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Kritische Analysen und Kommentare zu Wirtschaft und Politik
Die Expertise des Internationalen Währungsfonds
Günther Grunert · Mittwoch den 8. Juli 2015
Das Scheitern der Griechenland-Verhandlungen Ende vorletzter Woche hat in den
deutschen Medien zu den erwarteten heftigen Reaktionen geführt: Die Geldgeber
seien Athen weit entgegengekommen, aber Ministerpräsident Alexis Tsipras und
(inzwischen Ex-) Finanzminister Gianis Varoufakis hätten keinerlei Bereitschaft
gezeigt, sich auf echte Reformen und Sparmaßnahmen einzulassen.
Kaum noch hinterfragt wird bei der wütenden Kritik am angeblich unverantwortlichen
Handeln der griechischen Regierung und dem „Feigling“ Alexis Tsipras (so die Welt),
ob das „außergewöhnlich großzügige Angebot“ (Angela Merkel) der Gläubiger
ökonomisch sinnvoll ist. Das ist deshalb erstaunlich, weil es selbst einem
ökonomischen Laien unmittelbar einsichtig sein müsste, dass es einfach widersinnig
ist, einem Land, das wirtschaftlich so am Boden liegt wie Griechenland, weitere
massive Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen abzuverlangen.
Möglicherweise dämmert es allmählich auch einigen Akteuren auf Seiten der EUKommission, wie absurd die bislang verfolgte Strategie des permanenten Streichens
und Kürzens inmitten einer tiefen Wirtschaftskrise ist. Jedenfalls ist unter den drei
„Institutionen“ (EU-Komission, Europäische Zentralbank, Internationaler
Währungsfonds) offenbar ein Streit darüber entbrannt, wie streng die „Sparauflagen“
sein sollten, die Griechenland zu erfüllen hat. Als Hardliner entpuppte sich dabei nach
Medienberichten der Internationale Währungsfonds (IWF), dessen Chefin Christine
Lagarde der EU-Kommission um Jean-Claude Juncker vorgeworfen habe, die
Bedingungen für eine mögliche Einigung mit Athen immer mehr aufzuweichen
(tagesschau.de). Wie die Süddeutsche Zeitung unter Berufung auf Informationen aus
Gläubigerkreisen berichtet, wolle es der IWF nicht länger hinnehmen, wenn immer
stärker von dem ursprünglichen, zwischen den drei „Institutionen“ ausgehandelten
Forderungspapier abgewichen werde. Die Kommission sei zu nachgiebig, da sie sich –
statt an diesem Papier – an den Vorstellungen Athens orientiere.[1]
Die Kritik des IWF ist auch deshalb bedeutsam, weil diese Institution wegen ihrer
„Expertise“ auf ausdrücklichen Wunsch Angela Merkels in das europäische
Krisenmanagement einbezogen wurde und weil vor allem CDU-Politiker nicht müde
werden, die Kompetenz des IWF hervorzuheben, auf die man nicht verzichten könne,
wenn es darum gehe, eine Schuldenkrise zu überwinden (vgl. hier). Was hat es auf
sich mit dieser „Expertise“, die den IWF dazu veranlasst, mit besonderer Härte
gegenüber Griechenland aufzutreten und einen strikten Austeritätskurs einzufordern?
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1. Die Theorie des IWF
Jeder, der unvoreingenommen und mit gesundem Menschenverstand die Situation in
Griechenland (und in den anderen sog. „Krisenländern“) analysiert, wird zunächst
einmal von der generellen Überlegung ausgehen, dass überall und zu jeder Zeit die
Ausgaben des einen immer die Einnahmen eines anderen sind. Also ist ein
Ausgabenwachstum – im staatlichen oder im privaten Sektor – erforderlich, um ein
Wachstum der Einkommen und des Outputs zu ermöglichen. Solange Arbeitslosigkeit
vorherrscht, werden vorhandene „Ressourcen“ offensichtlich nicht genutzt, sind also
die Gesamtausgaben in der Volkswirtschaft unzureichend, um genügend Output und
damit eine ausreichende Zahl an Arbeitsplätzen zu schaffen, damit alle, die arbeiten
möchten, dies auch können.
