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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Beflügelte Frauen“ (4)
Frauen in Deckung: in Frauenzimmern, in
Klöstern oder am Hof
Von Sabine Weber
Sendung:
Redaktion:
Donnerstag, 17. März 2016
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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SWR2-Musikstunde mit Sabine Weber 17.03.2016
Beflügelte Frauen 4. Frauen in Deckung
MODERATION
Ich bin Sabine Weber. Herzlich Willkommen zur vierten Folge Beflügelte Frauen.
Heute mit Frauen, die trotz gestutzter Flügel oder begrenztem Flugraum ziemlich
weit geflogen sind.
Titelmusik kurz (10.sec)
MODERATION
„Erniedrigung unter der Bedingung physischer Unterlegenheit, Ohnmacht und
Hilfslosigkeit. Das sei ein tiefsitzendes Depot weiblicher Grunderfahrungen“. In
einem der vielen Zeitungsartikel zu lesen, die die Silvesterereignisse in Köln,
Hamburg und Stuttgart einzuordnen, zu kommentieren und zu verarbeiten
suchten. Gegen die Angst, die solche Erniedrigungen auslöst, aber auch gegen
Eingrenzung und Ausgrenzung haben Frauenrechtlerinnen in den beiden
vergangenen Jahrhunderten gekämpft. Doch was haben Komponistinnen in
früheren Jahrhunderten gemacht? Ohne Frauenrechte? Wie konnten sie sich
bewegen, lernen, aufnehmen und ja, komponieren?
Wie hat Elisabeth-Claude Jacquet de la Guerre 1694 eine Tragédie en Musique
Cephale et Procris komponieren können. Mit Prolog und fünf Akten! Daniela Dolci
- Leiterin von Musica Fiorita und begeisterte Musikwissenschaftlerin ist der Partitur
dieser französischen Komponistin aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert auf die
Spur gekommen.
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LC11428 ORF CD 3033 Länge: 3'18
Elisabeth-Claude Jacquet de la Guerre, Ouvertüre aus Cephale et Procris,
Musica Fiorita, Daniela Dolci LTG
MODERATION
Die Ouvertüre zu Cephale et Procris. Elisabeth-Claude Jacquet de la Guerre ist
als Komponistin am Hof Ludwigs XIV inmitten einer Schar berühmter Musiker
etabliert gewesen. Sie ist auch in den Genuss einer privilegierten Bildung am Hof
von Versailles gekommen. Mit 10 Jahren wird sie aufgrund ihrer Musikbegabung
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in den Haushalt der Mme de Montespan aufgenommen und zusammen mit 8
Bastarden erzogen. Der Sonnenkönig fördert sie höchst persönlich. Und Zeit ihres
Lebens. Sie darf mit seinem Privileg Cembalosuiten und geistliche Kantaten
drucken. Und ihre Oper geht über die heiligen Bretter der Académie Royale de
Musique. Auch wenn die Oper nur nach 6 Aufführungen wieder von der
Bildfläche verschwindet. Der Sonnenkönig und seine neue Mätresse Mme de
Maintenon interessieren sich nicht mehr für die Oper. Und genau deswegen hat
die La Guerre ja einen Protegée der Maintenon zum Librettisten gewählt.
Strategisch gut gedacht, aber musikalisch ein Fehler. Denn der in diesen Dingen
gänzlich unerfahrene Joseph François Duché de Vancy verwirrt die Handlung,
statt sie dramatisch zu konzentrieren. Zur Zeit Lullys hatten die Literaturversessenen
Franzosen sich an die großen Nationaldichter als Librettisten gewöhnt. Vancy fällt
durch schwache Verse auf. „Le poéme est mal conduit!“, schimpft die Kritik.
Aber was stört uns der lahme Versfuss, wenn die Musik gut ist? In Vergessenheit
gerät diese Oper noch aus einem anderen Grund. Die Aufklärung, die das
wissenschaftliche Denken durch Empirie und Versuchsoffenheit aufbricht, steht im
Begriff, ein dazu erschreckend widersprüchliches neues Frauenbild zu definieren.
