SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Sehnsuchtsraum Europa
Flüchtlinge im Spiegel der Literatur
Von Claudia Kramatschek
Sendung: Donnerstag, 10. März 2016, 08.30 Uhr
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
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MANUSKRIPT
Regie: Musik (drängender Charakter), darüber
O-Ton 1:Theaterstück (Text schwer verständlich, wie Atmo verwenden)
„Wir leben …“
Zitatorin (über Atmo)
Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben
nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug,
aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes
verurteilt, von allen verurteilt dort und hier.
Erzählerin:
„Wir leben. Hauptsache, wir leben. Und viel mehr ist es auch nicht als leben“. Mit
diesen Worten beginnt Elfriede Jelineks Theaterstück „Die Schutzbefohlenen“ aus
dem Jahr 2013. Der Text ist ein wütender Klagechor über das Elend der Flüchtlinge,
die in Europa Schutz vor Krieg und Armut suchen. Allein im Jahr 2015 haben sich so
viele Flüchtlinge wie nie zuvor auf den gefährlichen und entbehrungsreichen Weg
nach Europa gemacht.
Regie: Musik, darüber:
Ansage:
Sehnsuchtsraum Europa. Flüchtlinge im Spiegel der Literatur.
Eine Sendung von Claudia Kramatschek.
Erzählerin:
Wien, Ende November 2012: eine kleine Gruppe Asylsuchender besetzt die
Votivkirche, wenig später tritt die Gruppe in den Hungerstreik. Sie erhofft mehr
Rechte und bessere Bedingungen. Der harte Kurs der österreichischen Regierung
erzürnt auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Angelehnt an das antike
Drama „Die Schutzflehenden“ von Aischylos schreibt sie „Die Schutzbefohlenen“.
Regie: Musik, darüber ggf. schon einmal O-Ton 2 anspielen
O-Ton 2 (Theaterstück):
Wo ist er, der gastfreundliche Wirt? Wo ist er, der gastfreundliche Wirt?
Zitator 1:
Wo werden wir uns ein Bett erzwingen können, wo werden sie uns wieder
rauswerfen, wo werden wir unsre eigenen Knochen vergraben können, das heißt,
wer wird das alles machen, wer wird das für uns tun? Wer wird dafür sorgen, dass
wir Seienden auch erblickt werden, und das ohne Abscheu? Die von des Bachs
Ufern, des Meeres Küste, den Waldbüschen der Heimat Verscheuchten, wehklagend
im Gram verlorener Heimat.
Erzählerin:
Das Drama ist ein mehrstimmiger, aber entpersonalisierter Redefluss. Jelinek bringt
diejenigen zu Gehör, die als Flüchtlinge um Hilfe bitten. Doch statt auf
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menschenwürdige Behandlung stoßen sie auf die Verfahrensabwicklung der
Bürokratie.
Zitatorin:
Man sagt uns nichts, wir erfahren nichts, wir werden bestellt und nicht abgeholt, wir
müssen erscheinen, wir müssen hier erscheinen und dann dort, doch welches Land
wohl, liebreicher als dieses, und ein solches kennen wir nicht, welches Land können
betreten wir? Keins. Betreten stehen wir herum.
Erzählerin:
Eindringlich fängt der Text den Druck ein, der auf den Menschen lastet, weil sie nicht
verstehen, was sie erklären müssen, und zugleich spüren, dass ihre Geschichte, die
sie erzählen wollen, nicht zählt.
O-Ton 5 (Theaterstück, wie Atmo)
Sie verstehen es nicht. Aber das, das Verstehen, das wäre die Voraussetzung, eine
Seinsmöglichkeit des Miteinander mit uns herzustellen…
Zitator 1 (darüber)
Sie verstehen es nicht. Aber das, das Verstehen, das wäre die Voraussetzung, eine
Seinsmöglichkeit des Miteinander mit uns herzustellen.
Erzählerin:
„In unserem Namen“ lautet daher auch die Anverwandlung des Stückes im Berliner
Gorki Theater, das dort unter der Regie von Sebastian Nübling im November 2015
zur Aufführung kam.
