Der Tagesspiegel

Vor Luther übersetzte schon ein Österreicher die Bibel ins Deutsche – Seite 7
Reine Formsache:
Im Rücken liegt
die Kraft – Serie, Seite 19
BERLIN, FREITAG, 18. MÄRZ 2016 / 72. JAHRGANG / NR. 22 703
WWW.TAGESSPIEGEL.DE
EU-Partner
zweifeln an
Türkei-Deal
Streifenoper: Adidas
und die Fußballskandale
– 11 Freunde, Seite 20
Der Minister erlaubt’s:
Edeka darf Kaiser’s nun
doch kaufen – Seiten 8+15
BERLIN / BRANDENBURG 1,50 €, AUSWÄRTS 2,00 €, AUSLAND 2,20 €
Opposition
— Seiten 3, 5 und Meinungsseite
Müller verteidigt sich im Parlament
Senatskanzlei wusste vom Fall Diwell bereits im Januar / Opposition verlangt Akteneinsicht
Von Ulrich Zawatka-Gerlach
Berlin - Der Streit um die Frage, ob die
Senatskanzlei dem Rechtsanwalt und altgedienten SPD-Politiker Lutz Diwell zu
einem lukrativen Job bei McKinsey verholfen hat, ist am Donnerstag eskaliert.
In der Fragestunde des Berliner Abgeordnetenhauses beantragten Grüne, Linke
und Piraten, den abwesenden Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD)
herbeizuzitieren, damit er persönlich
Rede und Antwort steht.
Die Regierungsfraktionen SPD und
CDU lehnten dies zunächst ab und argumentierten, dass der Regierungschef wegen seiner Teilnahme an der Ministerpräsidentenkonferenz vom Parlamentspräsidium einvernehmlich entschuldigt sei.
Daraufhin setzte die Opposition eine Unterbrechung der Plenarsitzung durch,
der Ältestenrat wurde einberufen. Mit
dem Ergebnis, dass die Fragestunde bis
zur Rückkehr Müllers verschoben
wurde. Der Regierende kam gegen 13
Uhr, sichtlich verärgert.
Anschließend gab er zu, dass die Senatskanzlei schon „im Laufe des Januars“
informiert worden sei, dass es „weiter gehende Kontakte zwischen Lutz Diwell
und McKinsey“ gebe. Der Beratervertrag
zwischen der Senatskanzlei und dem Unternehmen für einen Masterplan zur Integration der Flüchtlinge wurde erst später,
am 4. März, unterzeichnet. Laut Senatssprecherin Daniela Augenstein fiel die interne Vergabeentscheidung im Senat
aber schon am 28. Dezember 2015, die
Vergabe sei am 5. Januar 2016 erfolgt. Ob
damals schon im Senat der Name Diwell
genannt wurde, konnte Müller „nicht hundertprozentig“ sagen.
Nichts als die Wahrheit, unverhüllt
diesen Fragen zulässig sein. Strafrichter
sollen die Wahrheit erforschen. Sie würdigen Beweismittel, wozu auch Zeugenaussagen gehören. Kein Richter muss es
dulden, wenn sich sein zu würdigender
Beweis unter einem Haufen Stoff versteckt. Darüber hinaus gibt es noch das,
was im Gesetz Sitzungspolizei heißt.
Richter dürfen eine Menge, um Prozesse ordentlich führen zu können.
Aber Gerichte sind erstens nicht verpflichtet, Muslimas zu entschleiern.
Und zweitens haben ihre Befugnisse
Grenzen. Als vor ein paar Jahren ein
Berliner Jugendrichter auf die Flitzpiepenidee kam, eine Zuschauerin wegen
ihres Kopftuchs aus dem Saal zu schmeißen, schritt das Bundesverfassungsgericht ein. Es mag der neuen Intoleranz
schwer zu vermitteln sein, doch teils
oder ganz verhüllte Gläubige können andere Rechte ins Feld führen als jemand,
der sich im Saal herumlümmelt und
sein Basecap ins Gesicht zieht.
Der Regierende teilte im Parlament
aber mit, schon im August und September 2015 zwei Gespräche mit Diwell geführt zu haben, um zu klären, ob der ehemalige Staatssekretär für Inneres und für
Justiz in der Flüchtlingsfrage helfen
könne. Es habe aber „von mir oder über
mich keinerlei Einflussnahme gegeben,
dass Lutz Diwell bei McKinsey eingestellt wird oder Aufträge erhält“.