Nichts mit Weltoffenheit für die Frau! Häuslichkeit und Tugend wird ihr
übergestülpt. Im Frauenzimmerzeitalter der Romantik soll das gipfeln. Frauen, die
große Opern schreiben, motivieren in die falsche Richtung!
Das hat eine Frau jetzt korrigiert. Vor mehreren Jahren hat Daniela Dolci die
Opernpartitur der la Guerre in der Nationalbibliothek in Paris entdeckt. Eine
wunderbare Partitur, wie sie sagt. Und sofort sei ihr klar gewesen, dass sie daraus
etwas machen muss. Und im Marggräflichen Opernhaus in Bayreuth erlebt die
Oper in einer von ihr wissenschaftlich neu erstellten Partitur und unter ihrer Leitung
eine gefeierte neuzeitliche Premiere. Ein höllischer Dämonenchor hat im April
2005 ordentlich Lärm gemacht.
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LC11428 ORF CD 3033 Länge: 1'32
Elisabeth-Claude Jacquet de la Guerre, Choeur des Démons, aus Cephale e
Procris, Solistenchor, Musica Fiorita, Daniela Dolci LTG
MODERATION
Da sind die Streicher fast nicht mehr hinter her gekommen. Der Dämonenchor mit
krachendem Donner aus Cephale et Procris von Elisabeth Jacquet de La Guerre.
Der Solistenchor und Musica Fiorita musizierte unter der Leitung von Daniela Dolci.
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Jacquet de la Guerre ist nicht die einzige am französischen Hof glänzende
Musikerin gewesen. Maguerite Antoinette Couperin heißt die Tochter des
berühmten Tastenmaîtres Francois Couperin. Von ihrem Vater erbt sie nicht nur
die Begabung, sondern 1729 die Position eines ordinaire de la musique de la
chambre du roi pour le clavecin. Wenn die La Guerre die erste französische
Opernkomponistin ist, deren Oper an der Académie Royale aufgeführt worden
ist, so ist die Cembalovirtuosin Couperin die erste Frau, die einen offiziellen
Musikposten am Hof bekleidet hat. Musik ist leider von ihr nicht überliefert
worden. Marguerite Louise, eine Cousine des Tastenmaitre, hatte wohl auch die
Couperin-Musik-Gene. Sie durfte mit ihrer klaren Sopranstimme in der Chapelle
Royale zusammen mit den Töchtern Michel Richard Delalandes auftreten und
hat auch eifrig komponiert. Leider ist von ihr ebenfalls nichts überliefert. Auf den
Namen könnten Sie über ein Ensemble für alte Musik stoßen. Gaétan Jarry hat
sein Ensemble auf Marguerite Louise getauft, um so an sie zu erinnern.
Wir wandern jetzt nach Norditalien aus.
Was da im ausgehenden 16. Jahrhundert hinter norditalienischen Klostermauern
passiert, ist geradezu sensationell. Unsichtbar singende Nonnen werden wie Stars
hofiert und bringen eine Stadt aus dem Häusschen. Die Menschen rennen in die
Klosterkirchen, um sie zu hören. Beispielsweise in die Kirche des Klosters San
Radegegonda direkt neben dem Mailänder Dom. Aus dem Jahr 1612 wird
berichtet, dass sich so viele Besucher in die chiesa esteriore drängelten, dass sie
bald erstickt wären. Nur um eine gewisse Donna Grazia zu hören. Oder die Ceva!
