FLAIR // DOSSIER LET ME ENTERTAIN – ME! Das klassische Selbstporträt hat völlig neue Formen angenommen. Statt in Öl inszenieren wir uns zu Millionen in #selfies. Und das vor großem Publikum im Netz. Zwei aktuelle Ausstellungen hinterfragen die neue Faszination für uns selbst TEXT Siems Luckwaldt Fast schüchtern und ein wenig verloren blickt Andy Warhol 1986 ins Objektiv der Polaroidkamera, einige Zentimeter vorbei am Fokuspunkt. Die wilden Strähnen der wasserstoffblonden Perücke umrahmen sein bleiches Gesicht. Die rot geäderte Nase zeugt von ausschweifendem Nachtleben. Die Lippen des damals 58-jährigen Ausnahmekünstlers sind geschlossen, der rechte Mundwinkel zeigt leicht nach unten. Mal ehrlich: Nach heutigen Maßstäben und ohne respektlos sein zu wollen, ist „Self-Portrait with Fright Wig“, zu sehen in der Ausstellung „Ich bin hier!“ in der Kunsthalle Karlsruhe, ein echt miserables Selfie. Was Instagram-Filter und Retusche-Apps da hätten rausholen können … 42 f l a i r // J A N U A R / F E B R U A R 2 0 1 6 Auch im Düsseldorfer NRW-Forum hängt Warhol, verewigt von Fotograf Andreas Schmidt und Teil der Werkschau „Ego-Update“. Das Enfant terrible der Pop-Art steht in Alltagsklamotten vor einer Wand mit Mosaikfliesen und hält linkisch ein Ölgemälde vor den Körper. Irgendwie … #boring. Wo ist Andys coole Clique, die ihn hysterisch lachend in die Mitte nimmt? Unter Palmen, die Champagnergläser zur Kamera gereckt? So wie den ganzen Sommer lang unsere Freunde und Fremde auf Facebook. Verrückt, dass Warhol, ein begnadeter Selbstdarsteller, Ende 2015 auf uns wie ein Normalo wirkt. Zum Sofortweiterswipen. FOTOS Kunsthalle Karlsruhe, NRW-Forum Düsseldorf Andy Warhol, Selbstporträt mit Fright Wig, 1986 © 2015 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Artists Rights Society (ARS), New York © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Bildrecht, Wien, 2015 Arvida Byström: Instagram Sculptures © Arvida Byström Wenn dein Leben kein Selfie wert ist, tust du mir leid! Narzissten flüchten sich zur Kompensation häufig in eine Art Größenwahn. Das Selfie ist für sie das perfekte Werkzeug, ihr sorgfältig inszeniertes Ich der Welt zu präsentieren MC Fitti fungiert als Gesamtkunstwerk und als eine Art Botschafter für die aktuelle Ausstellung im NRW-Forum in Düsseldorf MC Fitti © murataslanbln.com „Was mit dem iPhone 4 begann, hat sich in kürzester Zeit zum Kult und zur Plage entwickelt – und einer neuen Form von Ersatzsprache“ Martin Parr: Autoportrait. Benidorm, Spain, 1997 © Collection Martin Parr / Magnum Photos Wir kennen sie fast alle: die Suche nach unserer digitalen Identität. Doppelt passend das Selbstporträt von Fotograf Martin Parr, denn pro Jahr sterben mehr Menschen bei Selfies als durch Hai-Attacken ICH KNIPSE, ALSO BIN ICH Dass sich gleichzeitig zwei deutsche Kultureinrichtungen dem Phänomen der Selfies widmen, ist kein Zufall. Denn was mit der Frontkamera des iPhone 4 (Verkaufsstart: 2010) begann, hat sich in kürzester Zeit zum Kult, zur Plage und einer Ersatzsprache entwickelt. Wie ich mich fühle? So. [Auslösergeräusch]. Das Porträt per ausgestrecktem SmartphoneArm ist mal Urlaubsgruß, mal Werbeflyer – und immer auch Psychogramm. Die Hightech-Variante der jahrhundertealten Tradition des Selbstbildnisses, bei dem Künstler