MITTWOCH, 25. MAI 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 D 2,50 E URO B Nr. 120 Zippert zappt KOMMENTAR st Glyphosat krebserregend oder nicht? Diese Frage treibt die zuständigen Politiker um. Die SPD meint Ja, die CDU sagt Nein, rein empirisch könnte man daraus schließen, dass bei Sozialdemokraten Glyphosat zu Krebs führt, bei Unionspolitikern nicht. Doch es greift zu kurz, hier eine Heilung durch Parteibuchwechsel vorzuschlagen. Trotzdem wäre es interessant, herauszufinden, warum der Unionskörper weniger anfällig auf Glyphosat reagiert. Die politische Uneinigkeit könnte am Ende dazu führen, dass Glyphosat keine weitere europäische Zulassung bekommt. Landwirtschaftsminister Schmidt versicherte aufgebrachten Bauern, man könne sie nicht nachträglich des versuchten Mordes anklagen. Ohne Glyphosat wird sich aber der Anblick Deutschlands mit Sicherheit stark verändern. Der Reichstag wird schon in kurzer Zeit von Unkraut überwuchert sein. Flüchtlinge werden nicht mehr den Weg zu uns finden, und damit in München überhaupt gespielt werden kann, muss Mario Götze während eines Spiels mehrfach den Rasen mähen. Damit hätte er aber wenigstens einen Stammplatz sicher. Ja, die Bagger kommen I THEMEN WIRTSCHAFT Traditionsunternehmen WMF wird französisch Seite 11 WISSEN Geheimtreffen zum Thema Mensch aus der Retorte Seite 20 FEUILLETON Der Rapper, der Hitler und Sarrazin von der Bestsellerliste stieß Seite 21 DAX Im Plus Seite 15 Dax 16.45 Uhr Euro EZB-Kurs Punkte US-$ 10071,62 +2,33% ↗ Dow Jones 16.45 Uhr 1,1168 17.704,75 –0,41% ↘ +1,21% ↗ Punkte ANDREA SEIBEL Mein Leben in der Großfamilie MARTIN U. K. LENGEMANN „Zu dumm zum Verhüten“, „asozial“, „Schmarotzer“ – kaum ein Vorurteil, das Madita Tietgen noch nicht gehört hat. Der Grund: Sie hat fünf Geschwister. Damit liegt die Familie aus München nicht nur weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt von statistisch rund eineinhalb Kindern, sondern offenbar auch weit jenseits von dem, was viele Deutsche noch tolerieren. Das merkten unsere Autorin und ihre Familie beim Einkaufen, in der Schule und bei der Wohnungssuche – sechs Hunde seien okay, aber er wolle keine sechs Kinder im Haus haben, sagte beispielsweise ein Vermieter. Warum Madita Tietgen dennoch stolz ist, aus einer Großfamilie zu kommen, lesen Sie auf Seite 8. Flüchtlingslager Idomeni geräumt – und es bleibt ruhig Griechische Regierung beginnt mit Umsiedlung. Tausende Bewohner des wilden Camps werden mit Bussen in feste Unterkünfte gefahren. Polizei hat die Anweisung, keine Gewalt anzuwenden D rei Monate lang war es das Sinnbild für Chaos und Flüchtlingselend in der EU – am Dienstag begann nun die Räumung des griechischen Lagers Idomeni an der Grenze zu Mazedonien. Bis zum Nachmittag brachten Busse mehr als 1500 Migranten aus dem Lager an der mazedonischen Grenze, wie die Behörden berichteten. Sie werden nahe der Stadt Thessaloniki im Norden des Landes untergebracht. Rund 700 Beamte waren beteiligt. Berichte über Ausschreitungen gab es nicht. Der Einsatz soll sieben bis zehn Tage dauern. In dem Lager leben geschätzt 8400 Menschen, darunter Hunderte Kinder. Sie kommen vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak und haben trotz Schließung der Grenze weiter die Hoffnung, über den Balkan in Richtung der