Die Clerici! Bravissime virtuose - alles Nonnen! Und dass sie versteckt hinter Gittern
singen regt die Fantasie um so mehr an. Der Bologneser Priester Sebastiano
Locatelli schwebt im siebten Himmel. „Während ich eine Motette hörte, war ich
im Paradies! In Sankt Radegonda konnte ich nicht unterscheiden, ob die
Stimmen irdisch oder himmlisch waren. … Die Nonnen müssen von den Engeln
gelernt haben, wie sie die Himmelskönigin begrüßen müssen! Die beste war eine
Donna Angiolia.“
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LC 00761 MUSIC OMNIA mo0209 Länge: 4'25
Chiara Margarita Cozzolani, Gloria in Excelsis, Magnificat, Warren Stewart LTG
MODERATION
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Ein Gloria in excelsis komponiert von Schwester Chiara Margarita Cozzolani aus
dem Benediktinerinnenkloster Sankt Radegonda in Mailand. Die Mailänder
Nonnensängerinnen im 17. Jahrhundert haben über extreme Stimmumfänge
verfügt. Zwei Oktaven locker. Und wenn die Cozzolani vierstimmig komponiert
hat, konnten die Nonnen alle Stimmen singen. Zeigt sich ein kleiner Priester aus
Bologna restlos begeistert über die „Nonnenpolyphonie“, so sind es die männlich
kirchlichen Autoritäten längst nicht immer gewesen. Die Nonnenvikare in Mailand
– damals die populationsstärkste Diözese der katholischen Welt, fühlen sich nicht
selten wie Lokalfürsten. Zur Zeit Erzbischofs Federigo Borromeo werden die
Musikmachenden Nonnen unterstützt. Sie dürfen sogar ihre Werke in Venedig
drucken lassen. Als bei einer Klostervisitation in Santa Maria Magdalena al
Cerchio allerdings Noten weltlicher Werke von Orlando di Lasso gefunden
werden, ist der Teufel los. Ans Tageslicht kommt ausserdem, dass es nicht nur 15
polyphon singende Nonnen gibt, sondern drei Instrumentalistinnn, eine Organistin
und eine ältere maestra di capella. Und die Nonnen singen nicht nur die
Stundengebete, sondern drei Sängerinnen sind die Stars im Refektorium. Und zu
Aufführungen im Parlatorio, eine Art klösterliche Aufenthaltszone, werden auch
Gäste von draußen eingeladen. Doch Auflagen helfen nichts. Eine fast
mittelalterliche Anbetung dieser Nonnen wird im Seicento Milanos zur neuen
Mode. Und Orgel, Instrumente, alles müssen die Nonnenvikare ihren Nonnen
erlauben. Keine Novizin kommt ohne Stimmbildung davon, dafür sorgt die
maestra di capella. Und keine wird Vollnonne, ohne stimmlich ausreichende
Bildung. Und auch die vollen Nonnen üben weiter und bekommen Unterricht!
Doch dann passiert ein Unglück. Eine Nonne namens Palomera verschwindet
und bleibt über Nacht weg, wahrscheinlich, um woanders aufzutreten. Und sie
wird von anderen Nonnen angeschwärzt. Das ganze Zickenprogramm.
Nonnenvikar Alfonso Litta, ein spanischer Bischof – Norditalien ist von den
Spaniern besetzt -, hat endlich eine Handhabe gegen die Nonnensucht. „Die
Polyphonie ist das Übel“, so seine Diagnose. Und was in den Jahren davor
gefördert wurde, wird jetzt verboten. Das ignorieren die Nonnen von Sankt
Radegonda zwar zunächst. Die Benediktinerinnen singen auf Bitten der
Stadtfürsten – sie waren ja schließlich die Töchter der Granden – sogar für den
protestantischen Herzog und die Herzogin von Braunschweig. „Herätische
Prinzschaften aus Deutschland!“ schäumt Litta. „Die Jugend in Mailand ob
spanisch, deutsch, neaplitanisch rennt ohne Unterlass in die Klosterkirchen unter
dem Vorwand, Musik hören zu wollen!“ Tobt Litta. Und er zieht die Reißleine mit
Rückendeckung aus Madrid. Cembalospielverbot, Singverbot in der Zelle.
Auftrittsverbot in der Kirche! Na klar hatten die Nonnenklöster mit der urbanen
Politik gegen die Spanier zu tun. Sie waren aber auch der besondere Stolz der
Stadtbürger. Die Häufigkeit, mit der ihre Musik von Besuchern erwähnt wurde,
unterstreicht den Status der Nonne. Und Werke von Chiara Margarita Cozzolani
kursierten in Deutschland, Frankreich und England.
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LC ohne Angabe Tactus TC600301 Länge: 10'06
Chiara Margarita Cozzolani, Salmo, Confitibor tibi Domine, Capella Artemisia,
Candace Smith LTG
MODERATION
Confitibor tibi Domine im Stile einer kleinen Opernszene mit dem Ensemble
Artemisia unter Candace Smith. Komponiert von Chiara Margarita Cozzolani, der
berühmtesten Vertreterin einer durch Nonnen begründeten lombardischen
Musikpraxis.
