Henriette Dushe IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL

Henriette Dushe
IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL
Eine Bühnenelegie für drei Spielerinnen und
einen Männerchor von drei Stimmen
IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL entstand von 2011 bis 2012 im Rahmen des Lehrgangs FORUM
TEXT vom Verein uniT an der Karl- Franzens -Universität in Graz. Die Autorin dankt den dortigen
Kolleginnen und Kollegen herzlichst für alles Lob und jeden Tadel, allen voran ganz besonders gedankt sei
Oliver Bukowski: Ohne dich wahrscheinlich keine Konkretion.
(c) henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2013. Als unverkäufliches Manuskript
vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der
Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und
Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder
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„Als nun aber auch jener den Himmlischen allen verhasst ward/
Irrte er einsam umher, das Herz in Kummer verzehrend/
Durch die Aleische Flur und er mied die Pfade der Menschen.“
Homer
FIGUREN
Drei Frauen.
Die eine jung (Junge), die andere ist es schon lange nicht mehr (Wedernoch),
die dritte alt und noch viel älter (Alte).
Ein Männerchor von drei Stimmen: Mann 1, Mann 2, Mann 3.
Der Birkenwald. Der Nebel. Dazwischen wild verwahrloste Wiesen, fast bis zu den Knien
steht das Gras. Der Männerchor im Brautkleid, ein wenig später dann die drei Frauen im
Ronald Mac Donald Kostüm.
Mann 1
Es passierte an einem Dienstag, an einem Dienstag Anfang
Februar, oder vielleicht
Vielleicht war es auch ein Mittwoch?
Mann 2
Ja/
Mann 3
Ja/
Alle Männer
Ja, ganz bestimmt/
Mann 1
Entschuldigung, es
Es ist ein Mittwoch gewesen, ein Mittwoch Anfang Februar, aber ob
Dienstag oder Mittwoch, das tut eigentlich überhaupt nichts zur
Sache, ich
Mann 2
(…)
Mann 3
(…)
Mann 1
In der Mittagspause bin ich los gefahren, ich
Hatte den Wagen genommen, wollte zu einem Supermarkt fahren,
um Glühbirnen kaufen, viele Glühbirnen, bei mir zu Hause waren
alle Lichter ausgegangen, eines nach dem anderen, wie das nun
mal
Immer so ist, „wenn die Leiden kommen, so kommen sie wie einzle
Späher nicht“i, wenn heute die Waschmaschine leckt, dann wird
morgen auch der Kühlschrank brummen und der Fön in absehbarer
Zeit den Geist aufgeben, die Gastherme wird dumpfe Geräusche
von sich geben und das Küchenfenster wird sich bald nicht mehr
richtig schließen lassen
Mann 2
(…)
Mann 1
Wer weiß, für was man da abgestraft wird, und von wem
eigentlich, ist`s der Herrgott, der einen da so an der Kandare oder
ist es nur eine Reihung unglückseliger Zufälle oder
Mann 3
(…)
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Mann 1
Ich bin also mit dem Wagen los, wegen der Glühbirnen, ich hatte ja
nur diese halbe Stunde, maximal, wenn nichts dazwischen kommt,
dann habe ich am Mittag immer etwa eine halbe Stunde, aber dann
Stand ich da, im Stau, da war ein
Wahnsinnsstau, mittags kurz nach 12, Scheiße, dachte ich noch,
Scheiße, das wird knapp, vor mir, da
Da tanzten die Bremslichter unendlich vieler Autos, dieses rote
Licht, das war
Das erinnerte mich irgendwie an die Augen eines Teufels, das
klingt ein wenig
Mann 2
(…)
Mann 1
Bescheuert, ich weiß, ich
Ich
Mann 3
(…)
Mann 2
Das war an einem verregneten Samstag in einem eigentlich ganz
schönen Oktober, ich wollte die Kinder zu anderen Kindern, zu
einem Geburtstag wollte ich sie bringen, zu einem
Kindergeburtstag/
Mann 1
Es muss die Müdigkeit gewesen sein/
Mann 2
Wir waren etwas spät dran, hatten den Vormittag mit was weiß ich
was vertrödelt, ich rief also nach den Kindern, trieb sie zur Eile an,
ich stand schon unten im Flur, Jacke und
Kindergeburtstagsgeschenk in der einen, das Altglas in der
anderen, Kinder, rief ich, Kinder, kommt ihr?/
Mann 1
Und dann war ich weg, einfach
Weg/
Mann 3
Es war ein Montag. Ein Montag Mitte August, ich weiß das ganz
genau.
Mann 2
Die Kinder kamen aber nicht. Ließen sich Zeit/
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Mann 3
Ich weiß das deshalb so genau, weil das der erste Arbeitstag nach
meinem Urlaub gewesen ist. Gewesen wäre, muss man
korrekterweise sagen/
Mann 1
Ausgerechnet ein Mercedes.
