LesArt.Preis 2015 - Gewinnertext „Spektralfarben“ von Tobias Kreutzer Spektralfarben Nach zwei Bier in der bis zum Abend angestauten Mittagshitze die leeren Dosen als Pfosten aufgestellt und den Park zum rot glühenden Bernabéu gemacht. Der Ball ist schneller, die Sonne sinkt, irgendwann rauscht das Ding irgendwo hin, wo keiner mehr folgt. Es ist Freitag, morgen ist Samstag, der Sonntag zählt schon nicht mehr. Er riecht nach Schule und Kater und Tagesschau. Der Freitag aber riecht nach Ozon, Gras und warmem Dosenbier. Und das ist erst der Geruch. Wir sitzen auf dieser Bank, die Augen halb geschlossen. Irgendjemand hat diese Käsebällchen mitgebracht, die nach Füßen riechen und nach dem scheiß Paradies schmecken. Bei Tageslicht und unter freiem Himmel betrunken sein ist um ein Vielfaches schöner als in einem Club, einem miefigen Keller oder einer Kneipe. Es ist ruhig, es ist warm … Obwohl, wir waren auch schon mal im Winter auf dieser Bank am skelettartigen Klettergerüst inmitten von zu Platten aus Eis gefrorenem Sand. Da wo kein Kind spielt, auch im Sommer nicht, haben wir Korn getrunken und Wodka mit Kamillentee. Es ist nicht so, als hätten wir keine beheizte Trinklocation finden können. Aber irgendwie hatten wir das Abgefuckte überästhetisiert und kamen uns recht geil dabei vor, davon zu erzählen. Feuer im Wald bei Minusgraden und Hochprozentigem – aber ich schweife ab. Die Bank steht auch jetzt im Zentrum. Die Bank steht dort immer. Bei drei Grad unter Null oder 25 Grad, natürlich darüber, aber so was muss man nicht dazu sagen. Die Bank stand im Zentrum, als die Fußball-WM vor sechs Wochen in den Zentren unser aller Leben stand. Da haben wir hier vorgetrunken mit ein bis drei Pennerbomben, diese Fünfliterfässer, das Pendant zum Dosenbier. Billiger, irgendwie ekliger und durch den Pfand, den man ja doch nie zurückkriegt, weil niemand seinen Kram jemals mit nach Hause nimmt, eigentlich wieder auf einer Preishöhe mit dem Glaskumpanen. Vorgetrunken. Für ein Fußballspiel im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen. Wie cool ist das denn bitte? Schweife ich etwa schon wieder ab? Hier gibt es grad nicht so viel zu erzählen, deshalb erzählt auch niemand was. Die Laternen sind soeben angegangen. Eigentlich richten die sich ja nach dem verbliebenen Tageslicht, aber in diesen Spätsommernächten, die gar nicht so richtig dunkel werden wollen, müssen sie schätzungsweise wohl irgendwann angehen. Vielleicht um die Mücken anzulocken. Wir sind irgendwie fertig. Fertig von fünf Tagen Schule und einem Gramm Marihuana. Komisch. Eigentlich stürzen fast alle immer Freitag ab. Es ist, als würde sich die ganze Woche über eine Spannung aufbauen, die an Freitagabenden den Deckel an die Decke schleudert wie bei einem defekten Druckkochtopf. Diesmal nicht. Mir müssen kurz die Augen zugefallen sein und als ich sie wieder öffne stehen da drei Typen. Dann ist plötzlich alles ein bisschen Clockwork Orange ohne Stil und ohne Beethoven. Ich bin der Obdachlose und vor mir stehen die Droogs. Hatte ich nicht eben noch Freunde? LesArt.Preis 2015 - Gewinnertext „Spektralfarben“ von Tobias Kreutzer - 1/3 Der erste Faustschlag streift den jungen Mann nur, der von der ganzen Situation ein bisschen überrumpelt scheint. Der zweite sitzt dafür ganz ordentlich und reißt seinen Kopf um 45 Grad zur rechten Seite, wo ein Hundeherrchen eilig seines Weges geht – so eilig wie man halt gehen kann wenn man noch nicht rennen will. Hast du Kippen? Das ist doch eigentlich die Alibifrage BEVOR man zuschlägt, denke ich mir. Nein. Antworte ich, rolle mich mit einem Jackie-Chan-würdigen Stunt rückwärts über die Lehne der Bank, federe meinen Fall mit den Handflächen ab, stoße mich vom sandigen Boden hoch und renne. Die rennen auch, aber Jogginghosen, zumindest in ihrer dickstoffigen Freizeitvariante, sind heutzutage ironischerweise nicht mehr sonderlich gut zum Rennen geeignet. Ich nenne das das Bermuda-Paradoxon. Es beschreibt eine Entwicklung, in deren Zuge sich ein Gegenstand immer weiter von seiner ursprünglich