O-Ton 6 (Theater, wie Atmo verwenden)
Wir schwinden, wir schwinden, werden aber mehr, komisch, wir schwinden trotzdem,
obwohl unsre Zahl anschwillt, es schwindet uns nicht der Mut, wir werden mehr ….
Zitatorin (darüber)
Wir schwinden, wir schwinden, werden aber mehr, komisch, wir schwinden trotzdem,
obwohl unsre Zahl anschwillt, es schwindet uns nicht der Mut, wir werden mehr, aber
immer weniger dabei, es kommen viele gar nicht erst an, es fallen die leidenden
Menschen wie Wasser von Klippe, ins Meer, immer geworfen, immer getrieben,
jahrelang schwimmen sie, ertrinken sie, stürzen sie ab, ersticken im Kühlwagen,
sterben im Flugzeuggestänge, sterben im Autobahnklo, stürzen vom Balkon, ja,
genauso Leute wie wir! die sind alle wie wir!
Erzählerin:
Die in Jelineks Text kondensierte Verzweiflung der Geflüchteten bekommt in dieser
Aufführung am Gorki-Theater doppelte Präsenz. Denn im leer geräumten
Theatersaal, in dem sich das 15-köpfige Ensemble inmitten der Zuschauer bewegt,
agieren nur Schauspieler mit Migrationshintergrund. Sie bringen ihre eigenen
Sprachen, ihre eigenen Geschichten mit.
O-Ton 7 (Theaterstück, bitte nur kurz frei, schreit zu sehr)
Angst. Überall. Angst.
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Zitator 1 (führt Text weiter)
Angst, dass ich wieder zurück muss. Angst, dass ich nicht bleiben darf.
Erzählerin:
Die Inszenierung vollzieht zugleich einen Perspektivwechsel: weg von den
Geschichten der Flüchtlinge hin zu unserem Umgang mit dem Thema. Regisseur
Sebastian Nübling:
O-Ton 8 (Nübling):
Im Kern versuchen wir zu schildern, in was für einer Sprache unsere Gesetzgebung
unsere Anliegen formuliert. Ich habe ja einen Wunsch, wie unsere Gesellschaft
vielleicht sein sollte oder nicht sein sollte und schlussendlich wird in einem
politischen und juristischen Prozess – da sind sehr viele Leute dran beteiligt – ein
Gesetzestext formuliert. Und wie verständlich ist mir das eigentlich.
O-Ton 9 (Theaterstück, bitte kurze, verständliche Passage auswählen)
Erzählerin:
Eingeschoben in Jelineks Text sind deshalb fast wortgetreue Passagen aus einer
Anhörung juristischer Sachverständiger zur Neuregelung des Aufenthaltsrechts, über
die in einer Sitzung im Innenausschuss des Deutschen Bundestags am 27. März
2015 diskutiert wurde.
O-Ton 9 (Theaterstück, bitte kurze, verständliche Passage auswählen)
Zitator 2:
Wann sind wir wieder wer?
Zitatorin:
Wir sind alle und niemand.
Zitator 2:
Wir umarmen uns wo immer.
Zitatorin:
Es ist die Grundlage des Zusammenlebens, und zusammenleben, das wollen wir.
Zitator 2:
Das wollen wir ja, das bedeutet uns alles.
Zitatorin:
Das bedeutet, dass wir sind, dass wir etwas sind, dass wir ein Etwas sind vor diesem
reinen Horizont, auf diesem Fundament.
Zitator 2:
Auf das wir bauen, auf das wir nicht bauen dürfen.
Zitatorin:
Aber trotzdem bauen.
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Erzählerin:
Tatsächlich fängt Jelinek bis in die kreiselnde Satzstruktur hinein ein, worunter die
Flüchtenden – endlich in Sicht eines rettenden Ufers – am stärksten leiden: unter der
Unmöglichkeit, anzukommen; dass sie feststecken an einem Ort, von dem aus es
kein Zurück, aber auch kein Vorwärts gibt.
Regie: Musik / Akzent
Erzählerin:
Doch immerhin finden die Geschichten dieser Menschen – ihre Ängste und
Hoffnungen, ihre Träume und Traumata – einen Platz in der hiesigen Literatur.