Völlig falsch, sagen da die Theoretiker des Internationalen Währungsfonds. Wenn
Arbeitslosigkeit besteht, ist die korrekte Antwort des Staates nicht etwa (wie dies die
Keynesianer wollen), seine Ausgaben zu erhöhen, sondern sie ganz im Gegenteil zu
senken. Diese Empfehlung basiert auf dem Theorem der „ricardianischen Äquivalenz“,
das bereits im Jahre 1821 von David Ricardo entwickelt und im Jahr 1974 vom
Harvard-Ökonomen Robert Barro wiederbelebt und mathematisch erweitert wurde
(Barro 1974)[2]. Etwas vereinfacht dargestellt besagt diese Theorie, dass während
einer Rezession, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist, die privaten Ausgaben deshalb
schwach sind, weil sich die privaten Haushalte und Unternehmen vor den zukünftigen
Steuerbelastungen infolge der steigenden staatlichen Haushaltsdefizite, die
typischerweise mit einer Rezession einhergehen (allein schon aufgrund der Wirkung
der sog. „automatischen Stabilisatoren“), fürchten. Genauer gesagt erwarten die
Konsumenten und Unternehmen, dass der Staat in der Zukunft die Steuern erhöhen
wird, um die mit den steigenden Defiziten entstandenen Schulden zurückzuzahlen.
Folglich reduzierten die Haushalte und Unternehmen ihre Ausgaben und sparten, um
sicherzustellen, dass sie die zu erwartenden höheren Steuern zahlen könnten. Fange
der Staat nun an, sein Defizit zu verringern, erhalte der Privatsektor ein Signal, dass
die zukünftig zu entrichtenden Steuern niedriger sein würden, und beginne wieder
mehr auszugeben. Die Expansion der privaten Ausgaben gleiche dabei die negativen
Nachfrageeffekte der fiskalischen Kontraktion nicht nur aus, sondern
überkompensiere sie sogar (vgl. z.B. IMF 1995).
Christine Lagarde, die jetzige IWF-Chefin (damals noch Ministerin für Wirtschaft und
Finanzen in Frankreich), fasste im Oktober 2010 diese Vorstellungen wie folgt
zusammen:
„Wenn wir das öffentliche Defizit nicht reduzieren, wird das Wachstum nicht
begünstigt. Warum? Weil sich die Menschen Sorgen über das öffentliche Defizit
machen. Wenn sie sich darüber Sorgen machen, fangen sie an zu sparen. Wenn sie zu
viel sparen, konsumieren sie nicht. Wenn sie nicht konsumieren, steigt die
Arbeitslosigkeit und die Produktion sinkt. Deshalb müssen wir diesen Kreislauf vom
Defizit her attackieren“ (Lagarde 2010, Übersetzung G. G.).
Zwar relativiert der IWF gelegentlich seine radikale „ricardianische“ Position (vgl. z.B.
IMF 2012a, S. 6), indem er vor einer übertriebenen fiskalischen Konsolidierung in der
kurzen Frist warnt (wobei nicht klar wird, wann die kurze Frist endet und die mittlere
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Frist beginnt), aber seine makroökonomische Modellbildung ist dennoch dadurch
gekennzeichnet, dass die Rolle staatlicher Budgetdefizite heruntergespielt und den
„ricardianischen“ Effekten auf das Ausgabeverhalten des Privatsektors eine ganz
wesentliche Bedeutung zugewiesen wird.
2. Zur Bewertung der Theorie der „ricardianischen Äquivalenz“
Es stellt sich daher die Frage nach der theoretischen Aussagekraft des Theorems der
„ricardianischen Äquivalenz“ in der Version Barros. Welche Annahmen müssen gelten,
damit sich Barros Schlussfolgerungen logisch widerspruchsfrei ableiten lassen?
