leitartikel Ehrliche Offenbarung Papst Franziskus verzeiht, versöhnt, versteht, aber wirkliche Entscheidungen trifft er nicht. Kann er damit seine Kirche zusammenhalten? von Georg Mair Papst Franziskus hat katholisch gehandelt: Es bleibt bei der reinen Lehre, aber in der Praxis schaut man, was sich machen lässt. D ie katholische Kirche hat auch ihre Vorzüge: In ihr wird, bei entsprechender Reue, so gut wie alles verziehen. Es ist so wie in den USA: Jemand, der pleitegeht, kann trotzdem ein geachteter Geschäftsmann werden. In der katholischen Kirche gelten in der Theorie harte Regeln: kein vorehelicher Sex, keine Pille, keine Scheidung, keine Homo-Ehe. Aber wer diese Regeln bricht, darf immer mit Barmherzigkeit rechnen. Einerseits gelten in der katholischen Kirche (sexual)moralische Regeln, aber andererseits, so sagt es auch Südtirols Bischof Ivo Muser, müsse man immer mit den einzelnen Menschen rechnen. Deshalb darf man in der katholischen Kirche auch ein Gläschen über den Durst trinken. Nichts ist endgültig. Der im Jenseits, falls es ihn gibt, führt kein starres Sündenregister. Verzeihen, versöhnen, verstehen, das ist das Prinzip der Amtszeit von Papst Franziskus. Er ist zweifelsohne ein neuer Papst: Er wohnt auf ein paar Zimmern, er kleidet sich bescheiden, er geht auf die Menschen zu, er pflegt eine hemds ärmelige Art der Kommunikation, er predigt Dinge, die Unternehmer und Reiche nicht so gerne hören, er kann manchmal reden wie ein argentinischer Viehtreiber, er geht zu den Menschen, die Not leiden – wie in dieser Woche auf die griechische Flüchtlingsinsel Lesbos. Während die Politiker in Brüssel über Flüchtlinge reden, während am Brenner die Vorbereitungen beginnen, um die Grenze abzuriegeln, redet der Papst mit den Menschen. Und nicht nur über sie. Niemand sonst hat es gewagt, ihnen dort, wo sie nach einer lebensgefährlichen Reise ankommen, ins Gesicht zu schauen. Der Papst ist ehrlich, sei es als Politiker, sei es als Hüter der Kirche. So gesehen, ist auch sein letztes Lehrschreiben über Sexualität, Moral und menschliches Miteinander eine Offenbarung. Franziskus sagt: Schaut her, ich kann nicht anders, mehr kann ich nicht, mehr will ich nicht ® © Alle Rechte vorbehalten/Riproduzione riservata – FF-Media GmbH/Srl tun. Hätte er mehr getan, hätte er eine Spaltung seiner Kirche riskiert, der weltweit 1,2 Milliarden Menschen angehören. Hätte er mehr getan, dann hätte er sich selbst verleugnen müssen. Wer damit nicht einverstanden ist, hat ja die Wahl: Er kann der Kirche den Rücken kehren, er kann sogar, so kompliziert es auch bei uns sein mag, aus der Kirche austreten. Der Papst verzeiht, versöhnt, versteht, geändert an der „wahren“ kirchlichen Lehre hat sich auch in seinem letzten Schreiben wenig. Es trägt zwar „Die Freunde der Liebe“ im Titel, aber dennoch kann die Liebe nach wie vor Sünde sein. Denn in dem Lehrschreiben gibt es keine eindeutigen Aussagen, wie es sich diejenigen Mitglieder der Südtiroler Synode erhofft hatten, die für eine Öffnung kämpften, und wie sie es sich bei den heißen Themen wie Verhütung, Zölibat, wiederverheiratete Geschiedene, Homosexualität erwartet hätten. Bei diesen Themen ist die katholische Kirche tief gespalten, zwischen Reformern und Bewahrern im Westen, zwischen Nord und Süd. Die Öffnung, die die Südtiroler Synode nicht beschließen konnte, hat auch der Papst nicht gewährt. Doch er hat Schlupflöcher offen gelassen (den Konservativen wird dieser Spalt in der Tür noch zu groß sein): für spezifische Lösungen vor Ort, für einen verständnisvollen Umgang mit den Einzelnen. Man kann es, ein wenig böswillig, als Aufforderung verstehen, angesichts der Schwächen des Fleisches ein Auge zuzudrücken. Der Papst, der ja alles tut, damit wir ihn mögen, hat gut katholisch gehandelt: Es bleibt bei der alten Lehre, im Allgemeinen, aber im Besonderen, im Einzelnen schaut man, was sich machen lässt. Ist es menschliche Größe, oder ist es Scheinheiligkeit? Wie lange kann das gut gehen? Wie lange wird die katholische Kirche damit durchkommen, dass sie keine klaren Entscheidungen trifft? n No. 15 / 2016
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