Die Opposition will sich mit diesen
Auskünften nicht zufriedengeben. Grüne
und Linke beantragten noch am Donnerstag Einsicht in alle Akten, Unterlagen
und Vermerke der Senatskanzlei zur Beauftragung von McKinsey für die Erarbeitung eines Masterplans. Wegen der bevorstehenden Osterpause werden sich die zuständigen Ausschüsse des Abgeordnetenhauses aber erst im April weiter mit dem
Fall befassen können.
C
Muslimische Frauen vor Gericht
In München hat eine Muslima als Zeugin in einem
Strafprozess ihren Niqab
gelüftet, ihren Gesichtsschleier. Eine Nachricht,
die offenkundig viele bewegt. Denn in
der Vorinstanz hatte sich der Richter geweigert, die Frau dazu zu zwingen.
AfD-Deutschland stöhnte auf. Islamisierung der Justiz und so weiter.
In der Berufungsverhandlung am
Donnerstag gab es immer noch keinen
Zwang. Das Gericht hatte eigens einen
saudischen Rechtsgelehrten mit einem
Gutachten beauftragt. Ergebnis: Sogar
streng gläubigen Muslimas sei es erlaubt, Niqab oder Burka vor Gericht abzulegen und Gesicht zu zeigen. So tat
die Frau es freiwillig. Nie ist der Rechtsstaat besser, als wenn er sein Recht
ohne Zwangsmittel durchsetzen kann.
Zur Beruhigung aufgewühlter Seelen
lässt sich Folgendes ohne Gutachten
Rechtsgelehrter sagen: Zwang kann in
Von Fabian Leber
Das Abendland hat sich gegenüber
dem Schleier als widerstandsfähig erwiesen. Keine Sorge also. Zu erinnern
ist daran, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2014 sogar das französische Verbot gebilligt
hat, sich verhüllt auf öffentlichen Plätzen zu zeigen. Die Gesichtserkennung,
lautete das streitbare Urteil, könne zur
Grundbedingung des Zusammenlebens
gehören. Nicht nur vor Gericht.
Natürlich ist der Schleier ein Thema.
Vor allem für die, die ihn tragen. Die
Münchner Muslima übrigens stand als
mutmaßlich Geschädigte vor Gericht.
Sie hatte angegeben, der Angeklagte
habe sie wegen ihrer Verschleierung beleidigt: „Du gehörst hier nicht her.“
Schimpfworte sollen gefallen sein. Die
Tat konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Herabgewürdigt fühlen darf sich
die Frau dennoch.
Jost Müller-Neuhof
Leverkusen schafft kein Fußball-Wunder,
Dortmund zieht ins Viertelfinale ein.
WIRTSCHAFT & BÖRSEN . . . . . . . . 15–17
Der starke Euro
Dax
belastet die Kurse.
Der Leitindex Dax
gibt 1,2 Prozent nach
auf 9864 Punkte.
7 /1
— Seite 2
Hendricks für
Bebauung von
Tempelhofer Feld
EUROPA LEAGUE
Bayer Leverkusen – FC Villarreal . . . 0 : 0
Tottenham – Borussia Dortmund . 1 : 2
WETTER
Der Frage des Linken-Abgeordneten
Stefan Zillich, warum die Senatskanzlei
das Parlament nicht rechtzeitig und von
sich aus über den gesamten Vorgang und
die Rolle Diwells informiert habe, wich
Müller aus. Er verwies lediglich auf einen
Bericht aus dem Roten Rathaus an den
Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses vom 9. Februar über das Vergabeverfahren an McKinsey. Das zweiseitige Papier enthält nur knappe Angaben über
den Wert des Auftrags (238 000 Euro
brutto) und die Aussage, dass „McKinsey
das einzige Unternehmen ist, das über
die notwendige Erfahrung und Expertise“
für die Beratung in Flüchtlingsfragen verfüge. Der Name Diwell taucht bisher in
keiner zugänglichen schriftlichen Unterlage auf.
D
INDEX
........................................... 2
Es ist meist bewölkt und
trocken. Gelegentlich
könnte sich die Sonne zeigen.
IMPRESSUM & ADRESSEN
.................