Bei der Beantwortung dieser Frage bleibt unberücksichtigt, ob die Argumentation
Barros überhaupt eine realistische Darstellung der Funktionsweise eines modernen
Geldsystems ist (dies ist nicht der Fall, vgl. z. B. Mitchell 2009). Das heißt, es wird
allein die Plausibilität der zugrundeliegenden Modellannahmen untersucht. Sollte
irgendeine dieser äußerst restriktiven Annahmen nicht zutreffen, lassen sich auch die
darauf basierenden Ergebnisse nicht aufrechterhalten.
Insgesamt müssen vier Annahmen erfüllt sein (dazu auch Mitchell 2015a):
Erstens wird unterstellt, dass die zukünftige Entwicklung der Staatsausgaben
feststeht und den privaten Haushalten bzw. den Individuen, die annahmegemäß über
perfekte Voraussicht verfügen (zu einer umfassenden Kritik daran vgl. Minsky 1995,
S. 10ff), bekannt ist. Diese Prämisse ist komplett realitätsfern, da natürlich niemand
perfekte Voraussicht hat und genau weiß, wieviel welche Regierung in zehn oder
fünfzehn Jahren ausgeben wird.
Zweitens – und eng damit verknüpft – wird davon ausgegangen, dass alle Bürger eines
Landes aus der gegenwärtigen Entwicklung der Staatsausgaben präzise abschätzen
können, wie hoch ihre Steuerbelastung in der Zukunft – auch in ferner Zukunft, also
beispielsweise in zehn oder zwanzig Jahren – sein wird. Und nicht nur das: Jedes
Individuum ist imstande, aus seiner zukünftigen Steuerbelastung abzuleiten, wie viel
es in der Gegenwart konsumieren oder sparen sollte. Alle Menschen sind also in der
Lage, ihre gesamten Einkommen und zu zahlenden Steuern über ihr ganzes Leben
hinweg einzuschätzen. Natürlich ist diese Vorstellung abwegig: Niemand kennt sein
Gesamteinkommen in der Zukunft.
Drittens müssen die Kapitalmärkte „perfekt“ sein. Jeder Haushalt/jedes Individuum
kann jederzeit soviel Kredit aufnehmen oder sparen wie gewünscht – und zwar zu
einem Zinssatz, der zu jedem Zeitpunkt für alle gleich und dank vollständiger
Voraussicht bekannt ist. Anders ausgedrückt: Es besteht für alle Haushalte/Individuen
ein vollkommen gleicher Zugang zu Finanzmitteln. Zweifellos kann diese Annahme
nicht für alle Individuen und Zeiträume gelten. Haushalte haben
Liquiditätsbeschränkungen und können nicht jederzeit und in jedem Umfang Geld
leihen und anlegen, wie sie es gerade möchten.
Viertens besteht eine bis in die ferne Zukunft reichende Sorge um die nachfolgenden
Generationen. Diese Annahme ist deshalb notwendig, weil sich aus der internen Logik
des Modells keine Vorhersage ableiten lässt, zu welchem Zeitpunkt in der Zukunft die
Steuererhöhungen zur Schuldenrückzahlung anfallen werden. Natürlich kann der
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Staat (der – anders als ein Unternehmen oder ein privater Haushalt – praktisch ewig
bestehen bleibt) seine Schulden, statt sie zurückzuzahlen, auch immer nur wieder
refinanzieren, d.h. alte Kredite durch neue ablösen. Die Erhöhung der Steuern, die
angeblich erforderlich ist, um die Schulden des Staates zurückzuzahlen, könnte also in
weit entfernter Zukunft erfolgen, möglicherweise erst in hundert Jahren oder noch
viel später. Ob aber tatsächlich eine relevante Zahl von Menschen heute ihre privaten
Ausgaben verringert, um (vererbbare) Sicherheitsersparnisse für den Fall zu bilden,
dass irgendwann in vielleicht einhundert oder zweihundert Jahren die Steuern
angehoben werden, darf wohl bezweifelt werden.
Das Fazit ist eindeutig: Die Theorie der ricardianischen Äquivalenz ist aufgrund ihrer
abstrusen, unplausiblen Prämissen theoretisch nicht haltbar. Dies gilt selbst dann,
wenn man ihre weiteren Modellannahmen (beispielsweise die unzutreffende
Annahme, dass der Staat in irgendeiner zukünftigen Periode seine Steuern erhöhen
muss, um seine Schulden der Vergangenheit zurückzuzahlen) vorbehaltlos akzeptiert.