Zunehmend erkunden Romane die emotionalen Nöte von Menschen auf der Flucht;
zunehmend dokumentieren Sachbücher ihre Probleme und Erfahrungen. Von
afrikanischen Flüchtlingen erzählt zum Beispiel die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck
in ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“. Er erschien im Frühjahr 2015 und wurde
als Buch der Stunde wahrgenommen. Denn die Autorin schildert darin
Fluchtgeschichten aus erster Hand. Etwa von Menschen, die zur Flucht aus Libyen
gezwungen wurden, als das Machtvakuum nach dem Sturz von Gaddafi zu einer
Jagd auf Schwarzafrikaner führte.
Regie: Leise Musik, darüber
Zitator:
Keinem von uns haben sie irgendetwas gelassen außer T-Shirt und Hose oder Rock.
Zwei Tage saßen wir da in den Baracken, während die europäischen Bomben auf
Tripolis fielen. Wir hatten Angst, dass eine davon uns trifft, es war ja ein Militärlager.
Am dritten Tag brachten sie uns zum Hafen, trieben uns auf ein Boot.
Erzählerin:
Erpenbecks Roman erzählt entlang einer wahren Begebenheit: Fast zwei Jahre lang
– zwischen Oktober 2012 und Anfang 2014 – war der Oranienplatz in Berlin
Kreuzberg von Flüchtlingen besetzt. Offiziell waren die Männer in Italien registriert.
Dort hatten sie aber keine Arbeit gefunden und sich auf den Weg nach Deutschland
gemacht. Ein Bleiberecht hatten sie hier nicht.
Zitator:
An einem Donnerstag, Ende August versammeln sich zehn Männer vor dem Roten
Rathaus in Berlin. Sie haben beschlossen, heißt es, nichts mehr zu essen. Drei Tage
später beschließen sie, nun auch nichts mehr zu trinken. Ihre Hautfarbe ist schwarz.
Sie sprechen Englisch, Französisch, Italienisch. Und noch andere Sprachen, die
hierzulande niemand versteht. Was wollen die Männer? Arbeit wollen sie. Und von
der Arbeit leben. In Deutschland bleiben wollen sie.
Erzählerin:
Das Zeltlager, das die Männer aus Protest auf dem Oranienplatz in Berlin errichten,
wird nach langen und zähen Verhandlungen mit der Stadt geräumt. Das ist der
Moment, in dem die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck beschließt, mit den Männern
Interviews zu führen. Sie schreibt ihre Geschichten auf – und erzählt in ihrem Roman
von der Unmöglichkeit dieser Menschen, anzukommen.
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O-Ton 12 (Jenny Erpenbeck)
Zunächst mal gibt es diese Dublin-Gesetze, die einfach festlegen, dass Flüchtlinge
nur in dem Land, in dem sie zuerst angekommen sind, Arbeit suchen dürfen, also
infolge dessen auch eine Existenz gründen, Familie gründen und so weiter. Das
Problem ist nur, dass sie in Italien keine Arbeit finden und dass in dem Moment, in
dem sie in Deutschland versuchen, Arbeit zu finden, wird ihnen gesagt, sie seien hier
illegal, weil sie nur in Italien arbeiten dürfen. Und dadurch verwandelt sich dieser
Weg, den sie gehen wollen und müssen, um irgendwo mit einem Leben wieder
anfangen zu können, eigentlich in einen Punkt, der immer wieder verlängert und
verlängert wird. Also es ist eigentlich gar kein Weg, den die Männer gehen, sondern
das ist eigentlich ein Zeitraum, in dem sie eingesperrt sind.
Erzählerin:
„Gehen, ging, gegangen“ kreist um eben diese leere Zeit. Sie wird zum Schlüssel,
um zu verstehen, was es heißt, ohne Aufenthaltserlaubnis in einem Land zu leben.
Erpenbecks Protagonisten dürfen nicht arbeiten, nicht als Müllfahrer, nicht als
Tellerwäscher, geschweige denn sie dürfen auch keine Ausbildung machen.