Mann 3
Der war gar nicht so schön gewesen, der Urlaub, also schon schön,
schöner als kein Urlaub, ist ja klar, aber eben nicht so schön wie
sonst, ich war ein bisschen/
Mann 1
Ein ziemlich neuer dicker silberfarbener Scheiß Mercedes Benz/
Mann 3
Ein bisschen
Anders, ein bisschen, ich
Weiß nicht genau/
Mann 2
Na kommt schon, Kinder, los jetzt, wir sind spät dran!/
Mann 1
Fuck/
Mann 2
Sehr spät sogar/
Mann 3
Lethargisch vielleicht? Oder/
Mann 1
Fuck, Fuck, Fuck/
Mann 3
Oder ein bisschen/
Mann 2
Wir sind sozusagen viel zu spät dran/
Mann 1
Was für ein Aufprall/
Mann 3
Ein bisschen traurig vielleicht/
Mann 2
Also los jetzt, verdammt/
Mann 1
Ich dachte wirklich: Jetzt ist es vorbei/
Mann 3
Nein, traurig nicht. Eher müde, so unendlich, so/
Mann 1
Ein paar Prellungen im Schulterbereich/
Mann 3
Bodenlos müde/
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Mann 1
Und ein riesiger blauer Fleck mitten auf meiner Stirn, da bin ich
mit dem Kopf direkt auf das Lenkrad/
Mann 2
Kinder, verdammt noch mal, warum kommt ihr denn nicht?
Mann 1
Nichts Ernstes. Auf den ersten Blick/
Mann 3
Ich stand vor der Tür zu meinem Büro, hatte die Hand schon auf
der Klinke und den Schlüssel
Schon im Schloss, ich/
Mann 2
Hallo?/
Mann 3
Konnte die Telefone hinter der Tür und
Das Klappern der Absätze einer Kollegin/
Mann 2
Hallo?/
Mann 3
Es ging einfach nicht/
Mann 2
Hallo!/
Mann 3
Ich konnte da nicht reingehen, ich
Konnte den Fuß nicht über die Schwelle bringen, das ist kein Witz,
ich habe es probiert, mehrmals, mit den Händen habe ich meinen
rechten Oberschenkel umfasst, ich habe
Versucht
Mich selbst zu stoßen, mich darüber zu zerren, über die Schwelle/
Mann 1
Ich dachte mir, dass es wohl besser sei, ich bliebe einen Tag zu
Hause, nach so einem Unfall, ich dachte, ich müsste mich vielleicht
mal wieder richtig ausschlafen, mich ein bisschen hinlegen und
ausruhen/
Mann 2
Ich zähle jetzt bis drei, wenn ihr dann nicht da seid, dann fahren
wir eben nicht, okay? /
Mann 3
Mir war plötzlich ganz schwindelig, die Hände klitschnass, mein
Herz raste, der Schmerz kam von hier oben oder von hier/
Mann 2
Okay?/
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Mann 3
Ich konnte es nicht exakt lokalisieren, auf einmal der Wunsch,
mich zu erbrechen, ein Pfeifen im linken Ohr/
Mann 2
Okay?/
Mann 3
Ich brauche eine Toilette, sofort/
Mann 2
Ich meine das wirklich ernst/
Mann 1
Das habe ich dann auch gemacht. Ich bin zu Hause geblieben und
habe mich ausgeruht, habe versucht, richtig tief und erholsam zu
schlafen/
Mann 2
Also, ich zähle jetzt!/
Mann 1
Nur wurde das am nächsten Tag nicht besser/
Mann 2
Eins/
Mann 3
Du musst atmen, dachte ich, ganz ruhig atmen, zählen vielleicht,
zählen hilft/
Mann 1
Das wurde überhaupt gar kein bisschen besser/
Mann 3
Du musst ganz ruhig zählen/
Mann 1
Es wurde schlimmer/
Mann 2
Zwei/
Mann 1
Sehr viel schlimmer, da, da ist/
Mann 3
Zählen half aber nicht/
Mann 1
Da ist dieser eiserne Helm über meinem Kopf, ein/
Mann 3
Ein tickendes Uhrwerk unter meiner Stirn/
Mann 1 & 3
Lässt sich nicht verrücken der Helm, und das Uhrwerk, oder
einfach/
Mann 2
Zweieinviertel/
Mann 1 & 3
Einfach so abnehmen/
Mann 3
Mein Atem stinkt/
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Mann 2
Zweieinhalb/
Mann 3
Und auch der Urin riecht übel/
Mann 1 & 3
Irgendwas ist da mit meinem Gesicht, das Gesicht/
Mann 2
Zweidreiviertel/
Mann 1 & 3
Das Gesicht löst sich/
Mann 1
Ganz langsam/
Mann 3
Im Spiegel auf/
Mann 1 & 3
Atemnot/
Mann 2
Drei!