Es ist daher wenig überraschend, dass auch eine Vielzahl empirischer Studien, selbst
von konservativen Ökonomen, keinerlei Belege für die Gültigkeit der Ricardo/BarroThese findet (z. B. Evans 1993; Stanley 1998; Niple 2006; Waqas/Awan 2011 und
2012; Kónya/Abdullaev 2014; Meissner/Rostan-Afschar 2014). Wie sollte das auch
anders sein: Konsumenten, die bei einer Reduzierung der öffentlichen Ausgaben in
Euphorie verfallen, weil sie nun keine späteren Steuererhöhungen wegen höherer
Defizite mehr befürchten müssen, und die deshalb – statt für zukünftige
Steueranhebungen zu sparen – anfangen, mehr Geld auszugeben, selbst wenn die
Arbeitslosigkeit sprunghaft ansteigt und die Löhne gesenkt werden; Unternehmen, die
hohe Staatsdefizite hassen und deshalb bei staatlichen Haushaltskürzungen freudig in
neue Produktionsanlagen investieren, obgleich der Absatz zurückgeht und die
vorhandenen Kapazitäten mehr als ausreichend sind, um die aktuelle Nachfrage zu
befriedigen – solche Wirtschaftsakteure dürften in der realen Welt wohl sehr selten
vorkommen. Dass eine Theorie, die ein derartiges Verhalten unterstellt und die sich
(natürlich) empirisch nicht bestätigen lässt, gleichwohl zur Handlungsanleitung einer
international so bedeutenden Organisation wie des IWF (mit 188 Mitgliedsstaaten)
werden konnte, ist mehr als befremdlich.
3. Die Prognosen des IWF
Schlimm ist nun, dass der IWF auf Basis einer so abenteuerlichen Theorie seine
Wachstumsvorhersagen erstellt, die dann der Politik als Richtschnur dienen. Dies hat
in der Vergangenheit beinahe regelmäßig dazu geführt, dass sich diese
Wachstumsprognosen für diejenigen Länder, die der Forderung des Währungsfonds
nach fiskalischer Austerität gefolgt waren, als viel zu optimistisch herausstellten.
Griechenland ist dafür ein gutes Beispiel: So prognostizierte der IWF im Jahr 2010 für
Griechenland zwar eine kurzfristig abgeschwächte Inlandsnachfrage, aber von 2012
an sei zu erwarten, dass „die Vertrauenseffekte, der wiedererlangte Marktzugang und
die umfassenden Strukturreformen […] zu einer Erholung des Wachstums führen. Es
wird geschätzt, dass die Arbeitslosigkeit 2012 mit fast 15 Prozent den Höchststand
erreicht“ (IMF 2010, S. 9; Übersetzung G.G.).
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Tatsächlich betrug die Arbeitslosenquote in Griechenland im Jahr 2012 nicht knapp 15
Prozent, sondern 24,3 Prozent, und der Höchstwert war damit auch nicht erreicht: Ein
Jahr später stieg die Arbeitslosenquote nochmals und zwar auf 27,3 Prozent (während
der IWF für 2013 14,3 Prozent vorhersagte).
Wie systematisch falsch der IWF mit seinen Wachstumsprognosen für Griechenland in
den letzten Jahren lag, hat Mitchell (2015) erst kürzlich in einem interessanten
Schaubild zusammengestellt. Die Abbildung beginnt mit der Wachstumsprognose des
realen BIP für Griechenland im April 2010 (2010_1), es folgt die Revision im Oktober
2010 (2010_2) etc.
Abbildung: Prognosen des IWF für das Wachstum des realen BIP in Griechenland und
die reale Entwicklung
Quelle: Mitchell (2015)
Die leuchtend roten Balken sind die tatsächlichen realen BIP-Wachstumsraten pro
Jahr. Um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen: Im Oktober 2010 (2010_2) sagte der
IWF für die Jahre 2011 und 2012 ein Wachstum des realen BIP von -2,6 Prozent resp.