Leider konnte bis heute nicht erforscht werden, was sich musikalisch wirklich hinter
den mailändischen Klostermauern abgespielt hat. Wer die Nonnen unterrichtet
und ausgebildet hat. Was sie selbst über ihr Musikmachen gedacht haben. Dazu
gibt es keine Äußerungen. Persönliche Gefühle durften sie nicht öffentlich zeigen.
Demütige Anonymität wurde ihnen abgefordert. Nur im Rahmen der repressiven
Visitationen der Klöster ist einiges dokumentiert. Im Zuge der Säkularisierung der
Nonnenklöster unter Napoleon ist dann auch noch ein Großteil ihres Repertoires
verschleudert worden. Ein Drama für die Nonnenpolyphonie, die nur in den
wenigen gedruckten Ausgaben und in einigen Manuskripten im Mailänder
Domarchiv überlebt haben.
Die SWR2 Musikstunde ist diese Woche außergewöhnlichen Frauen gewidmet. Als
mir die Komponistin Olga Neuwirth letztes Jahr in einem Interview bekannt hat,
dass Komponistinnen in der Szene heutzutage immer noch Außenseiterinnen
seien, hat mich das erstaunt. Warum eigentlich? Denn wir wissen wir doch, dass
Frauenquoten auf herausragenden Positionen generell immer noch weit hinter
denen der Männer liegen. Da mag erstaunen, wie viele Frauenkomponistinnen in
den vergangenen Jahrhunderten dennoch Geschichte geschrieben haben.
Freilich produzierten sie sich in Schonräumen. Am Hof protegiert von Fürsten und
Königen. In Kultursalons oder hinter Klostermauern. Und es sind natürlich Einzelfälle
wie Isabella Leonarda, die Muse von Novara. 1636 nimmt sie 16jährig den
Schleier im dortigen Ursulinenkloster. Sie ist hochgebildet, kann rechnen,
schreiben, lesen. Und besitzt eine außergewöhnliche Begabung. Einen Großteil
ihrer Freizeit widmet sie dem Komponieren, wie sie in ihrem Opus 10 im Vorwort
bekennt: „Die Stunden, die ich meinem musikalischen Schaffen widme, ziehe ich
ausschließlich von meinen Mußestunden ab, um den von der Ordensregel
vorgeschriebenen Pflichten nachzukommen.“ Ihrer Muße hat sie viel
abgerungen: 200 Kompositionen in 20 Bänden. Vor allem geistliche Musik zur
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Hälfte der Jungfrau Maria gewidmet und auch eine Messe für Soli, Chor, Streicher
und Continuo.
Warum sie als 73jährige Nonne von dieser Gewohnheit abweicht und plötzlich mit
Instrumentalsonaten beginnt, ist ein Geheimnis, das sie mit ins Grab genommen
hat. Möglicherweise ist sie selbst eine hervorragende Geigerin gewesen.
Möglicherweise hat sie die neue musikalische Mode interessiert. Als Ursulinin
durfte sie sich ja auch außerhalb der Mauern im Dienste der Erziehung bewegen.
Die Sonaten entstehen im selben Jahr, in dem sie zur Mutter Vikarin ernannt, also
Chefin wird. Vielleicht ein äußerer Ausdruck ihrer inneren Zufriedenheit? Hier die
Triosonate Nummer VII aus der Sammlung Opus 16 mit Concerto Soave.
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LC AMBORNAY AMY 025 Länge: 5'28
Triosonate Nr. 7 aus Concerto Soave, Jean-Marc Aymes LTG
MODERATION
Concerto Soave mit der 7. Sonate aus der Sonatensammlung Opus 16 von
Isabella Leonarda. Angeblich die erste Sonatensammlung einer Frau und exquisit!
„Alle Werke dieser erhabenen und unvergleichlichen Isabella Leonarda sind so
schön, so anmutig, so glänzend und gelehrt, dass ich es auf Höchste bedaure, sie
nicht alle zu besitzen“ Schreibt Sébastien de Brossard in seinem Catalogue des
livres de musique théorique et pratique, Paris, 1724 erschienen. Auch in
Frankreich hatte die Ursuline Leonarda einen Namen.