reicheren EU-Länder wie Deutschland oder Schweden zu gelangen. Regierungssprecher Giorgos Kyritsis hatte angekündigt, dass die Polizei keine Gewalt anwenden werde. Insgesamt sitzen in Griechenland etwa 54.000 Menschen fest, die weiter nach Norden ziehen wollen. Zum Start des Einsatzes am frühen Morgen wurde das Gebiet weiträumig abgesperrt. Journalisten konnten das Lager nicht betreten und wurden bereits in mehreren Kilometern Entfernung an einer Straßenkreuzung von der Polizei gestoppt. Nur Vertreter von Staatsmedien wurden auf das Gelände gelassen. Baufahrzeuge räumten die leeren Zelte. Hilfsorganisationen beschrieben den Verlauf der Räumung als ruhig und reibungslos. Sprecher Adrian Edwards vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sagte, solange die Flüchtlinge freiwillig auszögen und keine Gewalt angewendet werde, mache er sich keine besonderen Sorgen: „Es ist oft hilfreich, wenn Menschen in besser organisierte Lager umziehen.“ Die griechische Regierung hat dazu im ganzen Land alte Industriegebäude angemietet und ehemalige Kasernen reaktiviert. Das wilde Flüchtlingscamp entstand, nachdem Mazedonien seine Grenze dichtgemacht hatte. Zeitweise lebten hier in kleinen Zelten entlang Bahngleisen und auf Feldern mehr als 14.000 Menschen. Hilfsorganisationen versorgten sie in größeren Zelten. Die Behörden schickten Reinigungstrupps und mobile Toiletten. Einige Bewohner errichteten behelfsmäßige Läden, in denen sie Kochgeschirr, Falafel und Brot verkauften. Regenfälle verwandelten das Gebiet jedoch zeitweilig in eine Schlammwüs- Weniger Tote im Mittelmeer In diesem Jahr sind auf dem Weg nach Europa bereits 1370 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind dies fast 25 Prozent weniger Tote als im selben Zeitraum des Vorjahres, da sich deutlich weniger Menschen auf den Weg von der Türkei nach Griechenland machten. Im Mai kamen laut IOM bislang 13 Migranten auf dem Meer ums Leben. Im Mai 2015 waren es 95 und im Mai 2014 noch 330 Tote. te. Schlagzeilen gab es immer wieder: Mehrfach versuchten die Menschen, den Grenzzaun zu stürmen, mazedonische und griechische Grenzbeamte und Polizisten griffen mit Tränengas und Blendgranaten ein, es gab Verletzte. Beim Versuch, über einen Fluss nach Mazedonien zu gelangen, kamen sogar drei Afghanen ums Leben. Nach der Räumung wollen die Behörden auch die Eisenbahnstrecke ab Ende der Woche wieder in Betrieb nehmen. Sie gilt als wichtigste Trasse für Gütertransporte von Griechenland in Richtung Balkan. Protestler im Camp hatten sie seit dem 20. März blockiert. Nach Angaben der griechischen Verkehrsunternehmen kostete die 66-tägige Schließung rund sechs Millionen Euro. Im März hatte sich die EU mit der Türkei auf einen Flüchtlingspakt geeinigt, um den Andrang zu vermindern. Dem Abkommen zufolge droht jedem nach dem 18. März auf griechischen Inseln angekommenen Migranten die Rückführung in die Türkei, solange er sich nicht in Griechenland erfolgreich um Asyl bewirbt. Siehe Kommentar und Seite 6 I domeni, das klingt nach Idylle, nach Paradies. Auf alle Fälle exotisch. Und das war es auch gewesen: kein Flüchtlingslager, sondern ein wildes Camp im Norden Griechenlands an der Grenze zu Mazedonien. Hier lebten zu Hochzeiten des Flüchtlingsstroms fast 15.000 Menschen. Nun, wo die mehrtägige Räumung