+1,1 Prozent voraus, die tatsächlichen Werte betrugen jedoch -7,1 Prozent bzw. -7,0
Prozent.
Nun ließe sich natürlich argumentieren, dass Wachstumsprognosen generell sehr
fehleranfällig sind und nur selten genau eintreffen. Das ist sicherlich richtig. Alle
Prognostiker – nicht nur die vom IWF – teilen das Schicksal, dass sich ihre
Vorhersagen häufig als falsch erweisen. Höchst bedenklich sind aber erstens die
enorme Größe und zweitens die einseitige Ausrichtung der Abweichungen der
Prognosen vom tatsächlichen Wachstum, d.h. die systematische Überschätzung der zu
erwartenden realen BIP-Zuwächse in Griechenland. Dies allein ist ein deutlicher
Hinweis darauf, dass die den Prognosen zugrundeliegende ökonomische Theorie nicht
korrekt sein kann.
Dabei war eine Vorhersage der Folgen der harschen Austeritätspolitik in Griechenland
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nicht sonderlich schwer. Es war klar, dass eine derart drastische und rasche
Kürzungspolitik, wie sie Griechenland aufgezwungen wurde, zu einem dramatischen
Einbruch der öffentlichen und privaten Ausgaben und damit zu einer Depression mit
hoher Arbeitslosigkeit führen musste.
Erst im Oktober 2012 gestand der IWF seine Fehler öffentlich ein. In seinem „World
Economic Outlook“ von Oktober 2012 hieß es nun, dass die Fiskalmultiplikatoren
allgemein unterschätzt worden seien: Die „tatsächlichen Fiskalmultiplikatoren waren
größer als die Prognostiker annahmen“ (IMF 2012, S. 43; Übersetzung G.G.).[3]
Der Währungsfonds hatte die Fiskalmultiplikatoren ursprünglich als sehr niedrig
eingestuft (unter 1), so dass Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben sogar zu
höheren Gesamtausgaben führen sollten. Jetzt musste er einräumen, dass die
Multiplikatoren vermutlich deutlich über 1 lägen, was nichts anderes heißt, als dass
staatliche Ausgabensenkungen um 1 Euro zu einer erheblich darüber liegenden
Abnahme von Ausgaben und Produktion insgesamt führen.
Tatsächlich zeigen seriöse Schätzungen, dass von Fiskalmultiplikatoren unter 1 nicht
die Rede sein kann. So kommen etwa Papadimitriou et al. (2013) für Griechenland auf
einen Multiplikator-Wert von mehr als 2,5 (d.h. für jeden Euro an Ausgabenkürzungen
verliert Griechenland über 2,5 Euro an Wirtschaftsleistung).
Aber unabhängig davon, wie hoch der Multiplikator nun genau war und ist – eines ist
sicher: Es war das Zusammenwirken von staatlichen Kürzungsprogrammen und
Lohnsenkungen – beides Maßnahmen, die der Währungsfonds empfohlen und als
Mitglied der „Institutionen“ mit zu verantworten hat –, das in Griechenland die fatale
wirtschaftliche Abwärtsspirale in Gang gesetzt hat.
Wer nun aber glaubt, dass der IWF zumindest ein wenig aus seinen Fehlern gelernt
hat, sieht sich getäuscht. Nicht nur sein Drängen auf eine unnachgiebige Haltung
gegenüber Griechenland hinsichtlich der „Sparauflagen“ (s.o.) lässt keinerlei
Lernfortschritt erkennen. Auch die neueste Prognose des Währungsfonds von April
2015 (2015_1), die der obigen Abbildung zu entnehmen ist, zeigt, dass er nichts
verstanden hat. Wie sonst wäre zu erklären, dass der IWF für Griechenland schon
wieder ein relativ robustes Wachstum des realen BIP im nächsten Jahr und in den
Folgejahren voraussagt?