Und mit einem Lamento verweist uns jetzt eine ihrer berühmten
Komponistenkolleginnen aus Venedig an die Ufer der Rhône nach Lyon.
Lamenti sind seit Claudio Monteverdi eine hoch geschätzte Gattung.
Hoffnungslose Resignation, Schreiende Verzweiflung, hochexpressiver
rezitativischer Gesang kann sich da entladen! Wir denken an die
leidenschaftliche Klage der Arianna. Auch Barbara Strozzi hat ihren klagenden
Helden gefunden. Ein mit 20 Jahren hingerichteter Günstling Ludwigs des
Dreizehnten. Henri Cinq Mars.
Aber wer war Barbara Strozzi? Eine Komponistin und Sängerin, die sechs Bücher
mit Kantaten und Arien veröffentlicht, und nach 1664 wie vom Erdboden
verschluckt wird. In Venedig wird sie als Tochter einer Haushälterin von Giulio
Strozzi geboren und von ihm adoptiert. Das hat Gerüchte um seine Vaterschaft
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entfacht. Die sind wahrscheinlich aber nie bestätigt worden. Vater Giulio strozzt
jedenfalls mit seiner Adoptivtochter in den kulturellen Kreisen der Stadt. Sie muss
eine außerordentliche Stimme und Darstellungstalent besessen haben. Während
der im Haus veranstalteten Akademien lässt ihr Vater sie von den Anwesenden
bewundern. Die sogenannten Accademie degli Unisoni veranstaltet Strozzi
eigens dafür. Kirchliche Würdenträger, Adlige, Bankiers aber auch Künstler sind
das Publikum. Komponisten werden annimiert für sie zu komponieren. Und sie
komponiert auch selbst. Eine Klage ragt aus ihrem Oeuvre hervor. Nicht nur, weil
sie mit einem Erdbeben endet. In Sul Rodano severo aus ihrem Opus 3 von 1654
lässt sie den hingerichteten Henri Cinq Mars wie in einem Traum zu einem
ehemaligen Liebesfreund sprechen. Kein geringerer als Ludwig der Dreizehnte.
Der König hat ihn wegen angeblicher Spionage in Lyon 1642 hinrichten lassen.
Henri Cinq Mars bittet um Vergebung, indem er gemeinsame Stunden in
Erinnerung ruft.
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LC13943 ALIA VOX AV9815 Länge: 5'18
Ausschnitte aus Barbara Strozzi, Il Lamento Su'l Rodano severo (op 3 1654),
Montserrat Figueras, Sopran, Hexperion XXI
MODERATION
Ein Ende mit Schrecken und ein abruptes! Paris bebt! Die Seine wird trüb..., weil in
der düsteren Rhône ein unglückseliger Leichnam liegt. Das rührt selbst den König
zu Tränen. Il lamento su'il Rodano severo von Barbara Strozzi komponiert. Hier
gesungen von Montserrat Figuerras, begleitet von Hesperion XXI.
Ein Lehrstück über die Vergänglichkeit irdischer Gunst. Dieses Schicksal hat ja
auch die Komponistin selbst ereilt. Nach 1664 ist sie vom Erdboden verschluckt.
Keine Nachricht gibt es seitdem mehr über die Komponistin und Sängerin.
Immerhin hat sie bis zu diesem Zeitpunkt eine Berühmtheit erlangt wie vor ihr nur
eine einzige Kollegin: Francesca Caccini. Tochter des berühmten Giulio Caccini.
Und die wird als erste Opernkomponistin Italiens gerade auch in Deutschland
wieder entdeckt. Ende Januar haben Eric van Nevel und das Huelgas Ensemble
mit der konzertanten Aufführung von Caccinis La liberazione di Ruggero dall'isola
d'Alcina das Münchener Publikum beglückt. Wir warten auf die Aufnahme.
Und gehen für unsere letzte Musik nach Frankreich zurück. Wenn sie doch nur
nicht so an sich als Komponistin gezweifelt hätte. Was hätte die Elsässerin Marie
Jaëll noch zustande gebracht. Dabei wird sie als eine der ersten Frauen in eine
Klavierklasse am Pariser Conservatoire aufgenommen. Keine vier Monate später
wird sie mit dem Premier prix ausgezeichnet. Konzertreisen folgen. Camille Saint-
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Saëns widmet ihr sein 1. Klavierkonzert. Franz Liszt den dritten Mephisto-Walzer.