sich und ihrer Rolle in der Welt näherzukommen versuchten, Pinselstrich für Pinselstrich ihre Seelenkrisen auf die Leinwand brachten. Ohne Begriffe wie „Duckface“, „Birthie“ oder „Divorcie“ auch nur zu erahnen. f l a i r // J A N U A R / F E B R U A R 2 0 1 6 ZWISCHEN SELBST SUCHE UND SELBSTSUCHT Die multimediale Gruppenausstellung „Ego Update“ in Düsseldorf konzentriert sich auf die jüngere Vergangenheit und das Hier und Jetzt unserer Suche nach digitaler Identität. Optisch auf den Punkt gebracht mit einem Selbstporträt des Starfotografen Martin Parr, das ihn im Rachen eines weißen Hais aus Holz zeigt. Aufgenommen in der spanischen Tourihölle von Benidorm und doppelt passend, denn wie die Website mashable. com addiert hat, sterben pro Jahr mehr Menschen bei Selfies als durch Hai-Attacken. Als eine Art Botschafter fungiert in Düsseldorf das Gesamtkunstwerk MC Fitti, quasi der Helge Schneider der Generation Social Media. Er ist auch in Bronze gegossen zu bewundern, das ultimative Luxus-Selfie. Kein Zufall ebenfalls, dass beide Ausstellungen in Rheinnähe stattfinden. Schließlich werden im Großraum Düsseldorf die meisten deutschen Selfies geschossen. Mit deutlichem Abstand vor München und Berlin. Etwa zehn Minuten ihres Tages verbringen jüngsten US-Umfragen nach die 18- bis 34-Jährigen mit der Aufnahme und Veröffentlichung von Selfies, rund 55 Stunden im Jahr. Mindestens 25.000 Bilder werden sie in ihrem Leben machen. Von sich. Wer mehr als zwei Freunde auf sozialen Kanälen hat, glaubt diese Zahlen, ermittelt von einer Marke für Zahnweiß, sofort. Das Projekt SelfieCity wiederum hat in fünf Weltmetro polen herausgefunden, dass mehr junge Frauen Selfies posten als Männer und dass in Bangkok am meisten, in Moskau kaum gelacht wird. „Der Moment, in dem ein Mensch sich selbst malt – er wird dies nicht mehr als zwei oder drei Mal zu Lebzeiten tun, vielleicht nie – , besitzt im Lauf der Dinge eine ganz besondere Bedeutung“, schrieb der britische Kunstkritiker Lawrence Gowing 1962. Über dieses Stadium sind wir weit hinaus. Während Promis wie Kim Kardashian und Justin Bieber uns ungefragt mit nackten Selfie-Tatsachen behelligen, ja selbst der Papst und Obama in Handykameras lächeln, tun wir es ihnen längst gleich. Der Markt für Mikro-Berühmtheiten oder micro celebrities boomt! Doch auch ohne Blog oder Instagram-Gefolge speichern wir 44 geradezu manisch Augenblicke auf Chips, statt sie zu erleben. Motto: Wenn dein Leben kein Selfie wert ist, tust du mir leid! Vorbei auch die Zeit, als man über japanische Touristen mit Selbstfoto-Fimmel lachte. Lebte Ovids selbstverliebter Sagen-Jüngling Narziss reell und heute, er würde vermutlich auf sein Handy-Display starren und murmeln: „Ich habe genug von mir!“ Derweil spannen die Kuratoren in Karlsruhe den Bogen noch weiter. „Von Rembrandt zum Selfie“, so der Untertitel der 140 Werke umfassenden Show, organisiert mit dem Musée des Beaux-Arts de Lyon und den National Galleries of Scotland in Edinburgh, führt kreuz und quer durch die Jahrhunderte. FOTOS Kunsthalle Karlsruhe, NRW-Forum Düsseldorf FLAIR // DOSSIER Wir sehen die, wie es der Katalog nennt, „frühe Selbstvergewisserung“ von Renaissance-Künstlern wie Vincenzo Campi, der sich 1580 als umgarnten Teilnehmer eines Ricotta-Festmahls darstellte. Aus dem