Hier knips’ ich mich, ich kann nicht anders Ich fotografiere mich, also bin ich, ist das Motto von Milliarden. Eine Düsseldorfer Ausstellung weist auf ein verborgenes, unabsichtliches Riesen-Selfie hin. 26.09.2015, von Ursula Scheer Angela Merkel tut es und lässt Flüchtlinge Selfies mit ihr schießen. Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger feierten per Knutsch-Selfie den Gewinn der Weltmeisterschaft. Kim Kardashian setzt auf Selfies ihren Hintern in Szene. James Franco füttert mit ihnen seine Fans in sozialen Netzwerken, Papst Franziskus posiert mit Gläubigen, Barack Obama konnte sich auf der Trauerfeier für Nelson Mandela ein Selfie mit David Cameron und Helle ThorningSchmidt nicht verkneifen. Und jugendliche Internetnutzer wie John Quirke schrecken selbst vor Selfies in Auschwitz nicht zurück. Selfies sind einfach überall. Spätestens seit Ellen DeGeneres auf der Oscar-Verleihung 2014 einen Pulk Hollywoodstars zum Gruppenselfie versammelte - das geschickte Productplacement für einen Handyhersteller zwang sogar Twitter kurzzeitig in die Knie - gibt es wohl kaum jemanden, der nicht weiß, wie das heißt und geht und was man für eine Welle machen kann mit dem, was Abermillionen unentwegt tun: Selbstporträts mit dem Smartphone knipsen und sie möglichst sofort online stellen. „Ich fotografiere, ich dokumentiere - also bin ich“, konstatiert die Ausstellung „Ego Update Die Zukunft der digitalen Identität“, die im NRW-Forum Düsseldorf künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen präsentiert. Löst die massenweise Selbstinszenierung auf Armeslänge Descartes’ „Ich denke, also bin ich“, ab? Dass die ichstiftende Reflexion sich auf Benutzeroberflächen verlagert, darin will die erste kuratorische Arbeit von Alain Bieber als künstlerischem Leiter des Forums kein Krisenphänomen sehen, im Gegenteil. Bitte nicht aufbewahren! Ihr merkt man die Begeisterung dafür an, dass mit dem Selfie in der sonst von Retrowellen durchspülten Populärkultur etwas Neues entstanden ist: ein fotografisches Selbstbild, das anders ist als das, welches mit Kamerablick in den Spiegel, mit dem Selbstauslöser oder einem auf das eigene Gesicht gerichteten Fotoapparat entsteht. Zum Selfie gehört die Spiegelung im Display, die schräge Perspektive, der Arm im Bild. Es ist nicht zum Aufbewahren gedacht, sondern vor allem zum Verschicken, Posten, Kommentieren, Liken; es zeigt ein Individuum im digitalen Fluss. „Das Selfie ist das erste Kunstwerk des Netzwerkzeitalters“, schreibt der Medienphilosoph Daniel Rubinstein im Katalog zur Ausstellung, der mehr ein Reader zum Stand der Diskussion ist, und Jerry Saltz, Kunstkritiker der „New York Times“, frohlockt: „Selfies haben ihre eigene strukturelle Anatomie. Für die Kunst ist das ein riesiges Ereignis.“ Dabei ist das gemeine Selfie so wenig als Kunstwerk gedacht wie andere Amateuraufnahmen. Sie sind vielmehr banale Statusmeldungen eines Ichs mit und ohne „Duckface“, das, so lautet ein Deutungsansatz, sich medial maximal exhibitioniert. Zum Beispiel, wenn Jugendliche Nacktfotos tauschen. Pubertäres Rollenverhalten nennen Psychologen, was Minderjährige nicht nur in Amerika mit dem Gesetz in Konflikt bringen kann und Cybermobber auf den Plan ruft. Wie es als Kunstaktion umgedeutet öffentlichkeitswirksam