Ganz langsam schälen sich die drei Frauen aus dem dünner
werdenden Nebel des Birkenwaldes.
Alle Männer
Die Kinder kamen die Treppe herab.
Mann 2
Drei Stück waren es insgesamt.
Alle Männer
Drei Kinder kamen die Treppe herab.
Mann 2
Und ich, ich
Mann 1
(…)
Mann 3
(…)
Mann 2
(…)
Alle Männer
Da standen sie. Die Kinder.
Mann 2
Da stehen sie, ja, und ich, ich/
Mann 3
Ich/
Mann 1
Ich/
Alle Männer
(…)
Mann 2
Was ist nur los mit mir?
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Alle Männer
Er erkannte sie nicht. Die Kinder.
Mann 2
Ich erkannte die Kinder nicht, nein.
Alle Männer
Die eigenen Kinder.
Mann 2
Meine eigenen
Kinder, ich
Alle Männer
(…)
Mann 2
Ich kannte diese Kinder nicht.
Alle Frauen
singen sacht und zart und leise
Du hast ja ein Ziel vor den Augen,
damit du in der Welt dich nicht irrst,
damit du weißt, was du machen sollst,
damit du einmal besser leben wirst.ii
Alle Männer
Uns wird ganz schwindelig, alles dreht sich, wir
Fallen, ja, wir
Fallen, Hilfe, bitte, Hilfe, wir‚
Wir gingen zu Boden.
Alle Frauen
singen zunehmend weniger sacht und zart und leise
Denn die Welt braucht dich, genau wie du sie,
die Welt mag ohne dich nicht sein.
Das Leben ist eine schöne Melodie,
Kamerad, Kamerad, stimm ein!iii
Alle Männer
Von da an ging`s bergab. Ich vergaß meine Kontonummer, den
Geburtstag meines Vaters und wie man Spaghetti kocht. Ich lief
verzweifelt die Straßen auf und ab, schrie vor Schmerz, brach zu
jeder Zeit und an jedem Ort in Tränen aus und stöhnte aus
innerstem Herzen, ich
Weinte wirklich viel in dieser Zeit, ich weinte und weinte, und
manchmal
Wütete ich auch, wie ein
Unbeteiligter Zuschauer sah ich zu, wie sich meine Existenz Stück
für Stück aufzulösen begann, ich hatte das Gefühl, dass meine
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Angelegenheiten nicht mehr von mir durchlebt werden wollten,
innerhalb von zwei Jahren verlor ich alles/
Mann 3
Das Ersparte/
Mann 1
Das Haus/
Mann 3
Den Wagen/
Mann 2
Das Sorgerecht für die Kinder/
Alle Männer
Wir gingen zum Arzt.
Alle Frauen
(…)
Alle Männer
Herr Doktor, Herr Doktor, uns
Uns geht es nicht gut.
Alle Frauen
Ach ja?
Alle Männer
Uns geht es wirklich gar nicht gut
Alle Frauen
Oh.
Alle Männer
Ja, uns
Uns geht es schlecht.
Alle Frauen
Kasse oder privat?
Alle Männer
Wie bitte?
Alle Frauen
Ob Sie privat versichert sind.
Alle Männer
Bitte, Herr Doktor, uns
Uns geht es wirklich sehr schlecht.
Alle Frauen
Da ist aber nichts.
Alle Männer
Gar nichts?
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Alle Frauen
Nein
Nein, da ist
Nichts.
Alle Männer
(…)
Alle Frauen
Da ist wirklich überhaupt gar nichts, was auf medizinischen
Apparaten zu vermessen wäre.
Alle Männer
(…)
Alle Frauen
Sie sind vollkommen gesund.
Alle Männer
Oh.
Alle Frauen
Ja.
Alle Männer
Oh.
Alle Frauen
Ja.
Okay?
Alle Männer
(…)
Alle Frauen
Okay?
Alle Männer
Okay.
Alle Frauen
singen jetzt kräftig und stark
Und hast du dich einmal entschlossen,
dann darfst du nicht mehr rückwärts geh` n
Dann musst du deinen Genossen
als Fahne vor dem Herzen steh` n.
Denn sie brauchen dich genau wie du sie,
du bist Quelle und sie schöpfen aus dir Kraft.
Darum geh voran und erquicke sie,
Kamerad, dann wird's geschafft.
Alle Männer
übernehmen das Lied der Frauen und singen es allein weiter
Allen die Welt und jedem die Sonne,
fröhliche Herzen, strahlender Blick.
Fassen die Hände Hammer und Spaten,
wir sind Soldaten, kämpfen für' s Glück….iv
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