fulminanten Barock stammt ein betrübt wirkendes Selbstporträt von Rembrandt anno 1650. Der große Holländer malte sich zur Verkaufsförderung eine Zeit lang in etlichen vorgespielten Gemütslagen. Ein ganz früher SelfiePoser also. In der sensiblen Romantik wiederum entstand das dramatisch „ausgeleuchtete“ Bildnis des Franzosen Michel Dumas, das ihn mit konzentrierter Miene und in eleganter Abendkleidung Annie Lennox / Allan Martin, Selbstporträt, 2003, Scottish National Portrait Gallery © 2013 La Lennoxa Limited Ob Maske oder Selbstentblößung, mediale Inszenierung oder „reine“ Dokumentation – jedes Porträt ist immer auch ein Psychogramm zeigt. Vor einem seiner größten Gemälde erfolge. Talking about self-promotion. Und dann die Moderne, geprägt von den Erkenntnissen eines Sigmund Freud und zuweilen schonungslos im Blick des Künstlers auf sich, vertreten durch Oskar Kokoschka und sein „Selbstporträt eines entarteten Künstlers“ von 1937. Nicht fehlen darf die furchtlos-geniale Marina Abramović mit einem Beitrag aus den 70ern, in dem sie schreiend und mit einer Haarbürste ringend den Schönheitswahn kommentiert. Von 2003 schließlich ein faszinierendes Foto von Annie Lennox, auf dem sie alterslos, ethnisch unbestimmt und geschlechtsneutral geschminkt ist. Nur eine Künstlerin vermisst man: Cindy Sherman. Dabei macht niemand das eigene, teils bis zur Unkenntlichkeit maskierte Gesicht so provokativ zum Zentrum des eigenen Schaffens wie die Amerikanerin. Sherman als Heilige, als Hure, als Clown, als Diva, als White-Trash-Mutti. Die vielleicht aufwendigsten – sicher aber als Kunstobjekt kostspieligsten – Selfies, die es gibt. IM HAMSTERRAD DES SCHÖNEN SCHEINS Dafür begeistern im NRW-Forum die Guerilla-Selfie-Stars Vitaliy Raskalov und Vadim Makhorov alias On the Roofs. Der Name ist die Message: Die zwei fotografieren sich am liebsten am Rand des (Wolkenkratzer-)Abgrunds. Aus Winkeln, bei denen Betrachtern der Magen flau wird. Was das Duo professionell betreibt, führt unter waghalsigen Selfie-Laien zu mehr und mehr Unfällen, vor allem in Russland. Sie fallen von Brücken und fahrenden Zügen, erschießen sich versehentlich bei Pistolen-Posen. Im Disneyland, vielen Museen und beim Musikfestival Coachella sind die berüchtigten Selfie-Stangen als Gefahrenquelle bereits verbannt. Und noch zwei WEBTIPPS: DIE SEITE VON ESSENA O’NEILL: LETSBEGAMECHANGERS.COM UND INSTAGRAM.COM/ ESSENAONEIL (DERZEIT „PRIVAT“) SIND SIE EIN NARZISST? DIE ANTWORT – NACH 40 MULTIPLE-CHOICE-FRAGEN AUF PSYCHCENTRAL.COM/QUIZZES/ NARCISSISTIC.HTM DAS PROJEKT SELFIECITY LIEFERT SPANNENDE DATEN ZU SELFIES AUS BERLIN, BANGKOK, SÃO PAULO, MOSKAU UND NEW YORK: SELFIECITY.NET BUCHTIPPS: „I HATE MYSELFIE“ VON YOUTUBESTAR SHANE DAWSON Marina Abramović: Art must be Beautiful, Artist must be Beautiful, 1975, ZKM | Zentrum fur Kunst und Medientechnologie © VG Bild-Kunst, Bonn 2015, © Bildrecht, Wien, 2015 Nicht fehlen darf Marina Abramović, die in ihrem Video mit einer Haarbürste kämpft (oben). Vermissen wird man in der Ausstellung Selbstinszenierungskönigin Cindy Sherman (unten) Cindy Sherman: Untitled 315, 1995 © Courtesy of the artist and Metro Pictures New York Arvida Byström: Instagram Sculptures © Arvida Byström Die beiden russischen Guerilla-Selfiestars von On The Roofs gehen buchstäblich durch die Decke und fotografieren sich vorzugsweise am Rande des Abgrunds (unten) OnTheRoofs: Hong Kong © Vitaliy Raskalov & Vadim Makhorov alias OnTheRoofs „WEIBLICHER NARZISSMUS: DER HUNGER NACH ANERKENNUNG“ VON DR. BÄRBEL WARDETZKI „ALONE TOGETHER: WHY WE EXPECT MORE FROM TECHNOLOGY AND LESS FROM EACH OTHER“ von Sherry Turkle AUSSTELLUNGEN: „ICH BIN HIER! VON REMBRANDT ZUM SELFIE“, KUNSTHALLE KARLSRUHE, BIS 31. 