Literatur
Barro, R. J. (1974): Are Government Bonds Net Wealth?, in: Journal of Political
Economy, Vol. 82, 6, S. 1095-1117
Evans, P. (1993): Consumers are not Ricardian: Evidence from Nineteen Countries,
in: Economic Inquiry, Vol. 31, 4, S.534-48
IMF (1995): World Economic Outlook, May 1995, Washington
IMF (2010): Greece: Staff Report on Request for Stand-By Arrangement, IMF Country
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Report No. 10/110, May; letzter Zugriff: 02.07.2015
IMF (2012): World Economic Outlook – Coping with High Debt and Sluggish Growth,
Washington; letzter Zugriff; 02.07.2015
IMF (2012a): World Economic Outlook Update, January 24, Washington
Kónya, L./Abdullaev, B. (2014): Ricardian equivalence and super exogeneity: a new
approach, in: Global Business and Economics Review, Vol. 16, 1, S. 87-99
Meissner, T./Rostan-Afschar, D. (2014): Do tax cuts increase consumption? An
experimental test of Ricardian Equivalence, Discussion Paper, School of Business &
Economics: Economics, No. 2014/16
Minsky, H. P. (1995): A Positive Program for Successful Capitalism, Hyman P.
Minsky Archive, Paper 74, letzter Zugriff: 02.07.2015
Mitchell, B. (2009): Will we really pay higher taxes?; letzter Zugriff: 02.07.2015
Mitchell, B. (2015): Friday lay day – Greece has only one viable path – exit; letzter
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Mitchell, B. (2015a): ECB should start funding government infrastructure and cash
handouts; letzter Zugriff: 02.07.2015
Niple, K. (2006): Are we Ricardian? Evidence from U.S. Counties, in: Issues in
Political Economy, Vol. 15
Papadimitriou, D. B./Nikiforos, M./Zezza, G. (2013): The Greek Economic Crisis
and the Experience of Austerity: A Strategic Analysis, Strategic Analysis, Levy
Economics Institute of Bard College, July; letzter Zugriff: 02.07.2015
Stanley, T. D. (1998): New Wine in Old Bottles: A Meta-Analysis of Ricardian
Equivalence, in: Southern Economic Journal, Vol. 64, 3, S. 713-27
Waqas, M./Awan, M. S. (2011): Are Pakistani Consumers Ricardian?, in: MPRA
Paper No. 35375, München
Waqas, M./Awan, M. S. (2012): Exchange Rate, Interest Rate and Ricardian
Equivalence – Evidence from Pakistan, in: The Romanian Economic Journal, No. 46, S.
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[1] Welche politischen Motive die harte Haltung des IWF (mit-) bestimmen, ob und von
wem der IWF möglicherweise instrumentalisiert wird, soll hier nicht näher untersucht
werden. Es spricht jedoch viel für Heiner Flassbecks Vermutung, dass
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble „indirekt, aber wirksam“ hinter der
kompromisslosen Linie des Währungsfonds steht.
[2] Die Bezeichnung „ricardianische Äquivalenz“ leitet sich aus der These ab, dass es
für einen Staat gleichwertig (äquivalent) sei, ob er seine Ausgaben durch Steuern
finanziere oder durch Anleihen. Denn die Defizite von heute seien die Steuern von
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morgen. Vgl. dazu die folgenden Ausführungen.
[3] Der Fiskalmultiplikator misst die Auswirkung des staatlichen Sparens auf das
Wachstum des BIP. Wenn – wie in Griechenland – der Staat seine Ausgaben verringert
(und zusätzlich noch Steuern erhöht), führt dies zu negativen Effekten bei den
Unternehmen und privaten Haushalten. Diese geben dann in der Folge ebenfalls
weniger aus, als sie ursprünglich geplant hatten, so dass es zu einer negativen
Gesamtwirkung auf die Volkswirtschaft kommt, die größer ist als diejenige, die allein
durch die staatlichen Ausgabensenkungen ausgelöst worden wäre. Diese größere
Gesamtwirkung verglichen mit der geringeren Ausgangswirkung wird durch den
Multiplikator gemessen.
Dieser Beitrag wurde publiziert am Mittwoch den 8. Juli 2015 um 05:00
in der Kategorie: Europa, Prognosen, Wirtschaftspolitik.
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