6
[email protected]
TEL. REDAKTION . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 0
TEL. ABO-SERVICE . . . . . . (030) 29021 - 500
TEL. SHOP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 520
TEL. TICKETS . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 521
ISSN 1865-2263
50011
Foto: Mike Wolff
Berlin/Istanbul - Erneut versuchen die
Staats- und Regierungschefs der EU, bei
einem Gipfel zur Flüchtlingspolitik eine
Vereinbarung mit der Türkei zu schließen. Vor dem zweitägigen Treffen sagte
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag in Brüssel, sie sei „vorsichtig
optimistisch“. An diesem Freitag wird
der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu im Kreis der Staats- und Regierungschefs der EU erwartet. Vor seinem
Abflug zum Gipfel in Brüssel erhöhte er
den Druck auf die EU: „Die Türkei wird
niemals ein Flüchtlingsgefängnis unter offenem Himmel“, sagte er in Ankara. Die
türkischenVorschläge vom vorangegangenen Gipfel seien „klar und ehrlich“ und
lägen „noch auf dem Tisch“. Die Türkei
fordert im Gegenzug für eine verstärkte
Kooperation unter anderem eine
Visa-Befreiung für türkische Bürger.
Ankara will sich dazu verpflichten, illegale Einwanderer aus Griechenland zurückzunehmen,wenn die Europäerim GegenzugSyrer direkt ausder Türkei aufnehmen. Die litauische Präsidentin Dalia
Grybauskaite sagte, der Vorschlag sei
„sehr kompliziert“ und „schwer umzusetzen“. Auch Österreichs Regierungschef Werner Faymann stellte die Frage,
„ob das rechtlich alles so machbar ist,
wie wir das politisch uns wünschen“.
Aus dem Entwurf für die Vereinbarung
mit der Türkei geht hervor, dass viele europäische Länder dem Vorschlag Merkels
zur Aufnahme von Syrern direkt aus der
Türkei nur dann folgen wollen, wenn es
dazu keine ausdrückliche Verpflichtung
gibt. Demnach soll die Aufnahme von
54 000 syrischen Flüchtlingen für die
EU-Staaten vollständig freiwillig sein.
Unterdessen steigt die Angst vor weiteren Attentaten in der Türkei: Nach „sehr
konkreten Hinweisen“ auf Anschlagspläne wurden deutsche diplomatische
Vertretungen, Schulen und Goethe-Institute in Istanbul und Ankara geschlossen.
Am Sonntag waren bei einem Anschlag in
Ankara 37 Menschen gestorben. ame/güs
Der lange Weg
zum gleichen Recht:
Eine Ausstellung im
Ephraim-Palais erzählt
von der Emanzipation
– Seite 23
Nicht
immer Mist
Fotografin Kemlein, Schauspielerin Massary; Fotos: Stadtmuseum
Vorbehalte gegen
Merkels Vorschlag
Berlin –
Stadt
der
Frauen
Berlin - Angesichts des dringenden Bedarfs an Wohnungen spricht sich Bundesbauministerin Barbara Hendricks für
eine „Randbebauung zumindest entlang
der Straßen am Rande des Tempelhofer
Feldes“ aus. Seit dem erfolgreichen Bürgerentscheid zu Tempelhof sind jegliche
Neubauten auf dem Areal gesetzlich verboten. Hendricks nennt diese Entscheidung „egoistisch“, da sie die Bedürfnisse
nach Wohnraum außer Acht lasse. Angesichts des starken Wachstums der Berliner Bevölkerung rechnet die SPD-Politikerin aber damit, dass „die Entscheidung
später noch einmal diskutiert wird“.
Durch die starke Zuwanderung wächst
der Druck, schnell viele neue Wohnungen zu schaffen. Doch der Widerstand gegen Neubauten ist in vielen Städten und
Gemeinden groß.