1. 2016 KUNSTHALLE-KARLSRUHE.DE/DE/ AUSSTELLUNGEN/ICH-BIN-HIER.HTML UND WWW.I-AM-HERE.EU „EGO-UPDATE: DIE ZUKUNFT DER DIGITALEN IDENTITÄT“, NRW-FORUM DÜSSELDORF, NOCH BIS 17. 1. 2016 WWW.NRW-FORUM.DE/ AUSSTELLUNGEN/EGO-UPDATE 46 f l a i r // J A N U A R / F E B R U A R 2 0 1 6 Zahlen beweisen, dass wir über Selfies reden und sie nicht nur künstlerisch entschlüsseln müssen: 20 Prozent der Briten haben bereits am Steuer Selfies geknipst, 47 Prozent finden Selfies während (!) der Geburt okay. Sie presst, er grinst. Daumen hoch, Herzchen, geteilt. Die derzeit heiß diskutierte Frage zum Selfie-Phänomen aber ist: Werden wir durch die Millionen von Bildern zum Thema „Me, Myself & I“ zu Narzissten? „Narzissmus ist zunächst ein Persönlichkeitsmerkmal, das viele Menschen in unterschiedlich starker Ausprägung besitzen. Ihnen fehlt, einfach ausgedrückt, die Fähigkeit zum Mitgefühl“, erläutert Dr. Stefan Röpke, Leiter des Bereichs Persönlichkeitsstörungen an der Berliner Charité. Auch physisch, das legen erste Studien von Röpke und seinem Team nahe, könnten sich Narzissten von anderen unterscheiden: Eine Region der Großhirnrinde, zuständig für Empathie, erscheint in Kernspinaufnahmen bei ihnen „dünner“, also weniger empfänglich für Signale. Die Münchner Psychologin und Buchautorin Dr. Bärbel Wardetzki beschreibt Narzissten so: „Sie sind meist intelligent, witzig, können sich bestens verkaufen. Eigentlich jedoch plagt sie hinter dieser Fassade ein mangelndes Selbstwertgefühl und eine zu schwach ausgeprägte Identität. Zur Kompensation flüchten sie sich in eine Art Größenwahn.“ Familie, Freunde und FOTOS Kunsthalle Karlsruhe, NRW-Forum Düsseldorf, me Collectors Room Berlin / Stiftung Olbricht (Die Ausstellung „Cindy Sherman – Works from the Olbricht Collection“ ist noch bis 10. 04. 2016 zu sehen), Amazon (Die Dokumentation „Marina Abramović: The Artist Is Present“ ist bei Amazon.de erhältlich.) FLAIR // DOSSIER Selfie von Karolína Kurková für die Serie „Autoportraits“ des Fotografen Jonas Unger – fünf Jahre vor dem großen Boom sollte uns aber ein eventueller Anstieg von narzisstischen Tendenzen nicht überraschen“, fügt Stefan Röpke von der Charité hinzu. ESCAPE FROM SELFIE-NATION EGO UPDATE Unger Jonas Karolína Kurková 2010 – heute Copyright Jonas Unger Unten: In ihrer Online-Ausstellung „Excellences & Perfections“ (2014) spielte Medienkünstlerin Amalia Ulman mit fiktiven Selbstinszenierungen MC Fitti Selfiegott ©WeOwnYou Talk about self promotion: MC Fitti aus Bronze in Berlin (oben). Auch kein großer Unterschied zu heutigen Selfies ist Vincenzo Campis Selbstporträt mit Freunden beim Essen (unten) Amalia Ulman: Excellences and Perfections (2014) © Amalia Ulman Vincenzo Campi: Die Ricotta-Esser, 1580 © Lyon MBA – Foto Alain Basset Kollegen würden dabei zu bloßen Werkzeugen, zu Komparsen ihrer Ego-Show, denn Narzissten seien vor allem eines: