verliess das Unternehmen und ist
inzwischen für die St.Galler Kantonalbank tätig. An
seiner Stelle übernahm Jürg Weber, Geschäftsleiter
der Neuen Luzerner Zeitung AG. Der lokalen Verwurzelung der Ostschweizer Tageszeitung wurde
damit ein herber Schlag versetzt. Der redaktionelle
Rahmen wird seither nicht mehr nur aus der NZZZentrale in Zürich, sondern zusätzlich auch aus der
Innerschweiz vorgegeben.
Das Ganze ist ein mehrstufiges Verfahren.
Eines, das auch mit den aktuellen
Entwicklungen noch nicht zu Ende –
vor allem nicht zu Ende gedacht – ist.
Chefredaktoren, die keine mehr sind
Kaum ist gewissermassen Gras über die Sache gewachsen, wird nun nachgedoppelt. Pascal Hollenstein, derzeit stellvertretender Chefredaktor der
«NZZ am Sonntag», soll ab Frühling die neu geschaffene Position des Leiters Publizistik der Regionalmedien der NZZ-Mediengruppe übernehmen.
«In dieser Funktion soll er den Regionalzeitungsverbund als anspruchsvolle publizistische Stimme
in der Zentral- und Ostschweiz positionieren und
weiter­entwickeln», schreibt die NZZ-Mediengruppe.
Ein Spiel, das die beiden bisherigen Chefredaktoren
Philipp Landmark (St.Galler Tagblatt) und Thomas
Bornhauser (Neue Luzerner Zeitung) nicht mitspielen wollten – sie räumen die Chefsessel. Mit ihren
LEADER | Jan./Feb. 2016
Rücktritten senden sie ein glasklares Signal aus: Sie
sind nicht gewillt, gegen aussen eine Zeitung zu vertreten, welche sie intern faktisch nur noch bedingt
mitgestalten können.
Der Titel des «Chefredaktors» wird der neuen Form
der Strukturen nicht mehr gerecht. Wer künftig den
Kurs vorgibt – für beide Blätter –, ist Hollenstein. Er
soll in einer ersten Phase schwerpunktmässig die
überregionalen Ressorts sowie die «Zusammenarbeitsprojekte» zwischen den Redaktionen in der
­Zentral- und Ostschweiz leiten. Dazu gehört die Einführung des einheitlichen Redaktionssystems und
des gemeinsamen Layouts mit jeweils unterschied­
lichem Markenauftritt. Die künftigen Chefredaktoren – die Nachfolger von Landmark und Bornhauser
sind noch zu bestimmen – des «St.Galler Tagblatts»
und der «Neuen Luzerner Zeitung» konzentrieren
sich auf die Leitung der regionalen Ressorts und
berichten an den Leiter Publizistik, eben an Pascal
Hollenstein.
Philipp Landmark, der 2006 als Chef der Stadtredaktion zum «St.Galler Tagblatt» kam und 2009 Chef­
redaktor der Zeitung wurde, dürfte der Entscheid
des Rücktritts nicht leicht gefallen sein. Denn ähnliche Posten in der Medienwelt sind spärlich. Bis auf
Weiteres wird der 50-jährige Landmark dem Tagblatt für «verschiedene publizistische Projekte» zur
Verfügung stehen. Seinen definitiven Abgang dürfte
er aber schon anvisieren.
Verkauf der «Ostschweiz am Sonntag»?
Wie aber geht das Klötzchen-Spiel der NZZ-Medien­
gruppe weiter? Den Grund für die redaktionelle Konvergenz vermuten Branchenkenner in der Tatsache,
dass beide Zeitungen mit Auflagenschwund und
Umsatzrückgang konfrontiert sind. Das «Tagblatt»
hat im Jahr 2014 erstmals rote Zahlen geschrieben.
Eine Besserung ist nicht in Sicht. Löcher in die Kasse
dürfte auch die seit drei Jahren erscheinende «Ostschweiz am Sonntag» reissen; die siebte Ausgabe des
«Tagblatts» konnte sich bisher keine Marktposition
sichern.
Gemäss Recherchen des «Tagesanzeigers» sucht man
bereits eine Käuferin für das Objekt und hat dafür
unter anderen mit Peter Wanner, Verleger der AZMedien, bereits Gespräche geführt. Der «Tagesanzeiger» dürfte hier durchaus über gut informierte
Quellen verfügen, denn auch über die aktuelle Entwicklung berichtete das Blatt bereits fünf Tage vor
der öffentlichen Bekanntgabe durch die NZZ-Mediengruppe. Es ist demnach wohl nur eine Frage der
Zeit, bis das «Tagblatt» erneut Schlagzeilen in eigener Sache macht.
Text: Marcel Baumgartner
Bilder: Stéphanie Engeler/NZZ
LEADER | Jan./Feb. 2016