Aber was ist mit Komponieren? 1878 schreibt sie 32jährig einer Freundin:
„Komponieren-lernen! Ich wache mit dieser Passion auf, ich gehe mit ihr ins Bett.
Dieser ehrgeizigen Idee unterwerfe ich alles!“ Aber als einzige Frau am
Conservatoire Komposition zu studieren, durch eine Tür zu schreiten, an der ein
Jahrhundert lang „nur Herren haben Zutritt“ gestanden hat, will sie nicht. Sie
nimmt privat bei Camille Saint-Saëns und Gabriel Fauré Unterricht. Ihr erstes
Klavierkonzert widmet sie Saint-Saëns. Und hebt es 1879 als Solistin in einem der
Concerts Colonne in Paris aus der Taufe. Zusammen mit dem sinfonischen Poem
Götterlieder ou Ossiane, das Franz Liszt über alle Maßen bewundert. Ein ChorOrchesterwerk, ein Cellokonzert, Lieder, sogar eine Oper hat Marie Jaëll
geschrieben. Wieso hat man von dieser Komponistin noch nichts gehört? Die
französische Stiftung Bru Zane hat sie gerade aus der Vergessenheit gerissen. Und
hat ihr eine Buch-Werk-CD Diskographie gewidmet, die vor kurzem
herausgekommen ist. Die Aufnahme eines kuriosen Stücks macht den Anfang auf
der ersten von insgesamt drei CDs. La légende des ours. Oder Bärenlieder.
Die 5 humoristischen Charakterstücke für Sopran und Orchester entstehen zu
dem Zeitpunkt, als die Komponier-Passion mit ihr aufsteht und zu Bett geht. Sie
sind unser heutiges SWR2 Musikstundenabschlusstück. Marie Jaëll hat nicht nur
die Musik, sondern auch das Libretto geschrieben. Es geht um einen Bären, der
aus Liebe seine Bärinnen zerfleischt aber dann auf eine Meisterin trifft, die das zu
verhindern weiß. Hier folies d'ours, das 1. humoristische Charakterstück. Marie
Jaëll haut da auf die Bärenpauke, was einige Kritiker zynisch-frech kommentiert
haben: „einfallsreiche Komponistin, sie könnte nur etwas weiblicher sein.“
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Palazzetto Bru Zane Portraits Volume 3 ES1022 Länge: 3'03
Marie Jaëll, aus: la légende des ours, Chantal Santon-Jefferey, Sopran,
Philharmonische Orchester Brüssel, Hervé Niquet LTG
MODERATION
Der 1. Satz aus La lègende des ours von Marie Jaëll mit Chantal Santon-Jefferey
und dem Philharmonischen Orchester Brüssel unter Hervé Niquet. Vielleicht hat
ihnen dieser Ausschnitt aus ihrer Légende des ours von 1887 ja nicht genügt. Und
Sie möchten mehr über die elsässische Komponistin erfahren, ihre beiden
Klavierkonzerte hören oder das Cello-Konzert, oder ihre auszugsweise Vertonung
von Dantes Göttlicher Komödie für Klavier. Das können Sie. Denn die französische
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Stiftung Palazzo Bru Zane – Centre de musique romantique francaise hat gerade
über Marie Jaëll eine mit 3 CDs bereicherte Dokumentation herausgebracht.
Marie Jaëll (1846 – 1925) Musique Symhonique, Musique pour piano, so lautet der
Titel, der eine außergewöhnliche französische Komponistin in Erinnerung ruft.
Saint-Saëns hat sie jedenfalls ohne offizielles Studium als erste Frau in die Pariser
Société des compositeurs aufnehmen lassen. Das will schon was heißen.
Morgen geht es weiter um Legenden. Legendäre Weibsbilder bilden eine
glorreiche Schlussrevue diese Woche.
Sie sind hoffentlich wieder mit dabei!
Am Mikrofon sagt Tschüß bis morgen,
ihre sw