beziehungsunfähig. Das Selfie, bestätigen beide Experten, ist für Narzissten das perfekte Mittel, um ihr sorgfältig inszeniertes Ich mit der Welt zu teilen: auf der schnellsten Jacht, im teuersten Hotel, im aufreizendsten Kleid, auf dem höchsten Gipfel. Solche Höhepunkte nur zu erleben, reicht ihnen nicht, erst durch den Applaus eines Publikums wird das Erreichte für sie wahr, fühlen sie sich für kurze Augenblicke wertvoll. „Verlieren diese Menschen nun aber den tollen Job, werden sie älter und sind nicht mehr schön und schlank oder verlieren sie den Traumpartner, dann wackelt der Sockel ihrer Psyche ganz gewaltig“, warnt Bärbel Wardetzki. Ein höllischer Druck, der oft zu Begleiterkrankungen wie Essstörungen, Süchten und Burn-out führe, sagt Stefan Röpke. Nicht jedes mit Freunden geteilte Selbstbildchen ist jedoch gleich ein Narzissmus-Symptom, stellt Bärbel Wardetzki klar. Erst wenn es „ohne“ beklatschte Posen nicht mehr geht, sei eine Grenze überschritten. Die Frage, ob Selfies und Social Media einen Narzissmus auslösen, ähnelt somit der Frage, ob Drogen zur Sucht führen. Die Anlage und Lebensumstände muss ein Mensch mitbringen, dann aber sind, plakativ ausgedrückt, Selfies wie Crack. „In einer Gesellschaft, die uns als Ziel verkauft: ‚Mach das Maximum aus dir‘, Befürworter sehen im Selfie dagegen ein subversives Werkzeug der feministischen Bewegung. Dann etwa, wenn Mädchen und Frauen mit sogenannten „uglies“ von sich gegen den Schönheits-Main stream rebellieren. Und der Schauspieler und erklärte Selfie-Fan James Franco argumentierte in der New York Times sogar, Selfies seien aufschlussreicher als Fotojournalismus. Eine gewagte These, nach der die Welt tierisch gut drauf sein müsste. Das zumindest legen die meisten Selfies nahe, von denen ungefähr 50 Prozent bearbeitet, also aufgehübscht sind. Dass wir dank digitaler Schnappschüsse mehr über einander erfahren, bezweifeln Wissenschaftler. Darunter die renommierte Soziologin Sherry Turkle vom Massachusetts Institute of Technology in ihrem neuen Buch „Alone Together“. Wir würden bloß das Best-of kennen, seien lediglich besorgt, „wie wir in den Augen der anderen wirken. Und wie das Lebensarchiv einmal aussehen wird“. Wer nun an sich narzisstische Züge beobachtet oder aus dem Selfie-Hamsterrad aussteigen will, dem rät Bärbel Wardetzki statt radikalem Verteufeln lieber zur behutsamen Abstinenz. „Eine Woche nichts posten oder konsumieren und spüren, was in einem passiert. Fragen Sie sich, wie es um Ihre echten Beziehungen steht, nicht die virtuellen. Und auch, ob Sie noch nach ihren Wünschen handeln oder automatisch Dinge tun, die sie von ihrem Wesenskern wegführen.“ Genau das erkannte kürzlich das erfolgreiche australische Instagram-Model Essena O’Neill, das von Mode- und Kosmetikmarken bis zu 1.400 Dollar für seine fröhlichen Selbstporträts bekam. Bis Essena über Nacht fast alle löschte oder mit erklärenden Texten versah. Eine Scheinwelt habe sie ihren Fans vorgelebt, erschaffen aus geliehener Garderobe, professioneller Retusche und bis zu 100 Versuchen für ein Foto. Über ihre Selfie-Detoxkur sagte Essena in Interviews: „Ich höre wieder mehr zu, bin weniger gestresst und unter Druck. Dafür kreativer und glücklicher. Ich fühle wieder mehr!“
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