Quellenblatt 4

RÖMISCHE RECHTSGESCHICH TE
WINTERSEMESTER 2015/16
PROF. DR . JOHANNES PLATSC HEK
3.11.2015
Prätorische Rechtsfortbildung
1. Ausweitung von Klagen des ius civile auf Nichtrömer
Gai. 4,37
Ferner wird das römische Bürgerrecht für einen Nichtrömer fingiert, wenn er wegen etwas klagt
oder gegen ihn geklagt wird, wofür von unseren Gesetzen eine Klage vorgesehen ist, wenn es nur
gerecht ist, diese Klage auch auf den Nichtrömer auszudehnen.
Wenn zum Beispiel ein Nichtrömer wegen Diebstahls klagt oder gegen ihn geklagt wird, wird in
der Formel das Klagebegehren derart gestaltet, als wäre er <teilhaftig?> der (gesetzlich)
vorgesehenen Klage, indem man für ihn das römische Bürgerrecht fingiert: WAS DAS BETRIFFT,
DASS EIN DIEBSTAHL BEGANGEN WORDEN IST AN EINER SILBERNEN SCHALE VON
NUMERIUS NEGIDIUS, WORUM ES HIER GEHT, WESHALB ER, WENN ER RÖMISCHER BÜRGER
WÄRE, ALS DIEB DEN SCHADEN ABGELTEN MÜSSTE, und so weiter; ebenso wird, wenn ein
Nichtrömer wegen Diebstahls klagt, zu seinen Gunsten das römische Bürgerrecht fingiert.
Cic. Verr. 2,2,31
Iudicia eius modi: Qui cives Romani erant, SI SICVLI ESSENT, TVM SI EORVM LEGIBVS DARI
OPORTERET; qui Siculi, SI CIVES ROMANI ESSENT ...
Derartige Prozessformeln (erteilte Verres als Proprätor von Sizilien): 'WENN SIE - die römische
Bürger waren - SIZILIER WÄREN, WENN DANN NACH DEREN GESETZEN GEGEBEN WERDEN
MÜSSTE ...'; (oder:) 'WENN SIE - Sizilier - RÖMISCHE BÜRGER WÄREN ...
2. Prätorisches Erbrecht (bonorum possessio)
Gai. 4,34
Wir haben auch noch Fiktionen einer anderen Art in bestimmten Formeln, zum Beispiel, wenn
derjenige, der aufgrund des Edikts den Erbschaftsbesitz (bonorum possessio) beantragt hat, mit
der Fiktion klagt, er sei Erbe. Denn weil er nach prätorischem Recht, nicht nach Gesetzesrecht, in
die Stellung des Verstorbenen nachrückt, hat er nicht die direkten Klagen und kann weder geltend
machen, dass das, was Eigentum des Verstorbenen war, sein sei, noch kann er geltend machen,
dass das, was diesem geschuldet wurde, ihm gegeben werden müsse; deshalb gestaltet er das
Klagebegehren mit der Fiktion, er sei Erbe, zum Beispiel folgendermaßen:
DER UND DER SOLL RICHTER SEIN. WENN AULUS AGERIUS - das heißt, eben der Kläger selbst
- ERBE DES LUCIUS TITIUS WÄRE, WENN DANN DAS GRUNDSTÜCK, WORUM ES HIER GEHT,
NACH DEM RECHT DER QUIRITEN IHM GEHÖRTE; und wenn gegen die Person geklagt wird,
wird nach Voranstellung einer ent-sprechenden Fiktion Folgendes hinzugefügt: WENN ES SICH
DANN ERWIESE, DASS NUMERIUS NEGIDIUS DEM AULUS AGERIUS 10 TAUSEND
SESTERTIEN GEBEN MÜSSTE.
3. Vermögensvollstreckung (bonorum venditio)
Gai. 4,35
Entsprechend klagt auch der Vermögenskäufer (bonorum emptor) mit der Fiktion, er sei Erbe. Aber
manchmal pflegt er auch auf andere Weise zu klagen. Denn nachdem aus der Person desjenigen,
dessen Vermögen er gekauft hat, das Klagebegehren bezogen worden ist, wendet er den Verurteilungsbefehl auf seine eigene Person, das heißt, was jenem gehört oder jenem gegeben werden
muss, dazu wird der Gegner zugunsten von diesem verurteilt. Diese Erscheinungsform der Klage
heißt Rutilianische Klage, weil sie von dem Prätor Publius Rutilius, der auch den Vermögensverkauf
eingeführt haben soll, geschaffen wurde. Die oben genannte Erscheinungsform der Klage aber, bei
der der Vermögenskäufer mit der Fiktion, er sei Erbe, klagt, heißt ***** Klage.
LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN
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4. Prätorisches (=bonitarisches) Eigentum, actio Publiciana
Gai. 4,36
Eine andere Klage, bei der vom Kläger fingiert wird, er habe einen Gegenstand ersessen, heißt
Publizianische Klage. Diese Klage wird demjenigen gegeben, dem eine Sache zu einem
anerkannten Zweck übergeben wurde, der sie noch nicht ersessen hat und sie nach verlorenem
Besitz herausverlangt; denn weil er nicht vorbringen kann, dass sie ihm nach dem Recht der
Quiriten gehört, wird fingiert, er hätte sie bereits ersessen, und so, als wäre er Eigentümer nach
dem Recht der Quiriten geworden, gestaltet er zum Beispiel folgendermaßen das Klagebegehren:
DER UND DER SOLL RICHTER SEIN. WENN AULUS AGERIUS DEN SKLAVEN, DEN ER GEKAUFT
HAT UND DER IHM ÜBERGEBEN WORDEN IST, EIN JAHR LANG BESESSEN HÄTTE, WENN
DANN DIESER SKLAVE, UM DEN ES HIER GEHT, NACH DEM RECHT DER QUIRITEN SEIN
EIGENTUM SEIN MÜSSTE und so weiter.
5. Erfüllungszusage (pecunia constituta)
Beispiel für einen griechischen Schuldschein:
P. Leid. I O (=UPZ I 125; 89 v. Chr)
... Es soll zurückzahlen Peteimuthes an Konuphis das Darlehen ... bis zum dreissigsten Pauni des
sechsundzwanzigsten Jahres.
Wenn er nicht zurückzahlt, wie geschrieben steht, soll Peteimuthes dem Konuphis sofort
das anderthalbfache Darlehen zahlen
und für die Verzugszeit Zinsen ...
und den Schaden ...
und die Vollstreckung soll Konuphis zustehen ..., indem er vollstreckt wie aus einem Urteil.
Prätorische actio de pecunia constituta (Rekonstruktion):
Wenn es sich erweist, dass der Beklagte dem Kläger x Sesterze festgesetzt hat (constituisse) und
nicht getan hat, was er festgesetzt hat,
und es nicht am Kläger lag, dass nicht geschehen ist, was festgesetzt worden ist,
und dieses Geld, als es (?) festgesetzt wurde, geschuldet war –
wieviel diese Angelegenheit wert ist, dazu verurteile den Beklagten zugunsten des Klägers!
Wenn es sich nicht erweist, dann sprich ihn frei!
Gai. 4,171
Aus bestimmten Gründen wird es gestattet, ein Schuldversprechen (sponsio=stipulatio)
abzuschliessen, zum Beispiel [bei den Klagen]über eine bestimmte dargeliehene Summe oder über
festgesetztes Geld (pecunia constituta);
bei der bestimmten dargeliehenen Geldsumme geht es aber auf ein Drittel,
beim festgesetzten Geld auf die Hälfte.