anvisierten und vielfach nahezu perfektionierten reinen Funktionalität entfremdet um cooler zu werden, bis am Ende nur noch der Name dieses Gegenstandes an seinen Ursprungszweck erinnert. Enge Badehosen werden jetzt nur noch Bermuda-Dreiecke genannt, in Anlehnung an das karibische Seegebiet, das selbst die größten Schiffe und Flugzeuge verschwinden lässt. Sprechen wir jetzt von Badehosen, dann meinen wir Shorts mit eingenähten Netzen, die sich im Wasser aufplustern und ein schnelles Schwimmen unmöglich machen. Als ich stehenbleibe fühle ich mich wieder komplett nüchtern. Geld, Schlüssel, Handy – alles noch da. Gut, den alten Knochen hätten sie auch haben können. Aber sie wollten ja nur Kippen. Und ehrlich, um Snake 2 wäre es doch schade gewesen. Außerdem zeigt es mir jetzt die Uhrzeit, die sich als einfach zu früh herausstellt um einen Freitagabend zu beenden. Die meisten Leute die ich kenne trinken auch nach dem Kotzen noch weiter. Da kann ich nach eineinhalb Faustschlägen ja schlecht die Segel streichen. Faustschlag ist ein ganz gutes Stichwort für das, wonach sich mein Kopf am nächsten Morgen anfühlt. Es ist 11 Uhr 50 und zu heiß zum Schlafen. Ich checke meine Wertsachen auf dem Tisch. Geld, Handy – wo ist der Schlüssel? Wie bin ich ohne Schlüssel ins Haus gekommen? Ok Watson, das hier ist nicht dein Haus. Der Schlüssel fehlt trotzdem. Nachdem ich den Schlüssel im Vorgarten meiner Nachtstätte gefunden hatte, die sich bei näherer Betrachtung als übers Wochenende verlassenes Elternhaus von Micha herausstellte, wurde es eigentlich noch ein ziemlich guter Tag. Es kam mir aus irgendeinem Grund auch nicht komisch vor, dass ich noch nie in seinem Haus gewesen war. Es gibt Veranstalter und es gibt Gäste. Micha war eigentlich, wie auch ich, ein klassischer Gast. Immer dabei, nie bei sich. Für mich hatte er halt mal eine Ausnahme gemacht. Wir haben uns dann völlig verkatert im Supermarkt unseres Vertrauens Bockwürste und Chips und Radler gekauft, den Bootsschuppen des örtlichen Segelvereins aufgehebelt und das einzige Wassergefährt, das man ohne jegliche Fertigkeiten fortbewegen kann, nennen wir es "geborgt". Die Congas in "Sympathy For The Devil" LesArt.Preis 2015 - Gewinnertext „Spektralfarben“ von Tobias Kreutzer - 2/3 waren die Vortrommler unserer kleinen Tretgaleere, scheußlich schepperten sie aus den winzigen Lautsprechern meines Nokias. In der Mitte des Sees lehnten wir uns zurück und genossen die Stille. I watched with glee / While your kings and queens / Fought for ten decades / For the gods they made Dieses abgehackte Gitarrensolo fand ich aber immer schon kacke. Wer waren eigentlich diese Typen, von denen du gestern kassiert hast? Ich tastete kurz über meine Wange. Ein kleiner Schmerz, schon so verblasst wie der Rest der Nacht. Auch nicht schlimmer als der Muskelkater, den ich manchmal vom Saufen habe. Keine Ahnung. Die wollten einfach Stress. Verstehe. Was geht eigentlich heute Abend? Warum machst du nicht was bei dir? Hast doch sturmfrei. Ja, aber ich hab keinen Bock auf den Stress. Wie gesagt, ein klassischer Gast, der Micha. Tatsächlich lief später "Fear And Loathing In Las Vegas" unter dem deutschen Titel "Angst und Schrecken in Las Vegas" auf fucking Arte – was uns Anlass genug war, ihn zum siebenundzwanzigsten Mal zu sehen. Arte - Kunst und Kultur, Frankreich, schnurbärtige Malerschwuchteln mit schief sitzenden Mützen - Arte zeigt unseren Drogenfilm Nummer eins! Aber eigentlich ging es glaube ich nicht um das bisschen Gras. Es ging um das, was wir alle gerne gewesen wären: Ein bisschen mehr Hunter S. Thompson, ein bisschen cooler, ein bisschen getriebener, ein bisschen abgefuckter, ein bisschen genialer, ein bisschen destruktiver. Und das ist es, was wir waren: Für den Rapsong zu wenig extrem, für das Elternhaus zu asozial, halb Stadt, halb Land, vor der Zukunft zu viel Angst und in einem einfach zu unverrückbar bequemen Hier und Jetzt. LesArt.Preis 2015 - Gewinnertext „Spektralfarben“ von Tobias Kreutzer - 3/3
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