O-Ton 13 (Erpenbeck)
Die Frage nach der Zeit ist ja immer zumindest für uns Menschen die Frage nach der
Lebenszeit, nach den Erfahrungen, die wir in der Lebenszeit machen können oder
eben nicht machen können. Und dass diese Zeit nur als leere Zeit vergehen kann,
liegt natürlich auf der Hand.
Zitator 2:
Es ist schwer, sagt Zair, sehr schwer. Ein Tag ist genauso wie der andre, sagt der
lange Ithemba. Wir denken und denken, weil wir nicht wissen, was wird, sagt
Abdusalam und schaut nach unten.
O-Ton 14 (Erpenbeck)
Der Moment, wo ich plötzlich auch so begriffen habe, dass diese Männer auch
tatsächlich keinen Ausweg aus dem Nachdenken über Zeit bleibt, ist gewesen, als in
einem der ersten Gespräche ein Flüchtling mir gesagt hat: Jeder hat doch seine 30,
40, 50 Jahre zum Leben und dann stirbt er, oder?
Zitator 2:
Die Zeit macht etwas mit einem Menschen, weil ein Mensch keine Maschine ist, die
man an- und ausschalten kann. Die Zeit, in der ein Mensch nicht weiß, wie sein
Leben ein Leben werden kann, füllt so einen Untätigen vom Kopf bis zu den Zehen.
Musik:
O-Ton 15 (Erpenbeck)
Es gibt große Verzweiflung. Es ist eine große Leistung, diese Tage zu verbringen,
von Anfang bis Ende.
Erzählerin:
Auch Erpenbecks Erzähler Richard, aus dessen Perspektive wir die Geschichten der
Männer hören, hadert mit der Zeit. Der Altphilologe wurde gerade emeritiert. Eher
durch Zufall wird er auf die Flüchtlinge aufmerksam – und beginnt sich für sie zu
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interessieren. Ausgestattet mit einem Fragekatalog, wird er die Männer fortan zu
ihrem Leben befragen.
Zitator 2:
Wie haben Sie Abschied genommen? Was haben Sie mitgenommen, als Sie
weggingen? Wie haben Sie sich Europa vorgestellt? Was ist anders? Wie verbringen
Sie Ihre Tage? Was vermissen Sie am meisten? Was wünschen Sie sich?
Erzählerin:
Ohne Pathos, ohne Anklage, in einer schnörkellosen Sprache montiert die Autorin
Richards innere Monologe, Alltagsepisoden und die Erlebnisse der Flüchtlinge
ineinander. Da ist zum Beispiel der lange und gefährliche Weg, den sie zurückgelegt
haben, erst durch die Wüste, dann über das Mittelmeer.
Zitator 2:
Der mächtige Kerl, Raschid, und Zair, der neben ihm sitzt, waren auf demselben
Boot. Welche Vegetation gibt es in Ihrem Land? Gab es Haustiere? Haben Sie einen
Beruf gelernt? Als die italienische Küstenwache die Flüchtlinge aufnehmen wollte,
sind alle auf die eine Seite des Boots gelaufen, um gerettet zu werden, darum ist das
Boot dann gekentert. (...) Haben Sie eine Schule besucht? Raschid kann nicht
schwimmen. Er hält sich an einem Kabel fest und bleibt so über Wasser, auch Zair
kann nicht schwimmen, er klettert, während das Boot kippt, über den in die Luft
ragenden Rand auf die Unterseite des Bootes und wird von dort gerettet. Was war in
Ihrer Kindheit Ihr Lieblingsversteck? Aber 550 von 800 sind ertrunken.
Erzählerin:
Da sind die desaströsen Verhältnisse im Heim, in dem die Männer untergebracht
sind. Richard beschreibt es bei seinem ersten Besuch:
Zitator 2:
Das Treppenhaus stinkt. Die Wände sind mit Farbe besprüht. Im ersten Stock blickt
er durch eine offene Tür geradezu in die Herrentoilette, er geht hin und schaut, wie
hier eine Herrentoilette aussieht: Von vier Abteilen sind drei mir rotweißen
Klebestreifen versiegelt. Auf der anderen Seite ist alles leer, früher waren da
vielleicht Duschen. Die Rohre sind abmontiert, nur die Fliesen sind übrig.