begonnen hat, gilt es Folgendes festzuhalten: Es ist gut, dass dieser Ort geräumt wird. Und es ist noch besser, dass dies ohne Gewalt und Protest vonstattengeht. Die Flüchtlingskrise hat einen gewissen Punkt ohne Rückkehr erreicht, denn die Balkanroute bleibt zu. Idomeni kann nicht mehr als Wartesaal für die Weiterreise der Flüchtlinge gelten. Sie haben gemerkt und verstanden, dass sie nicht in einem Treck des Willens weiterkommen, mit der Macht ihrer Masse, sondern dass sie sich der staatlichen Erfassung und Betreuung ergeben müssen. Idomeni wurde zur Falle und zum Schlammloch. Ergeben haben sich die Menschen insofern, als der griechische Staat hier anfänglich völlig versagte, da er sich einzig als Durchgangsland begriff und infrastrukturell nicht die nötigen, helfenden Schritte unternahm. Er ließ alles zu. Das kann man durchaus Staatsversagen nennen, wenn man sieht, was die Türkei für drei Millionen Flüchtlinge auf ihrem Territorium zu tun in der Lage ist. Idomeni klang die ganze Zeit wie ein Eldorado für Flüchtlingshelfer und Menschenrechtsaktivisten. Sie kamen und gingen, denn sie waren ja frei und hatten Pässe. An keinem anderen Ort, schon gar nicht in den großen Lagern in Jordanien oder der Türkei, haben sich in Windeseile so viele Abenteurer und globale Helfer versammelt wie hier. Das fing bei Essensausgaben an und endete bei Yogakursen für syrische Kinder. Ein neues Phänomen jenseits der gewohnten humanitären Hilfe der Großorganisationen. Hunderte auch politisch motivierte Helfer betreuten hier Flüchtlinge, was einen gewalttätigen Widerstand bei der Räumungsankündigung erwarten ließ. Zuletzt wurde nur noch von Kriminalität und Prostitution geraunt. Ach ja: Norbert Blüm und Ai Weiwei waren auch noch vorbeigekommen und hinterließen den Eindruck, alles sei großes Theater, ein Spektakel. Aber von was? Nun wird Idomeni geräumt. Ja, die Bagger kommen. Sie planieren den Boden, man räumt den Müll weg. Die Menschen, von denen man traurige Bilder hinter Busscheiben zeigt, werden in bessere Unterkünfte überall in Griechenland gebracht, man behandelt ihre Fälle. Ob sie in anderen europäischen Ländern Unterkunft finden, wird sich zeigen. Ihr Schicksal wird durch das Ende von Idomeni vielleicht nicht besser. Aber Idomeni hat ihnen auch kein Glück gebracht. [email protected] An unsere Abonnenten Am morgigen Donnerstag, 26. Mai, ist Fronleichnam. In mehreren Bundesländern ist dies ein gesetzlicher Feiertag. Dort kann die „Welt“ möglicherweise nicht zugestellt werden. Die Ausgabe wird am Folgetag nachgeliefert. In einigen Gebieten können die Abonnenten zwar am Feiertag, nicht aber am Tag danach per Zusteller beliefert werden. Die davon Betroffenen erhalten die Ausgabe vom 27. Mai per Post. Wir bitten um Ihr Verständnis. Redaktion und Verlag Kann eine Frau zu dick für Facebook sein? Australische Feministinnen werben mit Plus-Size-Model für eine Veranstaltung. Und werden gebeten, lieber Jogger oder Radfahrer zu zeigen F acebook will politisch korrekt sein. Deswegen sind nackte Brüste ein Tabu, egal, ob sie von indigenen Frauen stammen, die eben „oben ohne“ durchs Leben gehen, oder von Frauen, die auf ihr Stigma nach einer Brustkrebs-Operation aufmerksam machen wollen. ANZEIGE Superschiffe - VON BARBARA BARKHAUSEN AUS SYDNEY Tauchbasisschiff Skandi