funktioniert, führte Milo Moiré bei der Ausstellungseröffnung vor. Die Performance-Künstlerin mit der Playmate-Figur hat schon Nacktselfies mit Fremden vor dem Eiffelturm und an anderen öffentlichen Orten inszeniert, jetzt auch in Düsseldorf. Wobei sie nie ganz nackt ist, sondern stets Turnschuhe trägt, und ein Smartphone hält sie auch nicht in der Hand, sondern agiert mit Selbstauslöser. Ein Besucher im NRW-Forum zog sich gleichwohl mit aus und ließ sich hüllenlos neben ihr ablichten. Die Aktion könnte man auch als Symptom für die Selbstbezüglichkeit des Kunstbetriebs sehen. Besucher auf der Fuß-Selfie-Allee des Künstlers Erik Kessels © dpa Doch Selfies sind nicht nur ein Spaß. Jedes Jahr sterben Menschen beim Versuch, besonders originelle Aufnahmen von sich selbst auf Brücken, Treppen und Straßen zu produzieren oder sie wagen sich im Rückwärtsschritt bedenklich nah an Bären in amerikanischen Wildparks, wie das „Slate“-Magazin berichtet. Mit der Sehenswürdigkeit kehrt der SelfieFotograf auch der Gefahr den Rücken. Das kann zu Wirklichkeitsverlust führen. Schon ist von „Selfiemanie“ die Rede, als wäre das Ganze eine Psychose und geistige Gesundung noch möglich, zwei Jahre, nachdem das Oxford Dictionary „Selfie“ zum Wort des Jahres kürte und ein knappes Jahrzehnt, nachdem der Begriff mutmaßlich zum ersten Mal fiel: Ein Australier hatte sich bei einem Sturz im Suff ein Loch in die Unterlippe gebissen, dokumentierte das Desaster mit seiner Webcam und postete dazu den Text: „Tut mir leid, dass es unscharf ist, es ist ein Selfie.“ Was heute mit dem Wort gemeint ist, verdankt seinen Durchbruch dem Handy mit Frontkamera, das eigentlich der Videotelefonie auf die Sprünge helfen sollte. Stattdessen begannen vor allem junge Leute, sich selbst anzulächeln oder gemeinsam Faxen vor der Handykamera zu machen. Endlich hatte man die Kontrolle über das eigene Bild und den eigenen Gesichtsausdruck, der einem so gern entgleitet, wenn andere ein Objektiv auf einen richten. Internetfähige Selfies machen Normalbürger zu PR-Agenten in eigener Sache, sie helfen Stars, sich nahbar zu geben, und Politikern zu demonstrieren, dass sie die Menschen dort abholen, wo sie sind. Neue Gesten haben den öffentlichen Raum erobert. Mögen Museen und Disneyland auch den Selfie-Stick verbieten und Prominente bei den Filmfestspielen in Cannes gebeten werden, Selfies auf dem roten Teppich tunlichst zu unterlassen, Gegenwehr scheint zwecklos. Besser man fragt sich, was eigentlich los ist mit diesen Selfies, was sie mit uns machen und wie sie uns verändern. Oder ob überhaupt, man könnte das Ganze ja auch als technische Neuauflage von Parmigianinos Selbstporträt in einem konvexen Spiegel von 1523/24 verstehen. Anregungen zum Nachdenken gibt Biebers Ausstellung mit Werken von 23 Künstlern reichlich, weil sie mehr ist als ein fröhliches Mitmach-Panoptikum, in dem Spiegel und eine nachgebaute TED-Talk-Bühne des Hacker-Künstlers Evan Roth zur Selbstpräsentation verlocken. Zu den Leitideen der Schau gehört, dass Selfies weniger ein Selbst entblößen als eines konstruieren. Diesen Gedanken haben schon die Kuratorinnen Kyle Chayka und Marina Galperina verfolgt, als sie ihre Ausstellung „National #Selfie Portrait Gallery“ 2013 für die Moving Image Contemporary Art Fair in London zusammenstellten: Das ins Netz geschickte Handy-Selbstporträt macht uns zu Avataren im virtuellen Raum. In Düsseldorf kommentieren das fast klassisch anmutende Porträts, die Oliver Sieber von „Character Thieves“ gemacht hat, die in Kostümen ihrer liebsten Mangafiguren in ihre Alltagsumgebung festgefroren scheinen. Es sind Bilder einer verzauberten Welt, mit geflügelten Wesen zwischen Beton. Dass die erdachte Identität möglicherweise mehr mit dem wahren Charakter zu tun hat als die vom biologischen Körper bestimmte, legen Fotos von Robbie Cooper nahe. Sie stellen Videogamer ihren Spielfiguren gegenüber: Aus dem Mann im Rollstuhl wird ein Held mit übermenschlichen Kräften. Doch das sind schon Aspekte, die fort vom eigentlichen Thema führen. Näher bleiben ihm die Bilder Alison Jacksons, die Darsteller in den Rollen Prominenter beim Selfie-Knipsen posieren lässt und so Paparazzi- und Selfie-Ästhetik gleichermaßen persifliert. Wie man sich der Selfiemanie voll aussetzt und sie zugleich unterläuft, hat Amalia Ulman mit einer viermonatigen Performance auf Instagram vorgeführt, in der sie all die Posen gefälliger Weiblichkeit durchturnte, die das Netz goutiert. Arvida Byström zeigt ihr online meistkommentiertes Bild: sie selbst, ein Selfie knipsend, vermeintlich ganz in sich versunken, den Bund ihres Slips nach unten schiebend. Es heißt, die massenweise fotografische Selbstinszenierung sei Auswuchs einer narzisstischen Gesellschaft. Wenn man Kurt Caviezels wohlkomponierte Bildausschnitte betrachtet, die tatsächlich Standbilder aus den Videos Unbekannter sind, welche ihr ganzes Leben live streamen, und die nun vor uns auf dem Sofa hängen oder ihre Messer anschauen, ist man geneigt, an diese Theorie zu glauben. Es scheint kein Zufall, dass parallel zur Verbreitung von Selfies, die neben der Selbstbetrachtung immer den Imperativ ausgeben: „Schau mich an!“, das Meditieren in Mode gekommen ist. Selbstfindung mit geschlossenen Augen, sozusagen. Verborgene Abbilder unser Selbst Der Vergleich mit Narziss hinkt ohnehin. Das mythologische Inbild der Selbstverliebtheit hat sein Spiegelbild mit niemandem geteilt. Und man kann sich beim Selfie-Schießen nicht einmal in die eigenen Augen blicken, weil man dazu in die Kameraöffnung über dem Display sehen müsste. Diese optische Verschiebung freilich hindert Selfie-Reporter ebenso wenig wie Verzerrungen (zu dicke Nase, zu breites Kinn bei ungünstigem Aufnahmewinkel) daran, zuvorderst sich selbst zu zeigen, statt die Krisen und Katastrophen, über die sie vorgeblich berichten wollen - ein Aspekt, den die Ausstellung nicht berührt. Video-Livestreams vom Smartphone ins Netz und Dronies, also mit Drohnen aufgenommene Selfies, könnten dem Handyfoto ohnehin bald den Rang ablaufen und lassen selbst das Selfie aus dem 3D-Drucker wie einen müden Gag erscheinen. Wie aber das wahre Selbstporträt aussieht, das wir täglich von uns schaffen, zeigt Evan Roth mit dem raumfüllenden Ausdruck des Internet-Bildverlaufs seines Computers. Er offenbart: Selbst wer sich niemals selbst ins Bild setzt, arbeitet mit jedem Klick im Netz an einem einzigen gigantischen Selfie. Ego Update - Die Zukunft der digitalen Identität. Im NRW-Forum Düsseldorf bis zum 17. Januar 2016. Der Katalog kostet 29,95 Euro.
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