Erzählerin:
Da sind die schmerzlichen Erinnerungen an das Leben, das die Flüchtlinge zurück
gelassen haben.
Zitator 2:
Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr. Man weiß nicht,
wohin. Man weiß nichts mehr. Ich kann mich selbst nicht mehr sehen, das Kind, das
ich war. Ich habe kein Bild mehr von mir. Mein Vater ist tot, sagt er. Und ich – ich
weiß nicht mehr, wer ich bin.
Erzählerin:
In manchen Szenen kehrt Jenny Erpenbeck den Blick um und schlüpft in die Köpfe
der Männer. Dann betrachten sie Richard, als wäre er nun ein Fremder, der sie an
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die eigenen Väter erinnert. Und an die Frage, ob sie selbst einmal Kinder haben
werden.
Zitator 1:
Der ältere Herr hat an dem Tag, an dem Awads Vater erschlagen oder erschossen
wurde, gelebt und lebt noch immer. (...) Wie wird die Küche aussehen, in der er für
seinen Sohn kocht? Wie wird das Bad aussehen, in dem er ihm zeigt, wie man sich
mit einem Handtuch den Rücken abtrocknet? Später ihm zeigt, wie man sich rasiert?
Und in welcher Stadt, in welchem Land wird das sein?
Erzählerin:
Dass Richard sich als Erzähler den Männern und ihren Geschichten aus größter
Entfernung, mit spürbarer Unkenntnis, Fremdheit und auch Skepsis nähert, tut dem
Roman sehr gut. Jenny Erpenbeck löst seine Zweifel, seine Vorurteile, seine
Ressentiments nämlich nicht auf. Das macht Richard zu einem von uns.
O-Ton 16 (Erpenbeck):
Ich habe bei mir, aber auch in meinem Freundeskreis festgestellt, dass auch wenn es
ein Interesse gibt und eine grundsätzliche Offenheit anderen Menschen gegenüber,
diese zwei Welten doch sehr, sehr weit voneinander entfernt sind und dass man
einfach wenig weiß. Man weiß nicht: Warum sitzen die den ganzen Tag auf
Matratzen? Warum machen die illegal Grenzüberschreitungen, warum sind die
überhaupt in Deutschland und nicht in Italien? Wie schwer ist es, in Italien das
Dokument zu erneuern? Wo kommt das Geld her? Warum haben die Handys?
Zitator 2:
Richard merkte bei jedem seiner Besuche, dass die Männer in den paar Funkwellen
mehr zu Hause sind als in irgendeinem der Länder, in denen sie auf eine Zukunft
warten. Ein Netz aus Zahlen und Kennwörtern spannt sich quer über die Kontinente
und ersetzt ihnen nicht nur das, was für immer verloren gegangen ist, sondern auch
den Neuanfang, der nicht stattfinden kann. Das, was ihnen gehört, ist unsichtbar und
aus Luft.
O-Ton 17 (Erpenbeck):
Und wenn sie Handys haben, was haben sie eigentlich alles nicht? Sie haben ja
praktisch alles, was wir haben, nicht.
Regie: Leise Musik, darüber
Zitatorin:
Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?
Erzählerin:
Zweimal steht dieser Satz auf je einer weißen, ansonsten leeren Seite im Roman.
Muss man mehr über die Ausweglosigkeit der Flüchtlinge sagen? Jenny Erpenbeck
macht deutlich, dass diese Ausweglosigkeit offen zu sehen ist und doch im
Verborgenen liegt.
O-Ton 18 (Erpenbeck):
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Ich finde das eine interessante Frage, was es heißt, sichtbar zu sein und sichtbar zu
werden. Natürlich versuche ich auch, die Dinge zu beschreiben, die nicht sichtbar
sind, aber natürlich trotzdem eine Kraft haben, die Welt zu verwandeln. Und in
ähnlicher Weise sind ja auch diese Flüchtlinge schon seit langem in unseren Städten
und werden offiziell nicht wahrgenommen. Aber natürlich verwandeln sie uns. Und
wir sehen es ja am besten an diesen Pegida-Demonstrationen, daran, wie sich die
AfD äußert, dass sie uns verwandeln! Und zwar bevor sie wirklich da sind oder ganz
zu schweigen vom Ankommen.
