Einführungsrede von Alexandra Karle

Input PHZH 8. März 2016 Alexandra Karle, Amnesty Schweiz
Meine Mutter ist im Krieg geboren, im Dezember 1944, auf der Strasse. Meine Grosseltern waren
mehrmals ausgebombt worden. Meine andere Grossmutter, die Mutter meines Vaters, ist bei einem
Luftangriff der Amerikaner auf Stuttgart getötet worden. Mein Vater und seine zwei Geschwister
wurden Halbwaisen, ihr Vater war im Krieg. Viele waren damals auf der Flucht, hatten nichts mehr,
haben gehungert und gefroren.
Ich bin aufgewachsen in einem geteilten Deutschland. Zum Glück im Westen, aber Teile meiner Familie lebten im Osten, in der DDR hinter dem Eisernen Vorhang, wo es keine Meinungsfreiheit gab.
Ich habe nach der Matura eine Stage bei der Tageszeitung taz gemacht und bin jeden Morgen mit
dem Velo an der Mauer entlang bis zur Redaktion gefahren.
Warum ich das erzähle?
Es ist kein Verdienst, wo man geboren wird oder unter welchen Umständen, sondern Schicksal.
Wenn Krieg, Tod und Vertreibung die eigene Familiengeschichte geprägt haben, hat man vielleicht
einen anderen Blick auf die sogenannte Flüchtlings-“Krise“. Wenn man in einem Land grossgeworden ist, das durch eine Mauer geteilt war und wo es «auf der anderen Seite» einen Schiessbefehl für
Flüchtlinge gab, wird einem bei der gegenwärtigen Entwicklung in Europa schlecht.
Denn heute werden wieder Mauern gegen Flüchtlinge gebaut – diesmal nicht, um Menschen daran
zu hindern, aus dem Land zu fliehen, sondern daran, in unsere Länder hereinzukommen. Heute geben die europäischen Regierungen mehr Geld für die Abschottung der EU-Aussengrenzen aus als für
die Flüchtlingshilfe. Statt Flüchtenden Schutz zu bieten, werden Grenzzäune hochgezogen, wird
Tränengas gegen Familien mit Kindern eingesetzt, faselt eine deutsche Politikerin von dem möglichen Einsatz von Schusswaffen – gegen Flüchtlinge.
2015 sind mehr als 3770 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Dieses Jahr bereits
über 400. Sie sind auch Opfer des neuen Eisernen Vorhangs und von dem, was er repräsentiert: die
Festung Europa.
Die meisten Menschen auf der Flucht, mit denen wir von Amnesty International gesprochen haben,
egal, ob sie nun aus dem Irak, Afghanistan, Syrien oder aus Eritrea stammen, wollten ihr Land nicht
verlassen. Sie sind geflohen vor Krieg, Verfolgung, Folter, Hunger oder Perspektivlosigkeit. Sie wollen ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder retten. Die wenigen, die es bis nach Europa geschafft haben, sind nicht am Ende ihres Leidensweges. Sie marschieren weiter, campieren bei Schnee und Regen im Freien, bis sie endlich in einem Land ankommen, in dem es ein funktionierendes Asylsystem
gibt und sie sich sicher fühlen.
Neue Mauern und Stacheldrahtzäune werden nichts bringen. Sie sind Zeichen eines falschen Aktionismus‘ seitens der Regierungen, einer verfehlten Politik. Politiker spielen mit der Angst vor dem
Fremden, reden von «Flüchtlingswellen», «Überschwemmung der Sozialsysteme», wollen «Grenzen
verteidigen».
Das Resultat: in Griechenland sehen wir eine humanitäre Krise. Zehntrausende Flüchtlinge sind dort
gestrandet und müssen unter schlimmste Bedingungen versuchen, zu überleben. Der Plan der Europäischen Union, Flüchtlinge aus Griechenland in anderen europäischen Ländern anzusiedeln, scheitert offenbar. Die Türkei wird hofiert, damit sie die Flüchtlinge im Land behält, zurücknimmt oder
zurückschickt nach Syrien. Und das, obwohl in der Türkei bereits 3 Millionen Flüchtlinge leben und
das Land bei weitem nicht die Kriterien der EU für ein «Sicheres Drittland» erfüllt. (unrechtmässige
Inhaftierungen, Deportationen, Abschiebungen in Herkunftsländer trotz Krieg). Damit macht sich
Europa schwerer Menschenrechtsverletzungen mitschuldig.
Deshalb brauchen wir schnell neue Lösungsansätze!
1. Europa muss umdenken. Grenzzäune und Mauern, die Milliarden verschlingen, werden Menschen in schrecklicher Not nicht von der Flucht nach Europa abhalten.
2. Es müssen endlich sichere und legale Fluchtwege nach Europa geschaffen werden.
3. Die europäischen Länder müssen deutlich mehr Menschen die Möglichkeit geben, Schutz zu
finden und sich niederzulassen. Vor allem die rund eine Million vom Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR registrierten «besonders verletzliche Flüchtlinge», also Schwangere, Kranke,
alte Menschen, Familien mit kleinen Kindern, brauchen schnelle Hilfe.
4. Das vereinbarte «Umverteilungssystem» innerhalb Europas muss endlich in Gang gebracht
werden, so dass Menschen, die in Griechenland ankommen, schnell, sicher und mit Würde in
andere Länder weiterreisen können und eine neue – wenn vielleicht auch vorübergehende –
Heimat finden.
5. Kein Abwälzen der eigenen Verantwortung auf sogenannte sichere Drittländer wie die Türkei. Mit der Türkei das Thema Menschenrechte offensiv ansprechen.
Welche Rolle kann die Schweiz spielen in diesem Zusammenhang?
Die Schweiz hat im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern bereits ein restriktives Asylgesetz. Noch hat sie aber die Chance, vieles anders, vieles besser zu machen. Der grosse Einsatz von
Privatpersonen, der sogenannten Zivilgesellschaft, bei der Flüchtlingsbetreuung zeigt, wozu die
Schweizerinnen und Schweizer fähig sind. Dabei kommt es weder auf die parteipolitische Ausrichtung noch auf die Weltanschauung an, sondern allein auf die Menschlichkeit, auf Mitgefühl, auf Engagement.
Die Schweiz muss in Europa eine mitgestaltende Rolle spielen, bei den wichtigen Gipfeln mit am
Tisch sitzen, bereit sein, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Das heisst grössere Kontingente von verletzlichen Flüchtlingen aus den Nachbarländern Syriens aufnehmen. Die Schweiz muss
sich auch daran beteiligen, zusätzliche Flüchtlinge aus Griechenland zu übernehmen. Der Familiennachzug sollte erleichtert werden. Asylanträge sollten hier geprüft werden, auf Rückschaffungen in
Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen vorkommen, sollte verzichtet werden.
Das neue Asylgesetz sieht eine kostenlose Rechtsvertretung für alle Asylsuchenden vor. Das ist eine
gute und wichtige Neuerung!
Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir den Menschen helfen, die sich bis in die Schweiz
flüchten konnten. Die nicht das Glück hatten, hier geboren worden zu sein. In einem reichen Land,
das den Krieg zum Glück nie kennenlernen musste.