ball
4 190662 202006
— Seite 4
E
s waren ungewöhnliche Worte für
einen Regierungspolitiker. Noch
dazu für einen, dessen gesamtes politisches Leben von der Exekutive geprägt ist. Die Wahllokale am Sonntag waren noch nicht zu, da sprach Innenminister Thomas de Maizière (CDU) über die
eigene, die große Koalition: „Uns fehlt
derzeit einfach eine gute, eine starke Opposition. Das ist ja das Dilemma einer großen Koalition. Die eigentliche beachtliche ,Opposition‘ befindet sich derzeit in
unseren Volksparteien selbst.“
Ganz anders klang das vor zwölf Jahren, als der damalige SPD-Chef Franz
Müntefering den Satz sagte: „Opposition
ist Mist.“ Das hörte sich so an, als habe es
etwas Ehrenrühriges, die Regierung kontrollieren zu müssen. Und das in einem
Land, in dem die Rolle der Opposition traditionell weniger geschätzt wird als in
Großbritannien zum Beispiel. Fehlt es in
Deutschland an einer starken Gegenstimme im Parlament? Wurde die AfD
auch so stark, weil Union und SPD als
eine Kraft wahrgenommen werden?
Tatsächlich ist die Groko des Jahres
2016 keine Ausnahmeerscheinung mehr,
anders als früher. Konrad Adenauer zum
Beispiel traf 1949 die richtige Entscheidung, nicht mit der SPD zu regieren, obwohl die Zeiten schwieriger waren als
heute. Kurt Schumacher wurde so zu seinem Gegenspieler als erster Oppositionsführer der Bundesrepublik. Diese Rolle
legte er konstruktiv aus, er wollte nicht
nur kritisieren, sondern Alternativen aufzeigen. Ein Satz wie der von Müntefering
ist von Schumacher nicht überliefert.
Für Union und SPD war es bisher bequem, die eigene Krise zu verdrängen, indem man sich gegenseitig an der Macht
hielt. Für die politische Debatte war das
schlecht. Ohnehin werden große Koalitionen nicht so sehr durch bewusste Wahlentscheidungen legitimiert – auch weil
die Partner im Wahlkampf immer so tun,
als seien sie die größten Konkurrenten,
dann aber doch koalieren. Eine Groko erscheint erst dann opportun, wenn sie
gute Ergebnisse abliefert. Die Flüchtlingsfrage hat daran Zweifel geweckt.
Mit der AfD ist nun eine Partei in drei
weitere Landtage eingezogen, die sich bewusst als Opposition begreift. Die bisherige Erfahrung deutet darauf hin, dass sie
ihre Aufgabe nicht wie einst Kurt Schumacher verstehen wird. Dass sie lieber polemisiert statt konstruktiv kritisiert. Das
müsste sie aber, sollte sie eines fernen Tages mitregieren wollen. Große Zweifel
sind angebracht. Eine Einbindung kann
schon allein dann nicht funktionieren,
wenn totale Opposition das einzige Geschäftsmodell ist.
Einfluss übt die AfD aber auch so aus.
Sie tut es, indem sie Teil einer politischen
Wechselbeziehung geworden ist. Einerseits profitiert sie vom Frust über große
Koalitionen, die als Beleg für die Geschlossenheit des Establishments gewertet werden. Andererseits produziert ihr
Parlamentseinzug potenziell solche Koalitionen, weil traditionelle Lagerkonstellationen so keine Mehrheit mehr haben.
Neue Bündnisse wie Grün-Schwarz im
Südwesten oder eine Ampel in Rheinland-Pfalz könnten hier entlastend wirken. Weil eine der beiden Volksparteien
die Opposition nicht allein den Rechtspopulisten überlässt. Überfällig ist auch,
dass Grüne und FDP untereinander koalitionsfähig werden. Bilden sie ein Zentrum der Vernunft, dann könnten Union
beziehungsweise SPD den rechten und
linken Flügel besser bespielen. Und zeigen, dass Opposition nicht nur Mist ist.
ANZEIGE
VERLÄNGERT!
1)
5 0%
AUF ALLES
25%
NUR BIS MONTAG 19 UHR
gültig biss
16
21.03.201
$
AUCH AUF ALLE FUNKTIONEN
UND SONDERAUSSTATTUNGEN
Ausgenommen sind die Hersteller Hülsta, now! by hülsta, Erpo, Rolf Benz, Tempur, Paschen, RUF, Schlüter und calligaris. Nicht mit anderen Vorteilsaktionen kombinierbar.
AUF:
FREITAG
SAMS TAG MON TAG
18. 19.
MÄRZ 2016
10-19 Uh
r
Rolf Benz
MÄRZ 2016
10-18 Uh
r
21.
MÄRZ 2016
10-19 Uh
r
!" #
www.flamme.de