Regie: Musik / Akzent
Erzählerin:
Inzwischen steigen auf den Flüchtlingswegen entlang des Mittelmeers oder der
Balkanroute die Preise. Händler machen mit den Flüchtlingen das Geschäft ihres
Lebens. Die Flüchtlinge wiederum zahlen für die Hoffnung auf ein besseres Leben
notgedrungen jeden Preis: sei es das eigene Leben, sei es die Prostitution von Leib
und Seele. Davon handelt der Roman „Verlassen“ des marokkanischen Autors Tahar
Ben Jelloun. Das Buch erschien bereits 2006 auf Deutsch. Ein Großteil des Romans
spielt in der Hafenstadt Tanger, Mitte der 1990er Jahre.
Zitator 1:
In Tanger verwandelt sich das Café Hafa im Winter in ein Observatorium der Träume
und ihrer Folgen. (...) Die Männer dort kennen sich, doch sie reden nicht miteinander.
Sie kommen zumeist aus dem gleichen Viertel und haben gerade genug Geld, um
sich den Tee und ein paar Pfeifen Haschisch leisten zu können.
Erzählerin:
Noch ist in Marokko König Hassan II. an der Macht; das Land siecht dahin unter
Armut und Korruption, Menschenrechtsverletzung und politischer Willkür.
Allabendlich treffen sich die jungen Männer im Café Hafa und starren auf die Lichter
auf der anderen Seite. Die andere Seite: das ist Spanien, Europa, das gelobte Land.
Das Land, für das hier alle ihre Heimat verlassen wollen – auch Azel, die Hauptfigur
in Tahar Ben Jellouns Roman.
Zitator 1:
Das Land verlassen. Es wurde zu einer Obsession, einer Art Wahn, der ihn Tag und
Nacht beschäftigte. Wie sollte er es schaffen, wie der Demütigung entkommen?
Weggehen, diese Erde verlassen, die ihre Kinder verstößt, diesem schönen Land
den Rücken zukehren und eines Tages stolz und vielleicht reich zurückkommen,
wegziehen, um seine Haut zu retten selbst wenn man sie dabei zu Markte trug.
Erzählerin:
Wie die meisten jungen Männer seiner Generation ist Azel arbeitslos, trotz eines
erfolgreich abgeschlossenen Jurastudiums. Doch dann scheint sich sein Glück zu
wenden. Nach einer Schlägerei mit einem stadtbekannten Schleuser, der das Leben
seines Vetters auf dem Gewissen hat, gerät Azel unter die Fittiche des reichen
spanischen Galeristen Miguel, der in Tanger das Leben und vor allem die
Liebesdienste der jungen Männer genießt.
Zitator 1:
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Er liebte die matte Haut der Marokkaner, ihre Ungeschicklichkeit – ein Wort, mit dem
er ihre sexuelle Zweideutigkeit bezeichnete. Er liebte ihre Bereitwilligkeit, ein Zeichen
der Ungleichheit in diesen Beziehungen. So waren sie am Tag Domestiken und
nachts Liebhaber.
Erzählerin:
Miguel, dessen Vater in den 50er Jahren einer der ersten Spanier war, die vor
Francos Schergen nach Marokko flohen und dort völlig veramt lebten, verliebt sich in
Azel – wohlwissend, dass dieser das Verhältnis dazu nutzen wird, Marokko zu
verlassen. Azel wiederum lässt sich einzig in der Hoffnung auf ein Visum für Europa
auf das Verhältnis mit Miguel ein. Tahar Ben Jelloun macht deutlich: Das
marokkanische Elend ist so groß, dass den jungen Menschen jedes Mittel recht ist,
um es hinter sich zu lassen.