Arctic Heute um 20.05 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle Auch zu dicke oder zu dünne Menschen passen nicht in das „Gesundheit und Fitness“-Regelwerk des sozialen Netzwerks, das unter keinen Umständen „falsche Gedanken“ aufkommen lassen will, wie zum Beispiel den des extremen, für die Gesundheit schädlichen Abnehmens. Werbung auf Facebook dürfe deswegen keinesfalls „einen Gesundheitszustand oder ein Körpergewicht als perfekt oder extrem unerwünscht darstellen“. Mit dieser Begründung lehnte das Netzwerk ein Foto des PlusSize-Models Tess Holliday ab, mit dem die australische Feministengruppe Cherchez la Femme diesen Monat eine Veranstaltung zum positiven Selbstimage bewerben wollte. Die Gruppe, die eine monatliche feministische Talkshow veranstaltet, postete die Worte, mit denen Facebook das Foto ablehnte, auf ihrer Seite: „Werbung wie diese ist nicht erlaubt, da sie dem Zuschauer ein schlechtes Gefühl über sich selbst vermittelt.“ Stattdessen würde man das Foto von einer Aktivität wie Joggen oder Fahrradfahren vorschlagen. Dazu schrieben die Frauen: „Wir sind hier alle super verärgert – zum einen, da Facebook anscheinend keine Ahnung hat, dass plussized, also sich selbst als fett bezeichnende Frauen, sich trotzdem toll fühlen können, und zum anderen, da wir unseren ursprünglichen Veranstaltungshinweis so nicht extra bewerben konnten.“ Als Reaktion postete die Gruppe später das Foto einer fettleibigen Frau auf einem Fahrrad. Nachdem australische und internationale Medien über die Ablehnung des Bildes und die Cherchez-la-Femme-Veranstaltung berichteten, machte Facebook die Zensur rückgängig und schrieb diese Woche, dass das Foto nun doch den Richtlinien des Unternehmens entspreche. „Unser Team bearbeitet Millionen an Werbebildern jede Woche, und in manchen Fällen verbieten wir Werbung fälschlicherweise“, hieß es in einer Mitteilung des Unternehmens. Dies sei auch in diesem Fall passiert. „Wir entschuldigen uns für den Irrtum und haben den Werbeschaltenden mitgeteilt, dass ihre Werbung nun genehmigt ist.“ Für Cherchez la Femme hätte die öffentliche Diskussion über die für Juni geplante Veranstaltung „Feminismus und Fett“ nicht besser laufen können. Denn während einige Facebook-Nutzer den „Doppelstandard“ des Unternehmens kritisierten, schrieben andere wie Kathryn Mallow beispielsweise, dass sie dankbar für die Kontroverse seien: „Denn so habe ich euch überhaupt entdeckt.“ DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. Telefon: 030 / 2 59 10 Fax 030 / 259 17 16 06 E-Mail: [email protected] Anzeigen: 030 / 58 58 90 Fax 030 / 58 58 91 E-Mail [email protected] Kundenservice: DIE WELT, Brieffach 2440, 10867 Berlin Telefon: 0800 / 9 35 85 37 Fax: 0800 / 9 35 87 37 E-Mail [email protected] A 3,20 & / B 3,20 & / CH 5,00 CHF / CZ 95 CZK / CY 3,40 & / DK 25 DKR / E 3,20 & / I.C. 3,20 & / F 3,20 & / GB 3,00 GBP / GR 3,40 & / I 3,20 & / IRL 3,20 & / L 3,20 & / MLT 3,20 & / NL 3,20 & / P 3,20 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,20 € + © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer SE, Berlin - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.axelspringer-syndication.de/lizenzierung DW-2016-05-25-zgb-ekz- 95490b57062e6e68365f1d98922d6471 ISSN 0173-8437 120-21 ZKZ 7109
© Copyright 2024 ExpyDoc