Zitator 1:
Ich bin nicht der Einzige, wie sind zahlreich: jung und ohne Zukunft, alles ist verrottet,
kein Hoffnungsschimmer am Horizont. Stell dir doch vor, jeden Morgen stehen wir
auf und erleben das Gleiche wie am Vortag, ein Leben in Wiederholung in der
beschissenen Wiederkehr der ewig gleichen Dinge. (…) Ins ewig gleiche Café gehen,
die gleichen Leute treffen, die gleichen Kommentare über das gestrige
Fernsehprogramm hören, (...) über die Hitze oder Feuchtigkeit des Sommers, über
offene oder geschlossene spanische Grenzen, (...) spüren, wie die Zeit nicht vergeht.
Erzählerin:
Die Prostitution ist dabei – wie im Falle Azels – für viele der Ausweg. Überzeugend
schildert Tahar Ben Jelloun den emotionalen Preis, der dafür zu zahlen ist: den
Verlust der eigenen Würde, tiefe Scham, das Gefühl der Schande. Das merkt auch
Azel, als er endlich mit Miguel in Barcelona lebt, am eigenen Leib.
Zitator 1:
Es gibt Momente, da ertrage ich nicht, dass er mich anfasst. (…) Ich bin eine Nutte
geworden, genau, das ist meiner Meinung nach aus mir geworden.
Erzählerin:
Gescheiterte Träume, verlorene Illusionen und vor allem die abgrundtiefe Einsamkeit
– das ist das schwere Gepäck, an dem Azel und all die anderen Flüchtlinge tragen.
Vor allem von dieser Verlassenheit der Seele erzählt Tahar Ben Jelloun. Der Roman
ist dabei nicht frei von Kitsch. Doch den Ton der Verzweiflung, von der eine ganze
Generation junger Nordafrikaner heimgesucht wird, macht der Autor unüberhörbar.
Regie: Musik / Akzent
Erzählerin:
In Tanger sitzt auch Helen fest, eine junge Frau aus Nigeria und die Protagonistin in
Maxi Obexers Roman „Wenn gefährliche Hunde lachen“ aus dem Jahr 2011. Für den
Traum von einem besseren Leben in Europa hat Helen die gefährliche Flucht quer
durch die afrikanische Wüste in Kauf genommen.
Regie: Leise Musik, darüber
10
Zitatorin:
Tanger, am 15. Januar 2010
Liebe Eltern, lieber Victor, liebe Pat, stellt euch vor, ihr sitzt in einem Wagen,
eingekeilt zwischen den anderen, und rumpelt stundenlang, sogar tage- und
nächtelang über sandige und holprige Wege durch die Sahara. Die Luft ist so, wie
man sich das vorstellt: stickig, staubig, faulig, und immer wieder zieht ein beißender
Gestank an deiner Nase vorbei, Diesel, Pisse, manche haben sich erbrochen.
Erzählerin:
Seit mehr als zehn Jahren setzt sich die aus Südtirol stammende Theater-Autorin
und Schriftstellerin Maxi Obexer künstlerisch mit dem Thema Flucht und Flüchtende
auseinander. Für sie begann alles mit einer Reise nach Afrika.
O-Ton 19 (Obexer):
Was danach immer wieder in meinem Kopf blieb, war diese Erfahrung: Sie dort
wollten einfach, so wie ich auch, den Ort verlassen, in dem man aufgewachsen ist,
einfach um das Gefühl zu haben: Ich will ja nicht nur Teil einer eingerichteten Welt
sein. Ich will selbst Handlanger meines Glücks sein. Das konnte ich tun. Und sie
konnten das alle nicht tun. Wir schreiben uns unglaublich viel Positives zu, was wir
den anderen komplett entsagen. Was wir ihnen zuschreiben, ist das blanke Elend.
Und sonst gar nichts.
Erzählerin:
Genau solche Zuschreibungen möchte Maxi Obexer mit ihren Werken durchkreuzen.
Deshalb führt ihre Roman-Heldin Helen in Lagos eine durchaus gut laufende Bar.
Aber eigentlich möchte sie lieber in Europa als Journalistin arbeiten.
O-Ton 20 (Obexer):
Ich wollte eine Frau zeigen, die mit mir sehr große Ähnlichkeiten hat, die mit
europäischen Menschen sehr viele Ähnlichkeiten hat, um diesen gap auch zu
überwinden, der zwischen afrikanischen Flüchtenden aufgetan wird und
europäischen Bürgern. Deshalb habe ich schon mal abgelehnt zu sagen, sie wird
willenlos vom Elend nach vorne geschwemmt. Sondern sie ist eine Frau, die gleiche
Motivationen hat wie ich sie auch hatte, als ich mein Land verlassen habe: nämlich
sich ein Leben und ein Land und einen Beruf auszusuchen, der einem das maximale
vielleicht an Denkfreiheit, vielleicht Bewegungsfreiheit und auch an Möglichkeiten des
Glücks liefert.
Erzählerin:
Als Helen auf ihrer Flucht aus Nigeria in Tanger strandet, wird sie dort zur
Prostitution gezwungen. Dennoch möchte Helen sich nicht als Opfer fühlen, sondern
hält fest an ihrer Vision von einem besseren Leben in einem gerechten Europa. In
ihrer Not erfindet sie sich dieses Leben in den Briefen, die sie nach Hause schickt.
Zitatorin:
Liebe Eltern, es geht mir gut. Ich verdiene Geld, zum ersten Mal, viel Geld sogar, und
es wird von Tag zu Tag mehr. Den größten Teil lege ich zur Seite. Für einen guten
und sicheren Platz auf dem Schiff. (...) Wie eine Königin sehe ich mich auf das Schiff
gehen, ein Seidenschal schützt mein Gesicht vor der kühlen Brise, die mir vom Meer
entgegenweht.
11
Erzählerin:
Die Autorin erzeugt mit diesen Briefen eine flirrende Realität. Denn sie sind die
geschönte Version eines Weges, der in Wahrheit durch die Hölle und in eine tiefe,
uns unbekannte Einsamkeit führt.
O-Ton 21 (Obexer):
Wir haben wirklich nicht viel Ahnung von dem, was diese Erfahrung angeht, was
diese Welten angeht. Es ist ja ein Leben zwischen den Welten. Es ist eine
Durchgangszeit. Nichts ist verbürgt. Kein Tag, den Sie angehen, gibt irgendwie die
Gewähr, dass es auch einen sicheren Abend geben würde. Die Straßen sind nicht
sicher, die Wege sind nicht sicher. Die Orte sind nicht sicher. Das ist eben die
Realität: dass es diese stabile Realität für Menschen, die auf der Flucht sind, nicht
gibt.
Regie: Leise Musik, darüber
Erzählerin:
Die Literatur kann keine politischen Lösungen finden - und sie kann die Einsamkeit
der Flüchtenden nicht lindern. Aber sie kann von ihr erzählen – nicht mehr und nicht
weniger. Denn vermutlich gilt für alle Flüchtlinge, was Helen in Maxi Obexers Roman
eines Tages ihren Eltern schreibt:
Regie: Leise Musik, darüber
Zitatorin:
Jeder, der geht, verlässt eine Welt, die er mit allen, die er auf dieser langen Reise
antrifft, nie teilen wird können. Jeder einzelne von ihnen trägt einsam eine solche
Welt in sich. Fremd wirst du aber auch denen, mit denen du sie einmal geteilt hast.
Denn das, was du auf deiner Reise erfährst und zu sehen bekommst, wirst du mit
ihnen niemals teilen können. Es wird dich von den anderen für immer trennen. Du
wirst zu einer Gattung, einer Gattung, die es im gesamten Universum nur ein
einziges Mal gibt, und dieses einzige Exemplar bist du bis ans Ende deines Lebens.
Regie: leise Musik noch einmal hoch, dann auf Schluss
*****
12
Literaturangaben:
Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen. Copyright: Elfriede Jelinek, 2013.
Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag. Der vollständige Text ist nachzulesen
auf der Homepage von Elfriede Jelinek: http://www.elfriedejelinek.com/
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging gegangen. Roman. Knaus Verlag 2015.
Tahar Ben Jelloun: Verlassen. Roman. Aus dem Französischen von Christiane
Kayser. Berlin Verlag 2006.
Maxi Obexer: Wenn gefährliche Hunde lachen. Roman. Folio Verlag 2011.
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